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Zwei Blätter im Wind

Der Geruch von Fisch drang mit jedem Atemzug tiefer in seine Lungen, doch Peer roch ihn schon lange nicht mehr so bewusst, wie an diesem frühen Morgen. Die Straßen und Gassen waren voller Nebelschleier, die zwischen dem Licht der spärlich vorhandenen Laternen tanzten und alles in Trübheit tauchten. Die Hände des Mannes schoben sich in die Taschen seines blauen Overalls, der früher einmal in dunklem Blau erstrahlte und nun verblichen und verbraucht wirkte. Sie vergruben sich dort, zu Fäusten geballt. Es raschelte in einer der Taschen und der grau bärtige Mann verlangsamte seine Schritte, hielt an einer Hausecke inne. Nachdenklich zog er das Blatt Papier heraus, entfaltete es sorgsam und überflog im Lichtschein der Straßenbeleuchtung die Zeilen. Er kannte sie, er konnte sie auswendig aufsagen. Wort für Wort. Die Fältchen, die seine leer blickenden Augen umsäumten, wirkten tiefer in dem gelblichen Schein der Laternen, als wollten sie sein ganzes bewegtes Leben erzählen. Peers Schultern sackten mehr und mehr nach vorne. Sein Atem ging schwer, als sei er müde. Ein Augenblick reihte sich an den anderen, während er regungslos auf das Schreiben starrte. Nicht einmal das leise Tapsen von Ratten in der Dunkelheit oder das Scheppern einer leeren Getränkedose über den Straßenbelag konnten ihn seinen Gedanken entreissen. Als die Herzschläge vergingen, besann er sich und setzte seinen Weg fort. Bedächtig einen Schritt nach dem anderen setzend, die Häuser, Straßen und Plätze sich einprägend, folgte er dem Weg zum Hafen.

Peers Schritte ließen das alte verwitterte Holz des Anlegesteges knarzen und jammern. Die leichte Brise, die stets den Fluss begleitete, trug es ungehört mit sich fort. Es war noch zu früh, selbst für einen Fischer wie ihn und der junge Tag war noch zu zart, um sich mit der Sonne anzukündigen. Lediglich das Schwarz schwand vor seinen Augen und das ansteigende Grau färbte sich in zartem Rosa am Himmel. Celestine hätte diesen Moment geliebt, so wie damals. Sie wäre an ihn heran getreten, hätte ihre Arme zart, wie der leichte Wind, um ihn geschlungen und wäre mit ihm in der Stille versunken. Er konnte sie fühlen, als stünde sie gleich hinter ihm, es war so wirklich. Wer konnte mit allem Ernst bestimmen, was real war und was ein Traum, eine Fantasie? Wer vermochte im besten Gewissen die Linie zu ziehen und Wirklichkeit von Trugbild trennen? Peer schon lange nicht mehr. Zitternd tasteten seine Hände die Planken entlang und seine Füße streckten sich nach der Reling seines Bootes Hope.
Dieses Boot hatte besseres verdient, als hier im Hafen vor sich hin zu dümpeln. Der Lack sprang bereits an manchen Stellen ab, die Plane war zerrissen. Hope hatte besseres verdient, als einfach vergessen zu werden. Als er die Plane zurück schlug, atmete er schneller, von einer Unruhe ergriffen. Die Handgriffe wirkten erst ungeübt und ungelenk, doch mit der Zeit kehrte die Routine längst vergangener Tage in seinen Bewegungen zurück. Bald würde er mit seinem Boot Abschied nehmen, denn Hope war alles, was ihm noch geblieben ist.

Er öffnete eine kleine Blechkiste, griff nach einem abgebrochenen Bleistiftstummel und kramte den Brief wieder aus seiner Tasche. Entschlossen begann er zu schreiben, bestärkt durch seine Gedanken. Schließlich faltete er das Blatt Papier und strich den Bug mit seinen Fingerspitzen glatt, als wolle er etwas besiegeln. Peer lehnte sich über die Reling des schwankenden Bootes, legte den Brief am Steg ab und beschwerte ihn mit seinem alten Kompass. Einen Augenblick verweilte seine Hand an Ort und Stelle, als hätte sich Unschlüssigkeit in seine Gedanken geschlichen. Er wägte still bei sich noch einmal alles ab, bis er seine Kappe zurecht rückte und sich mit einem Ruck abwandte. Er musste sich beeilen, denn bald würden die ersten Fischer auftauchen, er hatte lange genug Zeit, darüber zu grübeln. Das Tauwerk wurde gelöst und mit einem Ruder stieß er Hope vom Anleger ab. Er brauchte den Motor nicht zu starten, fühlte, wie die Strömung den Bug seiner „Hoffnung“ ergriff und sanft in die Mitte des Flusses lenkte.

Aufrecht stand er, seine Hände im Rücken verschränkt und der Stolz und die Würde des alten Fischers kehrten langsam zurück. Viel zu lange war es her, dass er seine Nase in den Wind hielt und die ersten Sonnenstrahlen auf den Wellen glänzen sah. Er lächelte versonnen, wartete die stärkere Strömung ab, die sein Boot an Fahrt gewinnen ließ.
„So, wie damals“, flüsterte er, „ich habe dich nicht vergessen.“
Seine Hände schlossen sich fester um die Reling. Vor seinen Augen tauchten die Erinnerungen auf und malten neue Bilder.
Sie. Sie war ihm lieb und treu. Sie erfüllte ihn mit einer Fröhlichkeit und war ihm Heim und Geborgenheit. Sie schenkte ihm einen gesunden Sohn und das Band, das sie miteinander verband, war stärker geflochten, als Gewohnheit es hätte tun können.
„Sie gehört zur Erinnerung.“ hatte sein Sohn ihm gesagt. „Sie ruht in Frieden.“ hatte der Pfarrer behauptet.
„Man soll die Vergangenheit los lassen.“ erzählte sein bester Freund.
Doch was wissen sie schon, diese Narren! Sie war hier, ganz nah. Er fühlte sie, er roch sie und ihre Wärme erfüllte sein Herz.

Als sie sich trafen, waren sie wie zwei frische grüne Blätter auf verschiedenen Zweigen eines Baumes. Manchmal glänzten sie im Sonnenlicht um die Wette, mal wurden sie gebeutelt von einem Sturm. Doch immer wieder hatten sie sich zu gewunken. Sie hatten sich geneckt, im Wind getanzt und sich beinahe berührt. Als der letzte Sturm sie von den Zweigen riss, taumelten sie ihrem Glück entgegen, verwirrt und verträumt zugleich. Der Wind trug sie fort, ließ sie in den Fluss segeln, den man Leben nennt. Wellen hoben und senkten sich, rissen sie auseinander, doch sie fanden sich immer wieder...
...bis auf dieses eine Mal.

Eine Träne glitzerte auf seiner Wange, bildete einen ungewohnten Kontrast zu dem Lächeln auf seinen Lippen.

„Die Einsamkeit hat ihn verändert.“ munkelte man hinter vorgehaltener Hand. Peer sei sonderbar und ein Eigenbrötler geworden. Seine Nachbarn des kleinen Ortes gaben ihm die Schuld, dass sein Sohn in die Stadt zog, um ein eigenes Leben aufzubauen.
Er wäre eine Belastung geworden.
Nachdenklich schüttelte er seinen Kopf. Sie konnten es nicht mal erahnen, was er fühlte, all die Besserwisser.


Die Landschaft zog an ihm vorbei, während er stromabwärts trieb. Hope wiegte sich, wie eine Nussschale hin und her. Er genoss das Gefühl des Treibens, ohne nach dem Ruder zu greifen. Sein Kurs stand fest, er musste ihn nicht mühevoll lenken. Mühe. Wie viel Mühe hat es seinen Sohn gekostet, diesen Brief zu schreiben? Er wollte ihn zu sich holen, in seine Nähe. „Ein nettes Heim für pensionierte alte Herren.“ hatte er es genannt. „Ein Gefängnis für Fischer.“ war Peers stumme Antwort. Sein Junge wollte ihn weg reißen, ihn seiner Heimat berauben. „Es wäre besser so.“ schrieb er. Zu seinem eigenen Wohl, versuchte er ihn mit geschriebenen Worten zu überzeugen. Wieder schüttelte er den Kopf. Er würde sich nicht von dem hier trennen. Er würde niemals Celestine verlassen. Nie! Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Entschlossen reckte er sein bärtiges Kinn nach vor. Der Wind zerzauste ihm sein weißes Haar, das ihm bis in den Nacken reichte. Wie konnte sein Junge seine Mutter vergessen!

Sie war damals mit auf seinem Boot. Sie liebte es, ihn zu begleiten und ihn bei seiner Arbeit zu beobachten. Die Ruhe und wortlose Eintracht, es war immer besonders. Er konnte ihren Schmollmund vor seinen Augen sehen, den sie zog, wenn er zur Umkehr drängte. So, wie an jenem Morgen. Mit ihren Blicke wickelte sie ihn um ihren Finger, herzte ihn, verführte ihn zur Unachtsamkeit. Wie eine Nixe betörte sie ihn, brachte sein Blut in den Ohren zu rauschen. Doch was er nicht sah und hörte, obwohl der Fluss ihm bekannt war, wie seine Westentasche, waren die Stromschnellen, auf die sie zu hielten.

Dieses Mal hörte er sie, wie sie mit Tosen und Rauschen auf sich aufmerksam machten. Das Boot wankte, begann sich zu drehen. Der Fluss zerrte daran, wie ein hungriges Tier. Wellen wie Peitschen, schlugen an die Bordwand. Das Ruckeln durchfuhr seine Glieder. Riss ihn beinah zu Boden.
Die Bilder aus Vergangenheit und Gegenwart verschmolzen vor seinen Augen. Eine Hand griff hart nach der Reling und in der anderen hielt er Celestine sicher bei sich. Sie lächelte ihm zu, die Arme um ihn schlingend und er schloss die Augen.

Peers Sohn hatte den Anlegesteg erreicht. Völlig außer Atem stieß er einen leisen Fluch aus, als er nirgends weit und breit das Boot seines Vaters erblickte. Seine Hände beschatteten seine Augen, während er den Fluss absuchte und sorgenvoll bildeten sich steile Falten auf seiner Stirn. Die Sonne schien an diesem Tag besonders hell. Von innerer Unruhe getrieben wandte er sich dem leeren Anlegeplatz zu und stieß beinahe den Brief samt Kompass ins Wasser. Er fuhr sich durchs Haar, bückte sich, begann hastig zu lesen. Zwei Herzschläge nur, ehe der junge Mann zusammen sackte und auf seine Knie fiel. Vornübergebeugt hielt er krampfhaft den Kompass umklammert, mit zitternden Händen das zerknüllte Papier an seine Brust gepresst.

„Dieser Kompass soll fortan dich begleiten und dir gleich gute Dienste erweisen, wie mir. Ich brauche ihn nicht mehr, denn ich kenne meinen Weg und kehre heim.
Dein Vater“

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Tag der Veröffentlichung: 03.08.2011

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