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Die Beste Freundin



Sie saß auf ihrem Bett. Barbie-Bezug. Von der Großmutter. Vor zehn Jahren bekommen. Damals hatte sie sich gefreut. Heute war es nur noch eine blasse Erinnerung. Ein Bild im Nebel. Was sollte sie machen? Ihr war so trist zu mute. Vielleicht sollte sie ihr Zimmer umgestalten. Erst letzte Woche hatte sie es gemacht. Doch gerade jetzt in der Zeit brauchte sie Veränderungen. Kein neues Ich, sondern eine Veränderung im Umfeld. Aufgeräumt hatte sie bereits gestern schon. Nicht, dass sie vielleicht ordentlich gewesen wäre. Nein. Die Schubladen des Schreibtisches und der Schränke sollte man nicht aufmachen. Zu viel Gerümpel. Viel unbrauchbares Zeug. Zum Teil Erinnerungen. Postkarten, Fotos, Zeitschriften, Comics, abgebrochene Stifte, Nasenspray, ein Lineal. Es fand sich viel an. Auch ihr altes Tamagotchi. Schon längst veraltetes Zeug. Vor acht Jahren war es noch „in“ gewesen. Schon so lange her. Wie schnell doch die Zeit verging.
Träge stand sie auf. Der Tag hatte noch nichts gebracht. Genauso wie jeder Samstag. Früh um neun Uhr aufstehen, die Eltern schliefen noch eine Stunde. Dann mit den Eltern essen. Zu der Tante einen Korb mit Brötchen und Blumen bringen. Sie freute sich doch immer so. Sagte sie aber nie fiel ihr auf. Die Tante saß immer nur in ihrem fliederfarbenen Sessel und starrte sie an. Nach einer Weile nahm sie dann den Korb und schlug ihr die Tür vor der Nase zu. Komische Tante. Mama sagte, dass sie seit der Kindheit so war. Die Arme. Musste sehr einsam sein. Deswegen hatte sie auch nie einen Freund gehabt. Noch nicht mal in ihrer Jugend. Schlimm. Eigentlich hatte sie Mitleid. Aber sie mochte die Tante auch nicht.
In Gedanken zu versinken half auch nichts. Sie hatte noch nichts Nützliches heute gemacht. Ob sie die Mutter fragen sollte, ob sie ihr helfen konnte? Nein. Heute nicht. Erst vorgestern hatte sie das Abendbrot gemacht. Das musste jetzt erst einmal reichen. Also doch Zimmer umgestalten.
Sie schlurfte zum Schreibtisch. Schob langsam die oberste Schublade auf. Tüten, Taschentücher, Karten, Bleistifte, Feuchtigkeitscreme, Tabletten, ein künstlicher Blumenstrauß, ihr altes Handy, Magneten, Fotos von der Geburtstagsparty ihrer Cousine. Vorsichtig kramte sie die Fotos heraus. Strich darüber. Sah die Cousine an. Dann sich selber. Suchte nach Ähnlichkeiten in ihren Gesichtern. Fand keine. Ihr Kinn hatte ein Grübchen. Die Wangenknochen stachen heraus. Tiefblaue Augen. Kleine Nase. Die Cousine hatte dickere Backen. Wie ihre Schwester. Die Haare waren blond. Braune Augen. Kräftiger gebaut. Stupsnase. Auch wenn die Cousine neun Jahre älter war hätte es Gemeinsamkeiten geben müssen. Wenigstens die Augen. Oder die Haarfarbe. Aber sie waren sehr unterschiedlich. Auf dem Bild wirkten sie so froh. Tanzten beide im Rausch des Festes. Viele Freunde waren gekommen. Sie selbst hatte keinen gekannt. Das war aber nicht schlimm. War trotzdem schön.
Nächstes Bild. Sie tanzte mit einem ihr unbekannten Jungen. Ein Freund der Cousine. Großgewachsen. Hübsches Gesicht. Lebendige Augen. Diesen Abend war sie in ihn verliebt gewesen. Nur einen Abend. Ein Abschiedskuss. Davon gab es leider kein Bild. Später hatte sie gehört, dass er eine Freundin hatte. Die war auch auf dem Fest. Hatte nichts gesagt. Dachte, er tanze mit ihr aus Höflichkeit. Wie naiv. Leider hatte sie nie wieder was von dem Jungen gehört. Jetzt war es ein Jahr her. Vielleicht würde sie die Bilder an die Wand hängen. Oder an die Pinnwand. Die hatte sie auch mit ihrer Cousine gebastelt. Das war ihre gemeinsame Leidenschaft. Manchmal trafen sie sich zum Basteln, Malen oder Reden. Guter Draht. Sie mochte die Cousine sehr. Die anderen waren immer nur blöd zu ihr gewesen. Weil sie mit ihrer Schwester die Kleinsten waren. Jetzt war nur noch ihre Schwester die Kleinste. Auf Familienfeiern hockte sie immer bei den Eltern. Versuchte gar nicht mitzumachen. Saß nur ruhig da. Schenkte jedem ein Lächeln. Schüchterne Blicke. Dass Geschwister so verschieden sein konnten. Aber das war noch nie anders. Seit sie Babys waren. Sollte die Schwester doch machen was sie wollte.
Bilder doch nicht aufhängen? Mmh. Da war sie sich noch nicht so sicher. Für das Erste legte sie die Bilder wieder zurück. Schloss die Schublade. Machte die darunter auf. Eine vertrocknete Rose. Karteikärtchen, zwei Steine von der Ostsee, ein Tuch aus Indien, eine Sonnenbrille aus den USA, Kaugummi, eine längst ab gelaufene Einladung zum Geburtstag von einer guten Freundin, ihr Fotoapparat, eine leere Keksschachtel, eine Schere, ein gebrochener Bügel, ein Album von Amy Winehouse, Bilder aus der Grundschule, Postkarten der Großeltern und Freunden. Wieder blieb sie an dem Bild hängen. Ihr Klassenlehrer war auch drauf. Ob er noch unterrichtete? Er war so alt gewesen. Streber-Maja mit Bluse und Rock. Niemand hatte sie so richtig gemocht. Niemand hatte sie eingeladen. Alle hatten sie nur abwertend angesehen. Mit dem Gewinnen der Matheolympiade machte sie sich nicht gerade beliebter. Beim Anfang der Modelkarriere fand auch niemand es cool. Es war halt eine Streberin. Klassenclown Marvin mit zerrissenen Jeans und T-Shirt. Klassensprecherin Xenia mit der coolen Lederjacke und kurzen Hosen mit Knöpfen und Nadeln. Die Direktorin im strengen Anzug. Pferdeschwanz. Nachgezogene Augenbrauen. Aufgespritzte Lippen. Tötender Blick trotz des angedeutetem Lächeln. Kaltes Lächeln. Dann sah man natürlich noch Hektor mit Cowboystiefeln und Schottenrock. Er war sehr verrückt gewesen. Und das in der Grundschule. Grinsend sah sie sich das Bild an. Ihre beste Freundin von damals hatte ihr einen Arm um die Schulter gelegt. Viele standen wie in Stein gehauen auf ihrem Platz. Versuchten den Anweisungen des Fotografen gerecht zu werden. Legten den Kopf schief. Zeigten die schlechten Zähne.
Das Bild zurück. Postkarten her. Glückwünsche zum Schulanfang. Grüße aus Mexiko von Hektor. Eine Ansichtskarte aus Budapest vom Vater. Die letzte Postkarte der Großeltern aus Berlin. „Alles Liebe senden deine Großeltern“ stand da in der schönen Handschrift des Großvaters. Jetzt waren beide tot. Nach Opas Tod wollte auch die Oma nicht mehr leben. Starb fünf Monate später. Sie war sehr traurig gewesen. Die Beerdigung war schrecklich. Nun hielt sie nur noch die Postkarte in der Hand. Ein kurzer letzter Gruß, wie ein Abschiedsgeschenk.
Unter Tränen wurde auch diese Karte weggelegt. Sie wechselte zum Wandschrank und machte ihn auf. Ihre Kleider, Blusen und Röcke begrüßten sie still. Schnell sah sie sie sich durch. Das Blümchenkleid von der Mutter. Eine weiße Bluse. Grauer Rock. Viele andere Sachen. Auch nicht das Richtige für Samstagmittage. Schrank wieder zu.
Anderer Schrank. Wieder Tür auf. Das lachende Bild von der besten Freundin strahlte sie an. Sie musste unwillkürlich auch die Mundwinkel nach oben ziehen. Wie schön ihre Freundin doch war. Schlank. Halbwegs groß. Zartes Gesicht. Mit sehr stark ausgeprägten Grübchen in den Wangen. Wenn sie lachte sah man sie besonders gut. Geschwungene, volle Augenbrauen. Lange Wimpern. Augen wie das Meer. Gerade Nase. Markantes Gesicht. Dicke, lange, volle Haare. Mit lauter Locken. Von Natur aus. Zu beneiden. Natürlich hatte sie auch einen Freund. Der hatte die gleichen, niedlichen Grübchen wie sie und auch den vollen Mund. Auch die wunderschönen Haare. Er war groß und muskulös. Ein Paar wie aus dem Bilderbuch. Das Leben der Freundin war sowieso perfekt. Sie war nicht grau. Aber auch kein schillernder Regenbogen. Oder ein glitzernder Goldfisch. Nur eine gestreifte Katze. Oder ein gepunktetes Erdmännchen. Leider keine Löwin, so wie die Freundin. Niemand konnte es mit der aufnehmen. Bessere Noten als sie bekam man nicht. Doch sie gab nicht mit ihrem Wissen an. Und sie half wo sie konnte. War auch mit Größeren befreundet. Nahm sie oft mit auf Veranstaltungen. Konzerte, Opern, Ausstellungen, Messen. Ihr Können bezog sich nicht nur auf den Bereich des Wissens, sondern auch auf das Klavier und die Violine. Auch auf die Stimme. Dort war sie unübertroffen. Kein Alt. Und kein Sopran. Sondern der lauteste und klarste Mezzosopran, den sie selbst je gehört hatte.
Der Klamottenstil war nicht so modisch wie der der Anderen. Sie trug Jackett, dicke Ringe, Ketten, Armreifen, lange Ohrringe. Das meiste war schwarz. Oder weiß. Doch damit war sie bunter als ein Kanarien­vogel. Niemand, der hätte nicht mit ihr tauschen wollen. Fast jeder Junge war in sie verliebt. Bewunderer hatte sie sogar in höheren Klassen. Kein Wunder, dass der feste Freund schon in der Zwölften war während sie noch in der Neunten hing. Mit ihm war die Freundin seit fünf Jahren schon zusammen. Beachtlich.
Das Bild war nur ein Schnappschuss gewesen, als die Freundin mal bei ihr zu Besuch gewesen war. Sie beide hatten jetzt ein Bild von einander in den Schränken hängen. Ein schöner Beweis der Freundschaft. Früher hätte sie es nie gemacht. Denn früher war die Freundin nur die nervige Streber-Maja.



Geburtstag (1)



„Du hast heute Geburtstag“, schoss es ihr durch den Kopf. Schöner Gedanke. Wie würde ihre Familie ihr gratulieren? Ein Blumenstrauß? Vielleicht aus Nelken? Ein Geburtstagslied wie im Kindergarten? Oder ein überdrehtes Kreischen, von Freude geprägt? Sie wusste es nicht. Konnte sich nicht mehr an das vergangene Jahr erinnern. „Du bist jetzt 12.“ Neu. Veränderung. Umstellung. Wieder ein Jahr zum Auspro­bieren. Wachsen. Freuen. Lachen. Weinen. Neue Leute. Neue Worte. Neues Wissen. Im Grunde wie jedes Jahr. Sie fand sowieso, dass Geburtstag haben überbewertet war. Was machte es schon wie alt man war? Oder wie groß? Manchmal glaubte sie, dass man nur Geburtstag hatte um ein Mal im Jahr etwas Besonderes zu sein. Aber sie war heute noch immer sie selbst. Ob nun 11 oder 12 Jahre war doch egal. Wen interessierte es schon?
Sie legte sich auf den Rücken. Zog die warme Bettdecke bis zum Kinn. Genoss die Wärme. Dachte an die Schule. Man würde ihr ein Ständchen singen. Vielleicht auch ein kleines Geschenk überreichen. Eine Tüte mit Gummibärchen. Einen Lutscher. Einen Flummi. Die Klassenlehrerin dachte sich bestimmt was Kleines aus. Warum machte sie das? Es war weder total toll oder wertvoll oder sonst irgendwie nützlich. Wollte die Lehrerin nur nett sein? Billig. Manche befanden es als nette Geste. Sie fand es einfach nur nervig und einfallslos. Sie wollte keinen Billigkram. Nur ein bisschen Anerkennung und nicht die üblichen ignorierenden Blicke der Anderen.
Nun stand sie doch auf. Wollte nach dem Wetter sehen. Gestern hatte sie leider den Wetterbericht verpasst. Dabei wollte sie wissen wie ihr Geburtstag anfing. Auch wenn sie es ziemlich unwichtig fand. Ein kleines bisschen Bedeutung konnte sie ihm ja beimessen. Und wenn es nur das schöne Wetter war. Also zum Fenster. Gardine weg. Rolle hoch. Die Umgebung ansehen. Nur die grauen Wolken. Rote, braune und gelbe Blätter, die vom Wind getragen wurden. Kahle Äste an den ersten Bäumen. Die Obstbäume trugen schon lange nicht mehr. Verfaulte Äpfel am Boden. Pflaumen mit Maden. Selbst die immergrünen Tannen und Stachelbüsche sahen traurig aus. Sahen dem Herbst zu wie er sich ausbreitete. Wie das Leben aus der Natur wich. Blöder Gedanke. Warum musste sie auch im Herbst Geburtstag haben und nicht wie ihre Schwester im Sommer? Die hatte fast immer sonniges Wetter. Blauen Himmel. Bunte Blumen. Bäume in Blüte. Farbige Gärten. Lachende Mädchen mit Sonnenhüten und Kleidern, die viel durchsehen ließen. Coole Jungs am Strand mit freiem Oberkörper. Kleinkinder, die nackt herumliefen. Erwachsene, die miteinander Spaß hatten. Cliquen, die ins Kino gingen. Vielleicht danach noch shoppen. Doch im Herbst wurde alles grau und öde. Die Farben verloren an Stärke. Ein Tag glich dem Anderen. Alte wurden noch griesgrämiger als sonst. Verkäuferinnen fuhren einen an. Lehrer verteilten bei dem kleinsten falschen Wort Einträge. Teenies verkrochen sich vor dem Fernseher oder Laptop. Kontrolleure in der Straßenbahn machten schon mit ihrer Miene jedem Angst. Großmütter fingen an Handschuhe und Pullover zu stricken. Alle wurden reizbarer. Den Herbst fand sie fast noch schlimmer als den Winter. Da konnte man wenigstens Schneeballschlachten machen. Schlittenfahren. Kerzen anzünden. Gemütlich Familienspiele machen. Verwandte wiedertreffen. Sie mochte den Winter sehr. Auch der Frühling war besser als der Herbst. Doch sie hatte nicht im Winter, Sommer oder Frühling Geburtstag, sondern im Herbst.
Deprimiert machte sie das Rollo wieder runter. Das musste sie sich nicht antun. Geburtstage sollten eigentlich fröhlich und mit viel Spaß verlaufen. Konnte man von ihrem nicht sagen. Dabei gab es viele andere Leute, die auch im Herbst Geburtstag hatten. Sie versuchten immer das Beste draus zu machen. Für sie war es nur eine Flucht vor der Wahrheit. Warum Theater spielen wenn doch jeder wusste, dass diese Jahreszeit schrecklich war?! Es war für sie nicht einzusehen warum sie glücklich lächeln sollte oder auch noch Geräusche des Glücks zu machen. Völlig überflüssig. Und doch hatte sie es die letzten Male immer gemacht. Immer brav dagesessen. Sich bedankt bei allen Onkeln, Tanten und Cousinen. Sich drücken lassen von Großeltern und fernen Verwandten. Hatte allen eine Dankeskarte geschrieben. Versucht aufrichtig zu wirken. Hatte bisher immer geklappt. Dann hatten sie mit allen Gästen meist Spiele gemacht. Heute ging das nicht. Judo am Nachmittag. Zum Glück. Mama hätte es auch abgesagt, aber sie wollte hin. Mochte nicht im Rüsschenkleid mit der Urgroßmutter, den Eltern, der großen Schwester und dem kleinen Bruder Kaffee trinken. Nur das Abendbrot mit Papas Schwester und deren Familie und Mamas zwei Brüdern und deren Familien wurde leider gemacht. Ihre große Schwester würde sie wieder spöttisch anlächeln. Denn die musste schon seit zwei Jahren nicht mehr die Mahlzeiten mit den Verwandten essen. Nur zu ihrer Konfir­mation hatte sie sie einladen müssen. Erst war sie schadenfroh gewesen. Trotzdem war das Fest wunderschön gewesen und die Schwester lachte zuletzt. Zum Glück hatte sie noch zwei Jahre bis zu diesem Fest. Vielleicht machte sie auch Jugendweihe. Ach, egal.
Sie legte sich wieder ins Bett. Deckte sich fest zu. Schloss noch einmal die Augen. Gleich würde die Familie im Zimmer stehen. Bestimmt. Und da ging die Tür auf. „Alles Gute zum Geburtstag, Maus!“, gratulierte Mama überschwänglich. Zog sie fast aus dem Bett. Umarmte sie stürmisch. „Schönes neues Lebensjahr“, sagte Papa förmlich und drückte sie. Ihre große Schwester fuhr ihr über den Kopf: „Na, wachse mal ein bisschen nächstes Jahr. Sonst wirst du nie in meine Klamotten passen.“ Der Kleine war etwas schüchtern. Aber sie nahm ihn einfach in den Arm. Und lächelte ein bisschen.


Geburtstag (2)


„Viel Glück und viel Segen auf all deinen Wegen...“, sang die ganze Familie. Verschlafen blinzelte sie. Ach ja, sie hatte ja heute Geburtstag! Endlich! Seit vierzig Tagen zählte sie rückwärts und jetzt war es endlich so weit! Nacheinander fiel sie der Familie um den Hals. Zuerst der Mutter. Dann den zwei großen Schwestern. Zum Schluss dem Vater. „Alles, alles Gute, meine Kleine“, lächelte Grace, die Älteste von den Geschwistern. Ihre Jeans hatte Löcher und war ausgewaschen. Der dicke Pullover war viel zu weit. Aber Grace mochte es. Und sie mochte Grace. „Viel Spaß in der Schule und viele Freunde“, wünschte Jeannine und drückte sie fest. Der Parfümduft stieg ihr sofort in die Nase. Schon lange sagten Mama und Papa nichts mehr dagegen wenn Jeannine so aus dem Haus ging. Die Zeit war vorbei. Mit ihren jetzigen elf Jahren war sie selbst die Jüngste. Jeannine war vierzehn. Grace sechzehn.
„Komm mal mit ins Wohnzimmer!“ Mama war ganz aufgeregt. War sie immer bei großen Festen. Heute verzog sie ihr. Grace nahm sie Huckepack und Jeannine kitzelte sie. Fröhlich witzelnd erreichten sie das Wohnzimmer. Auf dem Tisch lagen viele Geschenke. „Nun packe schon aus, Minna!“ Behutsam hob Grace sie runter. Jeannine hatte schon den Fotoapparat in der Hand und fotografierte sie. Im Schlafanzug. Wie peinlich. In drei Wochen würden sie sich alle die Bilder zusammen ansehen und lachen.
„Die Blumen sind aber schön!“, sagte Minna und roch daran. Rosen, Nelken, Tulpen. Ein riesiger Mix aus allem. „Die sind von mir!“ Dankend umarmte Minna Jeannine. Dann beugte sich Jeannine zu Grace und flüsterte kaum hörbar: „Ich habe doch gesagt, dass sie die Blumen mögen wird. Du musst mal an das Erwachsene in ihr denken! Sie ist schließlich nicht mehr das kleine Mädchen von vor fünf Jahren.“ „Für mich wird sie das immer sein“, meinte Grace leise, den scharfen Ton ihrer Schwester völlig ignorierend. Minna packte derweil aus. Ein Buch. Auf dem Cover eine Reiterin. „Verschwörung auf dem Pferdehof“. Cooler Titel. „Ich dachte, dass dir das gefallen könnte“, meinte die Mutter und sah schon fast ängstlich Minna an. Die freute sich total und meinte: „Davon habe ich schon den Band davor. Ich liebe die Geschichten!“ „Das ist schön!“ Die Mutter war sichtlich erleichtert und Minna durchstöberte weiter ihre Geschenke. Ein ganz kleiner Brief zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Was wohl darin sein würde? Und von wem? Vielleicht ein Gutschein für ein Buch? Oder eine Glückwunschkarte? Voller Erwartung riss sie ihn auf. Zwei Karten kamen zum Vorschein. Eintrittskarten. Grace lächelte. „Wir gehen in drei Tagen zum Zirkus. Es ist eine Art Pferdeshow.“ Minna kam aus dem Staunen gar nicht wieder raus. „Das... Das ist Wahnsinn“, stammelte sie und umarmte Grace ganz fest. Diese streichelte der Kleinen nur über den Kopf. „Habe ich doch gerne gemacht.“ Doch nach drei Sekunden war das Geschenk schon wieder vergessen und Minna sah sich den Rest an. Eine Tüte. Ein dickes Geschenk. Rosa Geschenkpapier. Sofort riss sie das Papier ab. Ein Duschbad. Mit wohltuender Wirkung. „Das mochtest du doch so als wir im Urlaub waren“, meinte die Mutter munter und sah die Tochter glücklich an. Die lächelte zurück. Und doch konnte sie sich nicht an einen vergleichbaren Urlaub erinnern. Mama hatte etwas verwechselt haben müssen. Egal. Hauptsache sie war froh.
Nun wurde das große Geschenk ausgepackt. Leider musste Grace weg. Schule. Jeannine blieb noch. Sie wollte noch fünf Minuten bleiben. Dann musste sie auch los. Wollte den Zug nicht verpassen. Halle. Niemand aus der Familie hatte verstanden warum sie so weit weg wollte. Der Schulweg war doch so weit. Über eine Stunde. Ob sie auf das Internat gehen wollte? Nein, nein, erst ab der zehnten Klasse. Schon jetzt versuchten die Eltern alles um sie da runter zu kriegen. Denn zum gleichen Zeitpunkt würde auch Grace weggehen. So viel Verlust wollten die Eltern nicht. Aber sie akzeptierten es still. „Wenn ich dann mal ausziehe“, dachte Minna still und lächelte in sich hinein. Ob die Eltern sie aufhalten würden? Heute an ihrem Geburtstag wollte sie sich nicht mit diesen Themen auseinandersetzen.
Im großen Paket war ein kompletter Reiterhof von Playmobil. Toll! So etwas hatte sie sich schon immer gewünscht. Die Eltern waren froh. Sie auch. Mit den Eltern sah sie sich die Verpackung mit einem Bild des Hofes an. Jeannine ging. Zurück blieb eine Wolke von Parfüm. Mama sah ihr kurz nach. Widmete sich danach sofort wieder Minna. Ermutigte sie das letzte Geschenk auch noch aufzumachen. Ein Handy. Klein. Aber teuer. Wie oft wohl Mama mit Papa gestritten hatte bis ich das Handy bekam?
Wieder falscher Gedanke. Sie umarmte ihre Eltern stürmisch. Ging dann um sich anzuziehen. Die Eltern deckten den Frühstückstisch. Duft von Kaffee und heißer Schokolade. Marmelade. Toastbrot. Spiegelei. Zum wiederholten Male fluchte der Vater über den defekten Backofen. Lächelnd kam sie zum Tisch. Setzte sich zwischen die Eltern. Harmonie pur. Sie liebte diesen Tag. Ihr Geburtstag.


Der Traum von Russland



Sie saßen da. Schon seit einer halben Stunde. Stille. Niemand sagte ein Wort. Der Kaffee war längst kalt geworden. Die Brötchen auch. Es war fast jeden Tag so. Seit Jelena in die zwölfte Klasse ging. Seit dem ersten Schultag der zwölften Klasse. „Wir werden sie nicht ewig hierbehalten können“, sagte der Vater die ganzen unausgesprochenen Worte. In einem Satz. „Ja.“ Nicht mehr als ein Laut. Für sie beide wichtig. Schon seit einem Jahr sprach Jelena davon auszuziehen. Sie wollte nach Russland. Wo ihre Wurzeln lagen. Verwandte gab es keine mehr. Doch sie lernte schon das zehnte Jahr jetzt Russisch. War erfolgreich damit. Vielleicht bekam sie ein Stipendium. Dann würde sie in den Osten gehen. Wie Nikolai vor drei Jahren. Doch da war es nicht ganz so schlimm gewesen. Da gab es ja noch Jelena. Jetzt würde auch sie bald weggehen. Die Eltern wussten es.

Wenn Jelena aus der Schule kam hatte sie kaum was zu erzählen. Sie kam auch immer ziemlich spät. Hatte viele Hobbys. Chillen. Eines der Hobbys. Die Eltern wussten nichts damit anzufangen. Wenn Jelena davon erzählen sollte machte sie es nicht. Meinte, dass die Eltern es nicht verstünden. Wollte lieber von den neuen Bands erzählen, die die Freunde ihr zeigten. Spielte Lieder von Newcomern vor. Ging manchmal auf Konzerte. Oft wussten die Eltern nicht einmal welche Musikrichtung es war. Manchmal zeigte sie danach Bilder. Erzählte begeistert von irgendwelchen Sängern. Der Stimmung. Effekten. Vorbands. Background­sängerinnen. Outfits. Viel verstanden die Eltern nicht. Versuchten trotzdem zu nicken. Suchten im Internet nach den Themen um mitreden zu können. Fanden oft das Thema nicht. Zu neu. Auch das Internet war nicht allwissend. Doch wenn sie was gefunden hatten konnten sie drei Sätze mehr mitreden. Verstanden dann wenigstens ein bisschen. Jelena freute sich dann. Konnte stundenlang auf einem Thema herumkauen. Wo den Eltern nichts mehr einfiel fing sie erst an. Kein Wunder. Sie wollte Autorin werden. Oder deutsch-russische Übersetzerin. Das war ihr aller größter Wunsch. Wenn sie davon erzählte nickten die Eltern und dachten an die Drei in Grammatik. Jelena störte das gar nicht. Sie sagte, dass sie ja lernen konnte. Schließlich war sie noch nicht so alt. Da gaben die Eltern ihr Recht. Aber ob sie sich zuerst nicht um den Abschluss kümmern sollte? Das mache sie nebenbei, sagte sie. Die Eltern wussten, dass das nicht so einfach war. Doch Jelena ließ sich nicht beeindrucken. Fing erst drei Tage vor der Prüfung an zu lernen. Bekam volle Punktzahl. Lächelte kurz. Stürzte sich in andere Abenteuer.

Pünktlichkeit war nicht Jelenas Stärke. Oft kam sie zu spät. Entschuldigte sich nur manchmal. Dann machten sich die Eltern Sorgen. Nach 22 Uhr kamen die ganzen Kriminellen auf die Straßen hatten sie gelesen. Wollten, dass Jelena dann zu Hause war. Jeden Morgen versprach sie es. Jeden Abend kam sie 24 Uhr oder ein Uhr in der Frühe zurück. Hatte noch Freunde getroffen. Waren in der Stadt gewesen erzählte sie dann. Hatten am Springbrunnen die Füße reingehalten. Hatten für die Schule kurz gelernt. Wenn die Eltern ihr sagten, dass sie sich Sorgen gemacht hatten umarmte sie sie kurz. Sagte, dass sie mit einer Freundin nach Hause gefahren war. Dabei war nie jemand bei ihnen zu Hause gewesen. Zuckte dann mit den Schultern und verschwand. Im Weggehen war sie schon immer gut gewesen.

Gingen die Eltern mal mit Jelena in die Stadt grüßte sie viele. Manchmal auch Männer. Dann hatten die Eltern Angst, dass Jelena gleich vergewaltigt werden könnte. Sie war doch so hübsch. Schwarzes, langes Haar. Schlanke Figur. Schönes Gesicht. Lebendige Augen. Kein Wunder, dass die Typen sich nach ihr umdrehten. Jelena lachte dann immer nur. Sagte, dass sie einen festen Freund hatte. Ja, einmal war ein Mann bei ihnen zu Hause gewesen. Muskulös. Drei-Tage-Bart. Gebräunt. Kurze Haare. Danach hatten sie ihn nie wieder gesehen. Fragten sie Jelena ob sie nicht ihren Freund mal zum Abendbrot einladen wollte, nickte sie nur desinteressiert. Hatte es im nächsten Moment wahrscheinlich schon wieder vergessen. Wie leicht sie das Leben doch nahm. Nahm jede Hürde ohne Nachdenken. Die Eltern waren sehr stolz. Wenn Jelena doch nicht so oft weg gewesen wäre. Sie kannten sie ja kaum noch. Bei jedem Gang in die Stadt schien Jelena neue Leute zu kennen. Verkäufer kannten sie schon. Mit manchen war sie mal aus. Sie sagte es war harmlos. Die Eltern waren sich da nicht so sicher. Ob sie sich geküsst hätten? Wie gesagt, es wäre harmlos gewesen. Hatte er sie auch zu nichts gezwungen? Nein, nein, es war alles ganz freiwillig. Sie würde die „Bösen“ schon erkennen. Weiteres Fragen war dann sinnlos. Jelena hatte ihren Dickkopf.

Es kam auch vor, dass Jelena am Abend nicht wieder da war. Dann schlief sie bei Freunden. Meldete sich erst wieder am nächsten Tag. Hatte in der Zwischenzeit ihr Handy ausgeschaltet. Sorgenvoll saßen dann die Eltern bis in die Nacht am Tisch. Erwarteten schon, dass die Polizei anrief. Dabei war noch nie so etwas passiert. Noch nie war Jelena betrunken von einer Party heimgekommen. Die Eltern sollten froh sein. Das Erste mal als Jelena ohne Nachricht bei einem Freund geschlafen hatte, hatten die Eltern die Polizei einschalten wollen. Der Polizist hatte abgewunken. In dem Alter war es normal, meinte er. Das gab es oft. Die Eltern sollten froh sein, wenn die Tochter nicht betrunken durch die Stadt torkelte. Alles andere wäre normal. Und selbst in einem nicht nüchternen Zustand durch die Nacht zu torkeln wäre alles andere als komisch gewesen. Es gab viele solche Jugendliche.

Ob Jelena diesen Abend zurückkommen würde? Die Eltern waren sich sehr unsicher. Heute war eine wichtige Prüfung. Danach ging sie bestimmt noch feiern. Jelena hatte nichts davon gesagt, aber die Eltern konnten es sich denken. In dem Alter waren sie nicht anders, sagten sie sich. Legten sich dann hin. Taten so als wären sie zuversichtlich. Dabei waren beide sehr aufgeregt und konnten nicht schlafen. Standen dann doch wieder auf. Schalteten den Fernseher ein. Tranken ein Glas Weißwein. Dachten an Jelena. Bangten. Schauten jede Minute auf die Uhr. Liefen drei Mal zur Tür, weil sie dachten es hätte geklingelt. Immer wieder war niemand vor der Tür und sie gingen enttäuscht zurück ins Haus. Versuchten sich gegenseitig zu beruhigen. Gingen in Jelenas Zimmer. Atmeten tief den Geruch ihrer Tochter ein. Kamen sich in dem Zimmer doch wieder verloren und falsch vor und gingen wieder ins Wohnzimmer oder in die Küche. Hörten manchmal Radio. Ruhig machte das nicht. Manchmal half es trotzdem ein bisschen.

Einmal war die Mutter in Jelenas Zimmer gekommen. Hatte den aufgeklappten Laptop vorgefunden. Eine Suche nach günstigen Verbindungen nach Russland. Hatte sofort ihren Mann angerufen. Der hatte auch keine Lösung gewusst. Sie beide wollten Jelena am Abend zur Rede stellen. Doch sie antwortete nicht, sondern warf ihnen vor einfach in ihr Zimmer gegangen zu sein. Die Eltern waren empört gewesen. Schnell verstanden sie, dass es für Jelena wirklich eine Katastrophe gewesen war und entschuldigten sich. Jelena verzieh ihnen. Da waren die Eltern froh.

Jelena kam nach Hause. Hatte ihren Freund mit. „Hallo, ich bin wieder da“, rief sie schon im Flur. Die Mutter war sofort aufgestanden und in den Flur gegangen. Da war Jelena mit ihrem Freund. Unschuldig sah sie die Mutter an. „Du hast doch gesagt, dass ich ihn mal mitbringen soll.“ Überrascht nickte die Mutter. Schüttelte die Hand von Karel. Der überreichte einen Blumenstrauß aus weißen Rosen. Wie sehr freute sich da die Mutter. Zum Glück war Jelena an einen guten Freund gekommen. Karel war sofort willkommen. Nur der Vater wollte erst einmal testen wie Karel war und wartete ab. Doch als Karel ihm ein Taschenmesser gab war er zufrieden. Akzeptierte ihn in Gedanken schon als Schwiegersohn. Wer wusste ob die Beiden nicht schon Heiratspläne hatten. Er wollte auf alle Fälle auf alles vorbereitet sein. Und er schien gar nicht so falsch zu liegen. Jelena schaute ihren Angebeteten immer wieder beim Essen an. Erzählte von seinem Berufswunsch. Komponist. Also ein Gescheiter. Na ja, ob Jelena damit zufrieden sein würde? Geld war nicht regelmäßig garantiert. Die Mutter sagte ihre Befürchtungen aber nicht. Lächelte nur höflich. Freute sich für ihre Tochter. Sah die verliebten Blicke. Den Arm um die Schultern ihrer Tochter. Dass sie schon so alt war. Achtzehn. Schon so erwachsen. Sie konnte es kaum glauben. Und dann erzählte Jelena, dass Karel und sie nach dem Abitur sofort nach Russland wollten. Er hatte schon eine Uni gefunden. Sein Russisch war noch nicht ganz so gut, aber seit er Jelena kannte besuchte er zwei Mal in der Woche die Volkshochschule. Nur für sie. Der Vater fand die Aussichten, Russland betreffend, weniger schön. Wollte es der Tochter verbieten. Doch seine Frau legte eine Hand auf seinen Arm und hielt ihn zurück. Jelena war jetzt erwachsen. Erwachsen genug alleine Entscheidungen zu treffen. Erwachsen genug zu wissen mit wem sie sich traf. Das hatte die Mutter jetzt verstanden. Und sie war erwachsen genug um zu wissen was sie wollte und wohin sie wollte.


Ein Name



Sie lag mit geschlossenen Augen im Bett. Zur Wand gedreht. Louis. Der Name geisterte in ihrem Kopf herum. Louis. Warum konnte sie nicht aufhören an ihn zu denken? Louis. Louis. Immer wieder. Ohne Ruhe. Louis. Louis. Mit den Händen raufte sie sich die Haare. Fuhr immer wieder durch sie hindurch. Louis. Es war doch nur ein Name und trotzdem bedeutete er für sie so viel. Louis. Konnte er nicht endlich Ruhe geben? Erlösung? All die Zeit hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht. Louis. Wie sehr konnte ein Wort weh tun. Wie sehr? Louis. Wann hörte der Schmerz endlich auf? Wann hörte ein Herz auf zu bluten? Louis. Nur ein Name. Ein verdammter Name. Louis. Wie alt war er jetzt? Siebzehn. Schon so alt... Louis. Seit zwei Jahren immer wieder derselbe Name. Unaufhörlich. Immer wieder. Ohne Pause. Louis. Warum konnte sie nicht loslassen? Warum hielt sie an dem damals 15jährigen Jungen fest? Er hatte ihr doch alles genommen was ihr je einmal etwas bedeutet hatte! Ihr Leben. Die Freude. Ihr Herz. Louis. Ein unverkennbarer Ruf. Vom Kopf gesendet. Warum nur? Ihr Leben war doch schon nur noch ein Aschehaufen. Louis. Sie wollte ihn nicht gehen lassen. Nicht jetzt. Und auch nicht später. Vielleicht nie. Sie wusste selbst wie töricht sie war. Wie naiv. Louis. Und dich beherrschte er ihre Gedanken. Was war das? Louis. Ein Schrei nach Liebe. Louis. Ich vermisse dich.


Überraschungsmenü



Gelangweilt saß er auf seinem Sitzkissen. Jetzt hatte er es schon seit fünf Jahren. Seine Freundin hatte es ihm geschenkt. Sie war ein Engel. Blond. Selbstlos. Half allen. Spendete allen ihre Liebe. Er konnte vom Glück reden, dass er sie kennengelernt hatte. Irgendein Spendenmarathon. Nichts wirklich Wichtiges. Sie hatte Getränke ausgeschenkt. In ihrem kurzen Sommerkleid. Barfuß. Er hatte gähnend an der Laufbahn gestanden, wo viele Jugendliche für einen guten Zweck rannten. In kurzer Hose. Chucks. Dann war sie gekommen. Einen Punsch in der Hand. Dabei war es Sommer. Lächelnd hatte sie sich neben ihn gestellt und ihm den Punsch gegeben. „Das vertreibt ein bisschen die Langeweile“, hatte sie gesagt. Ihr Lächeln war himmlisch. Katzengrüne Augen. Feine, geschwungene Augenbrauen. Er hatte sie sofort gemocht. Jetzt waren sie schon sieben Jahre zusammen. Dabei war er erst siebenundzwanzig. Wahnsinn, dass er mit seiner ersten, großen Liebe so lange zusammen war. Na, bei der Frau!
Bald würde sie nach Hause kommen. Da seine Eltern eine erfolgreiche Firma hatten konnten sie schon jetzt in einer kleinen Wohnung einziehen. Es war okay.
Sie würde die Begrüßung wahrscheinlich überspringen und die Haare schwungvoll nach hinten werfen. Dann würde sie sich sofort in die Küche stellen und das Essen zaubern. Es war lecker. Sie kochte gut. Heute wollte er sie überraschen. Selber kochen. Wie sie reagieren würde?
Zum Essen schmückte er noch den Esstisch. Rosenblüten. Kerzen. Ein romantisches Dinner. Nur für sie. Weil er sie liebte. Über alles. Wein? Nein, sie mochte Alkohol nicht. Vielleicht einen selbst gemixten Bananenmilchshake? Sie trank ihn doch so gerne. Aber es passte nicht zum Essen. Egal. Es musste ja nicht perfekt sein. Er mochte es chaotisch sowieso lieber. Seit er sie kennengelernt hatte.
Die Tür ging auf. Er stellte den letzten Becher auf den Tisch. Fertig. Zur richtigen Zeit. Glück gehabt. „Hallo, Schatz!“ Freudestrahlend umarmte sie ihn. Das hatte sie schon lange nicht mehr gemacht. Wie gut sie roch! Parfüm. Lavendelparfüm. Aufgeregt lief sie schon in die Küche. Sah den gedeckten Tisch. „Aber Schatz, das wäre doch nicht nötig gewesen!“, stammelte sie überwältigt. Mit so einer positiven Reaktion hatte er gar nicht gerechnet. Wie wunderbar sie war. Erwachsen. Schlank. Vollkommen. Doch dann meinte sie: „Ist das deine Wiedergutmachung wegen Peter? Ach, du bist ein Schatz!“ Wieder umarmte sie ihn. „Peter?“ Ratlos sah er sie an. „Na, der Anwalt für die Organisation für die guten Zwecke bei der ich mitmache. Vor einem Monat hatten Peter und ich ein geschäftliches Treffen und du dachtest er ist mein Lover und hast ihn mit heißem Kaffee überschüttet. Du hast doch nicht vergessen, dass er heute kommt, oder?!“ „Nein, natürlich nicht“, murmelte er. Enttäuschung pur. „Ach, Schatz, du und Vergessen“, meinte sie zärtlich, „wir holen das Essen ein anderes Mal nach. Es wird sich schon eine Gelegenheit finden.“ „Klar.“ Er wusste, dass sie viel zu beschäftigt war um mit ihm ruhig mal zu zweit Abendbrot zu essen. Jeden Tag kam jemand von irgendeiner Organisation oder einem Kindergarten oder einer Privatfirma. Meist aß er alleine. Doch heute hatte er gedacht, dass sie Zeit hat. Einmal wenigstens. „Sei nicht traurig“, versuchte sie ihn zu trösten und schmiegte sich in seine Arme. Er konnte den Moment gar nicht mehr richtig genießen. Da klingelte es. Schnell wand sie sich aus seinen Armen und war schon an der Tür. „Das wird Peter sein“, dachte er sich. Keine drei Sekunden später hörte er schon ihre Stimme: „Hallo, Peter, schön, dass du zum Abendessen kommst.“


Klingeln



Sollte sie klingeln? Sie wusste es nicht. War zum x-ten Mal durch die Stadt gefahren. Hatte immer vor seinem Haus gehalten. Aber sie traute sich nicht zu klingeln. Bisher hatte sie es sich auch nicht getraut. Und heute? Rätselnd sah sie am Haus hoch. Erste Etage. Zweite Etage. Dritte Etage. Da wohnte er. Mit seiner Familie. Bestehend aus Eltern und zwei Schwestern. Er war der Größte. Auch für sie. Seine Augen, die manchmal schwarz schimmerten. Die Grübchen, die sich beim Lachen bildeten. Die Art sich um sie zu sorgen. Die Tonlage, in der er sprach. Die Art zu singen. Die ganzen Blicke, wenn sie an ihm vorbei lief. Der liebenswerte Dackelblick. Alles an ihm war kostbar. Das hatte sie ziemlich schnell kapiert. Und anders herum war es mal genauso gewesen. Und nun? Weg die Zeit, als wäre sie nie dagewesen. Zweieinhalb Jahre. Zeit der Verzweiflung und Trauer. Jetzt die Blicke. Für sie der Himmel auf Erden. Der Lottogewinn des Jahres. Das Schmuckstück was fehlte. Der Ton, der dem Lied das Besondere gab.
Klingeln? Nicht klingeln? Und was, wenn er sie abwies? Wenn er ihr einen Korb gab? Wenn seine Blicke nur mit ihren Gefühlen spielten? Oder er sie ohne Absicht ansah? Wenn er gar nicht zu Hause war? Oder eine Freundin bei ihm war? Oder gar die Freundin? Oder die Mutter ihr öffnete? Zweifelnd sah sie wieder hoch zu seinem Fenster. Licht brannte nicht. Aber es war ja auch am helllichten Tag. Kein Wunder. Was tun? Sein Fenster war offen. Aber vielleicht lüftete seine Mutter? Oder er hatte es vergessen zu schließen? Oder eine seiner Schwestern hatte es geöffnet?
Die Blumen am Haus standen in voller Blüte. Schienen in ihrer Pracht alles Andere in den Schatten zu stellen. Auszulachen mit ihrer Farbe. Leuchteten stärker als der hellster Stern in der Nacht. Machten sich gegenseitig Konkurrenz. Die Rosen reckten sich. Wollten mit ihren Dornen die Anderen ausschalten. Der Efeu kletterte an der Hauswand hoch. Als wollte er der Sonne „Guten Tag“ sagen. Für ihn war die Höhe die Leistung und nicht die Farbe. Tulpen, Stiefmütterchen und Primeln zeigten still ihr hübsches Gesicht. So offen. Und doch schüchtern. Jedes Jahr wieder. Sie mochte die Blumen.
In einer Art machten die Blumen sie fast wütend. Warum kam er nicht heraus um sie zu bestaunen? Warum sollte sie zu ihm hoch gehen? Warum kam er nicht? Warum war er so blöd zu ihr? Warum sagte er nichts? Warum konnte er nicht einfach hier sein? Warum konnte er jetzt nicht um die Ecke kommen und sie in den Arm nehmen? Verdammt! Er konnte sie mal! Sollte er doch versauern. Sie würde nur verächtlich lächeln! Und dann sollte er nicht auch noch ankommen und sie um Vergebung bitten! Wenn er als Jungfrau endete – ihr egal. Wenn er ihr bis zum Tod hinterherlief – ihr egal. Jetzt wäre der Zeitpunkt sich zu melden optimal. Und – kam er? Nein. Wie immer. Man musste auch Konsequenzen ziehen. Sie würde ihm nicht nachtrauern. Wenn er nicht um sie kämpfte. Sein Problem. Mehr als ein Mal hatte sie sich gemeldet. Nun war er an der Reihe. Nur ein Wort. Das reichte ihr schon völlig. Hohe Ansprüche hatte sie nicht. Heute nicht. Er musste ja nicht gleich ein Gedicht schreiben. Oder ein Lied singen. Nur ein kurzes „Hallo“. Mehr brauchte sie für den Anfang nicht. Und wenn es nur ein flüchtiger Gruß war. Ein Lebenszeichen. Irgendwas. Ach, sollte er bleiben wo der Pfeffer wächst! Und da konnte er sterben. Sie würde ihm keine Träne nachweinen. Oder auch nur einen Gedanken an ihn verschwenden!
Genauso schnell wie der Wutanfall gekommen war verflog er auch wieder. Sie kam zur Vernunft. Schüttelte die Wut wie selbstverständlich ab. Wischte sich eine Träne von der Wange. Ein letzter Blick nach oben. Klingeln oder nicht klingeln? Ihn ansprechen oder nicht? Was sollte sie tun? Was sagen? „Ich habe meine Worte verloren“, dachte sie traurig, „habe die Wahrheit schon lange vergessen. Meinen Horizont in neuen Farben gestrichen. Eigentlich schade. Das Alte war nicht schlecht.“ Aber es sollte nicht sein. Jetzt nicht. Wie schon oft an diesem Tag drehte sie sich um und schob ihr Fahrrad noch ein paar Meter. Stieg auf. Fuhr los. Streifte in Gedanken durch seine Wohnung. Dachte an ihn.
Er kam ihr auch auf dem Fahrrad entgegen. Sah sie etwas überrascht an. Hielt nicht an. Fuhr weiter. Immer weiter. Wollte nicht anhalten. Noch sollte es nicht sein. Er konnte ja nicht wissen, dass sie von seiner Wohnung kam. Sie konnte ja nicht wissen, dass er überlegt hatte bei ihr zu klingeln.


Das Mädchen mit dem Skateboard



Nachmittags traf er sich meist mit seinen Kumpels an der Half Pipe. Dort gab es keine Erwachsenen und die Straße die vorbeiführte, war kaum befahren. Die Half Pipe war der ideale Ort um abzuhängen, sich mit Freunden zu treffen, Drogendeals und andere krumme Sachen. Mehrere Skatercliquen hatten ihren Stamm­platz hier. Der Ort war genial!
Als er heute hinkam, es war Dienstag 14 Uhr, sah er schon Torges Clique. Sie kamen aus der 92. Mittel­schule, die mit fast allen umliegenden Schulen Krieg führte. Torges Clique war immer mit im Geschehen. Und da sie regelmäßig die Schule schwänzten, hatten sie genug Zeit etwas auszuhecken. Meist hatte Torge die Ideen. Die Anderen waren viel zu dumm dafür. Wie Torge auf die Mittelschule gekommen war, war ihm sowieso ein Rätsel. Im Gegensatz zu den anderen Boardern war Torge weder blöd, noch gestört oder schwer von Begriff. Im Gegenteil, fast niemand war so schlau, listig und gewieft wie Torge. Einer der Gründe, warum sich viele seiner Clique angeschlossen hatten. Es war weniger die Freude am Boarden, als an Torges Einfällen.
„Hey, Alter“, begrüßte Enzio ihn, „was geht?“ „Alles roger“, antwortete Vico, „macht Torges Clique wieder Stress?“ „Nee, heute ist Dienstag, vergessen? Tag des Chillens“, grinste Enzio und schlug Vico kamerad­schaftlich auf die Schulter. Vico nickte nur. „Wo ist Roger?“ „Kein Plan“, meinte Enzio, „er hat sich heute noch nicht sehen lassen.“ Über Roger war nicht viel bekannt. Ob er das Gymnasium besuchte wusste man auch nicht. Und ob er gute Noten hatte. Oder ob er klaute. Oder ehrlich sein Geld verdiente. Oder wie lange er schon Skateboard fuhr. Nur eines war sicher: Er war einer der Besten Boarder der Half Pipe! War er da war Torges Clique ruhig. Niemand traute sich Roger zu widersetzen. Ein Grund warum Vico in seiner Clique war. Der Schutz tat gut. Auch wenn er das nie zugegeben hätte.
„Was haste heute so gemacht?“, wollte Vico von Enzio wissen. Der zuckte mit den Schultern: „Dies und das. Habe eine Stunde heute geschwänzt. Nichts wirklich Wichtiges.“ Vico wusste, dass Enzio aufs Gymnasium ging und extrem gut war. Hier sagte er es nicht. Dass er schwänzte war auch allgemein bekannt. Aber bei seinen Noten rührte auch kein Lehrer die Finger wenn er früher ging. Es war ihnen egal. „Und bei dir?“ „Nur Scheiß, wie immer. Der Direx dreht mal wieder voll am Rad. Hat heute früh verkündet, dass Schwänzen mit einem Schulverweis quittiert wird. So ein Penner!“ Enzio gab Vico total Recht, dabei schwänzte Vico nie. Doch schulische Sachen waren hier egal. Von wo man kam oder welche Eltern man hatte – egal. Ob man reich oder arm war – egal. Hauptsache man hatte ein Skateboard unter dem Arm. Dafür musste man noch nicht einmal skaten können. Die Tatsache, dass man ein Board besaß gab einem schon das Recht in einer Skaterclique zu sein. Man konnte sich die Clique selbst heraussuchen. Doch es gab Anführer wie Roger, die ein gewisses Talent beim Skaten voraussetzte. Der Rest konnte sehen wo er blieb. Und ob sie dann zu Torge überliefen war ihm egal. Er hatte schließlich alle im Griff. Behielt immer den Überblick. Was machte da schon ein Würmchen mehr oder weniger?
Azzo kam auf Vico und Enzio zu und hielt ihnen die Hand zum High Five hin. Grinsend schlugen die Jungen ein. „Was geht?“, fragte Vico. „Alles roger“, antwortete Azzo. Es war schon fast wie ein Ritual, dass immer der, der als letztes gekommen war die Frage stellte und der Neue sich dann zu seiner Gruppe bekannte. Jede Clique hatte ihren Begrüßungsspruch.
„Was geht bei euch?“, wollte Azzo wissen. „Roger ist noch nicht aufgetaucht“, erwiderte Enzio ein bisschen mürrisch. „Denkste der hat ´ne Braut?“, fragte Azzo. Überrascht sahen Vico und Enzio sich an. „Nee“, meinte Vico unschlüssig, „Roger und ´ne Braut? Vielleicht auch noch ´ne Boarderbraut? Wo will er denn so Eine herkriegen?“ Es stimmte. In der ganzen Half Pipe gab es kein Mädchen was Boarden konnte. Alle Mädchen, die hier waren, waren wegen ihrem Freund hier. Man sah es an dem nuttigen Outfit. Meist waren die Mädchen viel zu sehr geschminkt, sodass es schon fast peinlich war. Oder sie waren dumm wie Stroh. Oder benahmen sich wie eine Dirne. „Hab ich ´ne Ahnung wen Roger kennt“, sagte Azzo schon fast beleidigt. „Ist schon gut, Alter“, beruhigte ihn Enzio, „woher sollst du´s auch wissen?!“ Soweit die Jungs denken konnten, hatte Roger kein Mädchen berührt. Alle, die hier waren, wurden nur mit einem verächtlichen Lächeln gemus­tert. Bisher hatte keine Roger gefallen können. Ob das sich je ändern würde?
„Aber dieses Mädchen hier“, erinnerte sich Vico, „die immer an Dienstagen hier vorbeikommt.“ Verständnis­los sahen Enzio und Azzo ihn an. „Na die mit dem Skateboard“, half Vico ihnen auf die Sprünge. Immer noch nichts. „Ey, Leute, das Mädchen mit den schwarzen, kurzen Haaren und den übelst schwarz geschminkten Augen und der Lederkette und den Klunkern am Arm.“ „Und den schwarz lackierten Fingernägeln“, fiel Azzo Vico ins Wort, „na sag doch gleich, dass du die meinst!“ „Stimmt, Alter, die hatte ich fast vergessen“, rief Enzio. „Die kommt schon seit mindestens acht Wochen hierher“, meinte Vico. „Quatsch, länger“, widersprach Azzo. „Aber ist auch die einzige Boarderbraut hier.“ „Ob Roger die kennt?“, überlegte Enzio. „Der kann doch nicht alle kennen“, entgegnete Azzo. Doch Vico war sich da nicht so sicher: „Roger kennt extrem viele. Nicht nur solche wie Torge. Auch Girls. Sogar manche Assifreundinnen von Torges Clique kennt er. Der hat seine Kontakte.“ Und in diesem Moment kamen Roger und das Mädchen mit dem Skateboard Hand in Hand zur Half Pipe.


Peregrin


„Iduna!“, rief sie und eilte der Freundin hinterher, die fast von der Schülermenge verschluckt wurde. Außer Atem erreichte sie Iduna, die lächelnd auf sie wartete. „Fährst du heute Bahn?“, wollte Iduna von ihr wissen. „Ja, ich denke schon“, antwortete sie. Gemeinsam ließen sie sich mit dem Strom der Schüler aus dem Schulhof treiben. Wie viele andere auch gingen sie die Straße nach links. „Wie fandest du eben Deutsch bei der Schulze?“, wollte sie wissen. „Ätzend“, sagte Iduna aus tiefstem Herzen, „wenn ich bei der in der Arbeit eine Fünf kriege, denken meine Eltern über eine Nachhilfe nach. Dann habe ich noch weniger Zeit als jetzt schon. Aber das wollen sie nicht hören. Meinen, dass ich es mir ja selber ausgesucht habe. Habe ich ja auch, aber noch mehr... Nee, das wird zu viel. Ich muss auch mal einen Schlussstrich ziehen.“ Sie gab ihr Recht. Bewunderte sie im Stillen. Bewunderte die schwarzen glatten Haare. Bewunderte die zierliche Figur. „Was wirst du vermutlich in der Arbeit kriegen?“ Sie überlegt. Die Klassenbeste ist sie nicht. Aber wenigstens an Dritter Stelle. Also könnte es relativ gut werden. „Ich denke mal eine Zwei.“ „Deine Noten möchte ich haben“, seufzte Iduna. Die hellblauen Augen streifen sie kurz. „Und deine Figur möchte ich haben“, meinte sie. Iduna stutzte: „Meine Figur? Aber, aber, du siehst wunderschön aus. Wenn ich diese blonde Lockenmähne hätte. Aber nein, man musste mir dieselben langweiligen, schwarzen Haare wie meiner Mutter geben. Schrecklich, nicht?“ „Ich würde deine Haare sofort nehmen, wenn ich tauschen könnte. Die Locken sind echt schwer zu zähmen. Die wachsen mir noch über den Kopf!“ Iduna und sie lachen kurz über ihren kleinen Scherz. Die Bahn war schon jetzt zu sehen. „Die müssen wir kriegen, sonst können wir wieder eine Viertelstunde warten. Und ich bin heute mit Peregrin verabredet!“ „Peregrin?! Der Peregrin?!“ „Ja.“ Iduna platzt fast vor Stolz. Ihre Randbemerkung hat die gewünschte Wirkung nicht verfehlt. „Ist das ein Witz?“, fragte sie ungläubig. Jetzt lachte Iduna fröhlich: „Natürlich nicht! Gestern habe ich Peregrin vor dem verwitterten, alten Gebäude in der Stadt gesehen. Du weißt doch wo, oder?“ Sie nickte. „Und er hat auf der Mauer Gitarre gespielt, wie er es so oft tut.“ Sie hing förmlich an Idunas Lippen. Versuchte jedes Detail sich zu merken. Die Freundin erzählte weiter: „Und da habe ich ihm gesagt, dass er total schön spielt. Und weißt du was er gesagt hat? - Dass ihm das noch nie jemand gesagt hat. Und dass das echt süß von mir sei.“ Iduna quiekte vor Glück. „Und dann habt ihr euch verabredet?“ „Nee“, wehrte Iduna ab, „wir haben noch eine Weile geredet. Über seine Musik und die Schule und die Stadt. Und am Ende habe ich ihm meine Handynummer gegeben.“ „Hat er angerufen?“ „Nee, er hat eine SMS geschickt. Total niedlich. Schau mal!“ Nun sind sie an der Bahn angekommen und eingestiegen. Iduna wühlte in ihrer Tasche und zog das rote Handy heraus. Dann suchte sie eilig nach der SMS. „Hier!“ Triumphierend hielt sie ihr das Handy entgegen. „Sehen wir uns morgen? Vllt um drei an der Oper? Ich habe Karten besorgt. P“, stand da. Irritiert sah sie ihre Freundin an: „Aber du hasst doch die Oper wie die Pest!“ „Nee, nee, die geht schon. Und jetzt ist ja Peregrin dabei.“ Wie schnell Iduna doch die Meinung wechselte. Aber bei dem Jungen wäre wohl Jede schwach geworden. Peregrin war stadtbekannt. Jedes Mädchen schwärmte oder hatte mal für ihn geschwärmt. Er war muskulös, hatte einen braunen Wuschelkopf, spielte Gitarre und sang dazu. Die Orte, an denen man ihn sah, waren unterschiedlich. Manchmal an der U-Bahn. Dann wieder vor Kaufhäusern. So war er bekannt und beliebt. Auch wenn noch niemand mit ihm gesprochen hatte – bis jetzt. Jetzt hatte Iduna ihn angesprochen. Und er war nicht abgeneigt oder hochnäsig gewesen, sondern hatte mit ihr geredet. Sie sogar in die Oper eingeladen! Dabei waren die Karten sehr teuer. Und die Schauspieler nicht gerade die Besten. Aber neidisch war sie schon auf Iduna. Wie oft hatte sie sich ausgemalt ihn einmal anzusprechen. Nur kurz. Und ein „Hallo“ aus seinem Mund zu hören. Der Himmel auf Erden! Oder nur kurz einen Blick auf ihn zu werfen. Mehr musste es ja gar nicht sein. „Freust du dich denn gar nicht für mich?“, wollte Iduna wissen. „Doch, natürlich“, sagte sie ohne Überzeugen und rang sich ein Lächeln ab, „natürlich freue ich mich für dich. Schließlich bin ich doch deine Freundin.“ Den falschen Unterton hatte Iduna nicht gehört. Dazu schwebte sie zu sehr auf Wolke Sieben. „Mach mal Bilder und schicke sie mir“, bat sie, „und dann musst du ihn mir sofort vorstellen. Schließlich muss ich doch als Erste wissen mit wem du gehst!“ Aufgeregt lächelte Iduna und bekam einen Schluckauf. „Mach ich“, versicherte sie ihr, „am besten gleich morgen. Ich werde es ihm sagen.“ Nett lächelte sie ihrer Freundin zu. Insgeheim dachte sie sich: „Wie kann man nur so blöd sein? Ich bekomme ihn schon. Wer weiß, was Iduna morgen so zufällig passiert...“


Gedanken


Jeden Tag denke ich über dich nach. Hast du vielleicht auch nur den Hauch einer Ahnung wie du mich quälst? Tausend Blicke. Ein kurzes Lächeln. Willst du mich fertig machen? Fast drei Jahre. Und ich liebe dich noch immer. Mach nur so weiter. Mit mir kannst du ja anstellen was du willst. Idiot! Aber wenn du nicht diesen Dackelblick und diese Grübchen hättest könnte ich ja vielleicht loslassen. Dein Benehmen gegenüber mir ist echt geschmacklos. Unterste Schublade. Was willst du? Mich anschauen? Zum Spaß? Um mir beim qualvollen Tod zuzusehen? Kannst du haben. Doch versuche danach nicht anzukommen. Es würde nur noch mehr wehtun. Zu wissen, dass du die ganze Zeit geschwiegen hast, während ich mich gequält, geängstigt und zerschunden habe. Alles nur für dich. Dass du mich ansiehst. Lächelst. Aber nie auf meine SMS antwortest oder auf meine stummen Worte. Blicke können nicht lügen. So hat man es mir gesagt. Bei dir bin ich mir da nicht so sicher.
Deine braunen lockigen Haare fallen dir manchmal ins Gesicht. Kräuseln sich wie sie es wollen. Im halbdun­kel sehen deine Augen schwarz aus. Unglaublich niedlich. Dass ich dieses Gesicht mal geküsst habe. Gestreichelt habe. Jetzt nur noch eine dunkle Erinnerung. Noch lange nicht vergessen. Nur einmal möchte ich wieder in deinen Armen liegen. Deinen Lügen Glauben schenken.
Wenn du mich anschaust bleibt die Welt stehen. Die Sterne hören auf sich zu drehen. Bei Niemandem habe ich bisher so etwas gespürt. Du bist so einzigartig. Ich bin wohl eine der wenigen, die so denken. Mit Leuten aus deiner Klasse bin ich befreundet. Sie mögen dich nicht. Aber das hält mich nicht davon ab dich zu lieben. So wie du bist. Wie du geschaffen wurdest. Wie du lebst. Wie du handelst. Keine Eigenschaft an dir ist falsch. Kein Gedanke scheint unüberlegt. Liebst du mich noch? Wann willst du mir sagen was du fühlst? Sag doch einfach, dass du unsicher bist. Ich werde dich nicht verurteilen. Werde versuchen dir zu helfen. Dir einen neuen Weg zu weisen. Egal ob ich jünger bin. Manches kannst du noch von mir lernen. Und ich von dir. Ein gegenseitiges Nehmen und Geben. Langeweile kennen wir nicht.
Die Zeit früher war so perfekt. Mit dir. Unruhige Nächte. Weil du neben mir lagst. Du bist ein Geschenk Gottes. Mit dir geht die Sonne auf. Nimmt die Welt ihre Farben an. Leuchten die Sterne. Ohne dich ist die Welt so grau. So langweilig. Ohne Sinn. Doch ich werde um dich kämpfen. So wie ich es schon so lange mache. Nicht, dass ich sonderlich viel Hoffnung hätte. Aber die Liebe zu dir wird nie erlöschen. Mein Herz hört ohne dich nie auf zu bluten. Niemand kann mehr Macht auf mich ausüben als du. Deine Blicke lassen mich gehorchen. Regieren meine Gedanken. Lassen mich verzweifeln. Warum bist du so mächtig? Warum bin ich dir Untertan? Sag mir, was du machst. Sag mir, wie das passieren konnte. Ich bin doch sonst nicht so. Das weißt du. Wir haben uns beide verändert. Seit der Trennung. Warum musstest du auch so einen Mist machen? Hätten wir nicht zusammenbleiben können? Aber nein, der Zeitpunkt war noch nicht erreicht. Wann ist er denn erreicht?
Wütend bin ich nicht auf dich. Könnte ich gar nicht. Du bist viel zu gut. Auch wenn du mir wehtust. Mein Herz zerbrichst. Es ist mir doch egal. Denn ich liebe dich. Ich liebe dich so sehr.


Segenswünsche



Wieder einmal einer dieser langweiligen Tage. In der Schule nur Mist. Zu Hause Langweile wenn die Lehrer nicht gerade einen Haufen Hausaufgaben gegeben hatten. Abends war dann Jugendchor. Längst hatte der Chorleiter den Überblick über den Chor verloren. Es waren vielleicht siebzig Mädchen und dreißig Jungs. Von dreizehn bis achtzehn Jahren war alles vorhanden. Und es machte den Jugendlichen Spaß. Das war das Wichtigste. Auch wenn der Chorleiter nicht mehr ganz Herr dieser Meute war, war ihm das Befinden seiner Schützlinge wichtig. Manchmal beobachtete er auch eine Person. Oder zwei. Zwei Freundinnen. Oder einen Jungen und ein Mädchen, die in den nächsten Wochen wahrscheinlich zusammenkamen. Er hatte da ein bestimmtes Gefühl für. Wenn er gut drauf war machte er manchmal Andeutungen. Und schon mehr als ein Mal waren diese Leute dann zusammen. Ihn freute es im Herzen. Deswegen war er auch so beliebt. Natürlich wusste er es und wollte es auch so behalten. Doch dafür musste er jede Chorstunde aufpassen. Bei schwierigen Sachen ließ er manchmal Leute einzeln singen. Manchmal diese Paare. Aber mindestens einer von denen konnte nur halbwegs gut singen.
Heute wurde ihm ein neues Mädchen vorgestellt. Man kam bei Neulingen immer noch zu ihm. Auch wenn bekannt war, dass er schon längst nicht mehr wusste wer wirklich dazugehörte. „Das ist Paulette. Aber nennen Sie sie Banjo“, stellte eine dunkelhaarige 17jährige eine 16jährige vor. „Ist das denn für dich in Ordnung?“, fragte der Chorleiter und sah die blonde Banjo an. „Klar.“ Ihr offenes Lächeln war sofort sympathisch. „Donna, zeige Banjo doch den freien Platz im Alt und komme dann bitte noch einmal zu mir“, bat der Chorleiter. Ihm war ein Einfall gekommen. Er würde Banjo heute beobachten. Ihr Lächeln war so warm und er wollte wissen wen sie kannte und warum sie hier war. „Entschuldigen Sie, könnte ich in den Sopran 1 wechseln?“, wurde er schon wieder von einer kleinen Japanerin angesprochen. Hier im Ort gab es wirklich viele Ausländer. Deswegen wurde sehr auf Akzeptanz anderer Kulturen gebaut. Meistens konnten die Kinder die einheimische Sprache, doch die Eltern sprachen meist noch die andere Sprache. „Ja, ja, du kannst wechseln“, meinte der Chorleiter und scheuchte die Japanerin weg. Dankend flitzte sie davon. Und Donna kam wieder. Sie war die Tochter des Kantors und erfreute sich großer Beliebtheit. Nicht nur ihre Art, sondern auch ihre Schönheit waren bekannt. Fröhlich sah sie den Chorleiter an. Ein großes Fragezeichen in den Augen. „Wer ist Banjo?“, wollte er wissen. Donna überlegte kurz: „Banjo ist ein sehr nettes Mädchen. Sie wird bei uns und in höheren Klassen oft akzeptiert. Und sie hat ein gutes Urteilungsvermögen. Ihr Wissen ist ziemlich groß. Manche Sachen versteht sie, die ich nicht verstehe. Manchmal treffe ich mich mit ihr. Dann gehen wir shoppen. Sie steht mehr so auf den Jeans-Look mit bunten T-Shirts. Nichts Einfarbiges. Eher bunt. Und sie liebt die Musik. Spielt in einem Orchester mit. Singt. Spielt Violine, Bassflöte und Klavier. Alles sehr gut. Banjo ist weder auffällig, noch grau. Aber wer genauer hinschaut sieht die bemerkenswerte Person mit anderen Augen.“ Der Chorleiter schmunzelte. Er mochte es, wie Donna die Leute beschrieb. Selbst ihre größten Feinde bekamen gute Beschreibungen. Aber sie zog nicht alles ins Positive, das wusste der Chorleiter. Sie beobachtete wie er. Daraus hatten sie schon fast ein Hobby gemacht. Für sie war es schon fast ein Job. Weil sie so viele um sich herum hatte. Da brauchte sie genauere Vorstellungen.
„Danke. Weißt du wen sie hier kennt?“ Er wusste, dass sie keine genauen Beziehungen erklären würde. Ob sie jetzt Banjos Feinde oder Freunde nennen würde musste er herausfinden. Doch genau das machte die Sache so schmackhaft. „Vom Sehen kennt sie alle. Aber genauer kennt sie mich, Helena, Ole, Franzi Lanze und Kashmir. Ich könnte noch mehr nennen, aber da würden Sie wahrscheinlich nie die Verbindung finden. Das sind die Wichtigsten. Banjo kennt viele, auch wenn die sie nicht kennen. Sie hat ein gutes Gedächtnis.“ „Danke dir, Donna.“ „Nichts zu danken“, sagte die Brünette und lief sogleich wieder zu Banjo. Sofort wandte sich der Chorleiter den anderen Jugendlichen zu, doch in seinem Kopf ging er alle Informationen noch einmal durch. Wer wusste schon welche er einmal brauchen würde.

Wie gewohnt fing der Chor um sechs Uhr dreißig an. Laut einer von Donna erstellten Liste waren drei abwesend und der Chor fasste hundert Leute. Zum Glück war das Gemeindehaus groß genug für die ganzen Jugendlichen. Sobald es halb sieben war herrschte Stille. Die alten Hasen rempelten die Schwätzer an und zwangen sie ruhig zu sein. Dafür war der Chorleiter dankbar. Da er etwas älter war mochte er nicht so laut werden. Er genoss die Ruhe. Doch er konnte auch anders. Das hatte er in der Anfangszeit oft beweisen müssen. Jetzt waren die damals aufmüpfigen Teenies erwachsene Leute, die den Anderen das Schweigen beibrachten und die Autorität des Chorleiters am allermeisten unterstützten.
„Bi Ba Bi Ba Bi Ba Bi Ba“, sang der Chorleiter die Tonleiter vor. Die Jugendlichen wiederholten. Unbemerkt musterte der Chorleiter Banjo, die mit vollem Einsatz sang. Ihr hübsches, jugendliches Gesicht hatte glänzend grau-blaue Augen. Die Lippen geschwungen. Ruhig sang sie. Ohne Hast. Keine Atemprobleme. Sie sang schon länger erkannte der Chorleiter. Vielleicht ging sie auf das Musikinternat der Stadt. Oder hatte Gesangsunterricht seit mehreren Jahren. Doch selbst wenn es so war, war sie doch recht begabt. Donna hatte Recht gehabt. Donna hatte oft Recht. Wenn nicht gar immer.
Banjo wiederholte eifrig die Übungen, die er vormachte. Quintenschaukel, Terzen aufwärts, Oktaven. Soweit er es bei über neunzig Teenies hören konnte sang sie richtig. Und nicht leise. Ein guter Alt. Wie er sie einge­schätzt hatte. Manchmal schätzte er falsch, doch Banjo schien wie geschaffen für diese Stimme.
Langsam glitt sein Blick über den Rest des Chors. Im Sopran sah Helena einmal zu Banjo. Begrüßte sie durch ein Nicken. Erfreut nickte sie zurück. Zwei andere Soprane sahen Banjo kurz etwas erstaunt und ärgerlich an. Es waren zwei Zicken, nicht älter als fünfzehn. In diesem Alter war es normal. Er kannte viele Jugendliche dieser Art.
Franzi Lanze aus dem zweiten Sopran hatte Banjo schon früher beim Ankommen begrüßt. Das hatte er gesehen. Beim Einsingen lächelten sie sich manchmal an. Franzi Lanze war erst im letzten Jahr dazu­gekommen. Sie war gerade vierzehn geworden. Ihre Singtechnik war noch verbesserungswürdig. Die Stimme leise und gehaucht. Aber sie hatte Potenzial. Wenn sie noch drei weitere Jahre zum Chor kommen würde, würde sie einen sehr guten zweiten Sopran abgeben. Sein Ziel war es aus Franzi Lanze einen Alt zu machen, denn für einen Sopran reichte es nicht. Schon bei ihrem Beginn hatte sie es zugegeben. Außerdem hatte er ihr angeboten im nächsten Schuljahr sie in Stimmbildung zu unterrichten. Franzi Lanze hatte zugesagt und sich gefreut. Denn das bot er nur wenigen an. Bisher nur Donna und ihr. Würde Banjo dazu­kommen? Niemand war ihm bisher so ins Auge gestochen wie Banjo. Warum? Weil Donna so gut von ihr sprach? Weil der Spitzname so außergewöhnlich war? Banjo glich den meisten 16jährigen Mädchen. Auch wenn sie besonders schön war. Aber bisher war ihm Schönheit unwichtig gewesen. Was machte schon Schönheit? Warum fand er Banjo so anders? So wichtig? Donna würde noch einige Fragen beantworten müssen, da war er sich sicher.
Weiter ging es in der Beobachtung. Im Alt war wahrscheinlich nur Donna eine bessere Freundin. Er sah mehrere Seitenblicke. Doch genaueres war bis jetzt nicht zu erkennen. Der Alt war auch etwas dünner besetzt mit nur fünfzehn Mädchen. Dafür waren Donna und Theresa dabei. Und seit Banjo da war klang der Alt wie alle anderen Stimmgruppen. Der Chorleiter war stolz.
Ole aus dem Tenor hatte Banjo mit einem knappen zunicken zur Kenntnis genommen. Er musste jetzt um die fünfzehn Jahre alt sein. Demzufolge ein Jahr jünger als der Chorleiter Banjo schätzte. Was Ole mit Banjo zu tun hatte konnte er sich nicht vorstellen. Vielleicht dieselbe Schule. Aber das Thema war hier verboten. Es führte nur zu schlechter Laune. Schon einmal hatte der Chorleiter das erlebt.
Mehr aus dem Tenor schienen es nicht zu sein, auch wenn Ole seinem Nachbar etwas ins Ohr flüsterte und der darauf Banjo ansah und nickte. Weiter zum Bariton. Mit zehn Jungen war der Bariton eine normal besetzte Stimmgruppe der Jungen. Wer herausstach: Kashmir und Lukas. Kashmir und Banjo kannten sich. Doch der Chorleiter hatte noch keine Ahnung wie sie zueinander standen. Bisher hatte Kashmir ein einziges Mal kurz zu Banjo gesehen und sofort wieder weg. Nichts ungewöhnliches. Ein normaler Musterblick. Auch wenn der Chorleiter wusste, dass mehr darin lag. Die Unbekannten musterte Kashmir anders. Was genau in seinem Blick lag konnte der Chorleiter nicht mit Bestimmtheit sagen. Etwas Neues. So etwas hatte der Chorleiter noch nicht bei Kashmir gesehen und er beobachtete ihn genau. Alle Juwelen in den Stimmgrup­pen wurden genaustens kontrolliert. Bekamen manchmal Einzelproben wenn der Chorleiter Fehler bemerkte. Die meisten Juwelen waren aus dem Musikinternat. Bisher war nur Lukas eine Ausnahme. Der war nämlich in mindestens zehn Kilometer Entfernung auf einer Musikschule mit Spezialisierung auf Komponieren. Trotz dessen wurde Gesang unterrichtet und auch Wahlweise Geige, Kontrabass oder Oboe. Der Chorleiter war selber einmal auf der Schule gewesen.
„Wir nehmen uns jetzt das Weihnachtsoratorium Seite zehn vor. Ich möchte den Tenor noch einmal einzeln hören. Der Bass summt dazu mit“, ordnete der Chorleiter an. Dabei ließ er Kashmir und Banjo nicht aus den Augen. Die beiden konnten sich nicht sehen wenn sie so saßen. Aber er wollte es darauf ankommen lassen. „Bevor wir loslegen tauschen bitte Banjo und Raja die Plätze. Das bleibt so.“ Banjo und Raja standen auf und wechselten die Plätze. Wie der Chorleiter sah bemerkte auch Banjo ziemlich schnell, dass sie Kashmir sah. Ihr Blick veränderte sich schlagartig. War es Angst? Verzweiflung? Er konnte es nicht sagen. Aber auch Kashmir hatte schnell realisiert was Sache war und stierte in das Oratorium. Was verband die Beiden? Grübelnd spielte der Chorleiter die ersten Akkorde und der Tenor stimmte ein. Bis Seite elf tat sich gar nichts. Sobald aber Seite zwölf kam sahen Banjo und Kashmir sich gleichzeitig an. Der Chorleiter bemerkte es. Aufmerksam betrachtete er das Geschehen vom Klavier aus. Banjos Blick war lieblich und verletzlich geworden. Vielleicht sogar zart und mitleidig. Freundschaftlich. Kashmirs Pupillen hatten sich für einen Bruchteil geweitet. Er hatte einen grimmigen Gesichtsausdruck, doch sein Blick verriet eine Gefühlsregung. Wie auf ein Kommando sahen beide sofort wieder weg. Schauten ihren Nachbarn an. Ob der vielleicht etwas gemerkt hatte? Nein. Denn die Nachbarn sahen in die Noten. Und da verstand der Chorleiter was die beiden verband: Eine vergangene Liebe. Die längst wieder intakt wäre wenn einer der Beiden sich trauen würde. Und da hatte der Chorleiter eine Idee: Am Ende der Chorprobe ließ er das Buch mit den ganzen leichten Liedern herausholen. „Banjo und Kashmir, würdet ihr bitte aufstehen und uns die Nummer fünf vorsingen?“ Unschlüssig sah Banjo Donna an. Sie wusste also davon. Ohne Umschweife stand Kashmir auf. Lächelnd sah der Chorleiter die Beiden an. Ließ sich nicht anmerken, dass die Beiden eine Verbindung hatten. „May the road wise to meet you“, sang Banjo. Die Frauenstimme hatte ein Solo. Kashmir warf einen Blick auf sie und der Chorleiter merkte wie Banjo sich anstrengte. Dann sang sie auswendig. Sie kannte das Lied also. Aber es war nicht zufällig ausgewählt: Irish Blessing – Irische Segenswünsche. Kashmir und Banjo würden nur füreinander singen. Und vielleicht würde dieses Lied die beiden wieder zusammenführen. Denn die Beiden sangen mit Bedeutung. Segenswünsche. Glück für den Anderen. Segenswünsche. Verzweiflung auf beiden Seiten, aber Segenswünsche konnten helfen. Die Liebe war noch nicht weg. Segenswünsche. Für sie beide. Segenswünsche. Würden sie vielleicht zusammen führen.

Schnee in der Nacht


Es hat geschneit in der Nacht. Leichte Flocken. Vom Himmel.
Es hat geschneit in der Nacht. Ich stand am Fenster. Ich habe es gesehen.
Es hat geschneit in der Nacht. Dicke Eisblumen. Schmückten mein Fenster. Deckten die Erde zu. Du wusstest, dass es schneien würde. Schon lange. Und du wusstest, wie sehr ich den Schnee mag. Wie schön ich ihn finde. Jeden einzelnen Kristall. Fein gearbeitet, als würde jeder ein Meisterstück.
Schnee. Seit du in mein Leben getreten bist. Auf leisen Pfoten. Und dich an mich geschmiegt hast. Geschnurrt hast. - Samtweiches Fell. Das ich gestreichelt habe. Schnee in deinem Fell. Weiß. Kalt. Wunderschön. Damals kannte ich deinen Namen noch nicht. Nannte dich „Schneeflocke“.
Seitdem liebe ich den Winter. Seitdem liebe ich dich. Graues Fell. Weiße Pfoten. Weil du so oft durch den Schnee gehst.
Du schlichst dich in mein Leben ein, wie du dich weg gestohlen hast. Ohne Vorwarnung. Dabei habe ich dich so geliebt. Schnurren. Fest in meinem Kopf eingespeichert.
Was mir von dir geblieben ist? Fast nichts. Nur Schnee von gestern.


Regenbogenband


Stumme Schreie. Wenn ich ihn ansehe. Stumme Schreie. Wenn abends meine Gedanken zu ihm fliegen. Um ihn kreisen. Stumme Schreie. Wenn ich seine Nähe spüre.
Das Band zwischen uns. Wechselt seine Farben wie ein Chamäleon. Mal hell. Mal dunkel. Mal ordentlich. Mal chaotisch. Heftige Gewitter. Strahlender Sonnenschein. Kein Wort. Zwischen uns. Zwischen ihm und mir. Nebel. Starre Wand. Mystisch. Gefährlich. Schützend. Undurchdringbar.
Nebel ist keine Lösung. Denn Nebel ist kein blauer Himmel.
Im siebten Himmel wird gelogen. Hier auch. Blicke können töten. Worte können lügen. Gesten können verraten.
Nichts. Nichts zwischen ihm und mir. Nichts. Nur das Band. Emotionen. Gefühle. Wahrheiten. Unausgesprochen. Nur das Band.
Wetterbericht seiner Gefühle. Meiner Gefühle. Gewitter. Fehlende Prognose. Donner. Kannst du mich hören? Blitz. Wo bist du?
Das Band verbindet. Hoffnung. Trugbilder? Einbildung? Realität? Halbe Wahrheiten?
Das Band macht glücklich.
Das Band enttäuscht.
Farbenfrohes Band.
Regenbogenband.


Spiegelbild


Sie steht vor dem Spiegel. Kämmt sich das lange, blonde Haar. Dünn. Ihre Figur. Abgemagert. Ihr Gesicht. Ihre Beine. Knochig. Die Knie. Traurig. Ihre Augen.
Bild des Kummers. Bild des Leids. Was soll sie denn ohne dich?
Ohne Hoffnung. Ohne Zukunft. Nur der Kamm, der ihr bleibt.
Still. Einsam. Verlassen. Du weißt, dass sie ohne dich keinen Menschen mehr in ihrem Leben hat.
Verlebt. Gealtert. Fast tot.
Aber sie ist doch noch so jung! Du hast ihr so viel bedeutet. Ihr ganzes Leben. Jetzt weg. Lebendig begraben.
Obelix. Ihr Spitzname von früher. Weil sie dick war. Weil sie in der Blüte ihres Lebens stand. Weil sie immer fröhlich war. Weil sie Berge versetzen konnte.
Und jetzt? Bohnenstange. Magersüchtig. Fleischlos. Leblos.
Mit dir ist ihr Leben verschwunden. Hat sich in Luft aufgelöst. Du hast es ihr nicht immer leicht gemacht. Aber sie hat zu dir gehalten. Immer. Egal - was sie über dich hörte. Egal - was für Sachen du ihr an den Kopf geschmissen hast. Egal - wie sehr du sie manchmal verletzt hast. Egal - wie oft du sie versetzt hast.
Jetzt steht sie hier. Vor dem Spiegel. Tränenverschmiert. Das Gesicht. Starrt in den Spiegel. Kämmt sich das feine Haar. Bei jedem Ansetzen des Kammes läuft ihr eine Träne über das Gesicht. Jede Träne steht für eine deiner Missetaten. Unverstanden. Du bereust sie nicht.
Du hast ihr noch etwas ganz Wichtiges genommen: mich. Die beste Freundin. Der man alles erzählen kann. Seelenverwandt. Wie Schwestern. Gegenstück ihrer selbst. Ihr Spiegelbild. Du hast ihr mich genommen.
Ein Paar. Das sind wir jetzt. Du und ich.


Versetzt


Er schaut auf die Dose in seiner Hand. Herzchenform. Schwarz-rosa. Manches hervorstehend. Leuchtende Lettern. Er hat mal gehört, dass Mädchen so etwas süß finden.
Warum er hier wartet? Wegen ihr. Kelly. Der Name ist Programm. Hübsch. Intelligent. Witzig. Sexy. Aufbrausend. Temperamentvoll. Er könnte sie ewig beschreiben. Wie sie ihre Lockenmähne lässig über die Schulter wirft. Wie sie sich schwungvoll auf dem Absatz umdrehen kann. Wie sie ihrer Oma hilft, weil die nicht mehr laufen kann. Uncool. Sagen viele. Findet er nicht. An Kelly ist nichts uncool.
Normalerweise lässt er alle Mädels bei einer Verabredung sitzen. Normalerweise. Kelly ist nicht normal. Sie ist außergewöhnlich. Cool. Heiß. Schlau. Lustig. Schön. Deswegen hat er ihr auch dieses Döschen mitgebracht. Ob sie es mag?
15 Minuten. Seit 15 Minuten sollte sie schon da sein. Bestimmt was Wichtiges, denkt er. Vielleicht weiß sie nicht, welches Outfit sie für ihn anziehen soll. Egal, denkt er, sie ist in allen Sachen hübsch.
20 Minuten. Langsam wird er unruhig. Findet sie die Straße nicht? Blumenweg. Kennt Jeder. Dann hätte sie ihn schon angerufen. Oder vielleicht schämt sie sich dafür. Ach Kelly, denkt er, du brauchst dich für gar nichts zu schämen.
25 Minuten. Die Wolken machen der Sonne Platz. Warm. Hell. Er mag die Farben. Kelly bestimmt auch. Sommer. Ja, es ist Sommer. Die Zeit, wo die Mädchen sich hautenge Klamotten anziehen, 300 Diäten machen, weniger Stoff als Haut zeigen und jeder Junge auf Brautschau geht. Er muss lächeln. Er hat seine Braut. Kelly. Für einen Sommer. Wenn sie dann doch nicht so toll ist, lässt er sie im Herbst abblitzen. Darin hat er Übung. Viel Übung.
30 Minuten. Ein anderes Mädchen aus seiner Klasse kommt. Kellys Freundin. Eine der vielen. Nettes, blondes Ding. Letztes Jahr gingen sie einen Sommer miteinander. Schöne Zeit. Längst vorbei.
Kellys Freundin sieht ihn voller Verachtung an. Lacht. „Du wartest wohl auf Kelly?“ Klar, auf wen sonst?!, denkt er sich. „Nein.“ „Na, was für ein Glück für dich. Die triffst sich nämlich gerade mit Fred.“ Schwungvolle Drehung auf dem Absatz. Spöttisches Lachen. Abgang. Das Übliche. Doch irgendetwas begehrt in ihm auf. Kelly. Fred. Warum gerade der Klassenstreber? Der unbeliebteste Junge in der Klasse? Für ihn. Patrick. Den Coolen. Den Beliebten. Den Skateboarder. Wut. Hass. Wie konnte sie nur?
Versetzt, denkt er wütend, zum ersten Mal hat mich jemand versetzt.


Tagträume


Er schaut sie an. Rotes, welliges Haar. Grüne Augen. Geschwungene Augenbrauen. Dünne Oberlippe. Dicke Unterlippe. Rot. Perfekt. Sie ist wundervoll. Eine Bessere gibt es nicht. Das weiß er.
Lächeln. Auf ihrem Gesicht. Wenn sie strahlt, dann strahlt die ganze Welt. Dann geht die Sonne auf. Er liebt die Sonnenaufgänge mit ihr.
„Was schaust du mich so an?“ Harte Realität. Einmal zum Mars und wieder zurück. In einem Sekundenbruchteil. Warum muss sie immer reden? Die Stimmung zerstören? Er war so in ihrer Schönheit versunken.
„Was hast du?“ Schon wieder. Worte. Warum Worte? Er mag Worte nicht. Er mag Stille. Er mag Stille mit ihr. Das gibt es nicht, denkt er mürrisch, man kann nicht alles haben. Mit einem Lächeln wendet er sich ihr zu. Doch es ist nicht echt. Das Lächeln lügt. Verrät seine Gedanken.
Ihr Lächeln – ein Strich. Eisig. Kalt. Er seufzt innerlich. Setzt an zum Erklären. Wie immer kommt sie ihm zuvor: „Warum musst du immer alles zerstören? Was gefällt dir denn hier nicht? Es war so perfekt!“ Musst du gerade sagen, denkt er sich, musst du gerade sagen. Aber es bringt nichts. Er weiß, dass sie ihn nie zu Wort kommen lassen wird. Also schmiegt er sich nur an sie. Nimmt sie in den Arm. Küsst sie auf die Stirn. Halbherzig. Weil er nicht versteht, wofür er sich entschuldigen soll.
„Du bist so schön zärtlich“, säuselt sie. Wut. In seinem Bauch. Warum kann sie nicht still genießen?! Zum Glück muss er sie nicht anschauen. Sonst würde sie wieder die Wahrheit auf seinem Gesicht lesen. Wissen wollen, warum. Er könnte es nicht erklären. Sie versteht nicht was Stille ist, denkt er wehmütig. Liebkost sie weiter.
Sie dreht sich um. Sieht in seine Augen. Bevor er etwas machen kann, küsst sie ihn. Sanft. Und doch fordernd. Jetzt weiß er wieder, warum er sie liebt.

„Und, hast du dich nun entschieden, wo wir hingehen? Also wir könnten zu „Tarzan“, aber das ist mehr für....“ Er lächelt. Schaut sie an. Muss schmunzeln. Nein, mit ihr sollte er nicht zusammenkommen.


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 14.10.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch hat viel Widmungen. Die Geschichte "Ein Name" habe ich für meine erste, große Liebe geschrieben. Auch "Gedanken", "Klingeln" und "Segenswünsche" sind für ihn. "Geburtstag (1)" und "Geburtstag (2)" widme ich meiner Schwester. "Der Traum von Russland" ist eine Geschichte für meine Eltern. Danke für die Unterstützung! Zum Schluss widme ich meinen Großeltern "Die Beste Freundin". Und natürlich alle Fans und Leser sollen ihre Lieblingsgeschichte für ihre Geschichte halten.

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