Paul kam zu mir herüber. Ihre Gestalt sah in der übergroßen Kapuzenjacke ein bisschen heruntergekommen, aber lässig aus. Schweigend setzte sie sich zu mir ins Gras und schaute sich mit mir den Sonnenuntergang an. Als ich sie anschaute schauderte ich. Ihre Augen blitzten gefährlich und sie war so leise, dass man denken konnte, dass sie abwartete welche Gefahr nun kommen würde. So verbrachten wir fast jeden Abend. Nach einer Weile legte sie ihren Kopf in meinen Schoß und schaute zu mir auf. Nun waren ihre Augen braun und endlos schön. „Ich liebe dich, Luca“, flüsterte sie. „Ich dich auch, Schoki.“ Schoki war mein Spitzname für sie wegen ihrer Augen. Langsam setzte sie sich auf. Manchmal hatte ich echt Angst vor ihr. Doch ein anderes Mal war es nur schön mit ihr etwas zu machen. Über ihre Vergangenheit wusste ich nichts. „Kommst du mit?“ Sie streckte eine Hand nach mir aus. Ich ergriff sie und so schlenderten wir bis zu einem Felsen. Dort angekommen blieb sie stehen und schaute das letzte Glitzern der Sonne an. Dann drehte sie sich zu mir um, lächelte ein bisschen wie ein Kind, dass was ausgefressen hat und schaute mich abwartend an. Ich verstand ihre Geste und küsste. Sie schlang die Arme um mich und krallte sich mit einer Hand in meinen Haaren fest. So standen wir da und um uns rum schien die Welt still zu stehen. „Ach, Luca.“ Paul kuschelte sich in meine Arme und so gingen wir noch eine Weile auf dem Hügelkamm weiter bis wir zu unserem Zelt zurückkehrten und Arm in Arm einschliefen. Da wusste ich ja noch nicht was am nächsten Tag passieren würde...
„Es tut mir Leid, Luca. Ich muss nach Hause, ich werde erwartet“, sagte Paul, zog sich an und winkte mir noch einmal zum Abschied, während sie ihre Sachen in ihren Rucksack packte. „Egal was ist, du lügst“, bläute sie mir ein. Ich nickte nur. Dann war sie weg und ich war alleine da.
„Luca, wo hast du nur die ganze Zeit gesteckt? Die Polizei war hier und hat nach dir gefragt!“, sagte meine Mutter vorwurfsvoll als ich nach Hause kam. „Warum? Was ist denn passiert?“, fragte ich erschrocken. „Man hat Pauline Meißner wegen Verdacht eines Mordes mitgenommen. Die Verhandlung soll in einem Monat sein und du sollst jetzt bei der Polizei aussagen. Du darfst sie vorher noch einmal sehen, obwohl ich nicht weiß was sie mit dir zu tun hat. Ab jetzt!“ Schnell warf ich meine Sachen in die Ecke und spurtete los. Schon bald war ich an der Bushaltestelle. Was hatte Paul mir noch gesagt? „Egal was ist, du lügst.“ Ich hatte gedacht, dass ich nur schwindeln soll, damit niemand weiß, dass wir zusammen sind. „Ach, Paul“, dachte ich in Gedanken, „du hast gewusst, was passieren würde. Du hast alles genau geplant. Aber warum darf ich dir kein Alibi geben? Warum willst du dich dem Richter stellen?“ Ich war durcheinander und gleichzeitig gespannt, wie Paul aus dieser Sache rauskommen wollte.
Alexander seufzte. Schon wieder ein Gerichtsprozess, wie er wohl ausgehen würde? Er ging zu Mathilde, der Staatsanwältin. „Denkst du, sie hat Schuld?“, fragte Alex geradeaus. „Was ich denke, zählt nicht“, antwortete Mathilde. Alex stimmte ihr nur teilweise zu: „Im Gerichtssaal zählt es nicht, unter Freunden wird es ja hoffentlich gehen.“ „Was soll ich denn denken, Alex? Sie war schon drei Mal angeklagt, wegen mangelnder Beweise aber immer wieder freigesprochen. Sie hat kein Alibi, sagt nichts und ist still. Keiner weiß etwas von ihr, niemand weiß, wer ihre Freunde sind, weil sie es immer geheim hält. Bisher konnten wir erst eine Freundin finden: Susanna und als sie aussagen sollte, meinte Pauline nur, dass sie lügen sollte. Doch Susanna meinte nur, sie solle ruhig sein. Wer auch immer der Täter ist, ob Pauline oder ein Anderer, auf jeden Fall ist der Täter, sollte es nicht Pauline sein, in ihrer näheren Umgebung zu suchen. Anscheinend deckt sie jemanden.“ „Kein vernünftiger Mensch würde über viele Gerichtsprozesse lang einen Menschen schützen.“ „Es sei denn sie liebt diesen Menschen“, gab Mathilde zu bedenken. „Dann müssten wir sie Tag und Nacht observieren“, schlug Alexander vor. „Du bist ein Spaßvogel! Pauline, falls du sie noch nicht kennst, ist echt gerissen. Die merkt das. Hast du dir mal ihre Augen angesehen?“ „Was soll denn daran so Besonders sein?“, wollte Alexander wissen, „Braune Augen sind häufig.“ „Dann weiß ich nicht, wie sie dich anschaut. Ihr Blick ist lauernd, gefährlich, sie ist immer auf der Hut. Auch wenn du mich für verrückt hältst, Alex, das Mädchen ist nicht ganz normal. Sie ist außergewöhnlich.“ „Du siehst Gespenster!“, meinte Alex entrüstet. Mathilde antwortete: „Ich habe mit der Jugendgerichtshilfe gesprochen, Maria Feierlich. Sie kann dir bestätigen, dass Paul älter ist als sie scheint.“ „Sie ist sechzehn!“ „Ja, und? Sie benimmt sich wie Eine über zwanzig. Das solltest du nicht unterschätzen und rede sie mit Pauline an, sonst wird sie vielleicht noch größenwahnsinnig!“, befürchtete Mathilde. „Für eingebildet halte ich sie eigentlich nicht“, entgegnete Alex. „Vielleicht hast du Recht, vielleicht ich. Wenn wir Glück haben, lernen wir sie heute erst richtig kennen. Wen haben wir denn als Zeugen?“ „Paulines Mutter, Luca Kulmerland, die Nachbarin, die Klassenlehrerin, Susanna und Pauls Bruder Niklas“, erläuterte Alex. „Wer ist denn Luca Kulmerland?“, wollte Mathilde wissen. „Das ist einer der vermutlichen Freunde von Pauline.“ „Wer hat diesen Tipp gegeben?“ „Ein Anonymer will Pauline mit Luca Kulmerland gesehen haben.“ „Wie sicher ist es?“ „Oh, ich würde nicht viel darauf geben. Vielleicht ist es ein neidischer Mitschüler, der Luca eins Auswischen will oder ein ernstgemeinter Hinweis eines Freundes aus Paulines unmittelbarer Nähe“, ging Alex die Möglichkeiten durch. „Haben wir schon Beweise?“ „Das dürftest du doch wissen!“ „Ja, klar“, räumte Mathilde ein, „aber ich habe noch nichts. Das mit Pauline ist eine Vermutung. Da ist nichts, was sie belasten würde und ich habe keine Ahnung, wie ich sie dran kriegen soll. Mal ehrlich, was soll ich tun?“ „Du bist es, die seit über zehn Jahren Staatsanwältin ist!“, meinte Alex. „Ja, ja, aber Pauline ist mein bisher schwerster Fall. Man kommt so gar nicht an das Mädchen ran. Was denkst du, wie viele Psychologen es schon versucht haben!“ „Wie viele denn?“, fragte Alex. „Sage und schreibe Acht. Doch niemand konnte sie zum Reden bewegen. Egal, wer dabei war: Die Mutter, der Vater, der Bruder, Susanna. Aber Susanna streitet ja bis heute ab, Pauline überhaupt zu kennen.“ „Das ist wohl wahr“, seufzte Alex, „doch dagegen tun können wir nichts. Solange niemand etwas sagt und solange wir keine Fingerabdrücke oder Bilder haben ist gar nichts zu machen. Wirklich gar nichts!“ „Und was ist mit dem Video, auf dem Pauline gesehen wurde?“ „Das ist eine einzige gut gemachte Fälschung. Pauline sagte selber, dass sie das nicht sei. Das Einzige was sie macht: Sachen abstreiten. Aber ansonsten sagt sie gar nichts.“ „Denkst du, dass sie vielleicht trotzdem ein Alibi hat?“, wollte Mathilde wissen. „Mmh... Ich glaube nicht. Warum auch?!“ Ein Polizist kam herein und kündigte den Beginn der Gerichtsverhandlung an. Mathilde und Alex trennten sich, um bei der Verhandlung wieder aufeinander zu stoßen.
„Pauline Meißner ist wegen Mordes angeklagt. Sie soll am 15. Juni ihren Freund Hannes Bad mit einem Messer umgebracht haben. Das tat sie, weil Hannes Bad dahintergekommen war, dass Pauline Meißner auf ihrem Facebook-Profil sich mit älteren Männern verabredete und sich prostituierte. An dem besagten Tag wollte Pauline Meißner noch einmal mit ihrem Freund reden, aber Hannes Bad wollte nicht auf ihr Flehen und Bitten hören und drohte ihr, zur Polizei zu gehen. Daraufhin nahm Pauline Meißner ein offen daliegendes Küchenmesser und erstach Hannes Bad mit fünfzehn Messerstichen. Somit ist Pauline Meißner des Mordes in Tateinheit angeklagt.“ Mathilde setzte sich, nachdem sie die Anklage vorgelesen hatte. Neben ihr saß die Mutter von Hannes, sie war Nebenklägerin. „Also, Pauline. Bevor wir mit dem Verhör anfangen, deine Personalien. Und ich darf dich doch noch Pauline nennen, oder?“, fing Alexander an. „Natürlich, immer doch“, sagte Paul, „es wäre nur schöner, wenn Sie Paul zu mir sagen könnten. Ich mag den Namen Pauline nämlich nicht.“ „Na gut, also, du heißt Pauline Meißner, bist sechzehn Jahre alt und wohnst in Rostock. Dein Familienstand ist ledig und du bist Schülerin am Gymnasium, ist das richtig?“ „Ja, seit der letzten Gerichtsverhandlung hat sich daran nichts verändert“, meinte Paul grinsend. „Nun, dieses Mal ist es echt kein Zucker schlecken, du bist ja nicht wegen einer leichten Schramme angeklagt“, wies Alex darauf hin. „War ich das je?!“, meinte Paul nur und setzte sich gerade hin. „Nein, leider nicht.“ „Sehen Sie, Herr Richter. Ich war zwei Mal wegen schwerem Diebstahls angeklagt und einmal wegen versuchtem Mord angeklagt und bin immer zu Ihnen gekommen. Langsam wird’s langweilig.“ „Werde mir mal nicht frech, Fräulein“, mahnte Alex. Paul erwiderte nur: „Ist schon klar, Herr Richter. Bevor Sie mir noch irgendetwas sagen, könnten Sie mich ja belehren, wie Sie es schon so oft getan haben.“ „Stimmt. Also, bei Gericht muss man die Wahrheit sagen, man muss sich nicht äußern, wenn man sich einer Straftat bezichtigen müsste. Soweit klar?“ „Ja, Herr Richter.“ „Schön, dann hast du noch das Verweigerungsrecht. Möchtest du davon Gebrauch machen?“ „Langsam müssten Sie meine Antwort kennen“, meinte Paul nur. „Ich dachte, dass du wenigstens ein Mal aussagen würdest, wenn es um Mord geht“, seufzte Alex. „Das Einzige was ich zu sagen habe, ich habe Hannes Bad nicht umgebracht, da ich ihn gar nicht kannte. Ja, ich kenne ihn von der Schule, aber ich war weder mit ihm zusammen, noch habe ich ein Profil auf Facebook mit dem ich Männer heiß mache“, sagte Paul. „Willst du also leugnen, dass das dein Profil ist?“ Alex zeigte ein Profil, was eine gewisse Pauline M. zeigte, sogar mit Foto. Interessiert sah Paul sich das Profil an. „Das ist aber schön, was habe ich denn für Vorlieben?“, wollte sie wissen. „Bei Hobbys steht hier Querflöte spielen, Tischtennis spielen und töpfern“, erläuterte Alex. „So“, meinte Paul, „dann sagen Sie mir mal, wann ich töpfern gehen soll, geschweige denn Querflöte spielen. Sie dürften mein Wochenplan vorliegen haben: Ich gehe zum Klavier und Geige spielen, Basketball und Volleyball, aber doch nicht zum Töpfern oder um mir die Flötentöne beibringen zu lassen!“ „Und was ist mit Tischtennis?“, hakte Alex nach. „Mal hier, mal da. Aber nicht als AG oder in einem Club. Das wissen Sie doch!“ Alex wusste innerlich, dass er schon verloren hatte. Wer auch immer dieses Profil erstellt hatte, ob Pauline oder nicht, solange sie nichts sagte und keine belastende Aussage vorlag war nichts zu machen. „Und Pauline...“ „Paul, bitte nennen Sie mich Paul.“ „Also, Paul, du möchtest Hannes Bad nur aus der Schule gekannt haben und nicht persönlich“, fing Mathilde ein neues Thema an. „Hannes ist zwar in der Parallelklasse, aber zu tun habe ich mit dem gar nichts. Ich sagte schon, zusammen bin ich mit dem nicht“, erklärte Paul und versuchte keinen genervten Unterton anzuschlagen. „Aber die Zeugin Klara Sielort, also deine Nachbarin, möchte dich mit Hannes Bad an der Haltestelle vor dem Gymnasium knutschend gesehen haben“, meinte Mathilde. „Das tut mir Leid, sie muss mich verwechselt haben. Es gibt noch fünf Mädchen an der Schule die meine Zwillingsschwestern sein könnten.“ „Da hat meine Mandantin Recht. Und ich würde gerne ein Experiment machen, wenn die Zeugen Sielort vernommen wird“, meinte die Verteidigerin. „Noch Fragen an die Zeugin Pauline Meißner?“, wollte Alex wissen. „Nein“, kam es einstimmig von Seiten der Staatsanwältin und der Verteidigerin. „So, die Zeugin Jana Meißner, bitte“, rief Alex auf. Die Tür ging auf und eine rothaarige Frau kam herein. Sie war nicht sehr groß und trug ein blaues dünnes Seidenkleid. „Ach, Paulchen, ich hoffe ja, dass deine Unschuld bewiesen wird und du bald wieder nach Hause kommst!“ Die Frau verdrückte eine Träne. „Ja, Mum“, antwortete Paul, „ich habe nichts gemacht und so können die mich nirgendwo hinstecken.“ „Ich weiß, mein Schatz.“ „Entschuldigen Sie“, mischte sich nun Alex ein, „reden können Sie miteinander nach der Verhandlung, wenn Sie jetzt bitte mit mir kommunizieren könnten, wäre das durchaus hilfreich.“ „Tut mir Leid, Herr Richter, aber ich vermisse meine Kleine so!“, sagte Frau Meißner. „Also, zuerst zu Ihren Personalien: Sie heißen Jana Meißner, sind sechsunddreißig Jahre alt, wohnhaft in Rostock, verheiratet und vier Kinder.“ „Das ist richtig, Herr Richter“, stimmt Jana Meißner zu. „Nun, Ihre Tochter ist angeklagt und damit haben Sie Zeugenverweigerungsrecht“, erklärte Alex, „Sie müssen auf Einzelfragen nicht antworten, wenn Sie sich damit oder Angehörige belasten würden, jedoch immer die Wahrheit sagen. Ist das angekommen?“ „Ja, Herr Richter, ich möchte allerdings gerne aussagen.“ „Das ist schön“, sagte Alex und hatte wieder ein wenig Hoffnung, dass der Fall doch aufgeklärt werden könnte. „Also, am 15. Juni, was haben Sie da getan und was hat ihre Tochter gemacht?“, wollte Alex wissen. „Mmh“, begann Jana Meißner, „ich habe um acht Uhr Frühstück gemacht. Normaler Weise machen wir das zu Hause ja nicht so früh, aber Annika, meine Jüngste musste zum Reitturnier, Paul wollte schon früh irgendwohin, aber wohin, weiß ich nicht. Sie erzählt ja so wenig in letzter Zeit. Seid das mit diesen Gerichtsterminen angefangen hat. Also zurück. Katharina, meine Älteste wollte mit ihrem Freund sich schon ziemlich früh treffen um nach Berlin zu fahren und dort Freunde zu besuchen. Und Niklas musste zu Karate. Um neun habe ich Annika weggebracht, als ich nach Hause kam, war Katharina auch schon weg, nur noch Paul war da und packte ihren Rucksack. Ich fragte sie, wohin sie denn wolle, sie meinte nur: „Ich zelte.“ Weiter habe ich nicht nachgefragt, aber es ist ja offensichtlich, dass sie zu einer Freundin gefahren ist. Sie kann also gar nicht jemanden umgebracht haben.“ „Zu welcher Freundin ist sie denn gefahren?“, fragte Alex interessiert. „Oh, ich hab keine Ahnung wer mit Paulchen befreundet ist. Ihre Klasse kenne ich auch kaum. Seit Paul vierzehn ist, hat sie sich ziemlich zurückgezogen, aber das erzähle ich schon zum dritten Mal. Mit diesen Anklagen kommt Paul nicht klar, sie hat zwar super Noten, aber sie ist so geheimnisvoll und manchmal denke ich, sie weinen zu hören. Doch ich will meine Tochter ja nicht bedrängen. Wissen Sie, Herr Richter, ich habe keine Ahnung was mit Paul los ist. Weder Katharina, noch Annika sind so. Katharina war immer aufgeschlossen und ich war ihre beste Freundin. Annika sagt mir auch, wenn sie was bedrückt und bringt oft Freundinnen mit nach Hause, doch Paul geht nur weg, ist kaum zuhause. Es ist so traurig, wenn man nicht mehr weiß, was mit dem eigenen Kind los ist.“ Jana Meißner unterbrach sich und schluchzte. „Mum, das ist doch nicht gegen dich! Es tut mir ja Leid, aber ich kann dir nichts erzählen. Ich muss alleine mit mir fertig werden. Eines Tages werde ich dir meine Vergangenheit erzählen. Aber bis dahin, sorge dich nicht um mich und akzeptiere mich einfach. Ich hab dich lieb!“, versprach Paul. „Ich dich doch auch, mein Schatz. Aber was soll ich machen? Ich kann noch nicht mal deine Unschuld beweisen und auch nicht deine Schuld!“ „Um auf die Anklage zurückzukommen“, unterbrach sie Alex wieder, „war ihre Tochter komisch, als Sie sie am nächsten Tag anriefen?“ „Nein, gar nicht. Sie war verschlossen wie immer, aber sie machte einen normalen Eindruck.“ „Okay, vielen Dank. Hat noch jemand Fragen an die Frau Meißner?“ Mathilde und die Verteidigerin schüttelten den Kopf. „Gut, dann können Sie sich hinten hinsetzen, Frau Meißner. - Luca Kulmerland bitte!“ Die Tür ging auf und der schwarzhaarige, große Junge trat ein. Er sah sich Paul eine Weile an, nachdem er sich gesetzt hatte und dann den Richter. Paul hielt seinem Blick stand. Kein Zucken der Augen, kein Glitzern und auch nichts anderen Merkwürdiges ließen die Beiden zu. „Zu deinen Personalien: Du heißt Luca Kulmerland, bist siebzehn Jahre alt, wohnst in Rostock und bist ledig und Schüler am Gymnasium im Nebenort und da bist du 12. Klasse.“ „Das ist richtig, Herr Richter“, antwortete Luca. „Die Belehrung auch für dich, Luca, so darf ich dich doch nennen. (Luca nickte.) Du musst immer die Wahrheit sagen, aber auf Einzelfragen musst du nichts sagen, wenn sie dich oder Angehörige belasten könnten. Verwandt oder verschwägert bist du nicht mit der Angeklagten?“, wollte Alex wissen. „Wenn ich ganz ehrlich bin, Herr Richter, dann kenne ich die Angeklagte nicht. Ja, vielleicht schon mal gesehen, aber mehr auch nicht.“ „Lüge, Luca, denkt daran, lüge“, sagte Paul. „Kennst du die Anklagte vielleicht doch?“, sagte Alex streng. „Es tut mir Leid, Herr Richter, aber ich weiß nicht, was sie von mir will.“ „Okay, also, was hast du am 15. Juni gemacht?“, wollte Alex wissen. Luca überlegte eine Weile, dann berichtete er: „Ich bin los um in den Wald zu gehen und da die Pflanzen zu beobachten. Sie faszinieren mich immer wieder aufs Neue. Wissen Sie, wie die Pflanzen sich zur Sonne neigen, das finde ich echt toll! Und dann mag ich auch Vögel. So bin ich auch auf eine Lichtung gestoßen, wo ich mein Zelt aufschlagen konnte, ich wollte in der Natur übernachten um die Tiere und Pflanzen auch nachts beobachten zu können. Dann habe ich den ganzen Tag die Tiere und Pflanzen untersucht, um ein Uhr schlafen gegangen und am 16. Juni war ich so um zwölf zu Hause und da fing mich meine Mutter schon mit den Neuigkeiten ab.“ „Und du kennst die Angeklagte wirklich nicht?“, wollte Mathilde sichergehen. „Wenn ich es Ihnen doch sage. Diese Pauline, wie gesagt, kenne ich nur vom Sehen“, log Luca und schaute der Staatsanwältin fest in die Augen. Alexander gab den Kampf auf, vielleicht kannten sich Luca und Pauline wirklich nicht. Wer konnte das schon wissen! „Na, dann nimmst du mal hinten Platz und wir kommen zur Nachbarin. Frau Anke Uhrmann, bitte.“ …
„Im Namen des Volkes verkünde ich folgendes Urteil: Die Angeklagte ist wegen Mangel an Beweisen freizusprechen. Im Zweifel für den Angeklagten. Die Kosten der Verhandlung und die nötigen Auslagen werden vom Staat bezahlt und die Angeklagte ist aus der Staatskasse zu entschädigen. Bitte alle wieder Platz nehmen. - Ja, Paul, es ist schon tragisch, dass wir immer nicht wissen, ob du es warst. Für heute bist du mal wieder freizusprechen. Aber es ist echt schwer, wenn du nichts sagst. Merke dir das bitte. Und für Frau Meißner, Sie werden Ihre Tochter schon richtig erziehen. Bestimmt wird sie bald wieder mit Ihnen reden.“ „Wenn Sie das glauben, Herr Richter“, fiel Paul Alex ins Wort. „Was soll das heißen, Paul?“ „Nichts, Herr Richter.“ „Ach, bevor ich es vergesse. Ich bestelle dich für in einem Monat in meinem Büro zu einem Gespräch. Da hast du zu erscheinen.“ „Aber natürlich, Herr Richter. Wer weiß, ob wir uns vorher schon einmal sehen werden“, sagte Paul ironisch lächelnd. „Das hoffe ich nicht.“ „Ich auch nicht, Herr Richter.“ „Damit ist die Verhandlung beendet!“
„Hey, Schoki!“ Paul kam auf Luca zugerannt und sie umarmten sich. „Wo hast du so lange gesteckt?“ „Ich musste noch was erledigen, frage einfach nicht. Jetzt sind wir ja wieder zusammen“, beruhigte ihn Paul. „Warum musste ich lügen?“ „Wenn du wüsstest warum, würdest du mich für verrückt erklären“, wich Paul aus, „lass uns bitte nicht darüber reden. Es ist wie immer gewesen. Ich habe nichts gemacht und wurde angeklagt. Ich weiß, dass es so kommen wird. Und ich weiß, dass es wieder passieren wird.“ „Warum?“ „Mach dir darüber keine Sorgen. Dieses Mal wirst du nicht lügen müssen, weil ich zu diesem Zeitpunkt nicht mit dir zusammen sein werde.“ „Warum nicht?“ „Ach, Luca. Stelle bitte keine Frage, sondern merke dir nur, dass du immer lügen sollst. Das ist alles, was ich möchte. Wirst du es tun?“ „Tu ich dir damit einen Gefallen?“ „Ja, einen riesigen.“ „Dann tu ich es.“ „Danke!“ Paul küsste Luca. „Und jetzt, sei mir nicht böse, ich will dich da nicht mit reinziehen. Deswegen werden wir uns jetzt nicht sehen. Ich liebe dich, Luca und ich will, dass du es weißt. Aber ich will dich nicht in Gefahr bringen und deswegen werden wir uns jetzt nicht mehr sehen. Schreibe mir bitte nicht und rufe mich nicht an. Ich werde sowieso nicht ran gehen.“ „Aber warum, Schoki?“, fragte Luca verwirrt. „Weil ich dich liebe.“ „Ich liebe dich auch. Mehr als alles andere auf der Welt.“ „Wenn du das ernst meinst, dann gehst du jetzt wie jeden Tag normal in die Schule und triffst dich, wann immer du Freizeit hast mit Freunden. Ich werde mich bei dir melden, wenn die Zeit reif ist und wenn du es dann noch willst.“ „Ich werde es immer wollen!“ „Gut, dann akzeptiere es, dass jetzt Funkstille herrscht. Denk immer daran: Ich liebe dich. Und ich will mit dir zusammen sein. Aber erst, wenn alles vorbei ist. Kann ich mich auf dich verlassen?“ Luca nickte. „Super.“ Paul küsste Luca, er drückte sie an sich. Doch sie machte sich alsbald von ihm los und rannte weg. „Paul, Paul!“ Luca rief seiner Freundin nach. Doch sie drehte sich nicht noch einmal um, sondern nahm das Mountainbike, dass im Gras lag und fuhr los. Luca streckte den Arm in ihre Richtung aus, Tränen liefen ihm über´s Gesicht, doch er konnte nichts tun außer sie gehen zu lassen. „Denk immer daran: Ich liebe dich“, rief sich Luca Pauls Worte ins Gedächtnis. „Ich werde auf dich warten, Schoki. Auch wenn es mir schwer fallen wird, ich will dir helfen. Ich verstehe dich zwar nicht, aber ich werde immer auf deiner Seite stehen. Egal, was du machst“, schickte Luca noch ein paar Worte an Paul.
Paul fuhr und fuhr. Ihr strömten Tränen über´s Gesicht. Jetzt so schnell wie möglich zu Susanna. Sie musste Paul aufheitern. „Du hast das richtige gemacht“, sagte sich Paul, „du hättest Luca von Anfang an nicht mit reinziehen dürfen. Er hatte ja keine Ahnung.“ Schon bald war sie bei Susanna. Paul klingelte. Sie wusste, dass ihr niemand gefolgt war, weil sie sich oft genug umgeschaut hatte. Auch wenn die Stadt ziemlich befahren war, merkte sie jeden Spaziergänger, der ihr mehr als 300 Meter folgte. „Wer ist da?“ „Paul.“ „Oh, komme doch rein, Paul.“ Die Tür öffnete sich und Paul kam herein. Es war kein Wunder, dass die Staatsanwaltschaft noch nichts wusste von der Freundschaft mit Susanna, da Susanna alleine in einem Mietshaus wohnte. Ihre Eltern waren reich und hatten es ihr geschenkt. Das Einzige was es nicht gab, waren Kameras. Die hatte Susanna wegen Paul abgemacht. Aber Stopp – Susanna lebte nicht allein. Mit ihr waren hier noch drei andere Bewohner: Gabriela, Dennis und Xenia. Mit ihnen war Paul auch befreundet. Susanna hatte heute ein rotes Kleid an und die Haare hochgesteckt. „Hübsch!“, lobte Paul. „Ach, Aschenputtel, warum weinst du denn?“, meinte Susanna besorgt, als sie Paul sah. „Ich musste doch Luca stehen lassen.“ „Ja, aber es war die einzige Möglichkeit. Sonst kannst du Prince nicht mehr schützen.“ „Ich weiß, Prince liegt mir sehr am Herzen. Ginge es nicht um sie, würde ich ja auch schon lange ausgestiegen sein“, meinte Paul. „Komm doch erst einmal rein.“ Susanna nahm Pauls Jacke und hing sie auf einen der Haken auf. „Wenn du willst, kannst du hier für eine Weile unterkommen.“ „Ja, aber wie soll ich das zu Hause erklären?“ „Du sagst, du fährst für eine Weile in ein Jugendcamp für Nachhilfe oder ein Internat. Stattdessen fährt dann Micha. Sie wollte schon lange mal wieder du spielen.“ „Kommt sie heute?“ „Na klar!“, lachte Susanna. „Micha ist doch wichtig! Ohne deine Zwillingsschwester wäre sonst nichts möglich.“ „Ja, ich weiß“, murmelte Paul. Sie nahm ein Taschentuch aus der Packung in der Garderobe und putzte sich die Nase. „So, und jetzt sage ich den Mädels Bescheid, dass sie kommen sollen.“ Susanna griff nach einem Walkie.-Talkie und rief: „Paul ist da, ich wiederhole, Paul ist da! - So“, Susanna schleifte Paul mit, „und jetzt gibt es Streuselkuchen.“ „Woher wusstest du, dass ich kommen würde?“, wunderte sich Paul. „Ach, Aschenputtel“, seufzte Susanna lächelnd, „ich kenne dich nicht erst seit gestern.“ „Das ist wohl wahr“, grinste Paul. „Bevor ich es vergesse, geh doch bitte einmal ins Bad und wasche dich“, riet Susanna. „Ja, kannst du mir dann noch ein paar Fragen beantworten?“, bat Paul. „Ich weiß, warum, aber okay“, gab Susanna seufzend ihr Wort. Paul schenkte ihr ein Lächeln und ging ins Bad um sich das Gesicht zu waschen. Derweil kamen zwei Mädchen und ein Junge. Als Paul aus der Badezimmertür kam, standen Gabriela, Dennis und Xenia da und hatten Partyhüte auf und Luftschlangen um. „Willkommen zurück!“, rief Xenia, ging auf Paul zu und umarmte sie. Dankbar drückte Paul Xenia an sich. „Ich hab euch vermisst!“, meinte sie und lachte. „Und wir dich erst!“ Gabriela kam auf Paul zu und begrüßte sie mit zwei Küsschen auf die Wange. „Ihr seht Klasse aus!“, meinte Paul grinsend und nahm auch Dennis in den Arm. „Und jetzt wird aber Kuchen gegessen. Ich freue mich ja schon so!“ Xenia ging quietschvergnügt in die Küche und dort staunte Paul nicht schlecht: Ein Streuselkuchen stand da, Schokolade lag da und auch anderes Gebäck und überall waren Luftschlangen aufgehangen. „Das habt ihr alles für mich gemacht?“ Paul lachte glücklich. „Ja und ich habe dir noch was Neues zum Anziehen mitgebracht!“ Stolz überreichte Gabriela der überraschten Paul einen kurzen Rock mit Strumpfhose, einem roten Top und schwarzen Stulpen für die Arme. „Ey, ich werde nicht wieder!“, grinste Paul und zog sich schnell im Bad um. Normaler Weise hatte Paul ja nur Pullover und weite Klamotten an, das war mal was Neues. Und es sah gar nicht so schlecht aus. Die schulterlangen Locken passten super zum Outfit. „Krass, wie siehst du denn aus?“, wunderte sich Dennis und bestaunte Paul. „Setze dich doch“, bot Susanna an und deutete auf den Platz neben sich. Das ließ sich Paul nicht zwei Mal sagen. Gabriela nahm Pauls Teller und schaufelte ihr Kuchen drauf. „Wie soll ich denn das alles essen?“ Skeptisch schaute Paul auf ihren Teller. „Du müsstest mal dein Gesicht sehen!“ Xenia und Gabriela lachten sich tot. Susanna tat den Anderen auch noch Kuchen auf und dann fingen sie an zu essen. „Sag mal, wie war´s eigentlich so?“, wollte Dennis von Paul wissen. „Du meinst die U-Haft? Wie immer. Aber die Polizisten und die Anderen haben mich noch mehr ausgequetscht als schon beim letzten Mal. Die bringen mich noch um!“ Alles lachte. Plötzlich wurde Paul wieder ernst. „Was ist eigentlich mit Prince? Was kommt als Nächstes? Diebstähle, ein Mord... Warum musste gerade Hannes dran glauben?“ „Puh, wenn ich das wissen würde wäre ich das neue Superhirn!“, seufzte Xenia. „Sie ist ziemlich rätselhaft“, bemerkte Paul. „Ja“, stimmte Dennis zu, „aber wir helfen ihr. Es muss sein.“ „Am Anfang war ich ja noch einverstanden, aber langsam verstehe ich es nicht mehr. Prince macht etwas und schafft es keine Abdrücke zu hinterlassen, aber einen anonymen Hinweis kommen lässt, dass ich es war. Und warum der Mord? Ja, klar, ich wusste es. Aber es ist alles so... komisch“, gestand Paul. Susanna tröstete sie: „Unsere Mission ist bestimmt bald abgeschlossen. Du vertraust doch Prince, oder?“ „Natürlich – jedoch sagt sie uns nichts. Kein Grund, kein Zeichen.“ „Ich weiß. Ich glaube, Hannes ist gestorben, weil er es weiter verraten wollte, er wollte aussteigen, das hat er oft gesagt“, sagte Xenia traurig. „Ich verstehe es bis heute nicht. Ich habe Hannes geliebt“, gab Gabriela zu. Gabriela und Hannes waren ein Paar gewesen, sie hatten in einer Wohnung gewohnt, doch Hannes war auch oft zu Hause gewesen, um sie nicht zu verraten. Er hatte wie Paul, Xenia, Micha, Susanna, Dennis und Gabriela zu Prince gehalten. „Hinter was sind wir eigentlich her? Was wollen wir?“ „Prince helfen“, kam prompt die Antwort von Dennis. „Ja, ja, aber was will Prince?“ „Sich rächen“, antwortete Susanna, „sich rächen für die vielen Attacken auf ihre Familie und die anschließenden Morde.“ „Und was will sie da mit Diebstählen? Was hat sie davon?“, fragte Paul. „Oh, das kann ich dir auch nicht sagen. Wisst ihr was darüber?“, wollte Susanna von den Anderen wissen. Dennis nickte: „Die Diebstähle waren bei den Mördern von Prince´Familie. Prince möchte sie nach und nach in den Ruin treiben.“ „Okay und was möchte sie als Nächstes tun?“ „Das wissen wir alle nicht. Aber sie kommt ja heute“, meinte Susanna. Es klingelte. Xenia sprang auf und ging zur Tür. „Micha! Komm doch rein!“, rief Xenia erfreut und kurz darauf stand Micha mit Xenia in der Küche. „Hi!“, begrüßte Micha die Anderen. Äußerlich unterschied sie sich nicht von Paul und auch innerlich nur wenig. „Du wirst bald wieder ich spielen müssen“, eröffnete Paul Micha. „Das ist aber schön. Wo geht’s denn hin?“, freute sich Micha. „Wie es aussieht, in ein Internat“, erzählte Paul. „Na toll“, maulte Micha, „ich hatte so lange schon keine Schule mehr.“ Seit sie offiziell tot war, ging sie weder in eine Schule, noch verdiente sie Geld. Aber Prince fütterte sie durch, da sie nicht gerade die Ärmste war. „Hast du Freunde in der Schule?“, wollte Micha wissen. „Nee, das wäre echt störend“, antwortete Paul, „aber ich hatte einen Freund. Doch der dürfte sowieso nicht mit auf´s Internat gehen.“ „Einen Freund? Das musst du mir erzählen!“ Micha war gar nicht mehr zu stoppen. „Wie gesagt, ich „hatte“. Ich musste mit ihm Schluss machen, wegen Prince. Aber ich habe ihm gesagt, dass ich ihn liebe und ihm später alles erklären werde“, sagte Paul. „Das ist echt schade. Tut mir Leid für dich. - Aber jetzt sind wir nicht traurig, sondern muntern uns ein bisschen auf. Ich habe da ein Spiel mitgebracht. Das ist ja so lustig!“ Doch bevor die Sechs zum Spielen kamen, klingelte es schon wieder. „Oh, das muss Prince sein.“ Alle wurden still und Susanna stand auf und ging zur Tür. „Oh, hallo Prince, schön, dass du da bist“, begrüßte Susanna ihre Freundin und führte sie in die Küche. Prince hatte einen schwarzen Schleier vor den Augen, der an einem ebenso schwarzen Hut befestigt war, auf dem eine Blume saß. Ihre braunen Haare quollen darunter hervor und ließen sie schmal und zerbrechlich wirken. Außerdem hatte sie ein blaues Top, einen schwarzen breiten Gürtel und eine Hotpants an, dazu schwarze High Heels. „Hi.“ Prince setzte sich neben Paul. „Wie geht es dir?“, fragte sie Paul. „Ganz gut, ist ja nicht das erste Mal gewesen“, antwortete Paul etwas säuerlich. „Es tut mir Leid, Paul. Aber du bist die Einzige, der ich es zutrauen würde, einen Gefängnisaufenthalt ohne psychische Störungen zu überstehen“, erklärte Prince. „Ja, ja. Ist schon gut. Wann hört das auf?“ „Oh, ich habe noch drei Schritte zu unternehmen, dann sind wir alle fertig und ihr habt alles überstanden. Wenn du willst lege ich dieses Mal die Fährte zu Jemanden, der diese Tat nicht begangen haben kann und doch angeklagt wird, weil seine Fingerabdrücke auf der Tatwaffe sind und weil er ein blutiges Kleidungsstück hat mit dem Blut des Opfers.“ „Du willst noch einmal zuschlagen?“ Entsetzt sah Paul Prince an. „Ja, der Junge ist dran.“ „Warum musste Hannes dran glauben?“, fragte Gabriela mit bebender Stimme. „Entschuldigung Gabi, ich weiß wie sehr du an Hannes gehangen hast, aber er hätte nicht die Familie informieren wollen dürfen“, erklärte Prince. Gabriela stellte keine weiteren Fragen. Jeder hier wusste, dass sie nichts sagen durften gegen Prince, weil sie alle zu sehr drin waren und sonst vielleicht das nächste Opfer sein würden. Es war jedoch keine Angst, die die Sechs hatten, sondern sie liebten Prince trotzdem. Sie war wie eine Schwester. „Was sind die drei Schritte, die du als nächstes machen wirst?“, fragte Micha. „Als Erstes werde ich einen Einbruch begehen. Dabei werden Wertgegenstände mitgehen, damit es nach einem beliebigen Einbruch aussieht. Das werde ich, mmh, ungefähr in einer Woche machen. Danach folgt ein Erpresserschreiben mit Lösegeldforderung, die ich aber nie abholen werde und ganz zum Schluss wird der kleine Junge dran glauben müssen“, teilte Prince ihren Plan mit. „Die letzte Tat wird in einem Monat und drei Wochen von statten gehen. Dann müssen wir nur noch den Mund halten und leben weiter wie bisher“, grinste Prince. „Und was wird mit mir?“, wollte Micha wissen. „Wenn du willst, tauchst du wieder auf der Bildfläche auf und sagst, dass du für eine Weile eine Reise gemacht hast, weil du von zuhause weg wolltest. Ich sag dir, wenn dich deine Eltern wiedersehen, die erfüllen dir jeden Wunsch ohne mit der Wimper zu zucken.“ Prince lacht, alle Anderen am Tisch schwiegen. „So, ich muss wieder nach Hause, sonst macht sich meine Mutter noch so große Sorgen, dass sie die Polizei ruft und von Lügen habe ich jetzt erst einmal echt die Schnauze voll!“, löste Paul die angespannte Stimmung. „Musst du denn wirklich schon gehen? Es wird doch erst noch so richtig schön!“, meinte Susanna. „Na ja, ich schlage meiner Mutter das mit dem Internat vor, damit ich von dem ganzen Kram Abstand kriege und wenn ich am nächsten Tag wieder in die Schule gehe, nimmt Micha auf halber Strecke mein Rad und ich kann zu euch kommen. Den Stoff kann ich sowieso schon, da ich das gesamte Schuljahr schon gelernt habe. Ich hatte so ein Gefühl, dass es mir vielleicht noch helfen könnte“, grinste Paul. Dann stand sie auf und der ganze Clan brachte sie zur Tür. „Ciao.“ Paul umarmte jeden und dann verabschiedete sie sich mit einem Winken, setzte sich auf ihr Fahrrad und fuhr nach Hause.
„Hey, Paulchen, wo hast du denn solange gesteckt?“, empfing Jana ihre Tochter. „Oh, ich musste einfach mal wieder raus nach diesem ganzen Stress und bin ein bisschen ans Wasser gegangen. Es war wunderschön“, log Paul und streifte sich die Jacke ab, die von dem Sommerregen ganz nass geworden war. „Hi Pauli“, begrüßte Katharina ihre kleine Schwester. „Du bist mal hier und nicht bei deinem Freund“, zog Paul ihre Schwester auf. „Ach Pauli, so schnell bringst du mich nicht auf die Palme“, lachte Katharina. „Wollen wir eine Schokolade trinken?“, schlug Katharina vor. „Gerne, wo ist denn eigentlich Annika und was ist mit Niklas?“, wunderte sich Paul. „Annika ist bei einer Freundin“, gab Jana Auskunft. „Ach so“, sagte Paul nur scheinbar gleichgültig, doch in ihrem Inneren rumorte es. „Und Niklas ist beim Fußball“, erwiderte Katharina. Ihrer großen Schwester vertraute Paul eigentlich, aber trotzdem wollte Paul Katharina lieber nichts von Prince erzählen. „Du hast es jetzt schon zwei Jahre ertragen, dann wirst du es auch noch zwei weitere Monate schaffen“, dachte Paul und folgte ihrer Schwester in die Küche. Katharina gab Paul eine der Tassen und goss Kakao ein. Dann ging sie in ihr Zimmer und ließ Paul auch eintreten. Danach setzten die Mädchen sich auf den Boden und Katharina holte Kekse aus einem ihrer Regale. „Was machst du zur Zeit, wenn du nicht gerade angeklagt bist?“ Paul wunderte sich ein bisschen: „Das weißt du doch. Volleyball und den ganzen anderen Kram.“ „Pauli, ich will wissen, was du wirklich machst. Mit welchen Freunden triffst du dich? Hast du einen Freund? Hannes Bad war es auf jeden Fall nicht.“ „Ja, ich kannte den Typen ja kaum. Aber einen Freund habe ich nicht“, meinte Paul. „Verliebt bist du aber“, stellte Katharina fest. „Nein, wieso? Die Typen spinnen doch alle nur“, widersprach Paul heftig. „Pauli, was ist denn los? Du belügst alle, auch den Staat, lässt dich anklagen, obwohl du zu solchen ungeheuren Taten nicht fähig bist und machst den Mund aber nicht auf, um dich zu verteidigen.“ „Woher willst du denn wissen, dass ich es nicht war?“, sagte Paul trotzig. „Weil du dazu nicht den Mut und die Kraft hättest“, antwortete Katharina. „Ich bin stärker als du denkst.“ „Nein, deine Kraft kenne ich. Ich meine, deine Muskelkraft. Aber in dir drin, bist du stark: Du warst so oft in U-Haft, scheinst irgendjemanden zu schützen und bist dir nicht zu schade, angeklagt zu sein wegen einer Sache, die du nie getan hast.“ Katharina schwieg. „Pauli, ich hoffe nur, dass du da herauskommst. Ich werde dich nicht verraten, aber bitte sage mir, wie ich dir helfen kann.“ „Du kannst mir nicht helfen“, sagte Paul ruhig und blickte ihre Schwester nur schweigend an. „Du schwindelst schon wieder. Natürlich kann ich dir helfen, du musst dir nur helfen lassen. Pauli, steige da aus, zerstöre dich doch nicht und hole dir endlich wieder Freunde ins Boot mit denen du sprechen kannst. Ich werde auf jeden Fall immer für dich da sein.“ „Hat Mum dir das gesagt?“, wollte Paul wissen. „Nein, Mum hat damit gar nichts zu tun.“ „Siehst du, auch du lügst.“ Mit diesen Worten stand Paul auf und verließ das Zimmer. Katharina durfte da nicht reingezogen werden, es waren sowieso schon viel zu viele im Boot. Aber in einer Sache hatte Katharina Recht: Paul musste aussteigen. Aber erst in zwei Monaten. Vorher konnte sie ihre Freunde nicht im Stich lassen. Und Prince musste die Chance haben, sich zu rächen. Paul stapfte in ihr Zimmer und legte sich aufs Bett. Ihre Augen fixierten die Decke. Dann nahm sie den Becher und trank daraus. Katharina hatte Recht, aber Prince hatte das Recht, dass Paul ihr half. Und mit diesen Gedanken verlor sich Paul.
Mit kurzer grauer Hose und grauem T-Shirt mit Rose darauf saß Paul im Pyjama am Frühstückstisch in Susannas Wohnung und pustete ein paar Strähnen aus ihrem Gesicht. In der Hand hielt sie eine Tasse. Das eine Bein hatte sie angewinkelt, das Andere stand auf dem Boden. „Noch etwas Cappuccino, Paul?“, fragte Susanna fröhlich. „Ja, bitte“, sagte Paul nur müde und gab Susanna ihre Tasse. Dann hielt Paul die Tasse in beiden Händen und nippte Gedanken verloren daran. „Hey, Paul, was´n los? Denkst du an morgen?“, fragte Susanna. „Ich will nicht schon wieder in U-Haft“, sagte Paul wütend und sah zu Susanna hoch, die gerade die Brötchen auf den Tisch stellte. „Ich verstehe dich ja, Aschenputtel, aber irgendjemand muss dafür herhalten.“ „Ja, ich weiß, ich möchte auch gerne Prince helfen, aber ich habe schon so viel getan für sie, verstehst du? Ich war schon vier Monate meines Lebens in Untersuchungshaft und immer wieder bin ich nur knapp der Verurteilung entronnen. Ey, ich schaff das nicht mehr lange. Irgendjemand muss sich nur verplappern oder mich doch gesehen haben obwohl ich es nicht da war und schon bin ich im Knast. Darauf habe ich keinen Bock!“ „Lass das bloß nicht Prince hören!“, mahnte Susanna. „Ja, natürlich nicht“, murmelte Paul und nahm wieder einen Schluck aus ihrer Tasse. „Hey, ihr Schlafmützen!“ Dennis kam durch die Tür herein. Er war schon fertig angezogen und hatte einen Computer dabei. „Darf ich mich setzen?“ „Aber immer doch!“, lud Susanna ihn ein und stellte eine Kirschmarmelade auf den Tisch. „Also“, begann Dennis aufgeregt, „dieses Mal wird’s ein bisschen spannender als die letzten paar Male: Prince hat beim Einbruch eine versteckte Kamera, durch die wir uns das Geschehen auch anschauen können. Das wird richtig lustig!“ „Ja, toll, schön“, murrte Paul. „Was hast du denn?“, wollte Dennis wissen und öffnete die Tür für Xenia und Gabriela. „Ja, ihr könnt euch das so schön ansehen und für euch wird es keine Konsequenzen haben, aber ich, ich werde dafür angeklagt und am liebsten würden die mich für lebenslang verknacken!“ „Ganz ruhig, Paul“, sagte Gabriela, doch Paul stand nur wütend auf und ging aus dem Zimmer. Dann ging sie in ihr Zimmer und schrieb an Katharina: „Hey Katha, ich werde deinen Rat befolgen müssen, wenn ich nicht wieder in U-Haft kommen möchte. Doch was soll ich tun? Hdl deine Pauli“ Kurze Zeit später kam die Antwort: „Ich ruf dich an.“ Und schon klingelte Pauls Handy. „Hey, Katha.“ „Nein, hier ist Prince.“ „Prince?“ „Ja, Paul, ich bin´s und ich will dir sagen, dass du bitte niemanden davon erzählst, das weißt du.“ „Das würde ich niemals tun, Prince. Du kennst mich doch.“ „Was wolltest du dann von deiner Schwester?“ „Sie wollte wissen, wie das mit dem Internat so läuft.“ „Na gut, ich wollte dir nur sagen, dass ich jetzt anfange. Viel Vergnügen beim Zuschauen“, sagte Prince. „Den werde ich haben“, meinte Paul freundlich. Dann legte sie auf. Während sie das Handy vom Ohr nahm murmelte sie: „Ja, Spaß werde ich haben.“ Danach nahm sie einen Zettel und schrieb einen Gruß an ihre Mitbewohner, zog sich an und verließ leise das Haus ohne dass es jemand mitbekam.
Paul trat in die Pedale und raste bei einer gelben Ampel noch über die Kreuzung. Dann bog sie in eine Seitenstraße ein und stellte ihr Fahrrad ab. Hastig rannte sie zum Eckladen, den man nicht einsehen konnte da die Fenster abgedunkelt waren und kam herein. „Prince, höre damit auf, Prince!“, schrie sie das Mädchen mit der Strumpfmaske an, die gerade eine bewusstlose Person zur Seite schleifte. „Paul, was willst du hier?“ „Ich will, dass du aufhörst! Das bringt doch nichts!“ Paul brachte ihren ganzen Mut auf ihre Freundin davon abzuhalten. „Ey Paul, was soll das? Ich dachte, wir sind Freunde.“ „Sind wir ja auch. Aber ich habe genug, ich kann nicht mehr die ganze Zeit in U-Haft sitzen, ich habe es allmählich satt.“ „Das dürfte die Polizei aber interessieren, wer für dich zum Internat gefahren ist und wie oft du gelogen hast“, erwiderte Prince nur grinsend. „Das habe ich alles für dich getan, damit du dich rächen kannst. Aber das hast du getan, du hast sie schon so weit, dass sie Privatinsolvenz anmelden mussten, reicht das denn nicht? Jetzt kannst du doch die Polizei aufklären, wir wissen alle, dass du es warst.“ „Nein, das tun wir nicht. Die Polizei hat doch keine Ahnung“, sagte Prince nur und grinste dabei weiter. „Prince, ich stand wirklich immer hinter dir“, versuchte Paul Prince zu stoppen, „aber ich kann nicht mehr. So viel habe ich für dich aufgegeben. Ich will nicht mehr!“ „Du willst also nicht mehr, ja? Weißt du was, ich will auch nicht mehr, sondern einfach nur meine Eltern wieder haben. Doch das geht nicht mehr, sie sind tot. Mir bleibt gar keine andere Wahl.“ „Prince, lass uns doch noch ein Mal darüber reden!“, schrie Paul Prince an, als diese ein Messer herausholte. „Nein, Paul, wenn du aussteigen willst, dann wird es dir gehen wie Hannes, auch wenn du meine Freundin bist!“ „Prince, sei still und lass und vernünftig reden! Sonst ging es doch auch immer!“ „Nein, Paul, es ist vorbei, ich wusste es schon so lange, dass du nicht mehr lange mitmachen würdest. Ich weiß nicht, wer dir so deinen Kopf gewaschen hat, aber es ist schlimm. Du lässt eine deiner Freundinnen hier stehen um selbst Karriere zu machen. Das ist einfach nicht fair!“ „Prince, ich habe dich nie stehen lassen, wirklich nicht! Aber ich kann einfach nicht mehr, es ist aus, ich bin raus. Wenn ich keinen Nervenzusammenbruch haben will muss ich jetzt aufhören. Wir können doch den Einbruch auf hinten verlegen, wenn du das willst. Aber ich kann jetzt nicht. Selbst wenn ich es wollen würde“, sagte Paul bestimmt und sah in das wütende Gesicht ihrer ehemaligen Freundin. „Pauli, Paul, denkst du jetzt, dass du damit wegkommst? Nein, meine Liebe, da hast du dich getäuscht! Ich will eine Freundin oder eine Feindin. Sage mir, was du willst.“ „Ich will deine Freundin sein, Prince, aber...“ „Kein Aber! Entweder du hilfst mir oder wir sind getrennte Leute.“ „Dann tut es mir Leid, Prince“, flüsterte Paul, „dann sind wir geschiedene Leute.“ „Wenn du das so willst, dann...“ Prince musste nichts mehr sagen, das Messer in ihrer Hand sagte alles. Und Paul wusste, wozu Prince fähig war und rannte. „Ich muss hier weg!“, war Pauls einziger Gedanke. So schnell es ging rannte sie zu ihrem Fahrrad und stieg auf. Dann fuhr sie los, keine fünfzig Meter hinter ihr kam Prince angerannt. Paul fuhr und fuhr, trat in die Pedale so schnell es ging. Doch als sie das nächste Mal hinter sich sah, hatte auch Prince ein Fahrrad. Ein Wettrennen begann. Es waren hundert Meter zwischen ihnen. In wenigen Sekunden waren diese zu überwinden. Paul fuhr um ihr Leben. Sie spürte den Fahrtwind, sah die ganzen Ampeln, konnte aber nicht auf sie achten und nahm einem Auto die Vorfahrt. Dann bog sie in den Wald ab. Dort schlängelte sie sich einen Weg durch die Bäume. Umdrehen war hier unmöglich. Die Grashalme schnitten Paul in die Beine und sie spürte schon die ersten Bluttropfen an ihrem Bein, ihre Haare flogen ihr ins Gesicht, die unebene Erde ließ sie langsamer werden. Ein kurzer Blick nach hinten verriet Paul, dass Prince zwar ein bisschen zurückgefallen war, doch immer noch zu nah war um das Tempo angenehmer zu machen. Was machen? Weiter fahren, einfach geradeaus, nicht nach hinten schauen. Pauls Panik stieg, ihr Puls raste und ihre Atmung ging stoßartig. Der Weg gabelte sich. Nach rechts würde sie einen echt steilen Hang hinunterfahren, der bei diesem Tempo schon richtig gefährlich werden konnte und geradeaus blieb es diese Schotterpiste. Also entschied Paul sich für rechts und fuhr einen Trampelpfad entlang, der allmählich breiter wurde und schließlich am Hang endete. Dort fuhr sie mit halsbrecherischem Tempo runter, fuhr über kleine Sträucher, Maulwurfshügel und Steine, hatte Angst vom Rad zu fallen, aber die Verzweiflung trieb sie weiter. Nicht aufhören, dass Tempo zu erniedrigen, du musst fahren! Paul verbat sich selber nach hinten zu schauen, da sie aufpassen musste nicht zu stürzen. Immer wieder und wieder wurde Paul durchgeschüttelt, ihr Fuß rutschte von der Pedale, schleifte kurz auf dem Boden, bevor Paul ihn wieder hochbekam. „Oh nein, jetzt keine Zeit verlieren, sonst bist du genauso tot wie Hannes!“, schoss ein Gedanke durch ihren Kopf. Neues Adrenalin wurde durch ihren Körper gepumpt, der Puls kam bei 179 an und immer noch war nichts zu sehen, was sie irgendwie in Sicherheit wiegen könnte. Das pure Entsetzen war Paul ins Gesicht geschrieben, ihre Augen waren von Angst und Schrecken weit geöffnet und Falten bildeten sich vor Konzentration. „Ein einziger Fehler und du bist tot!“ Kein wirklich tröstlicher Gedanke. Da, keine fünfzig Meter mehr, dann war es zu Ende. Wohlbehalten kam Paul unten an und fuhr gleich wieder in den Wald hinein und nahm gleich einen Trampelpfad statt den eigentlichen Weg. Sie gönnte sich keine Pause sondern fuhr ohne Unterlass durch die kleinen Lücken der Bäumen. Äste knackten unter den Rädern des Mountainbikes und Paul hatte riesige Angst sich dadurch zu verraten. Schnell merkte sie, dass sie langsam keine Luft mehr bekam und ihr Kehlkopf sich nicht mehr öffnen wollte. „Scheiß Kehlkopfdysfunktion“, dachte Paul verzweifelt, das hatte ihr der Arzt gesagt. Tritt häufig bei jungen Mädchen auf und bei Panik. Als die Straßen in Sicht kamen, drosselte Paul noch einmal ihr Tempo und bog in eine der Querstraßen ein. Jetzt schnell zur U-Bahn, dann würde sie vorerst in Sicherheit sein. Und sie wusste, dass sie vor allem jetzt untertauchen musste, wenn sie mehr als drei Minuten noch am Leben bleiben wollte. Und sobald Paul in der U-Bahn saß dachte sie: „Ach, Prince, warum musstest du das tun? Ich halte doch zu dir, wenn du das willst.“ Es war kein Zorn auf Prince, sondern eher Trauer um die gute Freundin.
Das Telefon klingelte. Meine Mutter nahm ab. Kurze Zeit später rief sie: „Luca, komm doch mal eben runter. Es ist eine Freundin!“ Wer würde das wohl sein? Ich konnte es mir nicht denken. „Hallo, hier ist Luca?“ „Hi, hier ist Susanna, eine Freundin von Paul!“, kam die aufgeregte Stimme aus dem Hörer. „Die von der Gerichtsverhandlung?“, wollte ich sichergehen und ging in mein Zimmer. „Genau die. Pass auf, du wirst mir jetzt vielleicht nicht glauben, aber Paul ist in Lebensgefahr. Wenn du ihr helfen möchtest, kommst du jetzt in den Dammweg 27 und da zeige ich dir, was deiner lieben Freundin blüht. Aber beeile dich, sonst kann ich nicht für das Leben von Paul garantieren!“, sagte Susanna und dann klickte es in der Leitung. Zum Glück kannte ich die Dammstraße, früher war ich dort in den Kindergarten gegangen. „Ute, ich bin dann mal weg!“, rief ich noch ins Zimmer, dann zog ich in Rekordzeit meine Schuhe an, schnappte mir eine Jacke vom Haken und fuhr auf meinem Fahrrad in die Dammstraße. Es dauerte keine fünf Minuten dann war ich da. Was wohl mit Paul los war? Auf mein Klingeln öffnete Susanna die Tür. Im Wohnzimmer saßen noch vier andere, die mir als Micha (die Pauls Ebenbild war), Dennis, Xenia und Gabriela vorgestellt worden. „Pass auf, Luca. Es wird Zeit dir alles zu erklären. Pass auf, zuerst musst du wissen, Paul hat keine von diesen Taten begangen für die sie angeklagt war. Sie hat es getan um eine Andere aus unserer Clique zu decken. Diese Andere wollte gerade wieder zuschlagen und Paul ist zu ihr um sie aufzuhalten und daraufhin wurde Paul mit dem Messer bedroht. Wir wissen es daher, dass die Andere eine Cam umhat und wir alles sehen können. Doch wir wissen nicht mehr wo Paul ist!“ Susanna zeigte mir bestürzt das Bild der Cam auf dem Computer. Es dauerte eine Weile bis ich wusste, wo diese Andere war. Es schien der Wald zu sein und die Andere schien ein Fahrrad zu haben. Gerade zischte diese Person: „Scheiße, wo ist das kleine Miststück hin?“ Entsetzt starrte ich auf das Bild. „Träume ich?“ „Nein, leider nicht“, sagte diese Xenia. Ihr blondes Haar war kraus und es sah aus, als hätte sie sich vor Verzweiflung die Haare gerauft. Dennis schien auch nicht gerade froh über die Entwicklung der Dinge. „Sagt mal, könnt ihr zurückspulen, damit ich alles von Anfang sehen kann?“, bat ich und meine Stimme zitterte. Schweigend nickte Dennis, drückte ein paar Tasten und dann sah man, wie das Bild auf Sendung kam und eine Mädchenstimme sagte: „Also, dann wird unsere Zielfamilie ihr Blaues Wunder erleben.“ Ein heiteres Lachen folgte. Danach sah man wie das Mädchen in ein Haus kam mit abgedunkelten Fenstern. Ein Mann stand mit dem Rücken zur Cam vor einem Regal und schien etwas zu suchen. Sofort zog das Mädchen ein Tuch und hielt es dem Mann vors Gesicht, sodass er betäubt zu Boden fiel. Ein hässliches Lachen erscholl und Luca musste unwillkürlich zusammenzucken. Als das Mädchen den Mann wegzerrte, kam die Stimme von Paul: „Prince, hör auf damit, Prince!“ Ein Gezeter begann und die Mädchen stritten sich lautstark. Paul versuchte ihre Freundin mit dem Namen Prince zu beruhigen, aber Prince zückte zum Schluss ein Messer und Paul stolperte aus dem Laden und rannte um die Ecke. Prince nahm ein unabgeschlossenes Fahrrad von der Seite und folgte Paul, die ebenfalls auf einem Fahrrad saß. Danach ging es durch die ganze Stadt. Geschockt folgte ich dem Geschehen: Kantstraße, Veilchenweg, Mozartstraße... Zum Schluss gelangten die Mädchen in einen Wald. Paul fuhr wie der Teufel und schon bald sah man vereinzelt Bluttropfen auf dem Weg liegen, die nur von Paul stammen konnten. Schließlich schlug Paul einen Trampelpfad ein, sie war nur noch manchmal in der Cam zu sehen, da Prince zwar schnell war, aber nicht unbedingt mit dem Mountainbike mithalten konnte. Doch nach und nach holte auch Prince wieder auf, als sich ein Hang auftat. Ohne zu Überlegen fuhr Prince runter, den Blick starr auf Paul gerichtet. Es sah richtig gefährlich aus und als Paul unten angekommen war, verschwand sie aus dem Sichtfeld. Auch Prince kam unten an und fuhr auch noch in den Wald, dann fluchte sie laut und als sie die Cam bemerkte, fluchte sie noch einmal und riss sie ab. „Seitdem haben wir kein Signal mehr. Nur noch als du kamst, ist es noch einmal gekommen, doch jetzt ist es tot.“ Susanna fing an zu weinen. „Was hat sich Prince nur dabei gedacht?“, schluchzte nun auch Xenia. Dennis nahm sie in den Arm. „Paul habt ihr also zuletzt in diesem Wald gesehen. Wo kann sie hin sein?“, überlegte ich und meine Lippen bebten. „Das einzig Sinnvolle wäre die Stadt, da kann Prince sie nicht auf offener Straße umbringen“, antwortete Gabriela. „Aber wo ist Paul jetzt? Wir müssen sie finden, sonst ist sie Prince ausgeliefert!“ „Und was passiert mit Prince?“, wollte ich wissen. „Wir werden sie nicht anzeigen, sie hat es schon schwer genug gehabt. Wir werden weiterleben wie bisher, wenn Paul ihr verziehen hat“, schlug Susanna vor. Alle Anderen nickten. Sie schienen es für normal zu halten. „Stopp“, unterbrach ich sie geschockt, „Paul kann doch nicht mit einer befreundet sein, die sie umbringen wollte!“ In diesem Moment klingelte das Telefon von Susanna. „Hallo?“ - „Hi Paul, wie geht’s dir? Wo steckst du? Hast du Wunden?“ - „Natürlich, wir kümmern uns um sie. Wann kommst du?“ - „Nein, Paul, bitte komm zurück! Ich verstehe es ja. Aber...“ - „Na gut, wenn du es unbedingt so willst. Aber du musst uns informieren. Wo willst du schlafen?“ - „Ja, wir haben Luca informiert, er ist hier gleich neben mir.“ - „Nein, Paul, leg nicht auf! - So ein Mist!“ Susanna ließ das Handy sinken. Alle sahen sie erwartungsvoll an und auch ich hatte Hoffnungen. „Passt auf“, begann Susanna stockend, „Paul geht es gut, sie hat ein paar Schnittwunden vom Gras, aber das ist nichts Ernstes. Sie wird nicht nach Hause kommen, sie taucht jetzt unter, wird uns aber sooft es geht über ihren Verbleib informieren. Wir sollen uns bitte um Prince kümmern und sie lieb aufnehmen und uns um sie sorgen. Außerdem will Paul nicht, dass Luca da mit reingezogen wird, aber ich halte es für richtig. Nur Prince darf nichts davon wissen. Und wir sollen, wenn der Gerichtstermin beim Richter ist zum Gespräch, die Polizei informieren, dass sie schon vor dem Gebäude warten sollen. Das wird Luca tun müssen. Bist du einverstanden?“ Ich nickte nur. Mein Magen drehte sich. Gerade noch hatte ich keine Ahnung gehabt in wen ich mich verliebt habe, doch jetzt wusste ich wie viele Sachen Paul ertragen haben musste für diese Prince. Zwar kannte ich das Mädel noch nicht, aber mögen tat ich sie nicht wirklich. Sie war gefährlich. „Luca, geh jetzt nach Hause. Ich werde Paul sagen, dass sie dich anrufen soll. Aber lass dich nie wieder hier blicken, hörst du. Wenn wir dich brauchen, dann kommen wir zu dir.“ Susanna umarmte mich zum Abschied, dann ging ich zur Tür raus und schnappte mir mein Fahrrad. Als ich noch einmal nach hinten sah, sah ich ein Mädchen mit Fahrrad, schwarzen Lippen und schwarzem Hut und da wusste ich: Das war Prince.
Ich wachte unter einem Busch auf. Ein Zweig stach mir ins Gesicht und ich schob ihn zur Seite. Die Sonne ging gerade erst auf und ich kam langsam aus meinem Busch hervor. Die Stadt schlief noch und ich hatte Hunger. Zum Glück hatte ich gestern etwas zu Essen bekommen von einem Gemüsehändler, der sein Geschäft gerade schließen wollte. So hatte ich ein bisschen Proviant und konnte mich halbwegs satt essen. Es war mein dritter Tag in Freiheit, auf der Flucht, in der Stadt. Ich hatte fünf Euro bekommen fürs Zeitung austragen und konnte mich reich schätzen. Ein paar Brötchen konnte ich davon auf jeden Fall kaufen. Doch wie lange würde es reichen? Würde es wirklich noch die fünfzehn oder sechzehn Tage halten bis ich zum Richter kam? Nein, ich musste wegfahren. Mühselig stand ich auf und machte einen Spaziergang durch die Stadt. Da kam mir ein schick angezogener junger Mann entgegen. Als er mich sah, meinte er: „Oh, du bist doch Pauline Meißner.“ „Ja, die bin ich.“ „Ich bewundere Sie, Sie sind gerissen.“ „Wenn Sie das meinen.“ „Sie sind auf der Flucht“, stellte der Mann fest. „Stimmt, das kommt daher, dass die wirkliche Täterin mich nun töten möchte“, antwortete ich. „Das ist echt blöd und du hast nichts außer dein Fahrrad. Weißt du was, ich habe heute sowieso frei. Ich möchte dir helfen.“ „Das ist schön, kannst du mich hier rausbringen? Ich meine, aus dieser Stadt. In irgend ein Dorf.“ „Das ist schon alles?“ „Ja.“ „Klar, mein Auto steht hier gleich um die Ecke.“ „Es ist immer noch besser als wenn du hier verhungerst“, sagte ich mir und ging mit dem Mann mit. „Wie heißen Sie denn?“ „Oh, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt: Ich bin Kai. Ich bin Geschäftsmann.“ „Erfreut.“ Schweigend gingen wir weiter. Dann kamen wir zu einem kleinen blauen Auto. „Steig ein!“, forderte Kai mich auf. Ich schob mein Mountainbike in den Kofferraum und setzte mich. „Ich glaube, ich habe eine Idee, wo du unterkommen kannst.“ „Wo denn?“, fragte ich interessiert. „In meiner Zweitwohnung in München. Da wollte ich heute sowieso noch hin“, antwortete Kai. „Wie lange kann ich bleiben?“ „Na ja, zwei Wochen, nicht länger. Dann kommt nämlich meine Frau und die wird nicht sehr erfreut sein.“ „Verstehe“, sagte ich nur und konzentrierte mich auf die Straße. „Ach, ich mag den Sommer“, fing Kai ein Gespräch an. „Ja, aber nicht wenn man gejagt wird“, meinte ich seufzend und lehnte mich gegen das Fenster. „Was finden Sie an mir so faszinierend?“, wollte ich wissen. „Oh, alles. Du stellst dich dem Gericht obwohl du es nicht tun müsstest und bist dir dafür nicht zu schade. Und du trickst alle aus, bei dir weiß man nichts. Das ist toll, wirklich!“ Kais Augen strahlten. „Finden Sie das wirklich so toll?“ Ich zweifelte stark. „Ja, Pauline.“ „Paul.“ „Paul?“ „Ich mag den Namen Pauline nicht. Alle nennen mich Paul“, erklärte ich. „Interessant. Sogar der Richter durfte dich so nennen.“ „Sie waren bei der Gerichtsverhandlung dabei?“, fragte ich fassungslos. „Natürlich. Ich habe keine Einzige von dir verpasst. Meine Frau mag das zwar nicht so, aber solange ich brav mit zu Pferdeausstellungen gehe, ist es für sie okay.“ „Ihre Frau mag Pferde?“, hakte ich nach. Kai nickte: „Ja, wenn sie sonst nichts interessiert. Weißt du, lieber das Hobby Pferde, als irgendetwas anderes wie zum Beispiel Fußball.“ „Sie mögen Fußball nicht?“ „Ach, Paul, höre bitte auf mich zu siezen!“, lachte Kai. „Okay, okay. Aber ich dachte, Fußball wäre der Männersport!“ Ich sah Kai staunend an. „Nein, Fußball ist scheußlich. (Kai lacht.) Wenn ich etwas nicht mag, dann ist es Fußball.“ „...und Pferde.“ „Ja, Pferde sind auch nicht toll.“ „Lieben Sie, ich meine, liebst du deine Frau sehr?“, wollte ich wissen. „Ach, weißt du Paul, Frauen kann man sich nicht immer aussuchen und wenn ich es unter uns sagen darf, meine Frau ist abscheulich!“ Kai lachte wieder. „Warum bist du dann mit ihr zusammen?“, wunderte ich mich. „Mein Vater wollte es so. Sie ist ein Arbeitstier und deswegen halte ich es mit ihr aus. Aber ich sage dir, sobald eine Andere sich in mein Leben schiebt, verlasse ich sie.“ „Wie heißt deine Frau denn?“ „Christine, ein wirklich schlimmer Name, was meinst du dazu?“ Ich überlegte: „Es gibt schlimmere Namen und es gibt bessere Namen. Also, ich finde ihn okay.“ „Na, wenn du meinst. Ach, was ich dich schon lange fragen wollte, du bist ja nicht erst seit gestern auf der Flucht, was hast du gegessen?“ „Ein bisschen Gemüse von einem Händler, der gerade sein Geschäft schließen wollte“, gab ich bereitwillig Auskunft. „Ach, du Arme. Dann dürftest du ja ganz ausgehungert sein!“ „Na ja, es geht schon.“ „Da auf der Rückbank habe ich bestimmt noch ein paar Brötchen. Hast du denn kein Geld?“ „Als ich geflüchtet bin, hatte ich keine Zeit mir Geld mitzunehmen. Ein bisschen habe ich schon zusammen, aber viel ist es nicht. Wenn ich Glück habe komme ich damit ein paar Tage über die Runden.“ „Wie viel ist es denn?“ „Fünf Euro.“ „Oh, das schaffst du nicht und was Warmes hast du auch nicht? Hast du den Wetterbericht schon gehört? Der sagt, dass der Sommer nicht mehr lange gehen wird. Es ist bald August und an Oktober soll es schon schneien. Die Welt ist verrückt!“, stellte Kai fröhlich fest. „Aber mit fünf Euro kann ich mir keine wärmere Jacke kaufen“, stellte ich nüchtern fest. Kai war empört: „Wozu bin ich denn da? In München gibt es wundervolle Boutiquen. Da werden wir ein paar neue Hosen und auch eine Jacke finden.“ „Das kann ich doch nicht annehmen!“, rief ich empört. Ich fing an, Kai richtig zu mögen. Er half mir, obwohl ich ihn nicht darum gebeten hatte und er bewunderte mich. Vielleicht war es der einzige Mensch auf der Erde, aber es half mir doch. „Möchtest du mir nicht einmal die Geschichte von dir von Anfang bis Ende erzählen?“ Da merkte ich, dass ich ihm vertraute und fing an. Kai hörte mir zu und er unterbrach mich nie. Als ich aufhörte waren wir schon in München. „Das ist wahnsinnig spannend! Ich hätte nie gedacht, dass ich meinem Vorbild mal begegnen würde.“ „Ich bin dein Vorbild?“ Kai war wirklich sehr lustig und sehr komisch. „Ja, ganz München vergöttert dich! Die Kunde von dir ist auch bis hierher gedrungen und alle Gerichtsverhandlungen wurden von Jemanden auf Youtube hochgeladen. Da bist du eine ganz große Heldin, wusstest du das nicht?“ „Nein, wirklich!“ „Na dann, hier müsste die Seite sein.“ Kai reichte mir sein Handy und hatte darauf eine Seite geöffnet, wo man mich sehen konnte und den Richter. Darunter stand 1.000.000.000 „mag ich“ und die Kommentare waren auch sehr aufbauend. Viele wünschten mir Glück und waren voll auf meiner Seite. Für die war ich so was wie ein Star. „Lustig, oder?“ „Am liebsten würden die mit dir per Webcam kommunizieren. Das kannst du zum Beispiel im dreißigsten Eintrag lesen, der ist von einer gewissen Karla73 verfasst.“ „Kennst du die alle auswendig?“, fragte ich geschockt. Kai wurde ein bisschen rot: „Natürlich, ich sitze stundenlang da und werte die Verhandlungen aus. Das macht hier jeder Fünfte so.“ „Merkwürdig“, bemerkte ich. „Findest du?“ „Ja, du bist ein bisschen verrückt.“ Da lachte Kai: „Das sagt Christine ständig zu mir.“ „Dann muss es ja stimmen“, feixte ich. Wir lachten noch eine Weile, dann waren wir wieder still. „Schon ziemlicher Zufall, dass gerade du mir über den Weg gelaufen bist“, meinte Kai grinsend. „Ja, komisch.“ „Man könnte fast sagen Schicksal“, trumpfte Kai auf. Wir lachten nur. „Na dann, hier wären wir ja auch schon.“ Kai hielt das Auto vor einer Villa an. „Mmh, hübsch hast du es hier.“ „Ja, es ist nicht gerade das kleinste zu Hause der Welt“, gab mir Kai recht. Dann stiegen wir aus und schauten uns im Haus um. Es war sehr gemütlich eingerichtet und ich fand es auf Anhieb sympathisch. Nach einer kurzen Führung durch das Haus klingelte mein Handy. „Gehst du nicht dran?“, wollte Kai wissen. „Nein, es ist Prince“, sagte ich und drückte sie weg. „Du hast ihr doch nicht verziehen“, schmunzelte er. „Doch, doch, aber ich will nicht getötet werden. Am besten, ich schalte das Handy aus, sonst kann ich vielleicht auch noch geortet werden, das wäre schrecklich!“ „Beruhige dich erst einmal“, meinte Kai. Da fiepte das Handy. Eine SMS. Vorsichtig spähte ich auf das Handy. „Hi Paul, na wie ist es so in der Freiheit? Ich werde dich schon kriegen. Egal, wo du steckst. Ganz liebe Grüße, deine Prince.“ Wortlos zeigte ich Kai die SMS. Dann schlug ich die Hände vors Gesicht und fing an zu weinen. Kai legte mir einen Arm um die Schultern und führte mich zum Sofa. „So, du setzt dich erst einmal und ich hole dir was zu Trinken und dann denken wir noch einmal ganz in Ruhe nach. Wie findest du das?“ Ich nickte nur. Tränen strömten mir übers Gesicht. „Prinzessin Paul, weine doch nicht. Es wird alles gut.“ Ich klammerte mich an seine Worte wie eine Ertrinkende. Ich wusste, dass Kai mir würde helfen können. „Woher kommst du denn eigentlich genau? Beziehungsweise, wo genau ist Prince?“ „Puh, ich nehme mal stark an, dass sie bei uns anderen ist.“ „Und wo seid ihr?“, fragte Kai. „Dammweg 27.“ „Dammweg 27, wo das Haus von Susanna ist?“, wollte Kai sichergehen. Ich nickte. „Wie lange hast du denn vor auf der Flucht zu sein. Du wirst dich nicht ewig vor Prince verstecken können. Das weißt du genau so gut wie ich.“ „Na ja, sechzehn Tage um genau zu sein“, gab ich Auskunft und betrachtete ein Gemälde von einem Reiter der auf der Jagd nach einem Reh war. Das Bild hatte etwas Abscheuliches an sich. „Warum genau sechzehn Tage? Ist da irgendwas besonderes?“ „Mein Gespräch mit dem Richter. Wenn du alle Verhandlungen siehst müsstest du doch wissen, wann die ist.“ „Ja, ja, ich wollte nur noch einmal fragen ob es stimmt. Hätte ja sein können, dass ihr noch einmal einen neuen Termin ausgemacht habt“, meinte Kai verlegen. „Was machen wir eigentlich jetzt?“, wollte ich interessiert wissen. „Wenn es dir nichts ausmacht mache ich mich kurz frisch, dann esse ich was während du dich kurz mal wäschst und danach fahren wir zur ersten Boutique und danach zum Frisör.“ „Danke.“ Mehr bekam ich nicht raus. Es war echt so genial, dass Kai mir half. „Das ist echt total cool von dir.“ „Danke, danke. Aber was die restlichen zwei Tage angehen die du nicht bei mir sein kannst, ich habe viele Kontakte in München und auch in der Umgebung von dem Richtergebäude. Es gibt bestimmt irgendjemanden, der dich aufnehmen würde. Wie gesagt, du hast viele Anhänger.“ „Das würdest du für mich tun?“ Ich wurde immer baffer. „Hey, Paul, du bist echt cool und der Star für viele. Denkst du nicht, wir wüssten alle, dass du unschuldig bist? Gerade deswegen bist du doch so berühmt. Was denkst du, warum du immer zum selben Richter kommst. Er ist der Allerbeste von seinem Fach. Er wird extra von Berlin geholt um deine Gerichtsprozesse durchzuziehen. Wir Fans scheinen mehr zu wissen als du.“ „Scheint so.“ Befreit lachten wir beide und ich merkte, dass ich in Kai nicht nur einen treuen Fan gefunden hatte, sondern auch einen verdammt guten Freund, der mir gerne half. „So, dann gehe ich mich mal fertig machen.“ Kai drehte sich um und ging. Kurz schaute ich ihm noch nach. Seine mittellangen blonden Haare kräuselten sich und ließen ihn sehr jugendlich erscheinen. Der zarte Körperbau war mit Muskeln bepackt. Ich musste Kai nicht fragen um zu wissen, dass er öfter mal ins Fitnessstudio ging. Wie Mama. Ach, Mama. Shit, ich durfte nicht an sie denken. Anrufen war verboten, weil Prince es hören konnte. Ich würde mein Handy wegwerfen müssen, sonst würde ich spätestens in einer Woche aufgespürt sein. Auch wenn ich eigentlich Susanna, Micha, Dennis, Gabriela und Xenia vertraute, wusste ich nicht, ob sie vielleicht doch Prince halfen. Der arme Luca hatte auch keine Ahnung, was hier abging. Doch tief in meinem Inneren wusste ich, dass ich ihn nicht ganz so doll vermisste. Wir waren drei Monate schon zusammen und es hatte auch schon Krisen gegeben. Schon damals, als wir uns oft zum Anschauen des Sonnenuntergangs getroffen hatten, hatte ich keine Gefühle mehr für ihn gehabt. Es tat mir unendlich leid, aber es gab so viele andere für die es sich zu leben lohnte. Egal.
„Paul, kannst du schon mal den Tisch decken?“, fragte Kai und kam nur in langer Hose und nassen Haaren aus dem Badezimmer. Perplex starrte ich ihn an, dann riss ich mich zusammen und meinte: „Natürlich, kann ich.“ Doch es war leichter gesagt als gemacht. Da ich keine Ahnung hatte wo das ganze Geschirr stand, musste ich ziemlich lange suchen bis ich es fand. Zuerst machte ich eine Schublade auf, in der Gewürze darin waren, dann hatte ich ein Schubfach mit Brotaufstrichen, dann waren da noch Vasen und ein Fach mit Gummis, Wunderkerzen, Taschentüchern und Servietten. Als ich schließlich die Teller gefunden hatte, war ich echt froh. Allerdings hatte Kai vier verschiedene Sorten. Kurzerhand entschied ich mich für das grüne Geschirr mit schwarzen verschlungen Mustern und danach für gelbe Tassen mit einem echt niedlichen Küken drauf. Das Besteck war in einem Fach weit oben gelagert und ich musste mich strecken um es zu erreichen. Gerade als ich es erreichte meinte Kai: „Soll ich mal?“ Lässig griff er nach oben und nahm das gewünschte Messer. „Danke für´s Decken, Paul.“ „Bitte, bitte.“ Wir grinsten uns an. Dann nahm Kai ein paar Brötchen aus dem Korb auf dem Tisch und schnitt es auf. Ich tat es ihm gleich. „Wie alt bist du eigentlich?“, wollte ich wissen. „24“, antwortete Kai. „Krass!“, entfuhr es mir. „Krass?“ „Das ist übels jung für einen Geschäftsmann!“ „Na ja, ich hab wohl ein oder zwei Klassen übersprungen und mit fünf Jahren eingeschult“, gab Kai schulterzuckend zu. „Du spinnst!“, lachte ich. „Vielleicht ein bisschen“, grinste Kai. Er stand auf und holte ein kleines Radio. Das machte er an. „Es ist sieben Uhr. Jetzt kommen die Nachrichten: Schusswechsel in einem Juwelierladen in Köln und Überfall auf eine Apotheke. In einem Juwelierladen in Köln wurde gestern Abend kurz nach Ladenschluss eingebrochen. Der maskierte Täter hatte eine Strumpfmaske auf und eine Pistole in der Hand. Außerdem glaubt der Juwelier Stöckelschuhe und ein Armkettchen gesehen zu haben, was auf einen weiblichen Täter hindeutet. Die Polizei nimmt an, dass Pauline Meißner diese Tat begangen hat. Kurz zuvor wurde auf eine Apotheke ein Überfall verübt. Spuren waren nicht zu finden und es gibt keine Beschädigungen in der Apotheke,Gegenstände fehlen auch nicht. Die Polizei tappt im Dunkeln. Das waren die Kurznachrichten mit Anja Müller.“ Die Sprecherin verstummte und stattdessen wurde ein Song von ABBA gespielt. „Da hat deine liebe Freundin aber ganz schön was angerichtet. Denkst du, dass sie auch den Juwelierladen überfallen hat?“ „Ich denke schon. Sie war wahrscheinlich so wütend über mein Verschwinden, dass sie eine unüberlegte Tat begangen hat. Aber da sie ein Meister darin ist, Spuren zu verwischen, hat sie auch diesmal keine hinterlassen. Wirklich alles deutet auf Prince hin“, wertete ich aus. „Komm, wir blasen jetzt keinen Trübsal, sondern fahren jetzt los. Wir werden heute und morgen noch Chance haben einzukaufen, dann ist das Wochenende da und da werden wir uns schöne Spiele ausdenken. Wenn wir was Schönes in der Stadt sehen, können wir es ja mitnehmen.“ Fröhlich nickte ich und wir standen auf und räumten ab. Dann stiegen wir in Kais Auto und fuhren durch die Stadt. Dazu drehten wir das Radio laut auf und freuten uns riesig über die warme Luft. An uns flogen viele bekannte Gebäude und bekannte Gelände vorbei wie dem Münchner Hauptbahnhof, die Theresienwiese und die Frauenkirche. Als wir im Zentrum waren stellte Kai das Auto ab und zusammen suchten wir uns eine schöne Boutique. Dort suchten wir nach zwei kurzen T-Shirts, einem Kleid, einer langen Hose, einer kurzen Hose, einem dicken Pulli und einer Sommerjacke. Kai und ich hatten es ausdiskutiert und wir waren zu der Entscheidung gekommen, dass es am besten war so viel zu kaufen. „Was denkst du über dieses T-Shirt?“ Kai hielt ein hellblaues Shirt hoch, auf dem ein paar Papageien zu sehen waren. „Nee, ganz ehrlich.“ Skeptisch sah ich ihn an. Kai lachte los: „Das habe ich doch nicht ernst gemeint, Prinzessin!“ Und so sahen wir uns um. Ein Nachthemd fand sich ziemlich schnell. Es war unter dem Busen ein bisschen enger und rot geblümt. Wir beide fanden es sehr lustig und so nahmen wir es. Bei den Hosen war die Auswahl auch nicht schwer, nur mit den T-Shirts war es so eine Sache. „Und wie findest du das?“ Ich hielt ein grünes Teil hoch, auf dem ineinander geschlungene Würfel zu sehen waren. „Prinzessin, das zieht niemand in München an“, meinte Kai grinsend. Als wir uns nicht einigen konnten sahen wir uns nach einem Kleid um und wurden fündig. Wir beide verliebten uns in ein dünnes, schwarzes Kleid mit weißen und grauen Blättern. So war diese Frage geklärt und wir verließen diese Boutique um die nächste aufzusuchen. An den teuren Läden ging Kai vorbei. „Nicht, dass ich dir so was nicht kaufen würde, aber wir dürfen nicht riskieren, dass du auffällst“, erklärte er und steuerte auf ein kleinen Laden zu wo kaum Leute waren. „Das ist ein Geheimtipp. Jeder in München zieht diese Sachen an habe ich mir sagen lassen.“ Kai zog ein T-Shirt aus dem Regal. Es war beige und enganliegend und zeigte einen Totenkopf mit verschnörkeltem Hintergrund. Skeptisch sah ich das Shirt an. Doch Kai ignorierte mich und zog noch ein Top raus, was blau war und gemustert, wobei man nicht wirklich erkennen konnte ob es nur Schnörkel, oder auch Blumen waren. Allerdings bekam ich den Spitznamen „Blümchen“ nun nicht mehr los. Strahlend verließen Kai und ich den Laden und gingen nun zum Frisör. Sogleich bekamen wir einen Platz. „Was wünschen Sie denn, Kai?“ Anscheinend kannte man sich hier schon. „Ach, höre doch mit dem siezen auf, Luzie, das ist meine Freundin Blümchen. Und sie braucht dringend einen Sommerhaarschnitt, also irgendetwas Kurzes, aber Modisches. Du kennst dich doch da aus.“ „Na klar, dann komm mal mit, Blümchen.“ „Danke, für die Blumen“, flüsterte ich Kai zu als er mich grinsend hinter Luzie herschickte. „Immer wieder gerne“, meinte Kai und ich rammte ihm nur kurz meinen Ellenbogen in die Seite. Luzie bemerkte es nicht. „Tja, willst du dir etwas aussuchen oder lässt du mir freie Hand?“ „Ich vertraue Ihnen da mal“, meinte ich. „Gut, was machen wir denn da. Ah, ich habe eine Idee.“ Luzie bugsierte mich auf einen Stuhl und schob Kai auch einen hin. Dann hielt sie mir eine Schürze hin, die ich anzog und Kai knipste ein Bild. „Wie kommst du denn zu dieser netten Dame, Kai?“, fragte Luzie, nachdem sie mir die Haare gewaschen hatte. „Oh, ich habe sie heute morgen aufgesammelt. Blümchen wollte hierher nach München um ihre Ausbildung zu beginnen und suchte eine Mitfahrgelegenheit. Und da habe ich sie mitgenommen und ihr angeboten, dass sie doch für zwei Wochen zu mir kommen kann.“ „Was für eine Ausbildung machst du denn, Blümchen?“, wollte Luzie wissen, während sie nach dem Kamm griff. „Oh, ich mache ein Praktikum als Kellnerin. Es geht zwei Monate, also nichts sehr langes, es ist nur zum Anschauen“, log ich und warf Kai einen wütenden Blick zu. Der reckte den Daumen nach oben. „Wie schön! Gekellnert habe ich auch schon. Aber dann habe ich das hier als Hobby gefunden und es zu meiner Arbeit werden lassen.“ „Macht es dir Spaß?“, wollte ich wissen um von mir abzulenken. „Natürlich! Wenn es mir nicht Spaß machen würde, wäre ich schon lange nicht mehr hier.“ „Du musst verstehen, Luzies Eltern haben ein Restaurant, wo sie jederzeit arbeiten könnte und es, vorausgesetzt sie will, übernehmen könnte“, erklärte Kai. „Ja, aber ich habe es meinem Freund Ingo überlassen. Ich werde damit nicht wirklich glücklich und Ingo fühlt sich da sehr wohl. Mein halber Freundeskreis ist da eingestellt und Ingos Kumpels. So kostet uns es alle am wenigsten und wir wohnen auch in einer riesigen WG. Eigentlich wollte ich mit Ingo alleine in der Villa wohnen, aber sie ist groß genug, dass wir da zu zwölft wohnen können. Und so teilen wir uns in das ganze Geld rein und sind alle glücklich.“ „Wie habt ihr euch überhaupt kennengelernt?“, wollte ich wissen und sah ein bisschen traurig auf meine Haare die langsam abgeschnitten wurden. „Oh, lange Geschichte“, meinte Kai. „Ja, wir haben uns kennengelernt als Kai gerade die Schule fertig gemacht hatte. Zur selben Zeit hatte ich die Schule abbrechen wollen und wir waren zur gleichen Zeit beim Direktor. Und da hat der Direktor Kai gebeten mir zu erklären wie wichtig es ist einen Schulabschluss zu haben.Seitdem hingen wir zusammen rum, auch wenn wir uns nicht so oft sahen. Ich habe die Schule noch weitergemacht, bin aber auf die Mittelschule gewechselt um eher aufzuhören.“ „Tja, dann bin ich umgezogen und habe Christine geheiratet um meinem Vater eine Freude zu machen. Ich glaube, sie hat auch schon wieder einen Freund“, erzählte Kai die Geschichte weiter. „Sie hat einen Freund und ist mit dir verheiratet?“, fragte ich ungläubig. „Ach, es war eher eine Scheinhochzeit, das habe ich dir doch schon gesagt, Blümchen. Wir haben die Abmachung getroffen, dass jeder einen Freund oder eine Freundin haben darf und sobald beide finanziell abgesichert sind wir uns dann trennen. Christine und ich werden wahrscheinlich, wenn sie wiederkommt, noch einen Monat warten und dann die Scheidung einreichen. So ist es für uns beide das Beste.“ „Aber jetzt weiter in der Geschichte“, meinte Luzie, „nachdem Kai also weggezogen war und geheiratet hat, ist er bald Geschäftsmann geworden und dann nach München zurückgekommen um hier seine alten Freunde zu haben. Genug Geld hatte er und so kam er öfters am Wochenende, manchmal mit und manchmal ohne Christine, hierher. Dann haben wir uns getroffen und geredet. Du siehst, wir kennen uns schon eine Weile.“ Kai und Luzie berichteten sich nun noch die jüngsten Ereignisse, doch ich hörte nur mit halbem Ohr zu. Nach einer Stunde meinte Luzie: „So, ich bin fertig.“ Ich sah in den Spiegel – und erblickte wirklich eine schöne, junge Frau mit Kurzhaarschnitt (hinten eine Abstufung) und vorne mit langem Pony, was an der anderen Seite aufhörte. „Danke!“ Ich sprang auf und umarmte Luzie. „Na dann, schönen Tag noch.“ Sie lächelte. „Soll ich dir nicht noch was bezahlen?“ „Nein, nein, musst du nicht. Lade mich doch mal am Montag zum Eis ein“, meinte Luzie lachend. „Klar, wenn ich Blümchen wieder mitbringen kann.“ „Aber natürlich. Lass uns doch bei dir treffen, da können wir wieder was spielen.“ Sie vereinbarten eine Zeit und als Kai sich verabschieden wollte, meinte Luzie: „Ich geh jetzt sowieso. Wie ich sehe, geht ihr auf Shoppingtour. Lasst mich doch mitkommen. Blümchen könnte noch neue Schuhe vertragen und ein modisches Tuch.“ Und so nahmen wir Luzie mit. Mit ihr war es wirklich sehr schön und wir lachten fast den ganzen Weg. Als Kai dann um 18 Uhr Luzie nach Hause gefahren hatte, fuhren wir zu ihm und packten unsere Einkäufe aus. Kai füllte den Kühlschrank und zeigte mir ein Zimmer wo meine Sachen hinkamen. Während er das Abendbrot vorbereitete ging ich unter die Dusche und zog mein Nachthemd an und als ich Spiele aussuchte, machte er sich schon mal fertig. Neunzehn Uhr saßen wir dann am Abendbrottisch und spielten UNO und dabei aßen wir Lasagne.
„Also, Luca, du musst jetzt auf dich aufpassen“, beschwor mich Susanna. Seit ein paar Tagen rüsteten Susanna und Xenia mich aus, damit ich auf die Suche nach Paul gehen konnte. „Paul ist garantiert nicht mehr in der Stadt. Du musst wahrscheinlich irgendwo anders suchen. Klappere zuerst alle Verstecke von ihr ab und passe auf, dass du Prince nicht in die Arme fällst. Sie kann überall sein. Seit zwei Tagen hören wir nichts mehr von ihr. Also kann sie jetzt in Sydney, aber auch hier sein, verstehst du?“ Ich nickte. „Gut, dann wünsche ich dir ganz viel Glück und sage deiner Mutter, dass du mit Freunden eine Woche zelten fährst. Es ist die einzige Möglichkeit, sonst wirst auch du noch vermisst. Dann mal alles Gute.“ Susanna drückte mir einen Kuss auf die Wange, dann ging ich durch die Hintertür nach draußen. Meiner Mutter hatte ich die Lügengeschichte schon aufgetischt und mich mit Sack und Pack aus dem Staub gemacht. Wo konnte Paul nur sein? Die Verstecke würde ich nicht absuchen, Paul wäre nicht so dumm hier zu bleiben. Hatte ich irgendeinen Anhaltspunkt? Etwas, auf dass ich bauen konnte? Nein. Prince konnte auch überall sein. Vielleicht suchte auch sie Paul. Mmh... Ich würde zuerst im Zentrum der Stadt nachschauen. Wenn sie da nicht war und ich keine Punkte finden konnte oder Passanten fand die ich fragen konnte, würde ich aufgeben müssen. Für diesen Fall würde ich zu meinem Freund Franz fahren, der in München wohnte. Er war schon eingeweiht. Hoffentlich würde ich was finden.
Die Stadt war voller Menschen. Es war unsinnig dort was zu suchen, das wusste ich und so setzte ich mich gleich in den Zug nach München. Auf der Fahrt saß ich gegenüber von einer Frau, die wohl Mitte zwanzig war, blonde Locken hatte und ein kantiges Gesicht. Gebannt sah sie auf ihr Handy, als ich die leise Stimme von Paul vernahm: „So, dann sagen Sie mir mal, wann ich töpfern gehen soll, geschweige denn Querflöte spielen. Sie dürften mein Wochenplan vorliegen haben, ich gehe zum Klavier und Geige spielen, Basketball und Volleyball, aber doch nicht zum Töpfern oder um mir die Flötentöne beibringen zu lassen!“ Es war von der Gerichtsverhandlung vor einer Woche oder so. „Darf ich mal sehen?“, fragte ich die Frau. „Klar, sind Sie auch so ein Fan von Pauline?“ „Ja, natürlich“, meinte Luca verdattert. „Ich auch“, sprudelte es aus der Frau, „meine Schwester und ich folgen allen Verhandlungen und werten sie aus. Wir haben eine Gruppe gegründet, die sich nur mit Pauline beschäftigt. Sie ist so toll!“ Verzückt sah die Frau auf Paul, die gerade wieder etwas abstritt und gegenüber dem Richter eine eiskalte Miene zeigte. „Kann ich auch mal mit zu der Gruppe kommen?“, fragte ich vorsichtig. „Aber natürlich, gerne! - Ich bin übrigens Carla.“ „Erfreut, ich bin Luca.“ „Ah, Luca Kulmerland. Dachte ich mir doch, dass ich dich kenne. Wie war es in Paulines Gerichtsprozess aussagen zu dürfen?“ „Eine riesige Ehre“, schwindelte Luca. „Du warst nicht wirklich mit Paul zelten“, meinte Carla. „Nein, wie gesagt, ich habe Tiere beobachtet. Das machen ich öfter.“ „Die arme Pauline! Wenn sie nur wenigstens ein Alibi hätte! Aber nein, sie ist unschuldig und stellt sich dem Gericht. So ein hartes Mädel!“ „Woher wissen Sie, dass sie es nicht war?“ „Das sieht man doch. Wir sind nicht die einzige Gruppe in München, die sich die Verhandlungen gegen Pauline anschauen und wir alle sind uns in einem Punkt einig: Sie ist unschuldig. Nur wer es ist, wissen wir nicht.“ „Kein Wunder“, dachte ich, „bei dieser gewieften wahren Täterin.“ Carla erzählte mir noch viel mehr von ihrer Gruppe. Es war echt Wahnsinn! Und Carla wurde immer sympathischer. In München stiegen wir zusammen aus und sie gab mir noch die Adresse von Pauls Fan-Club. Ich versprach einmal zu kommen und verabschiedete mich dann von ihr als ich Franz sah. Lässig hatte er die Hände in seiner Jeans und das T-Shirt schlabberte an seinem dünnen, zarten Körper. Mit High-Five begrüßte er mich. „Hi, Alter, schön, dass du gekommen bist.“ „Ja, ich find´s auch geil.“ Ich nahm mein Gepäck und folgte Franz zu einem grünen Mini. „Oh, ihr habt ein neues Auto“, meinte ich überrascht. „Ja, das Alte hat den Geist aufgegeben und ist ausgebrannt. Die Versicherung hat bezahlen müssen.“ „Aha.“ Mit Franz redete ich nie wirklich viel, er wusste zum Beispiel nichts von Paul, aber wir verstanden uns trotzdem super. „Hi, Christine.“ „Hallo, Luca. Schön, dass du mal wieder kommst. Am Wochenende möchte ich mit einer Freundin zu einer Pferdeausstellung, wenn du dir da ein paar schöne Tage mit Franz machst, wäre das toll.“ „Ja, natürlich.“ Christine war sehr nett und ihr Mann Till auch. Die Autofahrt verlief ziemlich schweigsam. Christine fragte mich, wie es so in der Schule ging und wie es meiner Mutter gehen würde, sie haben sich ja so lange nicht mehr gesehen. Halt die üblichen Floskeln. Franz sagte nichts und sah nur aus dem Fenster. „Kennst du eigentlich schon das Deutsche Theater oder den Englischen Garten?“, fragte Franz plötzlich. „Nein“, sagte ich verdattert. Christine lächelte: „Du musst wissen, in letzter Zeit ist Franz nur noch dort. Er mag die Theaterstücke sehr und ist im Chinesischen Turm und im Teehaus schon fast Stammgast.“ Christine lachte. „Ich würde es dir gerne zeigen“, meinte Franz, als hätte er den Kommentar seiner Mutter überhört. „Ja, klar. Gerne. Ich hab auch mein Skateboard mit.“ „Cool.“ Wieder Schweigen und endlich die ersehnten Worte: „Da wären wir.“ Christine half mir mit meinem Gepäck und ich freute mich sehr darüber. Dann gingen wir in Franz´Zimmer und bliesen schon einmal die Matratze auf. „Weißt du was Mama letztes Wochenende mir offenbarte? Sie ist verheiratet! Und zwar mit irgendeinem reichen Sack, aber nur zum Schein. Das glaube ich ihr nie!“ Jetzt wusste ich, warum Franz so geschwiegen hatte. „Weißt du was, wir machen uns jetzt fertig und fahren in den Park, was hältst du davon?“, schlug ich vor und sofort erhellte sich Franz´Gesicht. „Also, los.“ Er stellte sich auf sein Skateboard, sprang die Stufen runter und fuhr schon los. Ich lief die Treppen lieber mit dem Board unter dem Arm runter und stellte mich erst dann drauf. Zwar war ich nicht schlecht im skateboarden, doch ich wollte kein Risiko eingehen.
„Wer hat angerufen?“ „Es war Christine. Sie hat mir gesagt, dass sie nicht in zwei Wochen kommt. Zumindest ist es unwahrscheinlich. Sie hat mir erzählt, dass sie auch in München ist. Da hat sie sich eine neue Familie aufgebaut. Schon lange muss das gehen, denn der Sohn ist ungefähr so alt wie du. Sie hat mir gestanden, dass sie schon mit vierzehn schwanger geworden ist und die Scheinhochzeit für sie eine Qual war. Also hat sie eine Art Doppelleben geführt, aber sich nicht getraut, es mir zu sagen. Ihr Sohn Franz hat wohl gerade Besuch von Luca und die sind gerade losgefahren. Und sie wollte es mir endlich sagen.“ „Stopp – sagtest du Luca?“, fragte ich noch einmal sicherheitshalber nach. „Ja“, antwortete Kai, „aber warum?“ „Luca ist mein Freund, ich hätte nicht gedacht, dass er nach mir sucht und mir schon so dicht auf den Fersen ist. Das ist alles ein ganz großer Alptraum!“ „Warum, magst du ihn denn nicht?“ „Doch, schon. Aber nicht mehr als einen Freund. Das wollte ich ihm schon lange sagen und jetzt hat er sich auf den Weg gemacht um mich zu finden. So ein Scheiß!“ „Ganz ruhig, Prinzessin. Wir fahren jetzt zu diesem Park und ihr sprecht euch aus. Dann weiß er, dass es dir gut geht, mehr muss er nicht wissen. Und wir hauen ab in eine andere Stadt und in eine andere Wohnung . Ich hätte da noch eine geschäftliche Wohnung in Erfurt. Du bist da gut aufgehoben und Luca weiß nicht wo du bist.“ „Ich will dich da echt nicht mit belasten“, meinte ich mutlos. „Ey, das geht schon. Also, ich fahre dich da jetzt hin und wir treffen uns zehn Minuten später wieder im Auto.“ „Was ist mit Luzie?“ „Könnten wir sie mitnehmen? Oder wird dir das zu viel?“ „Nein, auf keinen Fall. Ich finde sie doch auch total toll!“, meinte ich. „Okay, dann steige mal ein.“ Kai fuhr mich zum Park und ich war echt froh noch meine Klamotten von Chemnitz an zu haben. Mit einem aufmunternden Lächeln schickte mich Kai aus dem Auto. Erst war ich echt unsicher, dann raffte ich mich auf und ging selbstbewusst in den Park. Der Park war echt riesig und ich hatte keine Ahnung wie ich hier Kai finden sollte. Zwei Jungs skateten und als ich genauer hinsah, erkannte ich Luca. Rennend erreichte ich ihn. „Schoki!“ Er sah mich also. „Hey“, begrüßte ich ihn außer Puste. „Hey.“ „Ich wollte dich nur mal kurz sprechen. Pass auf, dass mit uns geht nicht mehr. Ich liebe dich nicht mehr und es tut mir total Leid, Luca, aber ich wollte mich noch einmal melden um dir zu sagen, dass es mir gut geht und dass ich es total cool finde, dass du nach mir gesucht hast und ich deinen Mut echt bewundere. Aber ich muss jetzt auch schon wieder los. Ich fahre jetzt in eine andere Stadt. Zu meinem Gerichtstermin werde ich wieder da sein. Keine Sekunde früher oder später komme ich zurück. Prince will mich töten. Noch einen schönen Tag.“ Ich hatte alle s gesagt, was gesagt werden musste. Mit großen Augen sah mich Luca an: „Schoki, lass uns doch noch einmal darüber reden.“ „Tun wir das nicht gerade?“ „Ja, aber weißt du was, erst einmal suchen wir uns einen ruhigen Platz. Franz, gehst du schon zu dem Teehaus? Ich bin sofort da.“ Luca zog mich beiseite. In seinen Augen schimmerten Tränen, doch er riss sich zusammen und blieb ruhig. Er schlenderte mit mir zu einer Baumgruppe. „Pass auf, Schoki...“ „Bitte nenne mich nicht so.“ Mein Spitzname, den er mir gegeben hatte, klang hohl und verbraucht in meinen Ohren. „Paul, ich wurde von Susanna angewiesen dich zu suchen und nach deinem Aufenthaltsort ein bisschen zu gucken. Dein Befinden liegt nicht nur mir am Herzen, sondern auch Xenia, Gabriela, Dennis, Micha und Susanna. Es wird vielleicht noch eine ganze Zeit brauchen bis man bemerkt, dass nicht du in dieses Ferienlager da fährst, aber trotzdem ist Vorsicht geboten. Sobald du gesucht wirst, bist du dran. Viele Leute kennen dich, dein Gesicht hat schon viele Zeitungen geschmückt, das weißt du.“ Ich unterbrach ihn: „Ich weiß, Luca, aber was schlägst du vor? Ich bin eine Gejagte, das wird so auch noch eine Weile bleiben und solange ihr Prince nicht stoppt kann ich auch nichts ausrichten. Ich habe viele Fans, wie mir gezeigt wurde, und viele sind bereit mich aufzunehmen. Ich werde gut aufgehoben sein und ich werde genügend Essen haben, jeden Abend werde ich ein Dach über dem Kopf haben und eine Decke, die mich wärmt. Ich werde Freunde an meiner Seite haben, die mich aufheitern und die mir Tipps geben und ich werde starke Personen haben, die mich mit Proviant ausstatten. Habe keine Angst, mir geht’s gut.“ „Wenn du dir sicher bist, dann gehe deinen Weg. Gib mir dein Handy, dass die anderen wissen, dass ich dich gefunden habe. Du wirst es nicht brauchen. Hast du dir die Nummern der Anderen aufgeschrieben?“, wollte Luca wissen. Seine Miene war betrübt. Er war aufrichtig um mich besorgt und ich wusste, dass die Trennung ihm nahe ging, doch dass er persönliche Sachen zurücksteckte. Ein echter Gentleman. „Ich habe mir alle Nummern aufgeschrieben. Wenn ich Hilfe brauche, werde ich dir Botschaften kommen lassen, die du ungeöffnet an Susanna weitergibst, es sei denn, ich habe einen Totenkopf darauf gemalt, okay?“, machte ich mit Luca aus und er nickte bloß. „Wenn ich nach Hause komme, reden wir noch einmal in Ruhe. Aber jetzt muss ich los, ich werde erwartet. Mach´s gut.“ Ich umarmte ihn kurz, gab ihm mein Handy, dann drehte ich mich um und ging. Ich passte auf, dass ich nicht zu sehr auffiel und bedeckte mein Gesicht, so gut es ging.
Kai erwartete mich bereits. „Wie war´s?“ „Schmerzhaft“, antwortete ich knapp. Mitleidig sah Kai mich an: „Du Arme. Was hast du ihm denn gesagt?“ „Dass, was ich sagen musste. Die Wahrheit.“ Die Tränen kamen mir. Kai sah es sofort. „Prinzessin, du musst jetzt stark sein. Sei die Paul aus der Gerichtsverhandlung, die unnahbar und kalt ist und nur alles abstreitet. Sei die Person, die Luca und Susanna nicht kennt. Sei die Paul, die gerade auf der Flucht ist, um die Wahrheit zu finden“, sagte Kai und lächelte mich aufmunternd an. Die Worte gaben mir neuen Mut und ich sah das Ganze schon etwas klarer. Natürlich musste ich jetzt eine Schauspielerin sein und meine Gefühle verbergen. Es würde mir helfen. „Wann darf ich wieder Pauline sein?“, fragte ich vorsichtig. „Wenn wir zuhause sind und es nur uns Beide gibt. Dann bist du wieder meine Prinzessin und kannst so viel klagen und weinen wie du willst.“ „Danke.“ „Nichts zu danken.“ Kai und ich lächelten uns an. „Wo geht’s jetzt hin?“, fragte ich als die Gerichtsprozess-Paul. „Wir fahren jetzt zurück nach Hause, packen unsere Koffer und fahren nach Erfurt. Unterwegs rufe ich Luzie an und sage ihr, dass wir unser Eis essen verschieben und um alles Andere kümmern wir uns später.“ „Ich brauche dringend noch ein neues Handy.“ „Das haben wir gleich.“ Kai kramte in dem Handschubfach und überreichte mir ein nagelneues Handy. Auf dem Display sah man ein Blumenfeld und Datum und Uhrzeit waren auch schon eingestellt. „Krass, wie hast du das hinbekommen? Ich meine, woher hast du das Handy?“, wunderte ich mich und lachte. „Frage nicht. Es schulden viele Leute mir noch einen Gefallen und da bekomme ich die meisten Sachen unentgeltlich“, wich Kai aus. „Okay“, sagte ich, „danke.“ „Na dann, nichts wie los!“ Kai drückte auf das Gaspedal und der Wagen fuhr los. Fröhlich schaltete ich das Radio ein und wir sangen zusammen zu bekannten Titeln von Rihanna, Rosenstolz, Culcha Candela und Anderen.
„Ah, hier hast du also noch eine Wohnung“, keuchte Paul und hievte ihren Koffer die Treppe hoch. „Kann ich dir helfen?“, fragte ich mit Blick auf den Koffer. „Nee, nee, lass mal“, winkte Paul ab. „Na, dann eben nicht“, meinte ich schulterzuckend und überholte Paul, schloss die Tür auf und ließ Paul eintreten. Ihr Gesicht war vor Anstrengung ein bisschen rot und sie hatte die Stirn in Falten gezogen. „Ich hätte nie gedacht, dass der Koffer so schwer ist!“, sagte sie mit konzentrierter Miene. Ich musste lachen: „Du hast ja auch ein paar Sachen drin.“ „Ja, ja, stimmt“, gab Paul zu und wir mussten beide ein bisschen lachen. „Weißt du was“, schlug ich vor, „ich trage jetzt den Rest der Sachen rein und du machst schon mal was Leckeres zu Essen. Wenn mich nicht alles täuscht ist mein Kühlschrank noch voll.“ „Wohin geht’s in die Küche?“ „Dritte Tür links“, wies ich Paul an. Dankend stellte sie den Koffer ab und ging in ihrem neuen Sommerkleid in den Flur. Ihr Gesicht war richtig hübsch und wurde Dank der Kurzhaarfrisur von Luzie total betont. Als sie mir in einem Laden erklärt hatte, dass sie kaum Kleider trug, war ich echt überrascht gewesen. Paul hatte eine verdammt gute Figur, deswegen verstand ich echt nicht, warum sie nichts Enges trug. Die Schuhe zog Paul aus, kurz bevor sie in die Küche ging. Schnell wandte ich mein Blick ab und ging wieder zum Auto, den letzten und schwersten Koffer zu tragen. Paul hatte was Besseres verdient als meine Wohnung in Erfurt, obwohl ich wusste, dass sie hier echt am sichersten war. Wiederum musste ich mich echt zusammenreißen, dass ich nicht irgendwelche Bemerkungen machte, wie toll sie aussah oder wie viel Spaß wir miteinander hatten, da ich wusste, dass sie Komplimente nicht mochte. Paul war eher Eine, die es Knall auf Fall wollte. Sie war echt stark. „Ah, unser Kai ist wieder da“, überraschte mich die alte Hannah. Sie kam am Krückstock auf mich zu. „Na, Kai, wie lange bleibst du denn?“ Hannah sah mich mit ihren alten Augen an. Ich sah, dass ihr Haar dünner geworden war und dass sie auch immer ausgemergelter aussah. Man sah ihr ihre 82 Jahre deutlich an. „Ich werde hier zwei oder drei Wochen sein“, gab ich höflich Auskunft und stellte den Koffer auf den Boden. „Ah“, antwortete Hannah, „mal wieder ein etwas längerer Besuch. Komme doch mal zum Kaffeetrinken vorbei. Seit Ralf tot ist habe ich so wenig Gesellschaft und es ist mein letzter Monat in Freiheit angebrochen.“ „Musst du ins Gefängnis?“ „Wo denkst du denn hin?! Nein, nein, ich habe einen Platz im Altersheim beantragt. Als kleines Mädchen fand ich es immer bescheuert, dass die meisten alten Leute sich dagegen wehren. Mir gefällt der Gedanken zwar auch nicht, aber ich finde es nicht so schlimm. Meine Freundin Maria ist auch da“, erzählte Hannah mit glänzenden Augen. „Klar, ich komme gerne zum Kaffee, aber ich habe hier eine junge Dame noch mit, wenn ich die auch mitbringen könnte...“ Hannah lächelte: „Ist es was Ernstes?“ „Nein, nein, sie ist nur gerade auf der Flucht und ich habe sie aufgenommen“, erklärte ich den Sachverhalt schnell und versuchte, nicht allzu rot zu werden. „Verstehe, verstehe“, sagte Hannah mit grinsendem Gesicht, „natürlich kannst du die Dame mitbringen. Aber ich glaube, wen du dabei hast. Schon seit drei Monaten habe ich immer wieder denselben Traum von dir und der jungen Dame aus dem Gerichtssaal. Aber sag, wie lange kennt ihr euch denn schon?“ „Oh, seit ungefähr zwei oder drei Tagen. Aber woher wusstest du, dass es Paul ist?“, wunderte ich mich. „Ach, Kai, ich habe mir diese Verhandlung nur einmal angesehen und wusste auch, dass sie einen Freund hat, aber ich wusste immer, dass ihr super zusammen passt, wusste nur nicht, wie ihr euch kennenlernen solltet. Dann habe ich oft von euch beiden geträumt. Vielleicht hältst du mich für verrückt, aber ich habe schon öfter die Zukunft vorausgesehen“, sagte Hannah müde und lächelte schwach. „Aber zwischen Paul und mir ist nichts“, protestierte ich. Hannah war nicht verrückt, das wusste ich irgendwie. „Aber du wünschst es dir“, behauptete Hannah. „Kai, kommst du?“ Als ich mich umdrehte, stand Paul in der Tür. Nervös fuhr sie sich einmal durch ihre Haare und strich ihr Pony auf die Seite. „Ich bin sofort da“, wollte Kai sagen, doch Hannah kam ihm zuvor. „Ach, Sie sind die reizende Dame an Kais Seite?“ Paul errötete leicht und kam die Treppenstufen runter zu Hannah und mir. „Kai, willst du uns nicht vorstellen?“, forderte Hannah mich auf. „Also, Hannah, das ist Paul. Paul, das hier ist Hannah. Sie wohnt schon lange hier und meine Eltern waren mit Hannah befreundet. Sie ist für mich eine Art Oma“, sagte ich. „Erfreut.“ Paul schüttelte Hannah die Hand. „Also, Kai“, wandte Hannah sich zum Gehen, „du bist immer eingeladen zu kommen. Einfach klingeln, ist ja nicht weit.“ Mit diesen Worten humpelte Hannah weg. „Lass uns rein gehen“, sagte ich zu Paul und sie nickte nur ein bisschen verwirrt. Mit Mühe hob ich den Koffer hoch und trug ihn in den Flur. Schon stieg mir der Geruch von Eierkuchen in die Nase. „Mmh... Riecht echt gut!“, lobte ich Paul. „Danke, danke“, wiegelte sie ab, „war ja nicht schwer.“ Zusammen setzten wir uns an den gedeckten Tisch. „Was hast du denn mit dieser Hannah zu bereden gehabt?“, wollte Paul wissen und tat mir einen Eierkuchen auf. „Ach, über nichts Wichtiges. Wir haben uns nur lange nicht gesehen. Sie steht mir sehr nahe.“ „Verstehe.“ Paul griff nach der Erdbeermarmelade und strich sie auf den Eierkuchen. Ich studierte derweil ihr Gesicht. Ihre dunkelbraunen Haare passten super in ihr Gesicht, was normaler Weise von Falten des Kummers durchzogen waren. In dem Moment nahm ich mir vor, dass ich sie unbedingt mal im Schlaf sehen musste, wenn ihr Gesicht glatt war. „Möchtest du dir nichts auf deinen Eierkuchen machen?“, fragte Paul neugierig. „Doch, doch, ich konnte mich nur nicht entscheiden.“ „Ach so“, meinte Paul achselzuckend und griff nach der Erdbeermarmelade, „die würde ich dir empfehlen. Die ist echt der totale Hammer!“ „Danke“, sagte ich und nahm, in mich hinein grinsend, mir die Marmelade. Paul war schon auf eine unschuldige Weise süß. „Hörst du eigentlich zum Frühstück Radio?“, wollte sie wissen. „Ja, manchmal. Aber manchmal genieße ich nur den Moment des Frühstücks, den Moment der Unabhängigkeit“, sagte ich. „Verstehe.“ Paul biss in ihr Brot. „Was wollen wir danach machen?“ „Das kannst du dir aussuchen. Ich werde auf jeden Fall noch ein oder zwei Freunde ausfindig machen, die dich für eine kurze Zeit aufnehmen können, damit du öfter die Wohnung wechseln kannst“, antwortete ich und biss ebenfalls in mein Brot. Ich verstand, dass Paul die Marmelade mochte. „Das wäre echt cool.“ Nun schwieg Paul wieder, dann verdüsterte sich ihre Miene auf einmal. „Was ist los?“ „Nichts, nichts“, wich Paul aus. Ich merkte dass nicht alles gut war, obwohl sie sich sehr Mühe gab es zu verbergen. „Ich will dir helfen“, erklärte ich ihr ernst, „und ich mache mir Sorgen um dich. Also, sag mir, zum Teufel, was los ist!“ „Ich muss Prince dem Richter liefern. Zumindest an dem Tag werde ich es dem Richter sagen müssen. Oder ich muss ins Ausland, aber das kann ich meiner Familie nicht antun. Also muss ich zum Richter. Allerdings kenne ich den richtigen Namen von Prince nicht. Auch die Anderen, Susanna ausgenommen, kenne ich nur unter falschem Namen. Ich werde sie dem Richter nicht nennen können, wenn die Namen falsch sind. Was soll der Richter mit falschen Namen?“, meinte Paul und stützte ihre Ellenbogen auf den Tisch. „Ganz ruhig, Prinzessin. Irgendwer muss Prince mit richtigem Namen kennen. Vielleicht kennst du ihre Familie?“, versuchte ich Paul zu beruhigen. „Nein“, sagte Paul hoffnungslos, „die gibt es nicht. Prince ist eine Waise. Wir alle, das heißt Susanna, Dennis, Xenia, Micha, Gabriela und ich, kennen Prince´Aufenthalt nicht, kennen nicht ihren Namen. Wir haben uns in einem Ferienlager kennengelernt. Es war sehr schön. Wir gründeten eine Clique und nannten uns „Die unschlagbaren Acht“. Hannes war dabei, als er noch lebte. Wir merkten, dass wir alle in Chemnitz wohnten. Nach dem Camp sind wir in Kontakt geblieben. Zuerst war es Micha, die Unterschlupf suchte. Sie war in einen Laden eingebrochen, da ihre Familie sehr arm war. Das Geld hatte sie ihrer Familie gebracht und war danach abgehauen. Wir nahmen sie auf und nach einer Weile wurde sie für tot erklärt. Die Fährte legte Prince. Schon damals machte sie alle Sachen die mit dem Verwischen der Spuren zu tun hatten. Susanna hatte gerade das Haus bekommen und Micha zog dort mit ein. Die Verbindung zwischen Susanna und Micha kannte niemand, da wir uns im Camp nur heimlich getroffen hatten. Niemand schöpfte Verdacht. Bald darauf kam Dennis. Was mit ihm war, weiß ich nicht. Eines Tages stand er mit einer Tasche vor Susannas Tür und bat um Einlass. Hannes und Xenia kamen fast zur selben Zeit. Bei Hannes weiß ich, dass er von zu Hause ausriss, weil sein Vater ihn schlug. Xenia ist in eine Porzellanfabrik eingebrochen und nahm da Wertgegenstände mit, die jetzt bei Susanna stehen. Die Einzige, die nie bei Susanna wohnte, war ich. Bald darauf kam der Fall mit Prince´Familie. Und schlagartig war alles anders: Ich musste für ihre Verbrechen geradestehen. Klar, alle haben mich gelobt und ich war auch stolz auf mich, aber es hat mich nie ausgefüllt. Es war schrecklich.“ Ich hatte die ganze Zeit keine Miene verzogen. Paul auch nicht. „Das tut mir echt total Leid für dich“, meinte ich mitfühlend. Pauls Augen glitzerten verdächtig, doch sie blieb stark. „Ich brauche drei Minuten für mich“, bat sie, stand auf und verließ den Raum. Da klingelte mein Handy. Es war Christine. „Hallo?“ „Hi, Kai, hier ist Christine.“ „Ah, hallo. Was ist denn los?“, fragte ich leicht verstimmt. „Sei doch nicht gleich böse“, bat Christine, „ich wollte dich nur warnen.“ „Wovor?“ „Hier war eine Dame, ganz in Schwarz gehüllt. Luca und Franz waren immer noch nicht da und da habe ich die Tür geöffnet“, erzählte Christine. „Und?“, wollte ich wissen. „Diese Dame fragte nach dir und ob du nicht eine reizende junge Dame bei dir hättest.“ „Was hast du denn gesagt?“ Der Verdacht, es könnte Prince sein, kam mir in den Sinn. „Na ja, das kam mir alles sehr spanisch vor, da habe ich gesagt, dass du auf Geschäftsreise in Holland bist. Damit war die Dame aber nicht einverstanden und drohte mir, meinem Sohn etwas anzutun. Mein armer Franz! Da habe ich ihr gesagt, dass ich nichts von einer Dame an deiner Seite wüsste und dass du München verlassen hast. Aber nicht wüsste, wohin“, berichtete Christine weiter, „und daraufhin habe ich mir gleich das Handy genommen und dich angerufen. Wen auch immer du an deiner Seite hast, ich hoffe, du kannst sie beschützen. Alles Gute dir. Mach´s gut.“ „Danke, dass du mich gewarnt hast“, sagte ich. „Nichts zu danken, Ehemann“, lächelte Christine und legte auf. In dem Moment kam Paul rein. Ihr Gesicht war kreidebleich. „Paul, Prince hat dich in München ausfindig gemacht. Beziehungsweise, sie hat Christine gefunden. Ich denke, dass sie nicht lange braucht, um hierher zu kommen“, meinte ich. Paul nickte: „Ich weiß. Lebt Christine noch?“ „Warum willst du das wissen?“, fragte ich beunruhigt. „Weil genau heute vor ein paar Jahren das mit ihrer Familie passierte. Einer wird heute dran glauben müssen, befürchte ich“, flüsterte Paul mit weißem Gesicht. Sie hielt sich am Türrahmen fest, ihre Hände zitterten. Sofort nahm ich mein Handy wieder und rief Christine wieder an. Bitte, bitte, sie musste noch leben. Bitte! Es tutete noch einmal, dann nahm Christine ab: „Hallo?“ „Hier ist noch einmal Kai“, meldete ich mich aufgeregt. „Was denn?“ „Bist du alleine?“ „Ja. Franz hat angerufen, die kommen in einer Stunde“, meinte Christine überrascht. „Pass auf, Christine, lass niemanden außer Franz mehr in die Wohnung. Das Mädchen von vorhin hat es, glaube ich, auf dich abgesehen.“ „Jetzt hör aber auf, Kai! Du und deine Verschwörungstheorien! Wahrscheinlich ist das Mädchen an deiner Seite auch noch das Mädchen aus dem Gericht!“, entrüstete sich Christine. „Nun beruhige dich doch einmal“, versuchte ich zu schlichten, „noch ist nicht raus, ob dir die Dame was antun möchte. Aber nimm dich in Acht.“ „Das kommt mir alles sehr komisch vor, Kai. Was soll das bedeuten? Ist das Mädel bei dir?“ „Ja, ich habe die aus dem Gericht an meiner Seite, sie ist auf der Flucht und ich helfe ihr. Bitte, dieses Mädchen von eben ist echt kriminell, ich möchte, dass du das weißt.“ „Ist schon gut“, meinte Christine wider versöhnlicher. „Danke und noch schönen Tag“, sagte ich und auch Christine verabschiedete sich. „Ich möchte sie nicht in München sitzen lassen“, meinte Paul. Ihr Gesicht war wieder etwas farbenfroher, aber ich wusste nicht, für wie lange noch. „Ja“, gab ich zu, „mir gefällt der Gedanke auch nicht. Aber es lässt sich nicht ändern. Wir sind hier und Christine ist in München. Das lässt sich nicht ändern und das weißt du genauso gut wie ich.“ „Ja, ich weiß.“ Paul klang verzweifelt und ich stimmte mit ihren Gefühlen überein. Arme Christine! Ich liebte sie zwar nicht, aber wichtig war mir Christine dennoch, auch wenn sie ihre Macken hatte. „Erzähl mir mal was von Christine“, bat Paul. Irritiert sah ich sie an: „Wieso?“ „Ich möchte sie wenigstens so ein bisschen kennenlernen. Auch wenn ich sie noch nie gesehen habe möchte ich doch einen Eindruck von ihr haben.“ „Aber ich würde dich beeinflussen“, gab ich zu bedenken. „Das ist egal. Ich werde versuche es zu ignorieren.“ Paul bat so inständig und ich mochte ihr keinen Wunsch abschlagen und so willigte ich ein. „Also“, erzählte ich, „es war Sommer, und Christine und ich stritten uns mal wieder. Dieses Mal war das Thema ob wir zu einer Diskussionsrunde über dich gehen oder zur Pferdemesse. Beides war nur einmal im Monat. Es ist ja nicht schwer zu erraten, dass Christine die Pferde bevorzugte. Schon den ganzen Tag brabbelte sie vor sich Pferdenamen her und was auch immer mit Pferden zu tun hatte. Klar war für uns Beide, dass wir mal wieder zusammen auftreten mussten, da wir uns lange nicht mehr gesehen hatten, ich war auf Geschäftsreise, und die Eltern von Christine und mir riefen fast täglich an um zu erfahren was wir machten. Das ist eine Art Überwachung von denen. Oft hatten wir schon gelogen, doch bei den Gesprächen, wo die Eltern mehr nachfragten stockten wir sehr schnell. Deswegen mussten wir wieder mal was zusammen machen. Du musst verstehen, Prinzessin, meine Mutter ist auch Pferde begeistert und mein Vater ist auch Analysator von deinen Verhandlungen. Christines Mutter ist Rechtsanwältin und deswegen auch sehr an dir interessiert und Christines Vater ist Tierpfleger und deswegen ein Pferdefreund. So war unserer beiden Eltern was an dem Thema unseres gemeinsamen Nachmittags gelegen. Zurück zum Thema, Christine und ich stritten. Schließlich flogen schon Plastikbecher durch die Luft und Kissen und so. Christine brüllte, dass sie schon das letzte Mal bei einer Diskussionsrunde dabei sein musste und das ja auch gut verstand, aber dieses Mal müsste ich doch auch mal ein bisschen Verständnis für ihre Pferdeliebe aufbringen. Ich erklärte, dass wir schon bei der letzten Pferdemesse waren und wir garantiert nicht zu zwei hintereinander folgenden Messen gingen, doch Christine ließ nicht mit sich reden. Letztendlich entschieden wir uns doch für die Pferdemesse und ich muss zugeben, so schlimm war es am Ende gar nicht. Christine rief eine ihrer Freundinnen an und zusammen stiefelten sie durch die Messe, während ich Luzie anrief und wir uns unterhielten über den neuesten Klatsch und Tratsch. So ging ein Nachmittag zu Ende und ich überlebte die Pferdemesse sehr gut.“ Ich musste selber ein bisschen schmunzeln. Es war eines der wenigen Erlebnisse gewesen, die gut ausgegangen waren. Paul sah unzufrieden aus: „Was gibt es an schönen Momenten, die ihr zusammen verbracht habt?“ Ich musste nicht lange nachdenken. „Die Hochzeitsnacht.“ Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Paul das Gesicht ungläubig verzog. „Ja, du hast richtig gehört“, lachte ich, „die Hochzeit mit der anschließenden Nacht war wirklich schön. Christine sah herrlich aus in ihrem weißen Kleid und wir waren uns einig in dem was wir taten. Die Nacht war auch schön. Wir hatten eine hübsche Suite gemietet und dort tauschten wir ein paar Küsse aus, auch wenn wir nicht mehr als Freunde waren. Wir kannten uns ja kaum und bemühten uns, uns doch noch zu verlieben, was zwar nie klappte, aber ein paar Küsse gingen schon zwischen Christine und uns.“ Jetzt war Paul zufrieden. Dann durchzog ihre Stirn plötzlich eine nachdenkliche Falte: „Christine hatte ja schon zu dem Zeitpunkt einen Freund und du? Hattest du je in euer Ehezeit eine Freundin?“ Da musste ich lachen. Verständnislos sah Paul mich an. „Ach Prinzessin“, lachte ich, „ich bin ein Geschäftsmann. Es ist schon ein Wunder, dass wir uns kennengelernt haben. Ich habe jetzt zwei Wochen frei, dass kommt einmal in drei Jahren vor!“ „So wenig Urlaub hast du?“ „Nein“, antwortete ich, „so wenig Zeit nehme ich mir frei.“ „Das ist echt bisschen merkwürdig“, lachte nun auch Paul.
So, Job erledigt, jetzt kam der Nächste dran. Was hatte sich Paul dabei gedacht, als sie mich beim Geschäft abgehalten hatte? War ich nicht gut gewesen? Es war zwar nur ein kleiner Schritt in meinem guten Plan gewesen, aber ich hatte eigentlich ihn ausführen gewollt. Paul, was sollte das? Ich würde sie genauso kalt machen wie Hannes schon. Langes Gerede wollte ich nicht, sonst würde womöglich noch Hilfe kommen. Es tat mir nicht Leid um Paul. Ihre Position konnte Micha ganz leicht einnehmen. Wenigstens hielten die Anderen noch zu mir. Sie waren nicht so falsch wie diese Schlange Paul. Was bildete die sich eigentlich ein? Ich war immerhin eine sehr geübte Mörderin, da würde ich immer noch so eine kleine Person wie Paul umbringen können. Ja, sie war sehr stark, aber nichts gegen mich. Nur ein kleines Finger schnipsen und sie würde genauso vor mir knien wie diese Christine. Abscheuliche Person. Wo konnte nur diese Paul sein? Diese Verräterin! Einfach abhauen. Wie sie diesen Mann gefunden hatte, Kai, war mir ein Rätsel. Im Internet hatte ich nur seine Adresse in München gefunden und eine Adresse seiner kümmerlichen Frau. Was würden die Nachrichten sagen? Neuer Mord in München – Pauline Meißner unter Tatverdacht. Die Polizei waren solche Loser, das ging echt gar nicht.
„Hey, Martin!“ „Hey, Baby!“ Ich schaute ihn so verführerisch wie möglich an. Seine Wangen wurden ein bisschen rot, ich ging einen Schritt auf ihn zu und umfasste seine Taille. „Na, wie lange ist das her?“ Meine Stimme klang süß, verdammt süß. „Zu lange“, flüsterte Martin, dann legte er die eine Hand auf meinen Arsch, die Andere in den Nacken. Seine Lippen forderten mich wieder einmal heraus. Armer, blinder Martin. Ich liebte ihn nicht. Und dieser Idiot dachte, ich wäre ihm treu. „Stopp“, forderte ich mit heiserer Stimme, „lass uns später weiter machen. Ich bin nicht umsonst hier.“ Martin hielt mich immer noch fest. „Ja, Baby, ich weiß“, sagte er und seine Stimme klang belegt. Ich legte einen Arm um seine Hüfte und so zog ich ihn mit in die Stadt. „Wo hast du denn jetzt deine Wohnung?“ „Warte ab“, lächelte Martin und küsste mich auf die Nase. Lächelnd drehte ich mich in seine Richtung und kuschelte mich näher an seine Seite. Dieser Idiot merkte echt gar nichts. Es war gut, immer mal solche Typen zu haben.
Als wir an einem Wohnblock anhielten, sagte ich anerkennend: „Wow, du hast jetzt eine bessere Wohnung als vor drei Jahren!“ „Ja“, grinste Martin, „ich habe mich hochgearbeitet. Es reicht jetzt für wesentlich mehr als dieses Drecksloch in früheren Zeiten.“ Aneinandergekuschelt gingen wir die Treppenstufen hoch. Eigentlich war Martin ja ganz nett. „Wie hoch müssen wir?“ Eigentlich war es mir egal, ich würde alles tun, nur damit Paul ihre Quittung bekam. „Noch ein Stockwerk, dann haben wir es geschafft, Baby - Dann kannst du dich ausruhen.“ Ich lächelte und freute mich schon auf die Veränderung an mir: „Können wir dann auch gleich loslegen?“ „Natürlich, Baby, alles, was du willst.“ Liebeskranker Idiot! Doch ich ließ mir meine Gefühle nicht anmerken, das tat ich nie. „Weißt du, dass du von Treffen zu Treffen hübscher wirst?“, meinte Martin als er die Tür aufschloss. „Danke, Märchenprinz!“, säuselte ich. „Na dann, tritt ein, Baby und lass es dir gutgehen“, lud mich Martin ein. Ich sah sofort, dass er schon alles aufgebaut hatte. „Ach, das ist ja lieb!“, sagte ich übertrieben dankend und fiel Martin um den Hals und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. „Ist das nicht ein bisschen zu viel Dank?“, schmunzelte er. Gespielt schmollend fragte ich: „Gefällt es dir denn nicht?“ Er nahm mich wieder zu sich heran. „Doch, natürlich. Ich kann gar nicht genug davon bekommen!“ Und schon küsste er mich heftig. Tatsächlich regten sich ein paar Schmetterlinge. Ich empfand also doch noch was. Gut zu wissen. Das nächste Mal musste ich mich besser wappnen. Doch ich riss mich los und legte ihm meinen Zeigefinger an den Mund. „Später wieder“, meinte ich, „zuerst hast du mir was versprochen. Danach machen wir weiter.“ Widerstrebend ließ er mich los und ich setzte mich galant auf den Stuhl vor den Spiegel der Kommode. Martin trat hinter mich und schon ging´s los. Noch einmal sah ich in den Spiegel, dann riss ich mich los und sagte mir, dass das alles nur für Pauls Mord war. Ein extrem guter Gedanke...
„Es ist alles geregelt“, erklärte ich Paul abends, „du kannst in sechs Tagen zu meinem Freund Moritz und da zwei Tage bleiben und die letzten zwei Tage kannst du zu Martha, die bringt dich auch zum Gericht. Ich werde derweil hier sein und ein Tag vor dem Gerichtsprozess bin ich dann schon in Chemnitz. Alles Andere wird sich ergeben.“ „Ich bin so froh, dass du das geregelt hast.“ Voll Dankbarkeit und Wärme sah Paul mich an. In ihrem Nachthemd war sie echt verdammt süß. Die letzten drei Tage mit ihr waren sehr schön und wir unternahmen viel. Heute hatte ich ihr eins von vielen Museen gezeigt und war mit ihr durch Erfurt gegangen. Zu Mittag hatten wir uns einen Döner geholt und waren dann weiter, um uns eine Kirche anzusehen. Nachmittags waren wir zu Hause und spielten aus einem alten Bachheft. Sie war an der Geige und ich spielte Klavier. Es war wundervoll.
„Was wollen wir jetzt machen?“, wollte sie von mir wissen. „Mmh... Wir haben die Auswahl zwischen Lasagne, Spielen und Filmen“, zählte ich auf. Pauls Gesicht leuchtete auf und sie schien richtig zu strahlen. „Du hast Lasagne gemacht?“ „Ja“, lächelte ich. „Cool!“ Bewunderung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. „Wofür entscheidest du dich noch?“ „Ach, ein Fernsehabend wäre gar nicht so schlecht, was meinst du? Was hast du denn für Filme?“, stellte sie die Gegenfrage. „Oh, ich habe das ganze alte Zeug. Zum Beispiel habe ich Laboom die Fete 1 und 2, Dirty Dancing, Amelie oder Harold und Maude. Wenn du aber gerne sehen möchtest, wie die Titanic untergeht, hätte ich den Film auch im Angebot.“ Paul lachte: „Nein, ich muss nicht sehen, wie reihenweise Leute sterben. Das passiert ja dauernd um uns herum. Aber ich würde es cool finden, wenn wir uns mit ein bisschen Lasagne Amelie ansehen. Ich mag den Film sehr.“ „Ich auch!“ Es war schon wieder so eine Übereinstimmung der Meinungen, die heute Vormittag schon angefangen hatte. Wir mochten die gleiche Musik, rannten in dieselben Filme, hörten denselben Radiosender und schauten die gleichen Sender im Fernsehen. „Na, dann hole ich mal die Lasagne aus dem Ofen“, bot ich an, „geh du nur schon ins Wohnzimmer.“ Lächelnd stand Paul auf und holte zwei Teller und zwei Tassen aus dem Schrank. „Was möchtest du trinken?“, fragte sie. „Was habe ich da?“ Paul machte den Kühlschrank auf: „Tonic Water, Apfelsaft, Cola, Wasser und Kirschsaft. Außerdem noch Rotwein und zwei Mal Bier.“ „Tonic Water“, sagten wir beide gleichzeitig. Wir mussten lachen. „Dann sind wir uns wohl einig“, meinte Paul kichernd und nahm alles mit. Ich holte die Lasagne aus dem Ofen, nahm mir das nötige Besteck und kam nach ins Wohnzimmer. Da deckte Paul gerade. Ihr Pony fiel ihr ins Gesicht. Schön. Es war das einzige Wort, dass mir dazu einfiel. Sie war super. „Wo hast du die Filme?“ „Ich mache das schon“, sagte ich und stellte die Lasagne ab. Dann ging ich zu einem Schrank und holte gleich die richtige DVD raus. Als ich mich wieder zu Paul umdrehte, hatte sie die Lasagne schon angeschnitten und tat mir gerade ein Stück auf. „Danke, danke, das war doch nicht nötig“, meinte ich und schob die DVD ein. Paul goss uns beiden Tonic Water ein, erhob das Glas und prostete mir zu. „Auf einen schönen Abend!“ Sie lächelte ihr schönes Paul-Lächeln und mir wurde warm ums Herz. Das war die Erste, die mir wirklich was bedeutete. Klar, ich hatte als 13jähriger an die Große Liebe geglaubt. Nachdem das Mädchen mich verlassen hatte, hatte ich mich nie wieder richtig verliebt, da ich immer noch meiner Ersten Liebe nachtrauerte. Doch jetzt war das längst Geschichte. Als ich Christine so richtig kennenlernte, dachte ich, ich würde mich nie wieder verlieben können, so viel Schmerz hatte ich erfahren. Doch mit Paul – die Welt schien sich wieder drehen zu können und ich durfte dabei sein! Ich kannte Paul zwar schon aus den Verhandlungen, aber da wusste Jeder, dass sie mit Luca zusammen war. Als sie mir vor zwei Tagen gesagt hatte, sie wolle mit Luca Schluss machen, es war als würde ein neuer Morgen aufleuchten. Jetzt lächelte ich Paul einfach an und sagte: „Auf einen schönen Abend!“ Und ich glaubte daran. Schweigend aßen Paul und ich die Lasagne. Dieses Mal war sie mir wirklich gut gelungen, auch wenn das Kochen sonst nicht unbedingt meine Stärke war (hieß nicht, dass ich es nicht trotzdem total oft tat). Die ersten paar Minuten des Films vergingen wie im Flug. Wieder einmal tauchte ich in die Geschichte von Amelie ein. Es war so schön. Kompliziert und doch auch ziemlich einfach. Paul stellte ihren Teller weg und auch ich tat es. Danach nahm sie sich ein Kissen und hockte sich auf die Couch, das Kissen zwischen ihrem Kopf und ihren angewinkelten Beinen. Eine typische Paul-Stellung. Ich liebte sie dafür.
Wann wir ins Bett gegangen waren, wusste ich nicht mehr. Ich wachte auf und das erste, was ich hörte, war Pauls Rumoren im Bad. Sie war also schon wach. Als ich mich aufrichtete und im Pyjama nach meinen Sachen suchte, kam Paul gerade wieder aus der Dusche. Ihre Haare waren sehr nass, aber sie lächelte mich nur an und begrüßte mich mit einem munteren: „Guten Morgen, Kai!“ Ihre aufheiternde Stimme machte mich gleich glücklich und der Tag startete gut. Schnell ging ich ins Badezimmer und wusch mir auch die Haare. Es roch nach Paul und nach ihrem Blumendeo. Das grüne Handtuch war ganz nass und der Spiegel angeschlagen. Lächelnd machte ich das Fenster auf, wusch mir die Haare, lachte in mich hinein und pfiff ein Lied. Danach zupfte ich mir die Haare zurecht, machte ein bisschen Gel rein und zupfte noch einmal. So war es ganz hübsch. Noch einmal warf ich einen prüfenden Blick in den Spiegel. Fertig. Als ich aus dem Bad kam roch ich schon die Brötchen. „Oh, du warst aber schnell“, meinte Paul überrascht und ließ den Teller auf den Tisch sinken, den sie gerade in der Hand hatte. „Du warst schon sehr fleißig!“, lobte ich sie und machte das Radio an, bevor ich ihr auch half. Paul nahm einen Korb und machte den Ofen auf, um die aufgebackenen Brötchen rauszuholen. Musik von Madonna ertönte und Paul sang mit. Ihre Stimme war hell und klar, gedankenverloren stellte sie den Korb auf den Tisch und holte das Besteck. Derweil nahm ich den fertigen Tee und goss uns beiden was ein. „Wann bist du heute aufgestanden?“, wollte ich wissen, als das Lied zu Ende war. „Mmh... Ich weiß es nicht. Aber ich glaube so um circa 5.23 Uhr. Zumindest hat mein Handy die Uhrzeit angezeigt“, meinte Paul. „Und jetzt die Nachrichten um acht Uhr: Gestern Abend wurde in München eine Frau Mitte zwanzig so schwer verletzt, dass sie ins Koma fiel. Der Täter wollte sie wahrscheinlich töten, doch ihr Sohn fand sie früh genug, dass der Rettungswagen sie abholen konnte und ins Krankenhaus fahren konnte. Ob die Frau überlebt ist unwahrscheinlich. Vom Ehemann des Opfers fehlt bisher jede Spur. Er scheint sich nicht innerhalb der Stadt aufzuhalten, aber er wird gesucht. Falls Sie, Kai Lang, diese Nachricht hören, melden Sie sich bitte unter 1228337 oder bei unserem Radiosender.“ Das Radio verstummte. „Shit, Kai. Was machen wir jetzt?“, fragte Paul mich. Ich hörte sie kaum. Christine lag im Koma! Und es war nicht sicher, ob sie durchkam! „Paul, ich fahre dich jetzt zu Moritz und hole dich vielleicht auch schon heute Abend ab. Das weiß ich noch nicht. Aber ich werde dir eine SMS schreiben. Ich werde jetzt zu Christine fahren und du kannst dich die ganze Zeit mit Moritz vergnügen. Er hat eine Frau und zwei Kinder in deinem Alter. Du wirst dich wohlfühlen“, erklärte ich Paul. „Wenn wir uns heute nicht mehr sehen, werden wir uns dann überhaupt noch sehen?“, fragte Paul und in ihrer Stimme klang Traurigkeit. „Ja, ich denke schon. In spätestens einer Woche bin ich zurück. Ich werde vielleicht den Jungen mithaben, wenn der Mann von Christine nicht mit ihm fertig wird. Aber ich denke beim Gericht werde ich dich dann spätestens erwarten.“ „Danke.“ Paul stand auf und umarmte mich. Ich lächelte und drückte sie an mich. „Es tut mir echt total Leid für Christine und das nur wegen mir!“, klagte Paul. Ich erwiderte nichts, da ich so unsagbar traurig war. Nie hätte ich gedacht, dass Christine auf diesem Weg mir weggenommen wird. Klar, nie hatte ich sie so richtig als meine Frau gesehen, aber wenigstens eine dicke Freundschaft verband uns. Paul räumte ab und stellte die Spülmaschine an. „Das musst du nicht machen!“, widersprach ich und stellte die Marmelade und den Rest weg. „So, es ist alles erledigt, wir können fahren. Ich muss nur noch kurz packen.“ „Es tut mir Leid.“ Hilflos sah ich sie an. „Was tut mir Leid?“ Überrascht sah sie mich an. „Dass ich dir nur bis hierher helfen konnte.“ „Es ist okay und ich bin dir unendlich dankbar dafür. Ohne dich wäre ich jetzt schon unter der Erde.“ „Aber...“ „Kai, jetzt höre auf. Dich trifft keine Schuld. Alles ist die Schuld von Prince. Mache dir keine Sorgen. Es ist in Ordnung“, sagte Paul und lächelte mir traurig zu. Mit den Worten ging sie um zu packen. Ich sah ihr nach. Es war gut, dass sie mich unterstützte und sie würde mir fehlen, wenn ich jetzt ins Krankenhaus fuhr, aber ich konnte einfach nicht sicher sein, da dort vielleicht Prince wartete. Und ich wollte nicht eine weitere Frau in meinem Leben verlieren, die mir was bedeutete.
Kaum drei Minuten später war schon Paul wieder da. Sie hatte eine Jacke an und schon ihre Schuhe angezogen. Außerdem saß auf ihrem Kopf eine coole Kappe. Schweigend gingen wir in den Flur, ich zog mich an und schnappte mir die Autoschlüssel. Paul folgte mir und wir stiegen ins Auto. Während ich das Auto anspringen ließ, sagte ich: „Wenn du irgendetwas brauchst, kannst du es Moritz sagen. Die Familie wird dich sicherlich sehr lieb aufnehmen, glaube ich.“ „Ich hoffe auch.“ Pauls Stimme heiterte mich ein bisschen auf. Aber leider nicht ganz. Den Rest des Weges verbrachten wir schweigend und ich hing meinen Gedanken nach. Es war richtig traurig sich jetzt schon von Paul trennen zu müssen. Aber ich würde sie wieder sehen. Das machte das Ganze schon viel erträglicher.
Vor dem Haus von der Familie von Moritz hielt ich an. Unentschlossen saßen Paul und ich da. Dann rang sich Paul ein Lächeln ab und dankte mir: „Es war total schön. Danke, Kai, danke.“ Sie umarmte mich. Mir schossen die Tränen in die Augen, doch ich schluckte sie runter. Ihr Körper fühlte sich zerbrechlich an. „Ich hoffe du bleibst stark und kannst Prince die Stirn bieten. Pass auf dich auf“, wünschte ich ihr. Wir lösten uns voneinander. Es schien, als hätte auch Paul etwas Glitzerndes in den Augen, doch wenn, ließ sie es kaum bemerken. „Na dann muss ich wohl“, meinte Paul, machte die Tür auf und stieg aus. Ich folgte ihr und nahm ihr Gepäck aus dem Kofferraum. Sie drückte mich noch einmal kurz, dann verschwand sie in der Pforte der weißen, großen Villa. Kurz schaute sie sich um und winkte mir zu, ich winkte zurück. Bald darauf verschwand Paul hinter einer großen Tanne und ich stieg wieder ins Auto. Jetzt musste ich so schnell wie möglich zu Christine.
„Paul, Morgen!“ Jana weckte mich fröhlich. Verschlafen sah ich mich um. „Morgen.“ Ich sah, wie Jana die Vorhänge wegzog und wie die Sonne ins Zimmer geflutet kam. „Es ist schon acht Uhr! Es ist wirklich Zeit aufzustehen, Hase.“ Seit meiner Ankunft war ich für Jana ihr „Hase“ gewesen. Das hatte ich ihr nicht ausreden können. Aber irgendwie gefiel es mir auch, denn es zeigte, dass sie mich als eine Art dritte Tochter aufgenommen hatte und es freute mich, denn ich mochte Jana sehr. „Camilla und Myra sind schon lange fertig und warten nur noch auf dich. Wenn du willst, kannst du mit ihnen in die Schule gehen“, bot mir Jana an. „Gerne.“ Schon war ich auf, strich mir nur schnell meine Haare glatt, fuhr einmal mit der Bürste durch, zog mir ein T-Shirt von Myra an, da sie dieselbe Kleidergröße wie ich hatte und eine Jeans von mir, putzte mir in Rekordzeit die Zähne und kam unten bei Myra und Camilla an. „Hi Paul“, grinsten die beiden mich an. Camilla warf ihre blondgefärbten Haare zurück und nahm eine Adidas Tasche vom Stuhl. „Schatz, hast du dein Mathebuch vom Tisch geholt?“, fragte Jana. „Oh, Mist!“, entfuhr es Camilla und schnell machte sie sich auf den Weg zum Wohnzimmer. „Wo ist eigentlich Moritz?“ „Ach, der ist schon auf der Arbeit!“, meinte Myra nur und schaute sich noch einmal kritisch im Spiegel an. Total übertrieben, wie ich fand. Myra war ziemlich braun und hatte auch die typischen afrikanischen, schwarzen Haare, die sich total aufbauschten und vom Kopf in alle Richtungen standen. Der Lippenstift war auch total schön und ihre Klamotten wählte sie spontan, doch cool. Gegen Myra sah ich aus wie ein Gespenst, bei Camilla ging das ja noch. Sie hatte von jeder Hautfarbe ein bisschen abbekommen. Von Moritz hatte sie das Weiße und eine Spur braun von Jana. Auch wenn Camilla und Myra Zwillinge waren, dachte man es erst auf den dritten Blick. „Mach´s gut, Myra. Hier ist auch noch Geld, davon bezahlt ihr Paul bitte die Straßenbahnkarte und das Essen in der Kantine, okay? Ich verlasse mich auf dich“, sagte Jana und ging dann zurück in die Küche. Camilla kam auch und es konnte losgehen. Zusammen liefen wir zur nächsten Straßenbahnhaltestelle, die nur einen Steinwurf von der Villa weg war. „Wie ist das eigentlich mit den ganzen Prozessen bei dir?“, wollte Camilla wissen. Gestern hatten sich die Zwillinge ziemlich zurückgehalten. Ich nahm an, da ihre Eltern nicht wollten, dass ich überfallen wurde. „Es ist etwas schwieriger“, erzählte ich, „es ist nicht so, dass nicht jeder wüsste, dass die Prozesse unsinnig sind. Ich decke Jemanden und viele wissen das. Doch derjenige hinterlässt nie Spuren und da ich die Tat nicht begangen habe, haben sie auch kaum Beweise gegen mich. Es ist schon jedes Mal ein Wunder, dass sie mich festnehmen können.“ Ich lachte und auch Camilla und Myra schienen sehr erheitert. „Das ist echt der Wahnsinn!“, meinte Myra lachend. „Ja“, bestätigte auch Camilla, „wir haben jede Verhandlung gesehen und es erschien uns immer ziemlich komisch. Der arme Richter!“ Sie lachten eine Runde. „Warum bist du eigentlich jetzt schon hier?“, fragte Myra. „Oh, das ist ziemlich schwer. Aber könnt ihr mir mal verraten, woher ihr Kai kennt?“, startete Paul die Gegenfrage. Camilla und Myra sahen sich an und kamen zu dem Entschluss, dass Myra erzählen sollte: „Wir kennen ihn kaum. Kai ist mit unserem Vater zusammen im Studium gewesen. Dann ist er oft zu uns gekommen. Er war immer sehr nett.“ „Manchmal brachte er auch Christine mit“, erzählte Camilla, „aber meistens kam er allein.“ „Oft brachte er uns Geschenke mit“, berichtete Myra, „und er schenkte uns immer eine Haarschleife oder ein Armband oder Kettchen oder Ohrringe.“ „Einmal trafen wir uns auch alleine mit ihm“, sagte Camilla, „und wir gingen durch die Stadt. Kai war sehr lustig und wir fanden ihn sehr nett. Er war danach unser erster Ansprechpartner bei Problemen und er half stets.“ „Auch er erzählte uns viel. Durch ihn kamen wir zu deinen Prozessen. Kai war besessen davon.“ Camilla und Myra lächelten. Da kam die Straßenbahn und wir stiegen ein. „Vor einer Woche, zum Beispiel, rief Kai mich an“, erzählte Camilla. „Ich stellte sofort auf „Lautsprecher“ und holte Myra. Kai war außer sich, da Jemand auf irgendeiner Plattform geschrieben hatte, dass du weg wärst.“ „Deswegen wusste er also, dass ich auf der Flucht war, als ich ihn traf. Ich habe mich schon gewundert“, lachte ich. Da kam ein Typ auf uns zu. „Hey, Myra“, begrüßte er die um 9,8 Sekunden jüngere Schwester der Zwillinge. „Hey!“ Myra küsste ihn kurz auf den Mund. „Darf ich dir vorstellen, Paul?! Das ist Ferdinand, mein Freund. Ferdi, das ist Paul, die vom Gericht.“ Stolz legte Myra die Hand um Ferdinand und auch der Typ strahlte uns an und reichte mir die Hand. „Hallo, Paul.“ „Hi“, sagte ich und lächelte. „Hast du einen Freund, Camilla?“, wollte ich wissen. „Da sind wir ja noch gar nicht bei unserer Geschichte“, ging Myra dazwischen, „Kai rief also an und erzählte uns das. Wir versprachen, die Augen aufzuhalten und luden ihm zu einem Eis in die Stadt ein. Da gestand Camilla Kai, dass sie ihn liebt.“ Ich sah Camilla mit großen Augen an. Die lachte: „Was schaust du mich so an? Ja, ich hatte mich in Kai verliebt, während der letzten Wochen.“ „Was hat er denn gesagt?“, wollte ich wissen. Jetzt musste das Zwillingspaar grinsen: „Kai hatte es gar nicht gehört, weil er nur von deinem Verschwinden faselte. Er machte sich tierische Sorgen. Danach traute sich Camilla nicht mehr, es ihm noch einmal zu sagen.“ „Du hast es ihm gesagt, obwohl du weißt, dass er eine Ehefrau hat!?“ „Wir alle wussten schon lange, dass sie sich scheiden wollten. Deswegen hat mich das reichlich wenig gejuckt“, lachte Camilla. „Und jetzt?“, fragte ich weiter. „Jetzt bin ich unglücklich verliebt und weiß, wen er liebt.“ „Wen denn?“ „Na ja, Pauli, denke doch mal nach!“, kicherte Myra und schmiegte sich an ihren Freund. „Weiß nicht, vielleicht Christine?“ „Ach Paul!“ Das war Camilla. Die Zwillinge lagen schon fast auf dem Boden und auch Ferdinand musste das Lachen unterdrücken. „Macht ihr euch grade auf meine Kosten lustig?“, fragte ich gespielt drohend. „Das würden wir uns niemals trauen“, kicherte Myra und hielt sich noch doller an ihrem Freund fest, um nicht umzufallen. Zwar schauten sich schon fast alle Leute nach uns um, aber das störte Myra und Camilla reichlich wenig. „Was ist denn los?“, bettelte ich. Die Situation war echt irrsinnig witzig und auch ich weinte fast vor Lachen. In diesem Zustand stiegen wir auch aus der Bahn aus und gingen zur Schule. Es war ein ganz hübsches Gebäude, vor allem sehr groß. Auf dem Schulhof kamen schon die ersten Schülerinnen zu Myra und Camilla. Anscheinend gingen die Zwillinge in eine Klasse. Die Armen. „Britta, hi!“ „Laura, wie geht’s?“ Immer weitere Leute kamen und gingen und ich umarmte kurz jeden und versuchte mir die Namen zu merken. Es klappte nicht ganz so gut. Und 9.30 Uhr gingen wir dann ins Schulgebäude. „Fängt bei euch die Schule immer so spät an?“, wollte ich irritiert wissen. „Nein, natürlich nicht. Aber heute ist irgend so eine Veranstaltung in der Aula, wo wir alle mit zuhören. Es ist einmalig, leider, aber dafür haben wir nur nachmittags noch zwei Stunden. Das ist sehr praktisch“, informierte mich Myra. Vor der Aula war auch schon ein ziemliches Gedränge. „Wie viele Schüler sind hier?“ „Keine Ahnung“, schrie Camilla zurück. Schon ging es nach drinnen. Camilla hakte sich bei mir ein und zusammen suchten wir nach einem Platz. Mit der ganzen Schülermenge ging es nach und nach voran. Wir hatten nicht die besten Plätze am Schluss, aber es reichte mir. Immer voller wurde die Aula und zum Schluss mussten manche stehen. Mit den Augen ging ich die Reihen durch. Es gab ein paar Punks mit rosa und hellgrünen Haaren, aber ansonsten gab es kaum auffällige Leute. Schwarze Haare gab es auch nicht besonders oft, dafür schien ein schimmerndes Rot jetzt Modefarbe zu sein. Alle sah ich mir von hinten an. Eine Dicke mit grauer Strickjacke, ein dünnes, großes Mädchen, dazu kam eines was die Statur, mmh... Woran erinnerte sie mich? An – Prince. Noch einmal sah ich genauer hin, obwohl ich es für sehr unwahrscheinlich hielt, dass Prince ihre schwarzen, langen Haare für einen modischen Kurzhaarschnitt in Rot tauschte. „Du, Camilla?“, fragte ich und stupste sie an. „Was ist denn?“ „Kennst du die in der dritten Reihe mit dem roten Kurzhaarschnitt?“, wollte ich wissen. „Nein, nicht wirklich. Sie muss genauso neu sein wie du. Ansonsten kenne ich nämlich Jeden, soweit ich weiß.“ „Sicher dass du dich nicht täuscht?“ Mein Entsetzen versuchte ich zu verbergen. „Natürlich nicht 100%, aber sagen wir, 94?!“, lenkte Camilla ein. Dann drehte sie sich zu ihrer Nachbarin um, einer gewissen Liska und sagte dann wieder zu mir: „Liska kennt die auch nicht, sie muss neu sein.“ „Ich muss mal eben auf Toilette, komme gleich wieder“, meinte ich, stand auf und kämpfte mich durch die Reihen. Als ich die Tür der Aula öffnete, drehte sich Prince gerade um und Unglauben stand ein paar Sekunden in ihrem Gesicht, dann die grimmige Entschlossenheit. Sie stand auf und mehr sah ich nicht, weil ich fluchtartig aus der Aula rannte und mich durch ein paar Nachzügler kämpfte, die gerade noch kamen. Die Schulranzen und Rucksacks, die viele vor der Aula aufgestellt hatten ließen mich springen und als ich mich durchgearbeitet hatte, kam schon Prince. Fluchend rannte ich nach draußen. Ohne mich umzuschauen öffnete ich die Tür der Schule und rannte in die Freiheit, wie ich es schon vor sieben oder acht Tagen getan hatte. Da klingelte mein Handy. Ich nahm während des Rennens mein Handy aus der Hosentasche und nahm an. „Hallo?“ „Hey, Paul“, hörte ich Camilla, „du bist so überstürzt abgehauen und dann ist die Rothaarige hinter dir her. Du steckst in Schwierigkeiten, nehme ich an. Mit ein paar Mädels und ein paar Jungs bin ich auf dem Weg zu dir. Führe die Rothaarige immer um die Schule rum. Wir nehmen Aufstellung. Nur keine Panik.“ Camillas Stimme war schrill und so beruhigte sie mich doch sehr wenig. Ganz kurz sah ich mich noch einmal um und sah Prince rennen. Alle meine Kräfte nahm ich zusammen, die Angst auf meinem Gesicht und das schnell schlagende Herz versuchte ich zu beruhigen. Ich lief, wie ich noch nie gelaufen war. Meine Angst trieb mich vorwärts und ich wollte und konnte einfach nicht anhalten. Mein Atem ging stoßweise und ich hatte Angst nicht genug zu bekommen. Mist, Mist, Mist! Was sollte ich tun. Ich rannte zu den Fahrrädern, die in zwei Reihen standen. Da zog Prince eine Pistole. Wenn ich hier stehen blieb, dann würde sie mich abknallen. Schnell schickte ich ein Stoßgebet zum Himmel. „Es hat sich ausgespielt, Paul!“, drohte die heisere und dunkle Stimme von Prince. Ich antwortete nicht und duckte mich. „Ach, hat es das?!“ Das war eindeutig Camilla. Sie trat hinter Prince und machte keine Anstalten wegzugehen. „Sie knallt dich ab!“, warnte ich Camilla. Doch da sah ich schon zwei Jungs aus dem Gebüsch kommen. Beide waren Muskelpakete und typisch Mädchenschwarm. Ohne Eile kamen sie auf Prince zu und die schwenkte die Pistole, fertig, den Auszug zu drücken, aber gerade als sie das machen wollte, schlug Camilla zu und die Pistole fiel Prince aus der Hand. Als die Typen nach Prince schnappten, stand sie auf und rannte. Ein aufgeschlossenes Fahrrad machte ihr die Flucht leichter. Die Typen kamen ihr nicht hinterher, nein, sie gingen zu mir und halfen mir auf die Beine. „Alles okay mit dir?“ Myra stand neben mir und ich wusste nicht, warum sie gerade da war. Auch Camilla kam schwer atmend neben mich. „Das hast du super gemacht!“, lobte sie mich und bot mir eine Hand an. Ich nahm sie dankend an und wollte aufstehen, aber ich fand keinen Halt. Die zwei Muskelpakete mussten mir helfen und hielten mich. „Darf ich vorstellen?“, grinste Camilla und stützte die Arme in der Hüfte ab. Einer der Typen trat an ihre Seite und hielt sie. „Das neben mir ist Don und der bei dir ist Conni.“ Ich nickte den Beiden zu. Schon ziemlich cool mit denen befreundet zu sein. Es war ein kurzer Gedanke, aber schon der war fast zu viel. „Geht es dir gut?“ Kritisch sah mich Myra an. Ich nickte. Aber Conni meinte: „Alleine hält sie sich nicht. Ich fahre sie nach Hause. Sagt, dass ich mich übergeben habe.“ Dann griff er sich mich und schleppte mich zu einem alten, kaputten Auto. „Ich kann alleine laufen!“, meinte ich wütend und machte mich los. Ich musste es zugeben, es ging ganz schlecht. „Komm her, sonst trage ich dich!“, schnauzte Conni. Vorsichtshalber ging ich zu ihm und ließ mir helfen, denn ich nahm Conni beim Wort. „Du bist dir sicher, dass du das schaffst?“, fragte ich, obwohl ich kaum Zweifel hegte. Statt einer Antwort hievte mich Conni ins Auto und fuhr los. Müde lehnte ich mich zurück und betrachtete den Himmel, der sich zuzog. Und wirklich – bald darauf begann es zu regnen. Dicke, schwere klatschten ans Fenster und liefen dann hinunter. Liebevoll betrachtete ich sie, da ich Regen sehr mochte. Conni machte das Radio an. Der Moderator brachte gerade den Wetterbericht, doch ich hörte nicht drauf. Die Welt drehte sich und bald darauf schlief ich ein.
Als Paul die Augen aufmachte, war es dunkel um sie herum. Sie lag in einem Bett und konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie sie dorthin gekommen war. Ihr Kopf brummte wie ein Bienenstock und etwas Warmes rann von ihrer Schläfe runter. Vorsichtig hob sie die Hand und tastete danach, wo der Schmerz herkam. Eine Platzwunde. Shit! In Gedanken überprüfte Paul, ob sie ihre Hose noch trug. Ja, zum Glück. Irgendwo musste ihre kleine Taschenlampe sein. Zögernd griff sie danach und machte sie an. Was sie sah, kam nicht wirklich unerwartet. In ihrem Zimmer war alles ziemlich aufgeräumt und leer. Es gab einen Schrank und einen Schreibtisch mit Papier, etwas Wasser und einer Scheibe Brot. Außerdem zwei Türen und ein Fenster. Langsam tastete sich Paul vorwärts und öffnete eine der Türen. Dahinter kam das Bad zum Vorschein. Es war klein, aber es war eine Toilette und das war gut. Mehr brauchte Paul nicht. Das Licht in dem Raum ging zum Glück und Paul konnte ihre Taschenlampe ausmachen und zurück in die Hosentasche stecken. Nur eine Frage war noch ungeklärt: Wo war sie?
Die zweite Tür war abgeschlossen. So sehr Paul auch an ihr zog und zerrte, sie wollte nicht aufgehen. Anstatt zu schreien, blieb sie leise und ging zum Schreibtisch, wo sie etwas Wasser trank. Da drehte sich der Schlüssel im Schloss und die Tür sprang auf. Eine große Gestalt lehnte in der Tür. „Conni?“, fragte Paul. „Ja. Morgen Paul.“ Ein Lächeln huschte über Connis Gesicht. „Warum bin ich hier und was soll ich hier? Warum bin ich eingesperrt?“ Paul sah verständnislos Conni an. „Paul, du bist hier, um nicht von Prince geschnappt zu werden.“ „Warum weißt du von Prince? Und warum musst du mich dafür festhalten hier?“ „Prince würde dich überall finden, nur hier nicht. Ich werde die ganze Zeit bei dir sein, du musst keine Angst haben. Mal bin ich draußen, mal unterhalte ich mich mit dir oder wir machen was zusammen.“ „Woher kennst du Prince?“ „Sie hat meinen besten Kumpel auf dem Gewissen. Ich war ein Freund aus Hannes´Leben, bevor er zu euch kam.“ Conni spuckte die Worte aus. „Woher wusstest du, dass es Prince war? Woher wusstest du, wo wir sind und wer wir sind? Warum bist du hier?“, fragte Paul und hoffte einfach nur auf eine vernünftige Antwort. „Hannes war lange hier in der Schule, bevor er ins Camp fuhr. Danach hat er angefangen zu schwänzen und ist immer unvernünftiger geworden. Als sein Vater das herausbekam hat er Hannes geschlagen und daraufhin ist Hannes zu euch. Er machte mir vorher Andeutungen und so wusste ich, wo ich suchen musste. Eine Woche lang überwachte ich euer Haus. Da sah ich Prince und wusste, was auf Hannes zukam. Ob er es wusste, weiß ich nicht. Prince bekam Wind von der Sache und hätte mich einmal fast erwischt. Da habe ich Rache geschworen und angefangen hier was für euch aufzubauen. Ich wollte euch ein Leben ohne Prince ermöglichen.“ Conni hielt inne. „Gerade als ich Hannes davon erzählt hatte, wollte er schon weg von Prince. Das kostete ihm das Leben.“ Traurig senkte Conni den Blick. Dann kehrte Bitternis und Wut zurück: „Ich wollte ihn beschützen, aber das konnte ich nicht. Und dann beschloss ich, dich da rauszuholen. Du warst die zweitwichtigste Person in der ganzen Sache, war ja nicht zu übersehen. Doch bevor ich dich holen konnte, hattest du schon den Streit mit Prince und bist ausgerissen. Als ich dich und Prince wiedersah wollte ich nur noch eines: Dich vor ihr retten. Ich war es, der Camilla den Link gab, dass du in Gefahr bist. Sie ist ja so schlau – und so konnten wir dich rechtzeitig da rausholen.“ Ein Lächeln machte sich über Connis Gesicht breit. Doch Paul wurde es immer kälter je mehr er sagte. Eine Gänsehaut nach der Anderen lief ihren Rücken hinunter. „Was wirst du jetzt machen?“ „Ich werde dich versorgen mit allem was du brauchst. Aber du bekommst nur frische Luft wenn ich im Zimmer bin und hast kein Internetanschluss. Es ist eine Sicherheitsmaßnahme. Das verstehst du hoffentlich“, meinte Conni und klang schon fast wieder besorgt. „Er ist verrückt. Richtig verrückt! Er muss Hannes wirklich geliebt haben, wenn ihn das so in den Wahnsinn getrieben hat“, schoss es Paul durch den Kopf. Langsam ging sie zum Bett zurück. „Kann ich Licht bekommen?“, fragte sie und hoffte, dass ihr wenigstens das gegönnt wurde. Conni machte eine Sparlampe in der Ecke an. Es war nicht viel Licht, aber es reichte für eine Weile. „Jetzt bringe ich dir Schreibzeug und Bücher. Sonst ist es so langweilig. Ich komme mal wieder, wenn ich Zeit habe.“ Er verschwand und verwirrt strich sich Paul über das kurze Haar. Ein verdammt gutes Gefühl. Leider half ihr das jetzt auch nicht weiter. Verzweiflung machte sich in Paul breit. Zuerst war es nur ein kleiner Gedanke, ein Ziehen in der Magengegend, dann wurde das Ziehen zu einem Klumpen, der sich immer weiter ausbreitete. Am Ende war sie von der Angst übermannt, zwang sich aber zu einem klaren Gedanken und ging zum Fenster. Draußen konnte sie die letzten Ausläufer des Sonnenaufgangs entdecken. Ein paar Bäume standen da, sonst war es hier ziemlich verlassen. Irgendein Park oder Wald musste hier sein, aber Paul konnte keine bekannte Gegend erkennen. Enttäuscht setzte Paul sich wieder auf ihr Bett. Was sollte sie jetzt machen? Handy besaß Paul nicht, sie hielt ein Psychopath gefangen und meine Mörderin war wahrscheinlich auf dem Weg hierher. Wenn sie so über meine Lage nachdachte, kam sie ziemlich lächerlich vor. Der Richter würde ihr nicht ein Wort glauben und sich selbst in ein Krankenhaus einliefern lassen. Dabei wollte sie nichts anderes als zu Kai zurück, das spürte sie jetzt. Sie sehnte mich nach seinen Witzen und nach seinen Aufheiterungsversuchen. „Hier.“ Conni kam herein und legte ihr Zettel und Stift hin. Er schien noch nicht mal Angst zu haben Paul könnte zur Tür raus. Als könne er Gedanken lesen, sagte er ruhig: „Ausbrechen ist hier sinnlos und ich denke, du weißt das. Die Tür ist dreifach gesichert und ich habe eine Alarmanlage.“ „Warum lässt du mich dann nicht frei herumlaufen?“ „Das glaubst du ja selbst nicht!“, lachte Conni und schlurfte wieder heraus. Neugierig sah Paul auf die Sachen, die er ihr gebracht hatte. Ein Radio, Stifte und ein paar Bücher. Dem Rand des Abgrunds nahe, nahm sie sich ein Buch. Würde es sie aufheitern? „Wintermädchen“, las Paul den Titel. Woher kannte Conni ihr Lieblingsbuch? Auf der ersten Seite hatte er was gekritzelt: „Liebe Pauline, ich hoffe, du freust dich über die Bücher. Du magst doch das Buch, oder? Bisher hast du es 12 Mal gelesen. Ich wünsche dir gute Unterhaltung. Conni“ Das war also der Anfang vom Ende. Dieser Durchgeknallte kannte alle um Prince als wäre er ihr zweites Tagebuch. Wütend legte Paul das Buch wieder weg, als sie hörte, dass Conni Besuch bekam. „Hey, Kumpel.“ „Hey!“ Die Beiden schienen sich auf den Rücken zu klopfen, den Geräuschen nach zu urteilen. „Wie geht’s, alter Knabe?“, fragte eine Paul unbekannte Stimme, die auf einen Mann Mitte 20 hinwies. „Gut. Ich habe neuen Stoff besorgt. Es war nicht einfach“, vernahm Paul Connis Stimme. Dielte er? War Conni drogenabhängig? War er deswegen so durchgeknallt? Vorstellbar war es. Dann liefen die Beiden an Pauls Tür vorbei und sie überlegte, was sie machen sollte. Dass die Tür abgeschlossen war musste Paul noch nicht mal überprüfen. Aber war beim Fenster was zu machen? Besonders hoch war das Gebäude nicht. Paul würde aus dem zweiten Stock springen und das konnte sie ganz gut, weil sie oft von zu Hause weggeschlichen war. Außerdem war sie die Spionin in der Gruppe, die Wände hochlief und runtersprang. Für meine Gruppe war es eine große Bereicherung. Als Kind hatte es ihr Spaß gemacht, damals war alles noch okay. Dann kam das Camp und nichts war mehr so wie es sein sollte.
Unsicher blickte sie aus dem Fenster. Was tun? Probehalber rüttelte sie am Fenster. Nichts. Nicht die kleinste Regung. Wieder war Angst da. Luft, Paul brauchte dringend Luft. Und auch wenn dann Conni die ganze Zeit im Zimmer war. Vielleicht konnte sie bei einer Lüftung springen, wenn er gerade woanders stand. Ob er sie einholen würde? So ein Muskelpaket musste gut rennen können. Mist! Mist! Mist! Trotz der frühen Morgenstunde fühlte sich Paul plötzlich müde und schlief ein.
„So müde, Pauline?“, fragte Conni mit einem Grinsen, als sie aufwachte. Wut machte sich in ihr breit und ließ sie sofort wach werden. Conni saß gegenüber von ihrem Bett und hatte sie wahrscheinlich beim Schlafen beobachtet. Was für ein Perversling! Der Gedanke ließ viel Wut aufgenommen und Paul ergötzte sich daran. Sie fühlte sich stark. Immer noch grinste Conni. Dann besann er sich, stand auf und machte das Fenster auf. Schwüle Luft kam ins Zimmer. Wie spät es wohl war? Paul vermutete, dass es Mittag war.
Plötzlich hörte sie ein Kratzen an der Tür. Auch Conni machte sich bereit und ging zum Gang. Wie erstarrt saß Paul in ihrem Bett. „Prince!“ Ein überraschtes Keuchen von Conni verriet Paul, dass ihre Mörderin sie gefunden hatte. Die Starre nahm ihren Körper in Gewalt. Außer im Bett sitzen konnte Paul nichts tun. „Ja, du hast mich nicht erwartet, nicht wahr, Conni?“, vernahm Paul Prince´Stimme aus dem Flur. „Wie hast du mich gefunden?“, wollte Conni wissen. „Tja, ich habe meine Kontakte und Methoden, etwas herauszubekommen. Ich muss sagen, gutes Versteck. Ganze 24 Stunden habe ich gebraucht um dein feines Quartier zu finden. Das ist mehr, als normal. Dafür wirst du bezahlen und die liebe Paul auch.“ „Das lasse ich nicht zu!“, brüllte Conni und Paul hörte Schläge, Stöhnen und Keuchen. Da schaltete sich auch ihr Verstand wieder ein und riet ihr: „Spring!“ Sie vergewisserte sich, dass die Beiden mit sich zu tun hatten und sie sprang ohne in die Tiefe zu sehen. Der Aufprall war extrem hart. Ihr ganzer Körper wurde erschüttert, doch Paul hatte gelernt sich auf den Armen aufzufangen. Ein greller Schmerz ließ sie kurz taumeln, dann hatte sie sich wieder im Griff und rannte auf den Wald zu. Er war ihre Rettung.
Die ganze Nacht war Paul gerannt. Immer noch trat ganz schwach Blut aus der Platzwunde an der Seite, doch sie nahm es kaum war. Ihre Kleidung war blutbesudelt und sie sehnte sich nach trockenen Sachen. Der Wald hatte sie mit seiner dunklen, geheimnisvollen Art aufgenommen und verschluckt und angsterfüllt hatte sich Paul nicht erlaubt anzuhalten. Die Bäume schienen immer näher zu rücken und Wurzeln stellten sich ihr in den Weg, sodass sie dauernd stolperte. Äste streiften sie und schnitten kleine Stückchen Stoff aus Myras T-Shirt. Ach, wenn Myra Paul nur jetzt sehen könnte. Doch Paul war einfach nur weiter gerannt, die Angst hatte ihr Adrenalin geliehen und jetzt war Paul endlich am Rand des Waldes. Sie war bei einer Schnellstraße rausgekommen, aber es war ihr lieber als nur der Wald. Nach ihrer Berechnung war sie ungefähr zwei Kilometer außerhalb des Münchner Zentrums und so kamen hier nur Täler und Dörfer. Müde stellte sich Paul auf die Straße und streckte die Hände raus, wenn Autos kamen. Gleich das erste Auto hielt. Es war eine junge Frau mit rötlichen, gelockten Haaren und zarter Haut. „Steige ein. Ich bin auf dem Weg zur Arbeit. Setze dich!“ Lächelnd bot die Frau Paul einen Platz an und dankbar stieg Paul ein. „Wer bist du denn? Und wie kommst du hierher?“, fragte sie und fuhr los. Erleichtert gerettet zu sein, schnallte sich Paul an und sagte: „Ich bin Paul und komme gerade von... Na ja, von einem Gefängnis.“ „Pauline Meißner, wusste ich es doch. Ich bin in München in einer deiner Clubs. Wenn du willst schaffe ich dich gleich zu Kai. Er hat zu allen Stellen Kontakt aufgenommen, als er merkte, dass du verschwunden bist. Du hättest ihn sehen sollen! Erst seine Frau, jetzt du.“ „Was ist denn mit Christine?“, wollte Paul besorgt wissen. Die junge Frau sah auf die hügelige Straße: „Gestern Nacht starb sie. Ihr Sohn und Kai standen an ihrer Seite. - Aber ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, ich bin Lydia.“ „Erfreut.“ „Ebenfalls. Wo soll ich dich nun hinschaffen?“ „Haben Sie ein Handy?“ Dieses Mal war Paul lieber vorsichtig. Wenn das die nächste Falle war, dann Happy Birthday. „Schau mal in dem Handschubfach“, riet Lydia Paul und legte einen neuen Gang ein. Nach einigem Suchen fand Paul es und wählte Kais Nummer. „Hallo, Pauli? Wo bist du?“ „Woher wusstest du, dass ich es bin?“, stammelte Paul verwirrt. „Weil ich die Nummer nicht kenne und Prince mich wohl kaum anruft. Wo bist du?“ „Ich bin in Lydias Auto. Kannst du mich abholen?“ „Ja, ich orte das Handy“, meinte Kai und Paul lächelte über seine erleichterte Stimme. Ihr ging es ja nicht anders. Endlich konnte sie wieder Kai in ihre Arme schließen. „Nun sei doch eine Sekunde ruhig, Paul!“, ermahnte Lydia Paul und sah sie etwas genervt an. „Es tut mir Leid“, entschuldigte Paul sich und versuchte still zu sitzen. Doch es klappte nicht ganz. Etwas belustigt sah Lydia Paul an: „Kannst es wohl kaum erwarten deinen Kai wiederzusehen?“ Verlegen meinte Paul: „Na ja, er hat mir sehr geholfen und ist ein guter Freund geworden.“ „Ein guter Freund?!“ Lächelnd sah Lydia zu mir herüber und strich sich kurz das rote Haar aus dem Gesicht. „Ja, ein sehr guter Freund“, stimmte Paul leise zu. Dieses Mal musste Lydia aber lachen: „Ach, Paulchen, ich kenne dich noch nicht lange, aber ich weiß, dass du nicht besonders gut lügen kannst.“ Schwach wollte Paul protestieren, doch Lydia redete schon weiter: „In letzter Zeit habe ich mich genauso kindisch benommen wie du. Ich war total verliebt und konnte kaum still sitzen. Du erinnerst mich sehr an mich.“ „Sind Sie denn noch mit Ihrem Freund zusammen?“, wollte Paul wissen und sah sich kurz die vorbeiziehende Landschaft an. Jetzt klang Lydias Ton etwas trauriger: „Nein, leider nicht. Er hat vor einer Woche Schluss gemacht, weil er eine Andere hatte.“ „Das tut mir Leid für Sie.“ „Paulchen, Paulchen, was verstehst du schon von der Liebe!?“, seufzte Lydia liebevoll und legte einen neuen Gang ein. „Eine ganze Menge, ich bin schließlich sechzehn!“, legte Paul Widerspruch ein. Wieder erschien ein Hauch Fröhlichkeit auf Lydias Gesicht. „Mit sechzehn weiß man noch lange nicht alles, Paulchen, das kannst du mir glauben. Ich dachte auch mit sechzehn würde man leben und verstehen, doch erst mit sechzehn scheint der Höhepunkt der Kindheit zu sein.“ Kurz dachte Paul über Lydias Worte nach. „Ich weiß, du hörst das nicht gerne. Damals habe ich es auch nicht gerne gehört, glaube mir, aber jetzt weiß ich, dass es stimmt. Schau dich nur an: naiv, schnelllebig, leichtgläubig und unerfahren. Du hast dein Leben noch vor dir.“ Dieses Mal sah Paul sehr empört aus. Lydia lachte nur: „Willst du mir sagen, dass du das alles nicht bist? Was würdest du machen wenn ich jetzt mit einer Knarre auf dich losgehen würde, weil ich ein Gegner von dir bin oder eine Freundin von Hannes Bad, die nicht weiß, dass du unschuldig bist? Paulchen, es gibt genug Sachen, die du nicht verstehen kannst. Ich habe Recht und das weißt du genau so gut wie ich.“ Eine Pause entstand. Und Paul fing an zu begreifen wer Lydia wirklich war. Sie war nicht die junge, verrückte Frau, die sie am Anfang gesehen hatte. Lydia war eine Frau, die mit beiden Beinen im Leben stand und Sachen begriff, von denen manche am Lebensende noch keine Ahnung hatten. Paul schätzte Lydia extrem und respektierte sie vollkommen. „Ich werde dir meine Handynummer geben. Dann kannst du immer bei mir anrufen, wenn du Lust hast. Auf Arbeit kannst du mich auch erreichen wenn es sein muss“, meinte Lydia. „War übrigens nett dich kennengelernt zu haben. Auch wenn ich nur kurz das Vergnügen haben durfte.“ „Danke, ich finde Sie auch sehr nett“, sagte Paul und wusste selbst wie banal das klang, dabei wollte sie Lydia so viel sagen, doch sie wusste es nicht in Worte zu fassen. „Ich hoffe, ich konnte dich zum Nachdenken bewegen. Auch wenn ich sage, dass du naiv und unerfahren bist, heißt das nicht, dass ich nicht finde, dass du sehr reif bist und ich dich sehr schätze. Du weißt selber, wie schnell Trauer und Schmerz erwachsen machen können.“ Paul nickte und bewunderte Lydia dafür, dass sie immer die richtigen Worte fand. Langsam fing Paul an zu verstehen und das war wahrscheinlich der größte Schatz, den Lydia Paul hatte zukommen lassen können.
„Kai!“ „Prinzessin!“ Überglücklich fiel ich ihm in die Arme. Die lange Autofahrt rückte in den Hintergrund. Kai umarmte mich fest und ich hielt mich einfach an ihm fest. Er war so toll! Mir stieg sein Geruch wieder in die Nase und ich wollte einfach für immer diesen Geruch riechen und diesen Mann an meiner Seite haben! Wie Recht Lydia doch mit ihrer Vermutung gehabt hatte! Seine Haare schienen geschnitten worden zu sein, sie waren jetzt kurz und wuschelig. Oh man, wie ich ihn vermisst hatte! „Komm mit, Prinzessin, wir fahren nach Hause und du erzählst mir was passiert ist, okay?“, murmelte er in meinen Haaren. Ich wäre ihm überall hingefolgt. „Na, ich verabschiede mich dann mal“, lachte Lydia und entfernte sich. „Danke!“, rief ich ihr noch hinterher. Doch Lydia schien es nicht mehr zu hören. Als ich in meine Hand schaute sah ich da einen kleinen gelben Zettel mit einer Handynummer. Lächelnd sah ich auf den Zettel. „Was hast du da?“, fragte Kai. „Lydias Handynummer“, grinste ich und umarmte ihn noch einmal kurz. Dann stiegen wir beide in seinen kleinen blauen Käfer und fuhren nach Hause.
„Was ist dir unterwegs passiert? Ich habe mir tierische Sorgen um dich gemacht! Du warst plötzlich weg!“, meinte Kai und ich hörte Sorge aus seiner Stimme raus. So erzählte ich ihm die ganze Geschichte von Anfang bis Ende. „Hast du was von Myra und Camilla gehört?“, wollte ich am Ende wissen. „Du bist fast ermordet worden und fragst wie es Myra und Camilla geht? Scherzkeks!“, sagte Kai und lachte. Verdutzt sah ich ihn an. Was war daran so komisch? Es war schon eine Weile her seitdem ich geflüchtet war und was sollte ich sonst fragen? „Falls es dich beruhigt, Prinzessin, den Beiden geht es gut. Sie waren die, die dich als vermisst meldeten. Natürlich nicht öffentlich, aber sie riefen mich an“, erzählte Kai. „Warum hast du nie erzählt, dass Camilla dir gesagt hat, dass sie dich liebt?“, fiel mir plötzlich wieder ein. Verwundert sah Kai mich an: „Warum auch? Das ist doch unwichtig.“ „Mmh.“ Eifersüchtig war ich nicht. Das merkte ich, als ich in mich rein hörte. Kai fing an von seiner Zeit zu erzählen, Christines Tod und vieles Andere. „Der Sohn bleibt jetzt bei ihrem Mann, Luca ist nach Hause gefahren, das wurde einfach zu heiß für uns alle. Und ich habe gemerkt, was für eine krasse Gegnerin du hast, Prinzessin. Schon vorher habe ich sie gefürchtet, doch dass sie als Warnung jemanden umbringt, das hätte ich nicht erwartet.“ „Prince ist extrem, ja. Sie möchte sich halt rächen. Ich habe sie immer unterstützt, wie viel Mist sie auch gebaut hat, doch langsam läuft die Tonne über. Einbrüche und Diebstähle sind noch vertretbar, aber zwei Morde sind schrecklich und grausam“, meinte ich und verzog das Gesicht. Nun hatte ich eine Zeit kaum was von Prince gesehen, da tötete sie schon wieder. „Kannst du das Radio anmachen? Es hat mir gefehlt in letzter Zeit“, lächelte ich. „Prinzessin, du bist schon irgendwie süß!“, lachte Kai und stellte das Radio an. Glücklich hörte ich auf die Akkorde der E-Gitarre, der rauen Stimme des Sängers, das leise Keyboard im Hintergrund und das auffällige Schlagzeug. Dazu flog München um mich. Die Stadt nahm mich wieder auf als wäre ich nie weg gewesen. Glücklich lehnte ich mich in den Sitz, summte leise die Melodie mit, versank in Tagträumen. Endlich war Kai wieder bei mir und ich musste mich nicht mehr fürchten. Endlich konnte ich mich wieder zurücklehnen und durchatmen, einfach einmal entspannen. Endlich konnte ich wieder Wagnisse eingehen, weil ich wusste, dass mir jemand den Rücken stärkte. Kai war toll und ich mochte ihn! Ich mochte ihn sehr!
„Wie viele Tage hast du noch draußen?“, wollte Kai von mir wissen. Kurz musste ich nachrechnen. „Elf Tage.“ „Noch elf Tage?! Da kennen wir uns ja erst seit sechs Tagen und doch kommt es mir wie eine Ewigkeit vor!“, lachte Kai und ich stimmte in sein Lachen ein. Es befreite von dem letzten Abenteuer. Und wir lachten die ganze Zeit durch bis wir wieder bei Kai waren. Die Wohnung kam mir fast noch schöner vor als das letzte Mal. Überglücklich warf ich mich auf mein Bett und spürte die weiche Decke unter meinen Händen, den feinen Stoff und die Federn in der Decke. Am liebsten hätte ich Kai gebeten mir zu sagen, dass ich für immer hier war und für immer von Prince getrennt, dass ich nie mehr Angst vor ihr haben musste.
Sanft streichelte Kai meinen Rücken. „Meine Prinzessin“, murmelte er und betrachtete mich, wie ich mit geschlossenen Augen auf dem Bett lag. Die Worte wärmten mich als hätte er mich zugedeckt und neuer Mut kam über mich. Vielleicht hatte ich ja eine Chance gegen Prince, wenn ich nur noch diese elf Tage durchhielt.
Kais Finger glitten immer noch über meinen Rücken, immer und immer wieder. Ich genoss diese Berührung. Wusste, dass es vielleicht das letzte Mal war. „Ich werde jetzt immer für dich da sein und auf dich aufpassen“, versprach Kai und ich glaubte ihm. Zufriedenheit überkam mich und ich schlug wieder meine Augen auf. Ein Lächeln war auf Kais Gesicht. Vorsichtig bettete er meinen Kopf auf seinem Schoß und ich schloss die Augen wieder. Kai strich mir über das kurze Haar, entfernte eine Strähne aus meinem Gesicht. So döste ich ein.
Aufzuwachen mit dem Gefühl, dass man sicher ist war wundervoll. Minutenlang lag Paul nur da und genoss dieses Gefühl von Freiheit und Geborgenheit. Mit Niemandem wollte sie jetzt tauschen. Durch die Vorhänge kam das Sonnenlicht, doch es war deutlich abgekühlt draußen, stellte Paul mit einem Blick auf das Thermometer fest. Kam der Winter jetzt doch. Viel zu früh, nach Pauls Meinung.
Das Klappern von Tellern und der Geruch von Kakao ließ Paul aufstehen. Im rosa Nachthemd tapste sie in die Küche. Gestern hatte sie von Kai ein paar Kleider von Christine bekommen und dort war auch dieses Nachthemd dabei. Kai fand es in Ordnung, dass sie diese Kleider trug, auch wenn Christine noch nicht so lange tot war. Er brachte es auch nicht über das Herz in zwei Tagen zu ihrer Beerdigung zu gehen. Der Schmerz war noch zu frisch.
„Einen schönen „Guten Morgen!“, Prinzessin!“, begrüßte Kai sie fröhlich. Lächelnd fuhr Paul sich kurz die Haare. „Es ist doch in Ordnung, wenn wir zusammen frühstücken?!“, wollte Kai sichergehen. „Natürlich!“ Glücklich setzte Paul sich an den Tisch. Es schien als ob alles okay war und dass ein normales Morgenritual war. Doch es war nicht normal. Dunkle Schatten hatten sich in den Erinnerungen der Beiden eingenistet. Und das Alles nur, weil es Prince gab. Die kranke, gestörte Prince. Ihr Leben war zerstört worden und jetzt zerstörte sie das Leben von vielen anderen Personen.
„Was machen wir nachher?“, wollte Paul von Kai wissen und biss von ihrem Erdbeermarmeladenbrot ab. Er überlegte eine Weile: „Wir könnten auf Inlinern losziehen oder mit dem Fahrrad durch die Stadt fahren oder nach einem guten Kinofilm schauen oder es uns gemütlich machen.“ Zaghaft meinte Paul: „Die Ideen sind nicht schlecht, aber ich darf mich hier nicht länger aufhalten. Ich muss weiter, sonst werde ich irgendwann von meinen Trips mit Prince nicht mehr zurückkommen.“ Kais Augen hatten sich geweitet auch wenn er jetzt keine Neuigkeiten erfahren hatte. „Mmh... Schon klar. Ich habe ein paar Kollegen, aber wir brauche Leute, die dich nicht kennen. Mmh...“ Kai versank in Schweigen und still aß Paul ihr Toastbrot auf. Kein Laut störte sie und Paul war es fast schon wieder unheimlich. Schließlich hatte Kai eine Lösung gefunden: „An der Ostsee habe ich eine Tante und wenn ich nachfrage, kann ich vielleicht dich dorthin schicken. Natürlich nicht mit dem Zug, ich werde dich dahin fahren. Ich kann ja auch da auf dich aufpassen.“ „Du kannst nicht auf mich aufpassen, früher oder später kommt Prince dahinter. Es ist besser wenn du dich unauffällig verhältst und mich an Verwandte weitergibst. Ich schlage mich an der Ostsee schon durch. Dort bin ich unauffällig. Vielleicht kann ich meine Sachen mitnehmen und mich unter die Leute schmuggeln. Viele Ferienhäuser werden im Herbst frei und ich kann unter falschem Namen einen Job in einem Café annehmen. So haben wir alle unsere Ruhe vor Prince und ich fühle mich sicher“, schlug Paul vor. Man sah Kai an, dass ihm dieser Vorschlag missfiel, doch er wusste auch keinen besseren Rat. „Gut“, gab er widerstrebend Recht, „ich rufe jetzt meine Tante an und frage ob du kommen kannst.“ Kai entfernte sich und Paul seufzte. Mal wieder Abschied nehmen, wieder auf sich allein gestellt sein. Ohne einen guten Freund an der Seite, ohne Jemanden, der sie aufmuntern konnte und helfende Worte sagte. Da fiel Paul Lydia wieder ein. Hastig nahm sie Kais Handy, dass auf dem Küchentisch lag und wählte Lydias Handynummer. „Hallo, hier ist Lydia“, meldete sich am anderen Ende eine Stimme. „Hallo, Lydia. Hier ist Paul, die...“ „Ja, ja, Paulchen, ich weiß. Was gibt’s?“, erkundigte sich Lydia. Etwas verlegen meinte Paul: „Ich muss aus München verschwinden und könnte eine Bleibe oder eine gute Freundin gebrauchen.“ „Und da rufst du mich an?“ Erstaunen hörte Paul in Lydias Stimme. „Ja.“ „Ich fühle mich sehr geehrt, Paulchen. Du hast Glück, ich habe mir sogar gerade Urlaub genommen für zwei Wochen und habe eine Tour durch Deutschland geplant. Wenn du Lust hast kannst du mich begleiten, aber du musst mit meinem besten Kumpel Linus auskommen.“ „Klar!“ „Also, wenn du mit ihm klarkommst, dann hole ich dich morgen ab. Nennst du mir Kais Adresse?“
Keine drei Minuten später kam auch Kai wieder. „Meine Tante kann leider nicht. Sie hat geschäftlich viel zu tun. Tut mir Leid.“ Doch als er Pauls fröhliches Gesicht bemerkte fragte er was los war und Paul erzählte von Lydia. Sie würde helfen können. „Ich freue mich für dich, Prinzessin“, lächelte Kai, doch das Lächeln war schwach und kam nicht ehrlich rüber. „Es tut mir ja auch Leid, dass ich hier wieder weg muss“, entschuldigte sich Paul. „Ach“, meinte Kai, „ist schon okay.“ Aber Paul bemerkte die Trauer und den bitteren Unterton in seiner Stimme und wollte ihm helfen, doch wie? „Bitte, sei nicht traurig!“ „Bin ich doch nicht!“ „Doch, bist du!“ „Nein!“ Eine Träne rollte Kais Gesicht herunter. Paul kam zu ihm rüber und legte ihm einen Arm um die Schultern. „Für dich bin ich doch immer da“, beruhigte Paul ihn und streichelte ihn über den Rücken. „Ich liebe dich“, flüsterte Kai. Erst wollte Paul dasselbe erwidern, doch sie wusste, dass sie dafür noch nicht bereit war. Also schwieg sie und strich ihm weiter über den Rücken. „Eigentlich müsste ich dir doch beistehen und nicht du mir.“ Schwach lächelte Kai. „Ist schon gut“, murmelte Paul. Es tat ihr weh zu sehen wie Kai litt und noch schlimmer war, dass sie ihm nicht helfen konnte. Zaghaft fragte Paul: „Wollen wir vielleicht irgendwas spielen? Vielleicht Dominion?“ Kai nickte.
„Marius!“ „Süße!“ Lachend kam sie auf ihn zu. Heute trug sie keine Designerklamotten, sondern eher den lässigen Look. Es war blöd immer wechseln zu müssen, aber wenigstens kam sie so an ihr Ziel ohne sichtbare Spuren zu hinterlassen. Unauffällig.
„Süße, wie lange ist es her seit wir uns das letzte Mal gesehen haben!?“ Dennis schlingt seine Arme um sie und küsst sie kurz. Innerlich seufzt sie auf. Immer die Kontakte zu ihren Liebhabern zu pflegen, ist wohl das Schlimmste. Manche Tage verbrachte sie nur an ihrem Handy und Laptop um alle zufrieden zu stellen. Doch mühevolle Arbeit lohnte sich jetzt aus: Nur ein Wort und die Typen sprangen. Sie wusste schon, warum ihre Liebhaber so verteilt waren. Ihre Freunde saßen in München, Chemnitz, Kiel und so weiter. Wenn sie sich einmal nicht konzentrierte, hatte sie immer Angst entdeckt zu werden. Diese Angst war aber schon immer da. Ihr ganzes Leben und sie hatte gelernt mit dieser Angst umgehen und mit ihr zu leben, wenn es nötig war. Aber es war nicht mehr wichtig, ob sie entdeckt wurde. Alles, was ihr mal etwas bedeutet hatte, wurde in einer halben Stunde ausgelöscht: Ihre Familie. Manchmal wachte sie auf und sah die haselnussbraunen Augen ihres Vaters, roch das blumige Parfüm ihrer Mutter und hörte wie ihre Eltern darüber stritten welchen Fernsehsender sie schauen wollten. Manchmal hörte sie plötzlich das Lachen ihrer kleinen Schwester, die ein Jahr alt gewesen war und sah die tapsigen Schritte ihres 3jährigen Bruder, hörte seine kindliche Stimme, wie er ihren Namen sagte. „Geh nicht weg!“, hatte er am besagten Abend gesagt als sie kurzfristig zu einer Freundin gefahren war. Lächelnd hatte sie ihm über den Kopf gestrichen und gesagt, dass sie ja wiederkommen würde und morgen konnten sie schon wieder miteinander spielen. - Sie war wiedergekommen, doch da war schon die Polizei da und die ganzen Rettungswagen, Notärzte, Schaulustige und Freunde. Die Trauerfeier war schrecklich gewesen. Nur noch vage konnte sie sich daran erinnern. An diesem Tag hatte ihr Freund mit ihr Schluss gemacht. Kein Jahr später wusste sie, warum. Seine Eltern hatten die ihren getötet. Und er hatte ihnen die nötigen Informationen geben. Er war so ein Macho! So ein Arsch! Überallhin wäre sie ihm gefolgt, er hatte sie voll und ganz gefangen genommen und sie brauchte ihn. Ihn zu vergessen war genauso schwer wie von ihrer Familie Abschied zu nehmen. Verschiedene Heime waren angerufen worden, doch noch bevor sie dort ankam war sie mit ihren Sachen und dem ganzen Bargeld geflüchtet. Penner hatten sie aufgenommen, sie hatte Prostitution betrieben, nur, damit sie weiterlebte. Einmal hatte sie einen Selbstmordversuch gewagt. Am Ende hatte sie nicht den Mut sich von der Brücke zu stürzen und dann kam auch noch ihr Ex vorbei und spottete über sie. Die Zeit war eine einzige Qual. Viele Leute kannten sie aus der Zeitung, doch sie fand bei einer netten Familie Zuflucht. Dann hatte sie sich verändert, hatte Rachegedanken gehabt, hatte Überfälle verübt und sich in eine Dienststelle der Polizei sogar geschmuggelt. Drei Ordner hatte sie aus dem Gebäude bekommen, bevor man es bemerkte. Dort drinnen standen Informationen über Überfälle und Morde und warum sie aufgeklärt worden waren. Daraus hatte sie gelernt und schließlich den perfekten Einbruch verübt. Niemand wusste wer es war. Spuren zeigten sogar auf einen Besitzer einer Bar, der aber ein wasserdichtes Alibi hatte: Er war bei der Polizei wegen einer Zeugenaussage in einem Mordfall gewesen. Man konnte ihn ja schlecht verurteilen und sie war stolz auf sich gewesen. Kurz danach hatte sie sich eine Wohnung gesucht.
Der Abschied von Kai war nicht lang. Er hatte früh noch einen Zettel geschrieben und war dann gleich auf Arbeit gegangen. Auf dem Zettel stand, dass er es nicht aushielt sie gehen zu lassen, sie unglücklich und unsicher zu sehen, doch er wünschte ihr viel Glück und hoffte, später wieder was von ihr zu hören.
Ding, Ding! Die Klingel schellte und schon war Paul an der Tür und öffnete. Lydia hatte sich einen übertrieben großen Sommerhut aufgesetzt, obwohl es wirklich schon fast Herbst war. Auch das Sommerkleid ließ erkennen, dass sie am liebsten gar nicht die Jahreszeit wechseln wollte. Doch man sah ihre Gänsehaut. - „Hallo!“ Paul freute sich ehrlich. Lydia war für sie während der kurzen Zeit zu einer guten Freundin geworden, auch wenn sie sich nicht gut kannten. „Es freut mich dich wiederzusehen!“, meinte Lydia eine Spur zu fröhlich. Kurz umarmten sie sich, dann trug Paul einen Koffer zum Auto und verstaute ihn hinten. „Setze dich doch bitte auf die Rückbank“, bat Lydia sie und stellte ihren Begleiter vor, „das ist Clemens. Clemens, das ist Paul. Du kennst sie aus dem Fernsehen.“ Lächelnd drehte Clemens sich um und grüßte mit einem netten Nicken. „Ihr werdet bestimmt gut miteinander auskommen“, meinte Lydia und ihr rot geschminkter Mund verzog sich zu einem zufriedenen Lächeln. Unwohl rutschte Paul auf der Rückbank hin und her. Zwar waren sie noch nicht losgefahren, aber schon jetzt hatte Clemens etwas Komisches an sich, was Paul nicht mochte. Er war die Art Surfertyp, die sich braungebrannt von verliebten Mädels beglotzen lassen und ihnen auch gerne mal näher kamen. Es war ein Vorurteil, das wusste Paul, doch konnte sie sich nicht zusammenreißen.
Lydia fuhr los und machte das Radio an. Währenddessen musterte Paul Clemens. Sein kurzes Haar war strubbelig und er fuhr sich gerade mit den Fingern durch die Haare. Fröhlich plauderte Lydia: „Ach, wird das ein schöner Urlaub! Endlich mal wieder das Meer sehen und kaum ein Cent dafür bezahlen! Du musst wissen, Paul, Clemens hat drei Ein-Mann-Zelte aus seinem Geschäft mitgebracht und so können wir fast überall übernachten! Schläfst du gerne im Zelt?“ Paul sah desinteressiert aus dem Fenster. „Geht so“, meinte sie und sah die vorbeiziehenden Häuser an. Sie sagten ihr nichts, nicht wie zu Hause, wo jedes Haus seine eigenen Geschichten wegen seinen Bewohnern hatte. Chemnitz erschien ihr so viel besser als München, auch wenn in München das Leben pulsierte, im Gegensatz zu Chemnitz.
„Wir können ja auch mal auf Rügen fahren!“ Schon redete Lydia weiter. Ihre Augen strahlten und sahen oft Clemens an. „Ich habe gehört, da kann man super wandern und baden gehen. Clemens und ich gehen gerne baden, Paul. Bist du schon einmal an der Ostsee gewesen?“ Bevor Paul antworten konnte fuhr Lydia schon fort: „Aber ich brauche unbedingt ein neues Sommerkleid. Und vielleicht auch ein neues Paar Schuhe. Gehen wir da mal zusammen einkaufen, Clemens? Paul könnte ja solange dort das Essen machen. Oder wir nehmen uns etwas von unterwegs mit. Eine Pommesbude oder einen McDonalds wird es da schon geben, da bin ich mir sicher.“ Munter redete Lydia weiter, doch Paul hatte schon längst abgeschaltet und wünschte sich ihre Zeit mit Lydia allein im Auto wieder. Die redselige Art von Lydia war eigentlich ganz nett, aber Paul hatte schon jetzt davon genug. Nur Clemens hörte ihr aufmerksam zu, gab ihr Antworten, schlug selbst etwas vor. Die Beiden schienen vor Energie zu sprühen und Paul kam sich wie ein kleines, dummes Kind vor, dass ihren Eltern den Liebesurlaub versaut. Lydia und Clemens störten sich nicht an ihr. Gerade lachte Lydia so laut und übertrieben, dass Clemens doch irgendetwas bemerken musste und doch stimmte er in ihr Lachen ein. Gemeinsam sangen sie den Song im Radio. Wie zwei Teenies, die gerade erst zwölf sind. Wenn Liebe so blind machte, wollte Paul lieber nicht mehr verliebt sein, doch sie wusste, dass der Nächste kommen würde. Doch wer würde es dieses Mal sein? Ein Beachboy, ein Rettungsschwimmer, ein einsamer Wanderer? Oder doch ein Kellner, ein Entertainer, ein Fremdenführer? Zu diesem Thema wollte Paul sich lieber erst einmal nicht den Kopf zerbrechen. Ihre nächste Liebe würde von alleine kommen, was halfen da schon irgendwelche dummen Gedanken. Früher hatte sie einmal zu ihrer Mutter gesagt: „Ich heirate mir irgendeinen Reichen und wenn er tot ist, wandere ich mit meiner wahren Liebe aus und gehe auf die Insel Mallorca und mische mal richtig mit!“ Da war sie gerade elf Jahre alt gewesen, ein Alter voller Spaß und kindischen Neckereien. Zum Glück war das vorbei.
Abends setzten sich die Drei ans Feuer, blickten in die Flammen und dachten leise nach. Clemens hatte den Arm um Lydia gelegt und wiegte sie leise. Dann stand er auf und ging zum Waschen. Lydia und Paul blieben. „Warum warst du die ganze Zeit heute so unnatürlich fröhlich?“, wollte Paul wissen und starrte weiter auf die verglühenden Holzscheiten. „Hat man es sehr gemerkt?“ Paul schüttelte den Kopf. „Ich habe Angst gleich noch jemanden zu verlieren. Weißt du, wenn man ein gebrochenes Herz hat, kann Liebe sehr gut heilen. Merke dir das gut.“ Nachdenklich sah sie in die züngelnden Flammen. „Clemens ist vielleicht nicht die Liebe meines Lebens, aber er war schon immer ein sehr guter Kumpel. Wie findest du ihn?“ „Nett“, log Paul, weil sie Lydia nicht weiter verärgern wollte und ihr keine Schwierigkeiten bereiten wollte. „Am Anfang ist er immer etwas komisch, doch wenn du ihn besser kennst wird das anders. Glaube mir.“ Mit glänzenden Augen sah Lydia zu Paul rüber, die sich in eine Decke gekuschelt hatte und weiter dem Feuerball beim Tanzen zuschaute. Kurz seufzte Lydia: „Du leidest zur Zeit auch an einem gebrochenem Herzen, habe ich Recht? Mit Kai bist du also nicht zusammen?“ Ein kaum merkbares Nicken kam von Paul: „Ich war nicht bereit. Ich wollte noch nicht von Luca loslassen. Kai ist toll, aber er ist zu alt. Er muss sich Eine in seinem Alter aussuchen. Ich bin nicht die Richtige für ihn.“ „Weise Worte, Paulchen“, lobte Lydia, „aber du wirst schon wieder glücklich werden. Ich glaube, dass du dich wieder sammeln musst und dann Luca um eine Ausrede bitten musst. Anders bekommst du ihn zurück, aber du brauchst ihn. Er wird dich verstehen, da bin ich mir sicher.“ Paul war froh, dass sie mit Lydia über alles reden konnte. Sie war eine der Einzigen, der Paul ganz vertraute. Zusammen mit ihr würde Paul diese Zeit auch durchstehen. Lydia schien Paul zu kennen, als wäre sie schon immer ihre beste Freundin. Ob sie sich aus einem früheren Leben kannten? Nein, daran glaubte Paul nicht, aber sie wusste seit ihrer Flucht sowieso nicht woran sie glauben sollte. Gab es denn wirklich einen Gott, der auf alle acht gab? Dann hätte er Paul schon längst befreien müssen, als es noch möglich war. Jetzt war es schon lange zu spät. Pauls letzte Hoffnung war der Richter und dass er sie verstand. Sie würde hinter Gitter gehen, wenn es sein musste, aber Paul musste dem Richter alles erzählen, von vorne bis hinten. Und vielleicht fand er ja eine Lösung aus dem Problem herauszukommen ohne dass Prince es mitbekam.
„Dich beschäftigen deine Gerichtsverhandlung und das damit Verbundene sehr. Das kann ich dir ansehen. Aber wenn du aus der Sache lebend rauskommen möchtest, musst du einen Schritt zurück und alles von außen betrachten. Meist ergibt sich dadurch eine Sache, die hilft“, erklärte Lydia und sah zum Nachthimmel hoch. Dicke Wolken hingen da und versperrten die Sicht auf die Sterne. Nur selten blitzte der Mond auf.
„Ja, Prince lässt mich einfach nicht in Ruhe“, bestätigte Paul mit einem müden Lächeln, „aber ich kann nicht mehr einen Schritt zurücktreten, weil ich schon zu sehr drinnen bin. Ohne Hilfe komme ich da auch nicht mehr heraus.“ Traurig sah sie weiter in die langsam verlöschende Glut. „Ich weiß was du meinst. Doch gerade jetzt musst du das alleine durchstehen. Du hättest Nein sagen können, aber du hast es nicht gemacht. Du hattest einen Grund, nehme ich an, einen sehr Guten. Du hast jetzt Jahre für dieses Ja damals gearbeitet. Meinst du nicht, dass es jetzt Zeit ist die Finger aus dem Spiel zu lassen?“ Lydia stieg in Pauls Achtung wieder ein Stück. „Du kannst nur auf dich selbst bauen, weil alle Andere Gegner sein könnten. Woher willst du wissen ob Clemens die Unschuld persönlich ist, nicht mit Prince in Verbindung steht? Fange an die Leute zu hinterfragen. Aber was du nie machen darfst, dich selbst zu suchen. Ohne dich selbst ist ein Hilfeschrei nur halb so laut. Sobald die Leute merken, dass du nicht weißt wer du bist, bist du ein Niemand.“ Stille breitete sich aus. Von Clemens war immer noch nichts zu hören. Schließlich sagte Lydia: „Morgen sind wir an der Ostsee und können abends wieder reden und danach arbeitet Clemens in einer Surfschule. Da kannst du mich noch alles fragen, was dir auf der Seele liegt. Schreibe es auf, schreibe deine eigene Geschichte auf, denn dann lernst du aus dir selbst. Und das ist wahrscheinlich die wichtigste Lehre.“ Paul hörte Schritte und sah Clemens kommen. Lydia stand auf, küsste ihn kurz und ging dann, Paul sah weiter in die Glut bis sich nichts mehr regte. Dann stand sie auf und ging auch zu den Waschräumen. Lydia war gerade da. „Warum wollen wir gerade an die Ostsee?“ „Ich möchte es dir sagen. Wir sind auf den Spuren von meinen Kindheitserinnerungen. Die möchte ich gerne mal wieder besuchen, das Wissen um alte Sagen wieder ein bisschen auffrischen.“ Während Paul Zähne putzte fing Lydia schon an: „Als Kind fuhr ich oft mit meiner Familie an die Ostsee, weil meine Eltern dort geheiratet hatten. Immer in den Ferien, an ihrem Hochzeitstag, fuhren sie zur See und sahen sich das Wasser an, erinnerten sich an die alten Zeiten. Als Kind fand ich das nicht sehr spannend und mit meinen Geschwistern blieb ich oft bei einer Bekannten, die leider letztes Jahr verstarb. Sie erzählte uns die Geschichten der See, von Seeräubern bis zu Sagen und Legenden. Für uns war sie eine Ersatzoma und wir mochten sie sehr. Manchmal ging sie mit uns in Museen. Mit meinen Eltern war das immer schrecklich langweilig, aber mit der Bekannten war es ein pures Abenteuer und wir fieberten immer der nächsten Reise an die Ostsee entgegen. Zum Glück wohnten wir nicht weit entfernt und fuhren auch im Herbst hin. Unsere Ersatzoma nahm uns sogar einmal mit nach Dänemark als sie fischen war und dort ein paar Sachen verkaufte, die sie zu Hause strickte. Die lange Schiffsfahrt war die aufregendste Fahrt meines Lebens. Wir spielten Verstecke, erzählten uns Schauergeschichten und verkleideten uns als Piraten. Es war richtig lustig!“ Lydias Augen funkelten, dann wurde sie traurig. „Meine Eltern wollten sich nach ein paar Jahren trennen und es wurde die Hölle zu Hause. Immer öfter fuhren wir zu der Bekannten und eines Tages verkündete mein ältester Bruder, dass er nicht mehr nach Hause kommen würde und bei der Bekannten wohnen wollte. Daraufhin zogen meine Mutter und mein Vater mit uns weg. Sie wollten uns nicht verlieren und die Hölle ging zu Ende.“ Paul wusste, dass Lydia hier war um ihr die Sachen zu erzählen. Nur deswegen waren sie hergekommen. Damit Paul was lernte, nur was? Doch sie war sich sicher, dass Lydia es nur gut meinte. Und es würde helfen. Bestimmt.
Es ging sehr früh los. Kaum hatte Paul sich durchringen können aufzustehen, da ging es schon los. Zum Frühstück gab es Salat, den Clemens gemacht hatte. Es gab Paul kaum das Gefühl satt zu sein, doch die Beiden drängten zum Aufbruch. Hier durfte man eigentlich nicht zelten, aber Lydia und Clemens hatte das nicht gestört.
Etwas verschlafen setzte Paul sich auf den Rücksitz. „Paul, erzählst du Clemens und mir die ganze Geschichte von vorne bis hinten?“, wollte sie wissen. Innerlich seufzte Paul. Erst gestern hatte Lydia gesagt, dass sie auf der Hut sein musste wem sie was erzählte, doch anscheinend vertraute Lydia Clemens und da tat Paul es auch. Clemens war ihr zwar noch nicht sympathisch, aber sie duldete ihn ohne einen Laut. Lydia wusste schon was sie tat, sie hatte eine gute Menschenkenntnis. Woher sie die wohl bekommen hatte? Oder war sie Psychologin? Nein, Paul hatte schon mit vielen von denen Kontakt gehabt, alle hatten sie nicht halb so gut gekannt wie Lydia. Sie waren alle nicht offen genug, hatten nicht genug Weltkenntnis um Paul zu verstehen. Bei Lydia war alles anders. Paul verstand was Clemens an Lydia fand, sie machte sich ja auch echt Mühe es ihm Recht zu machen. Dagegen wusste Paul nicht, was Lydia an Clemens so faszinierte. War es wirklich nur, weil er für sie da war? Weil sie gerade Hilfe brauchte? Und da beschloss Paul, dass Lydia ihre eigenen Ratschläge bekommen sollte. Um glücklich zu werden. Und nicht in ein auswegloses Abenteuer mit Clemens zu schlittern.
„Diese Zelte sind echt total toll!“, meinte Paul, einfach um ein bisschen nett zu Clemens zu sein und Lydia freute sich sichtlich. „Ja, wir haben viele davon“, erzählte Clemens, „sie sind zur Zeit in Mode.“ Zufrieden betrachtete er die drei aufgestellten Zelte. „Wie wäre es, wenn wir jetzt zum Strand gehen und uns ein bisschen austoben?“ Liebevoll schaute er Lydia an. Geschmeichelt nickte sie und nahm ihre Badesachen.
Gemeinsam liefen sie zum Strand. Clemens hatte eine kurze, hellblau karierte Badehose an und sich lässig ein rotes Handtuch um den Hals gehangen. Arm in Arm ging er mit Lydia zum Strand. „Wie lange kennt ihr euch schon?“, wollte Paul wissen. „Ein paar Monate“, gab Lydia zurück und lächelte zu Clemens hoch. Er war fast einen Kopf größer als Lydia, dabei war sie nicht klein. Paul schätzte Clemens auf 1,90m oder größer und Lydia auf 1,80m. Für eine Frau hatte sie eine bemerkenswerte Größe. Daneben kam sich Paul lächerlich klein vor.
Der Sand knirschte unter Pauls nackten Füßen, der Wind zerrte an ihrem Sommerkleid. Sie fror. Die Temperaturen waren auch hier oben drastisch gesunken, 14°C. Eindeutig keine Wärme zum Baden, doch das schien den Beiden nichts auszumachen. Glücklich liefen sie durch den Sand, die Füße versanken in der nassen Masse und klebten an den Füßen. Kleine Pflanzen und Algen begannen wieder zu leben, bekamen ein sattes Grün nach dem ausgetrocknetem Braun. Doch auch Mücken waren wieder da. In großen Schwärmen umkreisten sie die Drei und Paul war froh den Strand zu sehen.
„Hier machen wir es uns gemütlich!“ Fröhlich legte Lydia ihr Handtuch auf den dunklen Sand und ließ sich darauf nieder. Die Sonne verschwand hinter einer Wolke.
Clemens breitete auch sein Handtuch aus, aber er war eher aufgeweckt. „Geh du nur ins Wasser, ich komme später nach“, versprach Lydia und legte sich auf den Bauch, während Clemens ins Wasser rannte. Er schien es kaum erwarten zu können in das kalte Nass zu kommen. Verständnislos sah Paul ihm nach.
„Ich finde es toll von dir, dass du versuchst Clemens zu mögen. Wirklich, das ist großartig!“ Lydia wusste einfach alles. Entweder war Paul so eine schlechte Lügnerin oder Lydia hatte die allergrößte Menschenkenntnis der Welt.
Verlegen lächelte Paul. „Du musst dich nicht zu schämen. Er merkt es schon nicht. Aber ich denke ihr könnt miteinander ganz gut. Auch wenn er dir nicht gerade nett begegnet. Das musst du schon verstehen. Er dachte, dass wir einen Liebesurlaub machen und dann eröffne ich ihm, dass du mitkommst. Ich weiß, dass du ihn verstehst.“ Mit einem warmen Lächeln sah Lydia Paul an.
„Woher hast du deine Menschenkenntnis?“, wollte sie wissen. Da lachte Lydia. „Ich habe keine Menschenkenntnis, aber ich kann mich gut in die Menschen einfühlen. Früher war ich sehr beliebt in der Schule. Ich sagte mir, dass ich auf keinem Fall das nicht mehr wollte. Und deswegen achtete ich auch meine Klassenkameraden und mein Umfeld. Mit meiner Mutter kam ich so besser aus und auch mit meinen Geschwistern. Ich habe später nach einem guten Job gesucht und habe mit einer Freundin gesprochen, die als Hilfe zur Jobsuche ihr Geld verdient. Sie bot mir an in einem Kindergarten zu arbeiten. Aber ich wollte es nicht, weil ich mich nicht gut genug in die Kleinen reinversetzen kann. Ich wollte mit Jugendlichen arbeiten, ihnen helfen und ihnen Ratschläge geben, die ich auch schon Anderen gegeben habe. Doch es gab keine freie Stelle. Nirgendwo. Am Ende landete ich bei einer Agentur, die mit jungen Models arbeiten. Für sie war ich eine Art Begleiterin. Viele hatten ihre Probleme und erzählten es mir. Daraus habe ich gelernt und habe ihnen ein bisschen helfen können.“ Ein Lächeln huschte über Lydias Gesicht. „Und dann?“, wollte Paul wissen. „Eines Tages stand ein Typ vom größten Jugendknast vor meiner Tür und fragte, ob ich für ihn arbeiten wollen würde, da er gehört hat, dass ich gut mit den Jugendlichen kann. Ich sagte sofort ja und bis heute arbeite ich dort. Viele haben wirklich schlimme Sachen, die sie belasten, doch auch ihnen kann ich mit viel Liebe helfen. Oft spreche ich auch mit den Angehörigen dieser jugendlichen Verbrecher und auch mit deren Freunden. Manche wurden früher entlassen, weil sie ihre Schuld einsahen oder sich gut führten. Es ist immer schön zu sehen wie sie aufblühen. Manche sehe ich zwei Mal, dann versuche ich sie zu besänftigen und frage sie, warum. Schon manche habe ich zur Umkehr bewegen können und die Eltern danken mir dann oft. Das ist das größte Geschenk was sie mir machen können.“ „Aber warum kannst du mir so direkt ins Herz schauen? Manchmal mache ich nichts und du weißt, wie ich mich fühle. Das ist manchmal fast schon unheimlich.“ Nun lachte Lydia wieder und setzte sich auf ihr Handtuch. Im Sand verschwanden langsam ihre Füße. Dann erklärte sie: „Wenn man länger mit Jugendlichen arbeitet, bekommt man immer mehr Anzeichen mit, was sie machen in einer bestimmten Situation, wo man gut den Stand der Gefühle ablesen kann. Manchmal sitze ich auch nur da und sehe die Jugendlichen an. Kenne ich sie gut, kann ich manchmal sogar ihre Gedankengänge mitverfolgen. Gehe ich dann wieder raus, ist ihnen manchmal was klar geworden. Dann hat das Zuhören gereicht. Andere brauchen das Reden. Man muss selbst abschätzen was am besten ist. Besonders Offene sagen mir was sie brauchen, denen kann ich dann am besten helfen.“ „Möchtest du je wieder was anderes machen?“, fragte Paul. Die Antwort kam sofort: „Nein, niemals!“ Die Beiden lächelten. „Wenn du willst, kann ich dich ja mal zu einer meiner Besprechungen mitnehmen oder auch eine mit dir durchführen, damit du das Prinzip verstehst. Im Grunde ist es einfach.“ „Ja, gerne.“
„Lydia! Komm doch endlich!“, rief Clemens ungeduldig und kam aus dem Wasser auf sie zu. Sie stand lachend auf, nahm seine Hand und ging mit ihm ins Wasser.
Paul saß am Strand und sah den Beiden zu. Lydia war echt eine sehr zu beachtende Person. Ob sie Prince kannte? Konnte sie Prince zur Umkehr bewegen? Dass Prince lebenslänglich bekommen würde war klar, aber noch war sie jugendlich und musste nach diesem Prinzip bestraft werden. Wie würde die Bestrafung ausfallen? Wie viele Jahre kam sie hinter Gitter? Wann würde sie wieder rauskommen? Welche Straftat folgte dann? - Nein, Paul wollte diesen Weg nicht weiterführen, er endete in einem tödlichen Chaos. Nicht nur für Prince, sondern auch für sie, Xenia, Micha, Dennis und all die Anderen.
„Ohne Prince wäre es uns allen besser gegangen“, dachte Paul wehmütig, „zwar wären viele von uns wahrscheinlich einmal für ein paar Monate im Knast gewesen, aber ansonsten hätten sie ein geregeltes Leben gehabt. Vielleicht eine gute Ausbildung und später mal einen Job. Oder besseres. Susanna hätte Wohnungen im Haus vermieten können und so den Anderen unter die Arme greifen können. Zusammen hätten sie Prince vielleicht gestellt. Oder sie wäre vor der Verurteilung in ein anderes Land abgehauen, aber wenigstens hätte sie dann die Füße still gehalten.
Prince ist die gesuchte Mörderin, Räuberin und Erpresserin, die die ganze Zeit gesucht wird. Prince ist das Mädchen, was viele Leute viel Zeit kostet und die Polizei eine Menge Geld. Prince ist die, die allen die Straftaten in die Schuhe schiebt, einfach, um Spaß zu haben und sich an der Dummheit der Polizei zu ergötzen. Prince ist die, die mordet.“ Diese Gedanken waren ziemlich schlimm, aber Paul wusste, wie sehr sie stimmten. Ohne Prince wäre die Welt viel besser dran, Deutschland würde ohne so viel Ärger, Angst und Hass sein. Es gäbe nicht ganz so viele schlimme Nachrichten im Radio und im Fernsehen. Die Talkshows hätten vielleicht ein anderes Thema als die schlimmen Verbrechen. Ja, Prince machte ganz Deutschland verrückt mit ihrem Handeln. Paul hatte schon längst kapiert, dass das ein Ende haben musste. Ein für alle Mal!
Die Wogen zwischen Conrad und Paul glätteten sich. Darüber war Lydia sichtlich erfreut. Doch miteinander Sachen zu besuchen, Veranstaltungen, Kino usw. war noch unerdenkbar. Deswegen war Paul auch ganz froh, wenn Clemens früh zur Arbeit ging und sie mit Lydia was unternehmen konnte.
„Paulchen, dir ist klar, dass du hier keine Nacht länger bleiben kannst“, meinte Lydia ernst und Paul nickte. „Gestern Abend habe ich lange mit Clemens darüber diskutiert und wir denken, dass Clemens hier bleibt bei seiner Schwester. Heute Nachmittag wird er schon dort sein. Wir beide werden in die nächste große Stadt fahren und dort ein Zimmer mieten. Irgendeine billige Jugendherberge, denke ich. Dann können wir jeden Tag weiterziehen.“ „Danke.“ „Nichts zu danken“, sagte Lydia lächelnd, „wir bringen jetzt Clemens sein Gepäck und fahren los. Das Risiko ist zu groß sonst, dass wir gefunden werden. Auf der Fahrt erzählst du mir alles, was du über Prince weißt. Und damit meine ich alles. Auch wenn du mir sagst, dass sie jeden Tag rosa Schlüpfer trägt oder eine Warze am großen Zeh hat.“ Paul lächelte und nickte zustimmend. Es war besser mit offenen Karten zu spielen. Vielleicht konnte Lydia ja helfen. Nein, bestimmt konnte sie helfen.
„Erzähl!“ Nach einem langen Abschied waren sie endlich losgefahren. Paul war irgendwie froh von Clemens weg zu kommen. Sehr froh. Mit Lydia war alles unkomplizierter: Gespräche, Denken, Fühlen. Lydia gab Paul das Gefühl von Halt und sie war sie zu haben. Von der Seite sah Paul Lydia an. Heute hatte sie eine lange Jeans an und eine gelbe Bluse. Die rötlichen Haare waren offen und fielen ihr leicht auf die Schultern.
„Ich kenne Prince seit diesem Camp. Es ist viele Jahre her. Wir, das heißt Prince, ich und ein paar Andere trafen uns immer heimlich im Wald. Niemand wusste, dass wir uns kannten. Die Lichtung, die wir unser Versteck nannten, nahmen wir als Spielplatz. Dort dachten wir uns Namen füreinander aus, da wir die unsrigen nicht verrieten. So kommt es, dass ich noch nicht einmal Prince Nachnamen, geschweige denn den Vornamen, weiß.
Das Camp ging zu Ende und wir tauschten Nummern und Adressen. Wir schrieben regelmäßig bis Prince plötzlich Unterschlupf suchte. Sie erzählte uns, dass ihre Familie ermordet worden war und ihr Freund sie verlassen hat und dass sie nicht mehr weiter weiß. Es war ein Schock, leider konnten wir ihr nicht helfen. Sie kam woanders unter, aber wir schrieben ihr regelmäßig. Dann tauchte sie unter, sie wurde überall gesucht, aber nicht gefunden. Uns schrieb sie weiter. Wir versicherten, dass wir sie nicht verrieten. Dann ging alles ganz schnell, Einer verübte eine Straftat und zog zu Susanna. Die meisten Anderen kamen nach und Prince kam zu uns, versorgte uns manchmal mit Essen. Dafür mussten wir ihr helfen. Bei Einbrüchen, Diebstählen und so weiter. Da ich auf dem Papier die noch Einzige existierende war, musste ich für alles bürgen und wurde immer angeklagt. Aber das weißt du ja, zurück zu Prince.
Prince ist ungefähr 1,70m, hat schwarze Haare, trägt fast immer schwarz und kann total gut irgendwo einbrechen ohne Spuren zu hinterlassen. Mehr weiß ich nicht über sie. Früher wusste ich mehr von ihr, aber sie hat sich verändert und jetzt ist sie nur noch ihr eigener, böser Schatten.“ Traurig hörte Paul auf. Würde Prince sich je wieder fangen?
„Keine Sorge, Paul, wir schaffen das schon. Aber kannst du mir mal ihr Gesicht beschreiben, das müsstest du doch kennen, oder?“, fragte Lydia aufmunternd. Paul dachte scharf nach: „Ihre Augen stehen sehr zusammen, sie hatte schmale, geschwungene Augenbrauen, eine ebene Nase mit einem Piercing im rechten Nasenloch. Sie ist ziemlich abgemagert, man sieht ihre Wangenknochen. Der Mund... mmh... Der Mund ist eher dünn. Die Unterlippe ist dicker als die Oberlippe. Aber mehr kann ich nicht sagen. Vielleicht stimmt es auch nicht, ich habe sie lange nicht gesehen. Sie schminkt sich ja auch sehr. Manchmal sieht man kaum noch ihre Haut.“ Lydia nickte. „Ich glaube, eine Kollegin kennt sie. Vor vielen Jahren wurde eine gewisse Joy Merlins eingeliefert. Es war ein harmloser Diebstahl, aber sie war noch sehr jung. Nur ein Gespräch sollte durchgeführt werden, zur Besserung. Aber anstatt das ernst zu nehmen erzählte dieses Mädchen von einem viel teuflischerem Hass. Meine Kollegin wollte sie überwachen lassen, doch sie verschwand. Seitdem trug sie ein Bild des Mädchens immer bei sich. Sie schenkte es mir als sie in Rente ging. Ich habe es bei mir, schau.“ Lydia kramte aus ihrer Hosentasche ein zerknittertes Bild heraus. Interessiert sah Paul es sich an. „Ja, das ist sie! Ja, ich bin mir absolut sicher!“, rief sie überrascht. Zufrieden nickte Lydia: „Na dann haben wir ja Glück. Es sei denn Prince oder Joy hat irgendeinen Doppelgänger, der ihr ähnlich sieht.“ Beide mussten lachen.
Der Strand von Wismar war nicht außerordentlich groß, aber immerhin war einiges los. Sogar noch um die Uhrzeit, dabei war der Strand nass und das Wasser kalt. Ich sah mich um. Irgendwo musste hier dieser dämliche Surfclub sein. Marius hatte mir davon erzählt. Hoffentlich war dieser Clemens noch da. Dann würde ich aus ihm herausbekommen wo Paul steckte und dann würde sie sie kalt machen.
Der Club war schon von weitem sichtbar. Ein paar Kinder drängten sich um einen braungebrannten Mann, der ihnen mit seiner Haltung zeigte, wie man auf einem Surfboard stand. Blutige Anfänger. Nichts für mich. Ich war vier Jahre surfen gewesen und war nicht gerade schlecht gewesen. Kurz vor der schlimmen Nacht hatte ich eine Prüfung gehabt für Olympia und sogar bestanden, doch nach dieser Nacht war ich nicht gefahren. Eine Schande! Aber der Schmerz hatte tief gesessen. Jetzt begegnete ich dem Schmerz mit meiner ganzen Verachtung. Und dieser Surflehrer würde auch meine ganze Verachtung zu spüren bekommen. Vielleicht war ja auch das Clemens. Wer konnte das schon wissen. Sah er wirklich so gut aus?
Artig nickten die Kiddies, dann verabschiedeten sie sich und verstreuten sich am Strand, manche wurden von ihren Eltern abgeholt. So lange musste ich warten. Ich wollte doch nicht mehr Aufsehen auf mich ziehen als nötig. Ich fror. Alles war nur Pauls Schuld! Wäre sie nicht bei diesem einen unbedeutenden Einbruch reingekommen müsste ich jetzt nicht hier in der Kälte stehen und dem Sommer beim Abschied zusehen.
Nun war der Lehrer frei und ich lief auf ihn zu. „Entschuldigen Sie, sind Sie Clemens?“, fragte ich mit meiner schönsten Unschuldsmiene. „Ja, der bin ich. Warum?“ Verdattert sah mich der Mann an. „Meine Eltern sind sehr reich und ich habe mich gefragt ob sie denn auch Privatstunden machen?“, log ich und sah ihn zuckersüß an. Clemens´Miene entspannte sich und er meinte: „Klar, warum nicht? Da müssen wir aber rein gehen und noch ein paar Formulare ausfüllen, Frau...?“ „Frau Morgen. Sara Morgen.“ Der Name klang ganz gut und gefiel mir sehr. „Ja, Sara, so darf ich doch sagen?“ Ich nickte. „Komm doch mal mit rein.“ Er zog mich mit in die Surfschule. Dort war ein Typ mit rosa Badeshorts. Also konnte ich hier nicht zuschlagen. Mist! „Also.“ Clemens suchte nach ein paar Papieren und ich sah mich um. Wie bekam ich bloß diesen blöden Mann hier heraus?
„Also, Clemens, ich sehe du schaffst das ganz gut alleine.“ Anzüglich lächelte mich der schmierige Typ an. Zwar fand ich ihn zum kotzen, doch ich senkte brav schamhaft den Kopf und wurde rot. Der schmierige Typ lächelte und verabschiedete sich. Freie Bahn für mich!
Ich wartete bis er weit genug entfernt war, dann holte ich die Pistole unter dem Top hervor und hielt es Clemens an den Kopf. „Ich möchte wissen wo Paul ist.“ Meine Stimme ließ keine Widerrede zu. Bei meinen Worten zuckte Clemens zusammen. „Du bist also Prince“, meinte er mehr zu sich selbst. „Oh ja, die bin ich.“ Mein kaltes Lachen war verächtlich. So ein Blitzmerker!
„Ich weiß nicht wo Paul ist, aber ich hoffe, dass du sie nicht findest. Und auch wenn ich hier mein Leben lasse, weiß ich, dass du verloren hast. Meine Freundin ist mit Paul heute Morgen los. Mehr weiß ich nicht. Sie werden jeden Tag woanders hinfahren, damit du sie nicht findest. Gib es auf, du hast verloren!“
Scheiße! Wenn Paul jeden Tag woanders hinfuhr, hatte ich echt keine Chance. Man musste Paul ihre Gerissenheit und ihr Wissen lassen. Dumm war sie auf jeden Fall nicht. Aber wer war das schon?! Auch meine Gegner waren schlau, nichts im Vergleich zu Paul, aber doch schlauer als ich zu Anfang gedacht hatte. Tja, da hatte ich meine Gegner wohl unterschätzt. Doch mir blieb immer noch Plan B. Eigentlich hatte ich das verhindern wollen, weil der Plan so leicht war, aber lieber so als nichts. Paul konnte nicht am Leben bleiben und mich verpfeifen.
„Wer ist deine Freundin? Was sind ihre Hobbys und wo arbeitet sie?“, fragte ich mit befehlender Stimme während ich Clemens die Pistole an die Schläfen drückte. Ihn am Leben zu lassen wäre nicht schlimm, er konnte mich sowieso nicht identifizieren, da ich eine Maske auf hatte. Sicherlich wusste er es nicht, es hatte viele Stunden Arbeit von Marius gebraucht um so eine perfekte Maske zu machen, die auch lächeln, reden und nicken konnte.
„Sag es mir, sonst erschieße ich dich. Ich könnte dich am Leben lassen, wenn du es mir sagst.“ Ich sah die Angst in seinen Augen, seine verletzliche Seite. Und schon fing er zu reden an: „Lydia liest gerne, macht Volleyball und geht meist einmal in der Woche ins Kino. Am Donnerstag. Als Beruf ist sie Psychologin im Jugendknast.“ „Welcher Knast?“ Er nannte mir die Adresse. Mist, da war ich auch einmal gewesen und wenn ich Pech hatte, kannte diese Lydia mich. „Ist gut. Du bleibst jetzt eine Minute auf diesem Stuhl sitzen, dann kannst du aufstehen und gehen, wohin du willst. Sollte ich noch einmal eine Frage haben bist du sicherlich so nett und beantwortest sie mir. Bis dahin!“
Ich stolzierte davon und dann rannte ich. Niemand beachtete mich, weil ich unauffällig war. Weil ich unscheinbar war.
Es wurden auch heute nicht wärmer und ich kam kaum aus dem Bett. Die Herberge war einfach, aber zweckmäßig. Lydia und ich hatten in einem Zimmer geschlafen und bis spät in die Nacht noch geredet. Heute Morgen war ein Anruf gekommen. Clemens. Er war von Prince bedroht worden und er hatte ein komisches Gefühl. Sofort war Lydia unruhig geworden und auch ich fand diese Neuigkeiten nicht schön.
„Was wollen wir heute machen?“, fragte Lydia beim Frühstück. Ich überlegte. „Wir fahren fünfzig Kilometer und schauen uns die nächste Stadt an. Wenn sie uns gefällt bleiben wir. Lydia nickte zustimmend und biss in ihr Brötchen mit Nutella und Schafskäse. Eine ungewöhnliche Gewohnheit, fand ich. Da bevorzugte ich meine Erdbeermarmelade. „Das Wetter ist eigentlich kann schön“, meinte Lydia. Ich sah nach draußen. Vereinzelt waren Wolken da, ansonsten Sonnenschein. „Ja, aber warum ist es so kalt?“ Das Zimmerthermometer hatte morgens 12°C angezeigt und ich hatte meinen Pullover rausgekramt. „Es wird Herbst, Paulchen“, lachte Lydia und verputzte ihr Brötchen nun ganz. Etwas angeekelt sah ich ihr dabei zu. „Jetzt mach doch nicht so ein Gesicht, Paulchen! So eklig ist das gar nicht. Du musst das echt selbst mal probieren.“ „Danke, danke“, gab ich zurück, „ich esse Nutella pur oder Schafskäse im Salat, aber beides zusammen... Nee, wirklich nicht.“ Lachend stand Lydia auf und zusammen gaben wir unsere Teller ab und gingen wieder hoch in unser Zimmer um zu packen. „Heute Abend gehen wir in eine Disko“, beschloss Lydia. Ich fragte mich, warum, aber fand keine Erklärung. Manchmal war Lydia schon ziemlich rätselhaft.
Meyenburg war schließlich unser Zielort. Die Fahrt war nicht lange gewesen und jetzt waren wir in diesem Kaff. Es gab hier nicht viel und die Lust auf die Disko war uns endgültig vergangen. „Wir suchen uns erst einmal eine Herberge“, entschied Lydia und wir fuhren mit offenen Augen durch die Straßen. Nur wenige Leute liefen auf der Straße, das meiste waren Rentner.
„Da!“ Triumphierend hielt Lydia an und wir stiegen aus. Wir waren an einem kleinen Café angekommen, über dem man anscheinend wohnen konnte. „Wollen wir doch mal sehen, was sich machen lässt“, lächelte Lydia und siegessicher ging sie in das kleine Café. Etwas misstrauisch folgte ich ihr.
Eine dicke Dame stand hinter dem Tresen des gemütlich aussehendem Café. An den Wänden hingen alte Gemälde, vereinzelt gab es Malereien von Pflanzen, auf den Tischen stranden frische Blumen und ein kleines Teelicht. Ich fühlte mich sofort wohl hier. In jeder Ecke stand eine Couch in einem netten Braunton und das Licht hier war nur schummrig, aber ausreichend. Die Bar war nicht besonders groß, aber das Café wurde wahrscheinlich oft besucht.
„Kann ich ihnen helfen?“ Humpelnd kam die dicke Frau auf Lydia zu. Die wandte sich mit einem Lächeln dieser zu. „Meine Tochter und ich suchen einen Schlafplatz für die Nacht. Wir sind auf der Durchreise.“ „Wohin geht es denn, wenn man fragen darf?“, wollte die alte Vettel wissen. „Wir wollen runter nach Bayern zu einem Onkel bei dem wir unterkommen wollen seit ihr Vater tot ist.“ Lydia täuschte ein Weinen vor und auch ich senkte den Kopf. Was Lydia damit erreichen wollte?! Unfreundlich sagte die Vettel: „Ja, für ein bisschen Geld könnt ihr bei mir schlafen. Holt euer Gepäck und dann zeige ich euch die Dachkammer.“ Lydia und ich gingen nach draußen und holten unsere Koffer. Die Vettel wartete schon und stieg mit uns eine schmale Treppe hoch. Dann schloss sie eine Tür auf und schon waren wir in unserem neuen Eigenheim. Es war eine kleine, aber hübsch eingerichtete Wohnung, wenn man auf das ganze alte Zeug stand. „Danke, vielen Dank“, sagte Lydia und stellte ihren Koffer im kleinen Schlafzimmer ab. „Keine Ursache“, grummelte die Vettel und ging wieder runter, während Lydia und ich die Wohnung anschauten. Im Wohnzimmer stand sogar ein Fenster und ein Radio gab es auch. Es war gut auszuhalten.
Die nächsten Tage zogen wir immer weiter herum. Bückwitz, Brück und dann Grimma. Alles kleine Städte, doch Grimma übertraf alles. Hier gab es eine Jugendherberge, dafür Wanderwege. Lydia nahm ich zu einem Kloster mit, besser gesagt einer Klosterruine. Das Springkraut war am Verblühen, die Bäume warfen die ersten Blätter ab. Die Temperaturen blieben bei 13°C-14°C stehen. Auch Lydia zog kein Sommerkleid mehr an, sondern nahm einen dicken Pullover. Der Sommer hatte sich wirklich verabschiedet. Die Maisfelder waren abgeerntet, die Blumen begannen zu verblühen, baden gehen konnten nur noch die Harten. Und der Tag der Besprechung rückte immer näher ohne dass Prince auftauchte. Eigentlich war das ja ein gutes Zeichen, aber Paul hatte ein ungutes Gefühl. Prince gab nicht auf, niemals. Und auf keinen Fall so kurz vor der Besprechung.
Lydia fuhr wieder zurück nach Chemnitz und Paul freute sich wieder auf ihre Familie und Freunde. Würde sie sie wieder in die Arme schließen können, würde Luca ihr verzeihen? In letzter Zeit hatte sie oft mit Lydia darüber gesprochen und Lydia hatte Paul Mut gemacht. Diesen Mut brauchte sie nicht zuletzt auch für die heutige Besprechung. Kai würde da sein und die Polizei würde auf sie warten, wenn Luca daran gedacht hatte. Oder hatte er sich nicht getraut etwas zu sagen? Paul vertraute ihm und doch hatte sie Angst im Stich gelassen zu werden. Zu oft war es schon passiert. Ein Glück, dass es da Lydia gab, die Paul wieder aufmunterte.
„Und jetzt kommt „Let it be“ von den Beatles!“, kündigte der Radiomoderator an. Lydia sah auf die Straße, dann meinte sei: „Bist du sehr aufgeregt?“ „Ja“, sagte Paul wahrheitsgemäß. In der Zeit mit Lydia hatten sie sich sehr angefreundet und hatten keine Geheimnisse mehr voreinander. Lydia hatte versprochen Paul zu unterstützen, egal was war. Doch dafür hatte Paul ihr alles erzählen müssen. Jede Gerichtsverhandlung, jedes Treffen mit Luca, jeden Besuch bei Susanna, jeden Tag in der Schule. Manchmal hatten sie nächtelang dagelegen und Paul hatte erzählt und erzählt. Aufmerksam hatte Lydia zugehört und hatte zu dem Einen oder Anderen einen Kommentar abgegeben.
„Du wirst das überstehen, Paulchen, glaube mir. Du musst nur an dich selber glauben, das weißt du“, machte Lydia ihr Mut. Paul nickte: „Ich weiß, ich weißt.“ Zerstreut blickte sie aus dem Fenster. Die Straßen waren immer besser geworden je näher sie an die Stadt gekommen waren. Sie würde eine Stunde früher in Chemnitz sein als nötig. Da konnte sie erst einmal die Lage checken und sehen ob die Polizei schon vor Ort war, ob Kai da war oder Camilla und Myra oder Luzie oder Martha, zu der sie sollte, aber nie angekommen war. Wer wusste schon wer da war.
„Du machst dir viel zu viele Gedanken“, besänftigte Lydia Paul, „alles wird gut werden. Der Richter wird dich garantiert verstehen. Auch er wusste schon die ganze Zeit, dass du unschuldig bist, sonst wäre er nicht der Beste von seinem Fach.“ Nervös nickte Paul. „Schlafe du jetzt erst einmal eine Runde, dann hast du die meiste Zeit überstanden und musst nicht ganz so viel nachdenken“, riet Lydia und fuhr schneller. Paul lehnte sich zurück und schloss die Augen. Sie wollte wirklich einschlafen, doch immer wieder kreisten Gedanken in ihrem Kopf herum, pochten an, wollten wahrgenommen werden, wollten nicht weichen.
Lydia merkte das, wie sie auch sonst alles merkte und legte eine CD ein. Es waren ruhige Songs, die sie selbst aus ihrer Kindheit zusammengestellt hatte. „Broken Strings“ brachten Paul nicht den Schlaf, auch „Halo“ nicht, aber „Love is the price“ von DJ BoBo ließ sie dann doch schläfrig werden und sie versank in einen unruhigen Schlaf.
„Wir sind da.“ Sanft streichelte Lydia Paul und sie wachte auf. „Wie spät ist es?“ Verschlafen räkelte sich Paul. „Wir standen im Stau und brauchten länger. Es ist 15:28 Uhr, du hast noch eine halbe Stunde. Ich stehe eine Straße weg vom Gerichtsgebäude. Wenn du willst kannst du aussteigen.“ Paul nickte nur und machte die Tür auf. Auf einen Schlag kam alles zurück: Die bevorstehende Besprechung, Prince, Kai und die ganzen Anderen. „Geh du erst einmal zum Gebäude. Den Rückzug kannst du dann immer noch antreten. Vielleicht ist es auch ganz gut im geschützten Gebäude dich auszuruhen. Mit Waffen kommt da niemand rein.“ Wieder nickte Paul und stieg aus dem Auto. In diesem Moment schob sich eine Wolke vor die Sonne und ließ alles ein bisschen dunkler erscheinen. „Soll ich mitkommen?“, wollte Lydia wissen. „Nein, lass mal. Ich gehe alleine“, entschied Paul und raffte sich auf. Kurz drückte sie Lydia noch einmal. „Danke für alles“, sagte sie. „Keine Ursache“, wiegelte Lydia ab und kleine Tränen standen in ihren Augen. „Wir sehen uns bestimmt zu einem Gespräch. Entweder im Gefängnis oder privat oder beides. Aber jetzt passe auf dich auf. Ich werde in der Nähe sein zur Vorsicht“, versprach Lydia und ließ Paul los.
Schnell ging Paul los. Nur nicht umdrehen, sie wollte keinen großen Abschied von Lydia, das würde sie nicht aushalten. Außerdem war es ja nicht für immer, sondern für eine Stunde vielleicht oder zwei. Dann konnte sie wieder zu ihrer Familie zurück und Lydia konnte ihren Clemens abholen. Sie würde dann wieder richtig glücklich sein und Paul gönnte es ihr von Herzen.
Mit Herzklopfen bog Paul in die Straße ein, in der das Gerichtsgebäude stand. Ein paar Leute im Anzug gingen rum, zwei junge Mädchen in Miniröcken und Kaffee in der Hand lachten laut und schrill. Dass sie nicht froren wunderte Paul, denn hier war es kälter als oben an der Ostsee.
Weiter ging Paul. Die Straße war nicht lang und schon bald war Paul am Gerichtsgebäude. Als sie gerade die Straße überqueren wollte rief eine Stimme: „Stopp!“ „Prince“, schoss es Paul durch den Kopf und sie drehte sich um – und starrte in das geschminkte Gesicht der ehemaligen Freundin, die langsam die Pistole auf sie richtete. „Einen schönen guten Tag dir, Paul. Ich hoffe, die letzten Tage hast du gut genutzt, so kurz vor deinem Tod. Schade, dass du erst jetzt kommst. Ich warte schon seit drei Stunden auf dich.“ Ein kaltes Lachen erklang und Paul bekam eine Gänsehaut. So also sah ihr Ende aus. Auf offener Straße, kurz vor dem Gerichtsgebäude.
„Mich kannst du nicht verraten ohne richtigen Namen. Aber ich möchte doch kein Risiko eingehen.“ „Prince, lass die Pistole sinken!“, schrie Paul verzweifelt. „Noch einmal schreist du um Hilfe und du bist tot!“, drohte Prince. Da sah sie eine Bewegung rechts hinter sich. Ein junger Mann hatte versucht sich heranzuschleichen. Sie schlug ihm mit der Pistole auf den Kopf und er blieb liegen. Paul war viel zu entsetzt um irgendetwas zu machen. Stattdessen schrie sie und so merkte sie kaum wie eine Kugel aus Prince´Pistole auf sie zugeschossen kam und in ihr Fleisch fuhr.
Die Tür des Gerichtsgebäudes ging auf und der Richter kam heraus mit ein paar Polizisten. Man hatte den Lärm gehört und Jemand hatte den Richter gerufen. „Ach, du meine Güte“, sagte der Mann in der langen Robe, Alex, der Richter. Die zwei Mädchen im Minirock knieten neben Paul und konnten nichts machen als zuzusehen wie Blut aus der Wunde lief. Auch Männer im Anzug waren gekommen. Pauls Augen waren verschlossen. Der eine Polizist kniete sich neben Paul und prüfte ihren Pulsschlag, der Andere rief den Rettungswagen. „Noch atmet sie“, sagte der eine Polizist, „doch ihr Puls ist sehr schwach. Ich weiß nicht ob sie durchkommt.“ Da schlug Paul die Augen auf. „Ich war´s nicht, Herr Richter, das müssen Sie mir glauben. Ich war´s nicht.“ „Wer war es dann?“, fragte Alex. „Joy Merlins.“ „Wer ist diese Joy?“ Doch Pauls Augen hatten sich wieder geschlossen. Hilflos sah der Richter die Jugendliche an, da kam ein Mann in den Zwanzigern. „Sie müssen die Wunde stilllegen!“, rief er schon von weitem und rannte auf Paul zu. Schnell war er da, trotz seines grauen Anzugs. Er zog sich das Jackett aus und drückte es auf die Wunde. „Wir können nur hoffen, dass es nicht das Herz getroffen hat“, meinte er trocken. „Sie wäre jetzt schon tot, wenn es das Herz getroffen hätte“, erklärte der eine Polizist trocken. „Dann besteht Hoffnung.“ Und schon hörte man die Sirenen des Rettungswagens. Zwei Männer und eine Frau sprangen aus dem Wagen mit einer Bare und rannten auf Paul zu. „Was ist passiert?“, wollte die Frau wissen. „Paul ist auf der offenen Straße angeschossen worden“, sagte eines der Minirock-Mädchen panisch. „Ach, Sie sind eine Freundin des Mädchens?“ „Nein, ich kenne sie aus dem Fernsehen. Pauline Meißner.“ „Aha.“ Rasch notierte die Frau sich alles und fragte dann ihre Kollegin: „Wie sieht es aus?“ „Ein Schuss drei Zentimeter neben das Herz. Sie muss sofort operiert werden sonst stirbt sie“, gab der kleinere der Beiden Auskunft. „Dann beeilen Sie sich, verdammt!“, schrie der Mann im grauen Anzug, Kai. Panik sah man in seinen Augen.
Plötzlich sah man viele Leute zu dem Gerichtsgebäude strömen und vor der Unfallstelle stehen bleiben. Darunter Martha, Myra und Camilla, Moritz und Jana, Lydia, Luca, Susanna, Dennis und Xenia, Gabriela und Micha, Pauls Eltern, die schluchzend zu ihrer Tochter hin rannten. Kurz öffneten sich die Augen von Paul noch einmal. „Ich habe euch lieb“, flüsterte sie, dann versank sie wieder in der schwarzen Nacht. Die Sanitäter schafften sie sofort in den Wagen und fuhren davon. Der Richter sah dem Wagen nach. „Was ist wirklich passiert?“, wollte er wissen. Da traten ein paar Leute vor. „Es wird Zeit für uns die Wahrheit zu sagen, so wie es Paul wollte“, meinte ein Ebenbild von Paul, Micha. „Wenn Sie uns doch in Ihr Arbeitszimmer bitten würden, dann könnten wir Ihnen die ganze Geschichte erzählen“, bot Xenia an. „Für Hannes“, sagte Gabriela. „Und Paul“, erwiderte Susanna. Mit Myra, Camilla, Moritz, Jana, Lydia, Luca, Pauls Eltern und Kai ging der Richter ins Gebäude.
„Wo sollen wir anfangen?“, überlegte Susanna. „Wir sollten uns vielleicht erst einmal vorstellen“, meinte Xenia, „ich bin Marie Gold, offiziell tot seit ungefähr drei Jahren.“ Und so stellten sie sich der Reihe nach vor. Für Alex war es ganz schön viel, da nun alle ihren Teil zu der Geschichte beibrachten und je mehr sie erzählten umso unschuldiger wurde Paul. Alle, die hier saßen, wussten, dass Paul unschuldig war.
„Sie dürfen sie nicht bestrafen“, meinte Kai, „sie ist nicht gefährlich.“ „Sie hat es doch nur für Prince getan“, verteidigte auch Gabriela sie. „Wer zum Himmel ist denn Prince?“, wollte Alex ärgerlich wissen. Da senkten die Jugendlichen die Köpfe. „Das wissen wir nicht.“ „Aber ich“, mischte sich nun Lydia ein, „Prince ist Joy Merlins.“ „Ja“, erinnerte sich der Richter, „so etwas sagte Paul auch kurz nach dem Schuss. Wisst ihr wo ich sie finden kann?“ „Nein“, kam es einstimmig von allen. „Dann müssen wir sie suchen“, beschloss Alex und sofort schwärmten alle mit kugelsicheren Westen aus, die von der Polizei gestellt worden waren. Jeder wurde auch von zwei Polizisten begleitet.
„Luca“, fing Lydia den Jugendlichen ab. „Ja?“ „Paul wollte dir schon die ganze Zeit sagen, dass du ihr immer noch sehr viel bedeutest. Ich wollte, dass du es weißt“, sagte Lydia. Da wurde Luca traurig: „Ich habe schon eine Freundin. Aber ich kann Paul auch nicht vergessen. Jede Nacht träume ich von ihr. Kannst du ihr das ausrichten? Ich werde sie auch bestimmt besuchen und mit meiner Freundin Schluss machen. Meinst du, sie überlebt?“ „Ja, ganz sicher. Paul hat einen starken Willen. Wenn sie nicht überlebt dann weiß ich auch nicht.“ Kurz drückte Lydia Lucas Hand, dann gingen sie getrennte Wege.
„Joy Merlins zu finden ist als würde man die Nadel im Heuhaufen suchen. Total aussichtslos“, meinte Alex entmutigt zu Mathilde. „Papperlapapp!“, entrüstete sie sich, „Wir müssen diese schlimme Person finden. Für Paul.“ „Ja, es ist sogar ein Video zu sehen wie Paul niedergeschossen wird und darunter steht wer es war. Auch ein Bild ist dabei. Ich hoffe einfach, dass Joy gefasst wird. Mit der Gewissheit zu leben, dass ein Mörder in der Gesellschaft frei herumläuft jagt mir Schauer über den Rücken, wenn du verstehst was ich meine“, seufzte Alex. „Da bist du nicht der Einzige!“, gab ihm Mathilde Recht. Eine Weile saßen sie still da. Dann meinte Mathilde: „Komisch, dass die ganzen Leute wie Marie Gold einfach so leben konnten ohne entdeckt zu werden. Was sie für ein Risiko eingegangen sind und dass Susanna sich auch noch für sie geopfert hat! Da hängt mehr dran als auf den ersten Blick es aussieht. Hoffentlich bleiben keine bleibenden psychischen Schäden. Das würde ich mir nie verzeihen!“ Alex stimmte ihr voll zu. „Ich weiß was du meinst. Gegen Joy Merlins werde ich persönlich die Verhandlung führen, man muss dieser Person endlich das Handwerk legen!“ „Ja, man hätte sie besser suchen müssen als damals ihre Eltern umkamen oder sie hätte zur Polizei laufen müssen und ihre Ermittlungen erzählen müssen. Man hätte ihr ja nicht den Kopf abgerissen“, meinte Mathilde. „Ach, hättest du auf Eine gehört, die kaum älter als 14 Jahre alt ist? Nein, nein, wir hätten sie ignoriert, da bin ich mir sogar fast sicher.“ „Mmh...“ Wieder Stille.
„Das es immer so weit kommen muss“, meinte Alex traurig. Mathilde stimmte ihm im Stillen zu, dann schlug sie vor: „Lass uns doch einmal in der Klinik anrufen wie es Pauline Meißner geht und ob sie durchkommt.“ „Ich würde mir keine allzu großen Hoffnungen machen“, sagte Alex mutlos, doch Mathilde war empört: „Man muss wenigstens anrufen, sonst weiß man es ja nicht und ich glaube, dass Pauline Meißner mit ihrem Dickkopf überlebt. Ganz sicher.“ „Du hast ja Recht“, beschwichtigte Alex sie und griff zum Hörer.
„Guten Tag, hier ist die Rosenberg-Klinik, Notfallzentrum, was kann ich für Sie tun?“, meldete sich eine weibliche Stimme am Apparat. Sofort fragte Alex: „Vor ein paar Minuten wurde Pauline Meißner eingeliefert, ein Kugelschuss in der Nähe vom Herzen. Hat man schon was herausgefunden? Lebt Pauline noch?“ „Wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“ „Alexander, also der Richter in den Fällen Pauline Meißner.“ „Natürlich“, sagte die Stimme schnell, „Frau Meißner lebt noch, aber ihr Puls ist schwach und sie wurde in ein künstliches Koma versetzt. Weitere Details darf ich Ihnen nicht sagen. Rufen Sie noch einmal in zwei Stunden an, dann kann ich es Ihnen wahrscheinlich ausführlicher erläutern.“ „Vielen Dank“, verabschiedete sich Alex und legte auf. Erwartungsvoll sah ihn Mathilde an. „Sie liegt im künstlichen Koma“, informierte Alex sie. Mathilde nickte, unfähig etwas zu sagen.
„Es bringt nichts in kleinen Gruppen zu suchen“, meinte Susanna traurig. Seit fast drei Stunden suchten sie jetzt schon die Stadt ab. Man hatte sofort überall Warnungen durchgegeben, doch noch hatte sich niemand gemeldet. Gleichzeitig hatte man angeordnet, dass jeder bitte sofort nach Hause fahren soll außer die Feuerwehr, Krankenschwestern und Polizei und die ganzen anderen wichtigen Berufe. Doch es war nicht bei allen angekommen und so wurde die Suche erheblich schwerer.
„Wir müssen in einer Gruppe bleiben“, schlug jetzt Luca vor, der, seit er wusste, dass Paul ihn immer noch liebte, wider Hoffnung hatte und alle mit ansteckte.
„Das bringt alles nichts. Vielleicht schreibt Prince uns ja mal“, versuchte Micha die Situation zu beruhigen. Dennis war langsam wütend: „Wir hätten ihr nie vertrauen dürfen. Schon damals bei Hannes hätten wir wissen müssen, dass wir uns in Acht nehmen müssen. Die Einzige, die es verstanden hat war Paul, aber jetzt ist das ja auch egal.“ Wütend trat er gegen einen Laternenpfahl. Xenia streichelte ihm beruhigend über den Rücken: „Wir hatten viel zu viel Angst. Wir hätten sowieso keine Bleibe dann noch gehabt.“ „Aber Prince hätte nicht alle umbringen können!“, fauchte Dennis, „Ohne unsere Hilfe hätte sie vermutlich kapituliert.“ „Du weißt selber, dass sie es nicht gemacht hätte“, meinte jetzt auch Susanna, „Prince ist unberechenbar, das haben wir alle am eigenen Leib gespürt.“ „Wir finden Prince!“, mischte sich jetzt auch Gabriela ein, „Das sind wir Paul schuldig!“ „Was wir Paul angetan haben können wir nie wieder gutmachen“, fand Susanna, „wir können nur hoffen, dass sie uns verzeiht. Dann sind wir frei.“ „Nein, ich werde nie wieder frei sein, egal, wie oft Paul sagt, dass wir unschuldig sind“, spie Dennis aus, „wir haben keine Zukunft. Ich habe keine Zukunft!“ „Sag so etwas nicht, Dennis!“ Xenia schluchzte und legte ihre Hand auf Dennis´Arm, der schüttelte ihn nur ärgerlich ab. Gabriela zog Xenia weg und nahm sie in die Arme. Dort weinte sie hemmungslos.
„Leute, hört auf.“ Niemand hatte gemerkt, dass Lydia dazu gekommen war. „Ich war die Letzte, die mit Paul ein bisschen Zeit verbringen durfte und ich bin mir sicher, dass sie nicht wollte, dass ihr solche Schuldgefühle habt. Die Einzige, die Paul zur Rechenschaft zieht, ist sie selber. Sie hätte aussteigen können, schon am Anfang. Ihr könnt euch keine Vorwürfe machen, weil euch keine Schuld trifft. Jeder ist für sein Schicksal selbst verantwortlich.“ „Aber wer hätte denken können, dass sie mit dem Leben bezahlen muss!“, schrie Dennis wütend und Tränen rollten über sein Gesicht. Er gab sich noch nicht einmal Mühe sie wegzuwischen. Lydia blieb ruhig: „Das konnte niemand ahnen und dass ist weder deine, noch Pauls Schuld. Prince, das heißt Joy Merlins, hat Paul angeschossen, nur sie kann für diesen Schuss verantwortlich gemacht werden.“ Micha wollte protestieren, doch Lydia legte ihren Zeigefinger an den Mund und zeigte ihr so, dass sie still sein sollte. Ohne ein Wort gesagt zu haben schloss Xenia den Mund wieder. „Auch wenn Joy fiel Leid in de Vergangenheit erfahren hat, hatte sie kein Recht euch da mit reinzuziehen. Sie hätte sich andere Hilfe suchen müssen oder selbst mit den Sachen klar werden müssen. Was sie getan hat ist verantwortungslos.“ „Aber es ist nicht zu rechtfertigen was man Prince´, äh, Joys Familie angetan hat!“, schluchzte Xenia auf und klammerte sich weiter an Gabriela. „Seid ihr daran Schuld, was Joys Familie widerfahren ist? Habt ihr sie kaltblütig erschossen? Nein, das habt ihr nicht. So schlimm es auch sein mag, Joy hätte Betreuung gebraucht. Freunde können da nicht viel ausrichten. Hört auf euch Vorwürfe zu machen und geht nach Hause. Die Polizei wird auch alleine weiter suchen können.“ Aufmunternd nickte Lydia den Jugendlichen zu und dann ging einer nach dem Anderen nach Hause.
„Wir können froh sein, dass sie Jugendliche so gut einschätzen können“, meinte einer der Polizisten, der das Gespräch mitbekommen hatte. „Ja, aber lassen sie beantragen, dass sie Jugendlichen in Betreuung kommen, bitte. Wenn es sein muss mache ich das auch.“ Unruhig sah Lydia den Freunden von Joy Merlins hinterher. Kurz drehte sie sich noch einmal zu dem Polizisten um: „Bitte lassen Sie Dennis überwachen. Ich möchte nicht, dass ihn etwas zustößt.“ „Ja, na klar“, beeilte sich der Polizist zu sagen und eilte weg.
Lydia, Alex, Mathilde und die Jugendlichen saßen um einen Tisch herum im Gerichtsgebäude. Alex hatte alle anderen Fälle abgesagt und sich nur für diesen Fall bereit gehalten.
„Was wisst ihr von Joy Merlins?“, wollte Alex von den Jugendlichen wissen. Verständnislos sahen sich die Fünf an. „Kennt ihr Joys Familie?“, half der Richter nach. Wieder ein verwirrter Blick. Dann fing Susanna an: „Joy hatte einen kleinen Bruder und eine kleine Schwester, erzählte sie mir mal. Mehr weiß ich nicht.“ Alex nickte: „Wisst ihr was von Zarina Merlins?“ Niemand wusste, was er meinte. Xenia lehnte sich an Dennis, der sich beruhigt hatte und ihr einen Arm um die Schultern legte. „Lydia, bitte, Sie können das am besten erklären“, bat Alex sie. Schon holte Lydia eine grüne Matte hervor und machte sie auf. Zu sehen waren Bilder von Personen.
„Das hier“, erklärte Lydia und legte zwei fast gleich aussehende Mädchen auf den Tisch, die vielleicht fünf Jahre alt waren, „sind die Zwillinge Joy und Zarina Merlins. Beide leben bei ihren Eltern und sind unzertrennlich. Sie haben fast dieselben Hobbys, auch denselben Freundeskreis und mögen dieselben Sachen. Oft gehen sie gleich angezogen aus dem Haus, sitten zusammen die kleineren Geschwister oder nehmen sich die Arbeit ab. Steckbriefe und Referate machen sie zusammen, sie haben sogar dieselbe Handschrift. Beide sind nett, hilfsbereit, schüchtern. Und sie gleichen sich auf´s Haar. Sogar die Eltern verwechseln sie manchmal.“ Während des Erzählens hatte Lydia weitere Bilder auf den Tisch gelegt auf denen Zarina und Joy zu sehen waren.
„Und dann macht Zarina etwas, was sie noch nie getan hat. Sie geht alleine aus dem Haus zu einer Freundin. Ohne ihre Zwillingsschwester. In dieser Nacht wird die Familie ermordet.“ Ein Bild von der Polizei am Tatort kommt dazu. „Nur Eine wird nicht getötet: Zarina. Als sie nach Hause kommt flieht sie sofort und macht sich ziemlich große Vorwürfe, dass ihre Schwester nicht auch überlebt hat. Immer mehr versinkt sie in Gedanken. Je mehr sie nachdenkt, umso ungerechter findet sie es, dass sie und nicht Joy überlebt hat. Dann denkt sie an das Camp wo sie mit Joy war und dass Joy sich immer mit sieben Anderen getroffen hat, mit euch. Sie nimmt zu euch Kontakt auf, schreibt in Joys Namen weiter Briefe und schwört sich, dass sie sich in Joys Namen rächen wird.“ Das Bild vom Sarg von Joy taucht auf. Sie sieht wirklich aus wie Zarina. Kein Wunder, dass die Fünf sie nicht erkannten.
„Zarina ist jetzt da draußen und versucht zu fliehen, damit Joy weiterleben kann.“ Lydia schwieg und alle sahen ergriffen auf die Bilder. Wie friedlich doch alles aussah. Freudestrahlend standen Joy und Zarina auf einem Bild mit Zuckertüte und rosa Kleidchen vor einer Tafel und lächelten in die Kamera. Vorne fehlten ihnen ein paar Zähne und sie hatten zwei Zöpfe, die lustig auf ihrem Kopf wippten. „Ob Zarina da schon wusste, dass sie mal Leute umbringen würde?“, überlegte Micha und wollte nur noch so schnell wie möglich zu Paul um sie vor dem kleinen Mädchen zu beschützen. Wahnsinn, was in ein paar Jahren alles passieren konnte. Niemand hatte etwas geahnt. Niemand.
Da klopfte es. „Herein!“, rief Alex. „Entschuldigung“, bat ein dicker, kleiner Polizist, „wir haben die Gesuchte gefunden. Soll ich sie hereinbringen?“ „Ja, bitte“, willigte Alex schnell ein und herein kam Zarina Merlins alias Prince, ganz in schwarz gekleidet. Dennis sprang sofort auf als er sie sah, doch Micha und Xenia zogen ihn wieder auf seinen Stuhl zurück. Mürrisch setzte er sich wieder. „Warum hast du das gemacht?“, fragte Susanna. Zarinas Lächeln war warm als sie sagte: „Für Joy.“ „Und für Joy mussten auch Hannes und Paul sterben?!“, rief Gabriela unter Schluchzen. „Sie hätte mich verraten und mit mir Joy. Das konnte ich nicht zulassen“, antwortete Zarina. „Du Mörderin!“ Dennis schrie einfach nur und wollte wieder auf Zarina losstürzen, im letzten Moment konnten es Micha und Xenia verhindern. „Ihr habt nie etwas gegen mich gesagt, weil ihr zu viel Angst hattet. Niemand hat seinen Mund aufgemacht“, warf Zarina ein. „Ja“, bestätigte Susanna, „weil du den Protest im Keim erstickt hast. Wir hatten keine Chance zu Wort zu kommen, du warst ja überall um uns den Mund zu verbieten, schlimmstenfalls mit der Pistole. Denkst du, wir riskieren unser Leben für eine Meinung?!“ „Paul hat es getan“, meinte Zarina. Sie wirkte viel normaler als sonst und schien auch nüchtern zu sein in ihrer Meinung und ihrem Befinden. Anscheinend hatte sie verstanden was auf dem Spiel stand. Doch es war ziemlich spät, vielleicht zu spät.
„Paul hat mit dem Leben bezahlen müssen, weil du sie unbedingt bedrohen musstest. Dafür bekommst du lebenslänglich, wenn du Glück hast!“, sagte Micha wütend. „Ja, ihr habt Recht. Es war blöd.“ Mit gesenktem Kopf stand Zarina im Zimmer. „Warum ist sie jetzt so vernünftig?“, fragte Xenia sich. Das war so gar nicht Zarinas Art.
„Lassen Sie Zarina sich setzen“, bat Lydia und schob einen Stuhl an ihre rechte Seite. Die Beamten ließen Zarina los und langsam ging sie zu Lydia. „Setze dich, Zarina.“ Nett lächelte Lydia Zarina an. „Wann hast du verstanden, dass es nicht mehr geht?“, wollte sie von Zarina wissen. „Als ich vor Clemens stand. Er hat mir ins Gewissen geredet. Ich wollte Paul nicht töten, sie nur warnen falls sie mich vor hat zu verpetzen“, antwortete Zarina und starrte auf die Tischplatte auf der noch die ganzen Bilder waren. Nachdenklich nahm sie ein Bild davon in die Hand. Es war das Bild vom Schulanfang. Vorsichtig streichelte Lydia über Zarinas Rücken. „Das warst du, Zarina. Kannst du dich noch an die Zeit erinnern?“ „Ja, ein bisschen“, gab Zarina zu, „aber sie ist immer und immer mehr verblasst. Doch aufgeben konnte ich nicht mehr. Also habe ich es zu Ende geführt. Gestern habe ich eine Bombe in das Haus der Mörder meiner Familie gelegt. Sie wird nicht zünden. Ich habe sie entschärft.“ Traurig senkte Zarina den Kopf. „Das hast du toll gemacht“, lobte Lydia sie, „denn das war der erste Schritt alles einzusehen. Ich denke, dass du verurteilt wirst, aber dass du wieder rauskommst und dann von Neuem anfangen kannst. Aber jetzt musst du deine Freunde fragen ob sie dir verzeihen.“ Niedergeschlagen schaute Zarina auf den Tisch: „Wie sollten sie mir verzeihen? Ich habe alles kaputt gemacht, habe das Vertrauen zu Joy missbraucht.“ „Frage sie trotzdem“, munterte Lydia sie auf. „Könnt ihr mir verzeihen?“ Zarina blickte langsam von Einem zum Anderen. Dennis sah weg, seine Augen blitzten gefährlich. „Ja, ich verzeihe dir“, meinte Susanna als Erste. „Ich glaube, Dennis und ich können dir nicht verzeihen. Wir waren schon so lange zusammen und hätten ein schönes Leben haben können was du uns zerstört hast. Es tut mir Leid, Zarina, mein Vertrauen in dich ist weg. Können wir gehen?“ Xenia sah abwartend zum Richter und der sah zu Lydia. „Ja, geht. Ruft zu Hause an und trefft eure Familie wieder. Ein Verfahren wird wahrscheinlich auf euch zukommen, aber es wird schon nicht sehr schlimm ausgehen.“ Die Brünette nickte und zog Dennis mit sich. Ohne ein weiteres Wort verließen sie den Raum. Über Zarinas Gesicht flossen Tränen. „Damit hast du rechnen müssen“, meinte Lydia und nahm Zarina in den Arm. „Was ist mit euch?“, wollte Zarina wissen und sah Micha und Gabriela an. „Tut mir Leid, ich muss passen“, sagte Micha, stand auf und verließ das Zimmer. „Gabriela?“ „Wir haben so viel Leid durch dich erfahren, Zarina. Wenn du dich gebessert hast bin ich wieder für dich da, versprochen. Ich gebe dir auch meine Adresse, aber jetzt muss ich an die Luft und alles verdauen. Sei mir nicht böse.“ Gabriela nahm einen Stift und schrieb eine Adresse auf, die sie Zarina rüberschob. Dann nahm sie ihre graue Jacke vom Stuhl und ging aus der Tür.
„Ich glaube, Susanna ist nicht die Einzige die weiterhin für dich da sein wird. Eine deiner engsten Freundinnen liegt gerade im Krankenhaus im künstlichen Koma. Sie wird dir auch verzeihen“, sagte Lydia. „Paul? - Nein, die hasst mich bestimmt und will nie wieder was mit mir zu tun haben.“ „Hast du eine Ahnung!?“ Die Tür ging auf und Paul wurde von zwei Sanitätern reingebracht. Ein schwaches Lächeln sah man auf Pauls Gesicht. Susanna stürzte sofort zu ihr und umarmte sie.
„Wie geht es dir, Paul?“, fragte Lydia und kam auf sie zu. Paul setzte sich auf einen Stuhl und sagte: „Ich werde es nicht überleben, aber ich habe noch fünf Stunden zu leben.“ Zarina weinte: „Es tut mir alles so leid, ich wollte dich doch nicht töten!“ „Ich weiß“, lächelte Paul, „und jetzt komm her und lass dich drücken!“ „Du willst mich umarmen, obwohl ich dir den Tod bringe?“, wollte Zarina ungläubig wissen. „Ja“, antwortete Paul und Zarina stand auf und umarmte Paul fest.
„Ich möchte, dass du in Zukunft auf dich aufpasst. Vom Himmel aus werde ich immer zu dir herunter schauen und hoffen, dass es dir gut geht. Dann werde ich die Fäden ziehen von oben und ich werde Joy besuchen und ihr von dir erzählen. Vielleicht sitzt sie ja schon da oben und findet es schrecklich was du gemacht hast“, meinte Paul. „Oh, danke, Paul, danke, dass du mir verzeihst. Das ist so... großherzig!“, murmelte Zarina und umarmte Paul noch einmal. „Tja, in ein paar Stunden habe ich kein schlagendes Herz mehr“, witzelte Paul. „Wie kannst du jetzt nur darüber Witze machen?!“, fragte Susanna ungläubig. „Warum sollte ich die letzten Stunden keinen Spaß haben? Ich werde jetzt meine Familie besuchen, mich bei allen bedanken, die für mich da gewesen sind, eine Videobotschaft für meine Fans in allen Städten drehen und Luca meine Liebe gestehen. Mehr kann ich nicht machen. Mein Dasein ist jetzt begrenzt und ich möchte alles machen was ich schon lange machen wollte. Millionär kann ich nicht mehr werden, auch kein berühmter Autor oder Sänger, kann kein Superzeugnis bekommen und meiner Klassenlehrerin keinen nassen Schwamm auf den Stuhl tun, auch kein kleines Café besitzen oder ein Haus entwerfen, deswegen werde ich jetzt die wichtigsten Sachen machen, die mir über alles bedeuten und die mir lieb sind.“ Fröhlich lächelte Paul Zarina an und die Beiden drückten sich noch einmal. Danach meinte Paul zu den Sanitätern: „Wenn Sie mich doch bitte zu meinen Eltern fahren würden, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Aber vorher muss ich mich noch bei Lydia bedanken. Ohne sie wäre ich jetzt nicht hier. Danke, Lydia. Du hast mir so viel beigebracht. Bitte helfe meinen anderen Freunden auch, wie du mir geholfen hast. Sie können die Hilfe jetzt besser gebrauchen als ich.“ Ein Lächeln huschte über Pauls Gesicht. „Ich werde es tun, Paulchen. Ich werde deinen Freunden helfen“, versprach Lydia und kam zu Paul um sie zu umarmen. „Lydia?“ „Ja?“ „Kannst du veranlassen, dass zu meinem Begräbnis ein unechter Blumenstrauß auf dem Sarg liegt? Ich habe mir immer unechte Blumen gewünscht, aber nie welche bekommen. Den Strauß möchte ich von dir haben, du kennst mich am allerbesten.“ „Das ist mir eine Ehre, Paul“, sagte Lydia leise und betrachtete das Mädchen vor sich. Wie erwachsen sie war. Sie würde dem Tod trotzen, da war sie sich sicher. Paul war eine von denen, die selbst im Tod noch lebendig waren und bei allen im Kopf geisterten. Ihr Handeln und Leben war ein Denkmal gewesen für viele Andere, es hatte gezeigt, dass man immer zu seinen Freunden stehen musste, egal was war, aber auch, dass, wenn die Freunde sehr großen Unsinn anstellten, man sie verpfeifen musste um ihnen zu helfen.
Eine schöne Moral – mit einem tragischen Ende.
Die Sonne schickte ihre letzten Strahlen aus, der letzte Sonnentag der Woche erstrahlte und doch war allen Leuten, die heute im schwarzen Anzug und dem Sarg mit Pauls Leiche gingen, so gar nicht zum Feiern zumute.
Es waren viele gekommen. Nicht nur aus Chemnitz. Nicht nur die engsten Freunde, sondern auch Leute, die Pauls Handeln für gut empfunden hatten, die schon lange Fan von Paul gewesen waren und ihre letzte Botschaft empfangen hatten. International war ihr Video bekannt geworden. Sogar Ausländer begrüßte man auf der Begräbnisfeier. Und alle hatten schwarze Kleider und Jacketts an, Rosen in der Hand, Taschentücher dabei.
Ganz vorne ging Pauls Familie. Die Mutter weinte sehr. Ihr Gesicht war sehr eingefallen und sie hatte deutlich abgenommen, dabei war Pauls Tod noch gar nicht solange her. Jana Meißner hielt sich an ihrem Mann fest, der langsam neben ihr Schritt und um sie einen Arm gelegt hatte.
Hinter ihnen kamen auch schon Pauls Geschwister: Katharina, Niklas und Annika. Katharina trug eine schwarze Hose und eine schwarze Bluse mit einem schwarzen Jackett. In der Hand hielt sie einen großen Rosenstrauß. Sie war nicht geschminkt seit fünf Jahren und Tränen flossen unaufhörlich. Niklas war im Anzug. Er trug einen besonders schönen Stein, den er Paul vor vielen Jahren geschenkt hatte und ihr jetzt mit ins Grab geben wollte. Annika hatte ein Kleid mit Strumpfhose an. In ihrem wuscheligem Haar war eine schwarze Schleife und in der Hand hatte sie ein Bild von sich und Paul, was sie vor nicht einmal einem halben Jahr geschossen hatten. Auf dem Bild hatte Paul einen langen Kapuzenpullover an und eine ausgewaschene Jeans. Ihre Augen funkelten vor Lebensfreude und sie hatte rote Wangen. Eines der letzten Bilder mit Paul.
Hinter der Familie kamen Luca, Lydia, Susanna, Zarina und Kai. Luca hatte ein Herz mit auf dem ein Gruß an Paul draufstand. Dazu hatte er eine rote Rose gekauft und eine Tulpe, Pauls Lieblingsblume.
Lydia hatte ein Bild von der Ostsee mit, die letzte Erinnerung an Paul.
Susanna hatte ein großes Plakat mitgebracht. Darauf standen Sprüche der anderen Freunde, die nicht gekommen waren, weil sie den Schock nicht so richtig verkraftet hatten. Dennis war zur Zeit in einer Klinik, da er Selbstmord gefährdet war und Xenia hatte einen Schock und lag im Krankenhaus. Micha und Gabriela fühlten sich noch nicht wieder bereit Paul im Sarg zu sehen, nachdem sie quasi in ihren Armen gestorben war.
Zarina hatte einen schwarzen Schleier vor dem Gesicht und hatte die Pistole in Papier eingewickelt mit der sie Paul in den Tod geschickt hatte. Daran hatte sie viele Zettel mit Wünschen für sie, Entschuldigungen und Danksagungen geheftet. Dazu hatte sie viele Blumen mitgebracht, einen dicken Strauß aus Tulpen, Sonnenblumen, Farnen und weißen Rosen.
Kai hatte ein riesiges Herz mit und viele Blumen. Seine Miene war versteinert, die Trauer zeigte sich in unzähligen Falten, die er in den letzten Tagen bekommen hatte. Für ihn war es mit am schlimmsten: Erst hatte er seine Frau verloren und dann seine nächste Liebe. Schlimmer hatte es für ihn nicht kommen können.
Die restliche Gesellschaft hatte viele Blumen mitgebracht, Topfpflanzen für das Grab und große Plakate, die man aufheben wollte. Ein paar von der Presse waren auch da, Deutschland und die Welt bewegte das Ereignis sehr und die Medien hatten kaum ein anderes Thema. Dass die Mörderin auch noch am Grab stehen durfte rief natürlich am meisten Protest hervor. Wie konnte man eine solch böse Person zum Grab mitgehen lassen? Das war doch alles nur Show. Aber niemand war dabei gewesen. Niemand hatte Paul so gut gekannt, dass man das könnte beurteilen. Die Leute forderten eine Erklärung, doch Zarina schwieg.
Der Pfarrer schritt vorne weg. Paul hatte sich eine christliche Bestattung gewünscht. Die Sargträger ließen den Sarg in das Grab herunter und der Pfarrer sprach ein Gebet: „Lieber Gott, in deinem Namen sind wir hier versammelt um um die verstorbene Pauline Meißner zu trauern. Sie starb im Alter von sechzehn Jahren, sechs Monaten und 13 Tagen. Nehme sie in deinem Reich auf und behüte sie gut...“ Viele fingen an zu weinen. Sogar der Pfarrer hatte Tränen in den Augen. So etwas emotionales hatte er schon lange nicht mehr gehabt. Vor allem nicht mit so vielen Menschen. Man hatte sich deswegen auch entschlossen gleich am Grab zu trauern und nicht in die Kirche zu gehen, da keine fünfhundert Leute in die Kapelle passten.
Das Trauerlied, dass der Kantor anstimmte wurde am Ende doch nur ein Schluchzen von allen.
Lydia trat vor und begann eine Rede zu halten: „Ich begrüße alle recht herzlich zu dieser Beerdigung. Jeder hier kennt Pauls Taten und ihr Handeln, doch nur wenige unter uns kennen sie auch persönlich. Ich hatte das Vergnügen mit ihr. Sie hatte eine starke Persönlichkeit, wusste, wie man sich durchsetzt. Ihr Leben hat vielen imponiert.
Paul begegnete mir als sie gerade Hilfe suchte und ich versuchte, sie so gut wie möglich auf ihrem Weg zu begleiten. Sie ahnte schon die ganze Zeit, dass der traurige Termin ihr Todestag werden könnte. Und trotzdem ging sie los um ihr Ziel zu verfolgen und ihrer Freundin zu helfen aus dem Schlamassel herauszukommen. Sie hat es geschafft und ich glaube nicht, dass sie unglücklich starb. Paul wusste, was sie tat, immer. Vielleicht blieb sie auch extra stehen als man auf sie schoss. Ich kann jetzt nur hoffen, dass sie gut da oben aufgehoben ist und noch ein paar Probleme klären kann, denn so wie ich Paul kenne gibt sie nicht auf. Auch nicht wenn sie tot ist. Deswegen sollten wir nicht traurig sein und dafür beten, dass es ihr gut geht. Vielen Dank.“ Lydia ging wieder unter die Menge. Nun kam Kai dran. Langsam löste er sich aus der Menge. „Ich schließe mich den Worten meiner Vorgängerin an, Paul war einzigartig. Mein Herz war immer bei ihr, seit ich sie kenne und auch jetzt. Mit ihr Zeit verbringen zu können ist der größte Schatz, den Paul mir hinterlassen konnte. Auch wenn sie meine Liebe nicht erwidert hat möchte ich ihr doch für die Stunden mit ihr danken und sagen, dass ich keine davon bereue. Sie zeigte mir, dass ich mehr kann wenn ich nur möchte, dass ich jemand bin und dass jeder Mensch wichtig ist. Danke.“ Kais Stimme versagte und er mischte sich wieder unter die Menge. Auch die Eltern sprachen noch ein paar Worte und die ganze Gemeinde war ergriffen.
Später bei der Feier wurde die Stimmung etwas besser. Zarina durfte nicht mitfeiern, auch wenn es ein ausdrücklicher Wunsch von Paul gewesen war, dafür bekam sie aber eine Live Aufnahme davon mit.
„Ich vermisse Paul so“, sagte Luca in einer ruhigen Minute zu Lydia. „Ich weiß“, lächelte Lydia traurig, „ich vermisse sie auch. Aber lass die Toten ruhen. Paul ist jetzt dort oben.“ Sie zeigte zum Himmel. „Und vielleicht schaut sie jetzt zu uns runter und sieht, dass du traurig bist. Das würde sie doch auch nur traurig stimmen. Gib dir einen Ruck und fange an mit feiern, sonst hast du es endgültig verpasst.“ In Lucas Blick waren noch Zweifel, aber Lydia schickte ihn weg. Dann ging sie noch einmal raus auf den Friedhof und kniete sich vor Pauls Grab.
„Lieber Gott, ich bitte für Pauls Glück. Ich bitte dich Paul zu trösten, wenn sie unglücklich ist, ihr Ratschläge zu geben, wenn sie ratlos ist und dass du ihr Halt gibst, wenn sie ihn braucht. Lass dieses Grab weiter gut versorgt sein, dass Paul niemals in Vergessenheit gerät und mache der Welt die Augen auf. Denn das ist es was Paul wollen würde und wofür Paul immer gekämpft hat. Amen.“
Tag der Veröffentlichung: 18.09.2012
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Widmung:
Ich widme dieses Buch meinem Vater, weil er immer für mich da ist und mir viele Sachen beibringen kann. Ein Dank an dieser Stelle!