Die Protagonisten in Band I
Anna Grüber, geb. Bergmann, Witwe des Wilhelm Grüber
Gerd Grüber, Sohn der Anna Grüber, seine Ehefrau Lena, und Tochter Ricka,
Lissy Behrendt, geb. Grüber, Tochter der Anna Grüber
Lothar Behrendt, Ehemann der Lissy Behrendt
Söhne: Peter und Georg Behrendt.
Emil Behrendt und Ehefrau Gertrud, Eltern des Lothar Behrendt, Lissys Schwiegereltern.
Vorwort: Geschichte der kleinen Leute
Band II
Das im Jahre 1949 verabschiedete Grundgesetz hatte eine außergewöhnliche Wirkung auf die Bundesbürger.
Diese hatten das Gefühl, nunmehr in die Politk und die Entscheidungen um Wirtschaft, Bildung, Kunst Gerichtswesen, Polizei, Verkehr und Politik einbezogen zu sein.
Allerorten wurde heftig diskutiert. Besonders engagiert waren die Achtzehn…, bis Dreißigjährigen.
Auch die Kriegsteilnehmer über vierzig, die keine lange Gefangenschaft hatten ertragen müssen und die Frauen, die sich bislang zurückgehalten hatten, begannen sich zu informieren
Ältere Kriegsteilnehmer hatten in den meisten Fällen noch nicht die Kraft, politisch zu agieren oder über Tagespolitik zu diskutieren. Sie sagten:
“Wir haben die Schnauze voll!”
Zu viel war auf die, von den Schlachtfeldern oder aus der Gefangenschaft heimgekehrten Soldaten, sowie ihtrn Familien, die unter dem Bombenhagel gelitten und alles verloren hatten eingestürmt…. Die aus ihrer Heimat Vertriebenen hatten ihren gesamten Besitz, und manche auch auf der Flucht ihre Angehörigen verloren… und…
die Heimat zu verlieren, ist wohl die schlimmste aller Erfahrungen…
Die D-Mark war stabil, doch die meisten Menschen hatten geringe Verdienste. Ein Bauarbeiter verdiente pro Stunde ca. 1,80 D-Mark.
Die Lebensmittelpreise waren noch niedrig und Arbeit gab es genug…
Anna bezog eine Niedrigrente von DM vierundsechzig im Monat, und hätte sie nicht die geringen Mieteinnahmen gehabt, wäre es noch viel schlimmer gewesen.
Die Renten waren niedrig und viele Menschen lebten in sehr bescheidenen Verhältnissen. Das ihr Wichtigste war, dass sie das Haus behalten und ein Dach über dem Kopf hatte. Ihre Wohnung…!
Nun aber sollte es aufwärts gehen mit den “Kleinen Leuten”.
Und… - NIE WIEDER KRIEG - war die Parole.
Das konnten die Menschen, die zwei Kriege erlebt und erlitten hatten nicht glauben und Anna, Lissys Mutter sagte:
” DAS HAT ES NOCH NIE GEGEBEN ! “
Lissy sagte voller Elan: “ D O C H ! “ - “ J E T Z T ! “
“Es sollte kommen: “Das Wirtschaftswunder !”
Arbeit, Arbeit, Arbeit
Ein Land im Aufschwung
1950 - 2000
Ja, sie fühlten es alle, das Land…, Deutschland war im Aufschwung!
Die Naziherrschaft war vorbei und kaum einer wollte sich erinnern, dass Deutschland entsetzliches Leid über Europa gebracht hatte. Viele Menschen nahmen die neue Zeit und das politische Geschehen gedankenlos hin. Andere wiederum, die in der Nazizeit ebenso gedankenlos ihre Naziposten bekleidet hatten und denen es gut gegangen war, jammerten heimlich dem Naziregime nach. Zwar hielten sich mit ihren Sprüchen zurück, aber sie hatten nun nichts mehr zu sagen und spürten am Verhalten der Mitbürger, dass die Zeit ihrer Besserstellung vorbei war.
Viele Kriegsgefangene schmachteten immer noch in sibirischen Gefangenenlagern. Doch für die Menschen, die das nicht selbst betraf, war das zu Beginn der fünfziger Jahre weit…, alles schon weit weg.
Die Elendszeit nach dem Krieg, zwischen 1945 bis Ende 1948, wurde als eine Art Bestrafung von der deutschen Bevölkerung hingenommen.
Man konnte nicht unterscheiden, zwischen Tätern und Opfern und so bestraften die Siegermächte, die Deutschen im Kollektiv. Die meisten Deutschen sahen diese Art von kollektiver Bestrafung als gerechtfertigt an, wenngleich sie litten. So aber konnten sie, in dieser Einsicht, die Entrechtung besser ertragen.
Die Bevölkerung der Siegermächte hatte keine Vorteile von diesen Bestrafungsmaßnahmen. Den Menschen ging es schlecht denn die Volkswirtschaften hatten auch in den Siegerländern unsäglich gelitten.
Auch hier waren durch die Kriegsereignisse auf allen Gebieten Engpässe entstanden, denn nichts ist so teuer, wie ein Krieg und Besatzungszeit.
Da werden Gewinner- und Verlierer gleichermaßen ausgeplündert.
Noch schwieriger war es bei den Russen, die in ihren Goulaschkanonen von “Kapusta” lebten und die man mit Wodka und Machorka ruhig stellte.
Allerdings war wieder eine Reihe von Verbrechern und Mitläufern verschont geblieben aber es war schwer, die Spreu vom Weizen zu trennen. Alle hatten praktiziert, was Brecht schrieb:
“Erst kommt das Fressen und dann die Moral!”
Diese Erkenntnis war nicht neu, doch nie so konsequent ausgesprochen worden.
Mit sentimentalen Sprüchen von Treue und Vaterlandsliebe wurden seit eh und je diejenigen gefüttert, die nicht viel hatten und klein gehalten wurden, von denen, die sich an der Armut der Untertanen mästeten.
Annas Spruch…, “Geld regiert die Welt” bewahrheitete sich immer wieder und was blieb den Kleinbürgern auch anderes übrig als zu kuschen. Gegen die Übermacht des Geldes und der damit verbundenen Macht war schlecht anzukommen.
Jedoch waren die nun etablierten Parteien, CDU, SPD, und die Liberalen, wie vor allem die Gewerkschaften eifrig bemüht, neue Gerechtigkeiten zu schaffen. Viele Menschen, die vom Nationalsozialismus mehr oder weniger überrollt worden waren sagten: “Ich gehe nie wieder in eine Partei!”
Andere sagten:
“Ich war nie in einer Partei, und ich war kein Mitläufer bei den Nazis, aber ich bin genau so durch die Mühle gedreht worden, wie die ganze unschuldige Bevölkerung! Jetzt bin ich wieder genau so arm und verschlissen, wie vor dem Krieg!”
Anna sagte: “Jetzt geht es uns jedenfalls besser als im Krieg und besser als in den schrecklichen Jahren zwischen Fünfundvierzig und der Währungsreform. Jetzt brauche ich nicht mehr um einen Schuhbezugschein zu betteln und auch nicht auf leer geräumten Feldern Ähren suchen, denn…, endlich…, ab der Währungsreform, endlich mussten wir nicht mehr hungern und frieren und endlich sieht man nicht mehr rechts und links, Menschen an Unternährung und unbehandelten Krankheiten, elend zu Grunde gehen!”
Die wirklich Schuldigen und die Mitläufer der Nazi- Regierung hielten sich bedeckt und mancher glühende Nationalsozialist blieb in Amt und würden, auch, weil es noch nicht genügend demokratisch ausgerichteten Nachwuchs gab. Es musste ja weiter gehen mit der Kommunalpolitik…
Die großen Verbrecher waren abgeurteilt und die kleinen hielten sich geschlossen und hofften nicht erkannt zu werden. Manche hatten es auch geschafft, auf irgendeine Art nach Übersee, oder unter falschem Namen ins europäische Ausland zu gelangen.
Nun machte sich ein gewisses Luxusstreben breit und Angeberei wurde groß geschrieben.
“Haste was, dann biste was…!”
Man wollte etwas mehr sein und und scheinen. Es war interessant zu beobachten, wie sich nach der “Hungersolidarität”, elitäres Verhalten zu regen begann. Es gab “Vermögende”, die es verstanden hatten, ihre Besitztümer zu verstecken oder ins Ausland zu verbringen. Sie begannen sich von den Ärmeren abzuschotten und bildeten schon wieder eine Gesellschaftsschicht der Besitzenden, die es verstanden, die Arbeitskraft derjenigen auszunutzen, die noch nicht den Sprung zu den besser Verdienenden geschafft hatten.
Dadurch, dass die Rundfunkprogramme umfangreicher wurden und nun auch schon ein noch relativ kleiner Teil der Bevölkerung im Besitz eines Fernsehgerätes war, hatte sich der Informationsfluss enorm erweitert. Man sprach in der Straßenbahn nicht mehr von Lebensmittelmarken, sondern vom Fußball, Handball und bald auch vom Eishockey. Auch dem Reiten kam wieder eine besondere Bedeutung zu und Reittourniere in Aachen wurden geplant. Galopprennbahnen wurden Instand gesetzt und Tennisplätze gepflegt.
Ein großes Ereignis waren die olympischen Sommerspiele in Helsinki im Jahre 1952. Die westdeutschen Sportler durften erstmalig wieder teilnehmen und errangen sieben Silber- und siebzehn Bronzemedaillen. Der berühmte Emil Zatopek aus der Tchechoslowakai gewann in drei Disziplinen, 5000m, 10 000m, und im Marathon je eine Goldmedaille. Die Übertragungen hörten sie im Radio. Man nannte Zatopek auch: "Die Dampflock", weil er unsäglich laut hechelte. Man nahm an den sportlichen Ereignissen teil und wollte leben..., einfach nur leben und genießen, was man so lange entbehrte, oder auch noch nie gehabt hatte. Da galt wieder das Wort der Reporterin, die in den USA gelernt hatte:
"Aus giftigen Blüten Honig zu saugen... ! "
Es wurde auch "viel Wind" gemacht und oft war nichts dahinter, wenn mit großen, deutschen Automarken oder amerikanischen "Schlitten" den braven Bürgern Sand in die Augen gestreut wurde.
Zuerst waren es Schwarzhändler, dann Rauschgifthändler oder Devisenschieber, die diese Kraftfahrzeuge fuhren. Dieses "trübe Fett" schwimmt immer oben.
Doch wuchsen auch in soliden Kreisen die Wünsche nach den Luxuswagen und Lothar meinte, dass es auch nicht gut zu seinem Image passe, dass er bei den großen Firmen, als deren Berater..., neben Mercedes, BMW und Porsche mit seinem Volkswagen aus dem Jahr 1949 parkten musste. Ironisch wurde er gefragt, ob er so sparsam sei und tief stapeln wolle? Scherzhaft auch, seine Honorare seien doch gar nicht so klein!
Solche Sprüche quittierte er mit einem viel sagenden Lachen, denn er brauchte ihnen nicht auf die Nase zu binden, dass er noch immer hohe Bankschulden hatte. Lissy sagte: "Mit anderer Leute Geld, lässt sich gut rechnen...!" Der Wunsch nach Mercedes Benz wurde groß, aber damit musste er noch eine Weile warten, wenngleich einer der Mandanten eine Mercedesvertretung hatte, und ihm mit Angeboten in den Ohren lag.
Zwei Jahre bestand nun die Steuerberaterpraxis, die Lothar führte und die Lage wurde besser. Termine konnten dank des Volkswagens besser wahr genommen werden und für Lissy war die Arbeit leichter geworden, wenn auch alles umfangreicher geworden war. Sie hatte ein großes Pensum zu bewältigen.
Die Wohnverhältnisse hatten sich auf wunderbare Weise verändert und ihre Wohnung und das Büro befanden sich nun auf einer der besten Straßen der Stadt Düsseldorf.
Sie hatten immer noch mit "Soll- Bank- Beständen" zu kämpfen, denn die Renovierungskosten der gemieteten Räume und das Mobiliar, vom Schreibtisch bis zum Küchentisch, hatten Unsummen verschlungen.
Neue Fußböden wurden verlegt, die Glaswolle von den Wänden entfernt und die Büroräume brauchten Telefonanschlüsse und neue Heizkörper.
Das Bauamt hatte entschieden, dass das Balkongitter zu niedrig sei und die Fenster brauchten neues Glas. Wenn man in den Genuss einer solchen Wohnung kam, nahm man alles in Kauf, und die Miete und Nebenkosten kamen noch dazu.
Da die Wohnung zwar ein großes Wohnzimmer aber kein Schlafzimmer hatte, bekamen sie noch die halbe Waschküche, die sich in der vierten Etage befand, dazu. Es musste umgebaut werden und es wurde ein winziges Schlafzimmer mit Dachfenster, Schiebetür und eingebautem Kleiderschrank, den ein junger Schreiner zur Meisterprüfung baute.
Geflammte Birke..., phantastisch...!"
Betten konnten nur Einmeter und neunzig lang sein , sonst hätte man nicht daran vorbei gehen können und zwei Nachtschränkchen wurden in einer Möbelfabrik angefertigt.
Sie fühlten sich wie im Himmel, denn wer hatte schon so eine Wohnung und dazu zwei Büroräume mit schrägen Wänden, zum Garten hinaus und mit eigenem Bad für das Büro?
Sie wurden beneidet, wenn es auch nicht gezeigt wurde.
Während dieser Zeit des Wohnungsumbaues hatten sie auf Matratzen im Wohnzimmer geschlafen. Gekocht wurde auf einer Kochplatte im Büro. Für eine solche Wohnung..., Büroräume in bester Lage..., und dazu noch alles auf einer Etage, nahm man alles in Kauf. Die gute Adresse hatte große Bedeutung für das Geschäft, und es kostete..., und kostete...!
Lissy war froh, nicht mehr auf der Couch schlafen zu müssen.
Sie vergaß nie, wie wohl es tat, wieder in einem richtigen Bett zu liegen und ein Buch..., auf dem neben dem Bett stehenden Nachtschrank ablegen zu können.
Sie konnte nachempfinden wie es den heimkehrenden Soldaten und den Flüchtlingen erging, die endlich wieder den Kopf auf ein Kissen legen konnten.
"Es gibt so vieles was von gedankenlosen Menschen als selbstverständlich hingenommen wird, und was doch das Leben so viel angenehmer macht...!"
Lissy fertigte jeden Monat einen Einnahmen - Ausgaben - Status. und mit Überziehung des Kontos, gelang es immer wieder, den Anforderungen gerecht zu werden. Die Zinsen waren zu dem Zeitpunkt noch nicht so hoch. und alle Selbständigen hatten Schwierigkeiten, die bewältigt werden mussten... Alle hatten diese Probleme, aber niemand durfte das zugeben..
Nach Außen musste alles glänzen...
Durch die unterschiedlichen Existenzen, mit denen sie nun in Berührung kamen, sahen sie viel Leid, Krankheit und finanzielle Not, aber auch rücksichtsloses Vorwärtsstreben. Betrug und Missgunst gab es auf allen Ebenen. Oft konnten die Mandanten auch die Rechnungen nicht bezahlen und ständig mussten "Löcher" gestopft werden.
Mit großem Arbeitsaufwand und Glück waren sie in eine bessere Lebenssituation gekommen. Alles war zu dieser Zeit in Bewegung.
Sie fragten nicht nach Arbeitszeit und Belastung und zu jeder Tages- und Nachtzeit waren sie für die Mandanten erreichbar. Mancher Samstag und Sonntag war verplant und Lothar war unermüdlich.
Lissy war neben der Arbeit als Buchhalterin und Sekretärin auch Hausfrau und Gastgeberin, denn Lothar liebte es, Mandanten einzuladen. Dann war er der ideale Gastgeber und sprühte vor unterhaltsamen Einfällen und Lissy spielte die verständnisvolle Gastgeberin. Sie waren ein gutes Team und eine Zeit lang, waren sie so aufeinander eingespielt, dass es keiner Worte bedurfte. Die Menschen vertrauten ihnen und sie waren stolz auf ihre Arbeit.
Bald fanden nun auch Betriebsprüfungen statt und Lothar schleppte Berge von Unterlagen in die vierte Etage. Stunden lang blätterte Lissy in den Unterlagen und überprüfte die Einnahmen und Ausgaben in den Journalen. Es waren sehr aufregende Tage, denn man wusste ja nie, was die Mandanten im Hintergrund angestellt hatten. Lothar leitete, ganz Chef, und nur von Lissy mit Kaffee versorgt, die Prüfung.
Zum Prüfungsabschluss zog er Lissy wieder hinzu und nutzte so die Kraft, die von zwei beteiligten Personen aus ging. Lissy hatte keine Prüfung erlebt, die nicht gut ausgegangen wäre und manche Holprigkeit wurde durch verbindliches Verhandeln überwunden. Nach Abschluss der Betriebsprüfung gingen sie hin- und wieder zum Essen in die Altstadt.
Dann wurde nicht mehr über steuerliche Dinge gesprochen.
Bald überließ Lothar Lissy die weitere Einstellung von Personal und die gesamte Büroführung und sie stellte eine weitere Buchhalterin und einen Lehrling ein.
Lissy schrieb die gesamte Post, Bilanzen und Steuererklärungen und machte ca. zehn Buchführungen.
Für den Haushalt stellte sie Putzhilfen ein und alles andere für den Haushalt machte sie selbst. Sie fühlte sich jung und stark und endlich hatten sie auch finanziellen Erfolg.
Die Beziehung zu den Freunden aus der Gefangenschaft, deren Ehefrauen und Freundinnen hielten sie aufrecht und oft saßen bis spät in der Nacht zusammen. Da wurde dann viel gelacht, gegessen und getrunken, und manchmal tanzten sie in der Wohnung nach der gängigen Schlagermusik.
Da Lissy auch das Rechnungswesen überwachte sagte sie: "Ich brauche die Bankvollmacht... ! Wann machen wir das?" Worauf Lothar antwortete: "Nein...!" Zuerst sah Lissy ihn verständnislos an und fragte: Wann...?!"
Nach allem, was sie zusammen aufgebaut hatten, war es für sie eine Selbstverständlichkeit, denn die Postscheckvollmacht hatte sie schon lange und sie war wirklich empört und gekränkt. Er wollte sie abhängig machen, wenn auch nur wegen dieser Bankvollmacht.
Lissy fand das peinlich und es setzte ihn in ihren Augen herab.
Er klammerte sich an diese "Alleinherrschaft" was Lissy lächerlich vorkam und doch nahm sie alles hin, um die Geschäftslage nicht zu gefährden und schwieg.
Sie bemerkte, dass er wieder eine gesundheitlich, schlechte Phase hatte, aber er sprach sich nie darüber aus...
Es war eine Art Verlassensangst, die ihn bewegte Lissy, finanziell abhängig zu machen und er fühlte, dass sie, des Erfolges wegen, nachgab.
Für Lissy (war das) ein großer Vertrauensverlust ihm gegenüber, denn sie war ihm, geschäftlich gesehen, immer vertrauensselig entgegengekommen und hatte nur ihren gemeinsamen Erfolg im Auge. Außerdem war das Bankkonto fast immer im Minus, denn die finanziellen Verpflichtungen waren groß.
In seiner Steuerklärung führte er Lissy mit tausend D-Mark und sie war bei einer teuren Privatkrankenkasse angemeldet, aber sie bekam nie ihr Gehalt in die Hand. Nicht einmal angemessenes Taschengeld. Es fehlte ihr eigentlich nichts, aber die Haushaltkasse war immer leer.
Er wollte das Geld verteilen...
Lissy bemerkte, dass er Menschen, die ihm wohl gesonnen waren, nicht vertraute und ihr, die so viel zu seinem Wohlstand beigetragen hatte, auch nicht. Es war ihr unverständlich, dass er dagegen Menschen, die ihn zu betrügen verstanden, und ihn mit schönen Redensarten umgarnten, Vertrauen entgegen brachte.
Finanziell war sie unfrei und das war sehr deprimierend. Schon seit ihrem vierzehnten Lebensjahr hatte sie, wenn auch in der Lehre noch gering, doch eigenes Geld verdient. Sie war ein großzügig denkender Mensch und sie fühlte sich eingeengt, doch vermied sie Streitgespräche. Es war, als hätte er ein Brett vor dem Kopf, wenn sie mit ihm darüber reden wollte und entzog sich jedem Gespräch unter dem Vorwand, das Auto in die Garage zu bringen, die auf dem Hof einer Gaststätte angemietet war. Unter dem Vorwand dort Mandanten getroffen zu haben besuchte er die Gaststätte und war dort, der lebensvolle und witzige Zeitgenosse.
Disharmonien und Streitgespräche hätten die Geschäftslage geschwächt und oft stellte sie sich die Frage: "Was ist mit ihm...?"
Er wollte keine ärztliche Hilfe. Depressionen waren zu der Zeit als Krankheit nicht anerkannt und wenn die Rede darauf kam, sagten die meisten Menschen: "Ich bin doch nicht verrückt...!"
Lissy jedoch war auf der Suche nach dem Mann, den sie im Jahre 1948 kennen gelernt, und mit dem sie wieder das Lachen gelernt hatte.
Nein, Depression war nicht gefragt und Burn Out, zu dieser Zeit, ein völlig fremder Bergriff...
"Ich brauch' doch nicht zu einem Seelenklempner...!"
Von Zeit zu Zeit rettete Lothar sich in Überaktivität und Lissy stand hilflos dabei.
Ihre Bereitschaft, Lothars Selbstbewusstsein zu stärken, hatte einen so großen Erfolg gehabt, dass sie nunmehr selbst in ein Abhängigkeitsverhältnis geriet, denn er wollte nun alleine regieren und wuchs über sich selbst hinaus. Er konnte es nicht ertragen, wenn Mandanten ihm sagten, dass sie Lissys Loyalität und Arbeit bewunderten.Da hatte einer gesagt: "Ja, mit einer solchen Frau kann man natürlich Berge bewegen...!" Lothars Reaktion war Eifersucht und Misstrauen.
Sein ihr vorher entgegen gebrachtes Vertrauen, hatte sie mutig gemacht und ihrer Natur nach, freute sie sich für jeden Menschen, der es schaffte, zu einer Lebensverbesserung zu kommen und nun war sie enttäuscht und frustriert, hatte sie doch durch ihren unermüdlichen Einsatz das Gefühl, eine Partnerin und Vertraute zu sein.
Gespräche über sein seltsames Verhalten brachten nichts, und sie dachte resigniert: "Diese Launen haben mir gerade noch gefehlt!"
Andererseits schätzte sie viele seiner Eigenschaften und nachtragend war sie nicht. Eher war sie zu harmoniebedürftig und ließ es nicht zu Streit kommen, denn sie liebte dieses Leben das sie jetzt führen konnte und das sie zweifellos Lothar, seiner Intelligenz, seinem Arbeitseineinsatz und nicht zuletzt seiner Selbstständigkeit verdankte. Jedoch auch einem günstigen Augenblick des Schicksals. in dem sie ihn ermutigte, den Absprung aus dem Beamtendasein zu wagen. Ohne ihren Einsatz, hätte er diesen Aufstieg nicht schaffen können. Sie fühlte sich erpresst aber sich konnte sich nicht wehren und die Schnelllebigkeit der Zeit löschte immer wieder die Probleme. Sie wartete auf den Stimmungswechsel.
Lissy liebte ihre Arbeit und hier konnte sie sich voll einsetzen. Anerkennung hatte sie von den Mandanten in hohem Maße.
Trotz der seltsamen Verhaltensweisen ihres Mannes, die sie sich nicht erklären konnte, entschuldigte sie alles wegen seiner, wie sie dachte, unbewältigten Vergangenheit. Nach diesen Stimmungen von innerer Zerrissenheit hatten se auch gute Tage, und dann war alles "Wie früher."
Um sein manchmal unerklärliches Verhalten zu beschönigen, überschüttete er Lissy mit Geschenken. Er kaufte einen grauen Persianermantel, zu dieser Zeit sehr beliebt, den sie nicht wollte, Schmuck, den sie nicht ausgesucht hatte und er kaufte Möbelstücke, die sie vorher nicht gesehen hatte. Der Erfolg hatte ihn süchtig nach Selbstbestätigung gemacht. Eines Tages brachte er ihr ein Nerzcollier.
Eine wundervolles, kostbares Teil aber Lissy wollte den Pelz nicht tragen, weil sie sportlich elegante Kleidung liebte, und sagte: "Ich will mich nicht so auftakeln!" Die Glasaugen und die präparierten Schnäuzchen der Nerze, verursachten ihr Widerwillen. Außerdem sah sie damit nach ihrer Meinung" madamig" aus. Er war beleidigt...
Den Mandanten und deren Personal gegenüber war Lothar der beliebte, freundliche, hilfsbereite und witzige Berater. Er setzte sich für sie ein und brachte ihnen ein Tablett Kuchen. Sie waren des Lobes voll und beglückwünschten Lissy zu dem erfolgreichen Ehemann. Manchmal dachte Lissy, er habe zwei Gesichter...
Alles hatte sich verändert und diese Exzesse wechselten sich ab.
Ein halbes Jahr war er der liebevolle, freundliche und humorvolle Ehemann. Dann wieder war er widersprüchlich und ungerecht.
Er blieb abends aus, trank übermäßig, war übel gelaunt und wieder überschwänglich. Lissy wusste nicht, wie sie diese Dinge einordneten sollte. Bei Freunden und Bekannten gab er sich als der eifrige Unterhalter. Er konnte die Menschen zum Lachen bringen und ihm gingen die Themen nicht aus. Doch konnte er nicht ertragen, wenn Lissy Erfolg hatte. Dann wurde er biestig und fuhr ihr im Beisein der Freunde über den Mund, Ja, er konnte richtig bösartig werden.
"Es war die pure Eifersucht!" Er duldete keine "fremden Götter" neben sich.
Einer der Mandanten, der das bemerkt hatte sagte, dass er dieses Verhalten nicht verstehen könne und fragte Lissy, warum sie das ertrug. Immer aber war dann auch Alkohol im Spiel und manches Mal fragte er am darauf folgenden Morgen: "Was hab' ich gestern wieder gemacht?"
Lissy machte das traurig, aber sie ließ nicht nach und suchte in der Arbeit Erfolg. Es ging auch nicht ohne ihre Mitarbeit, denn niemand kannte den Betrieb so gut wie sie, und niemand kannte alle diese Mandanten, mit denen sie hier und da ein freundliches Wort wechselte und für deren Sorgen sie sich Zeit nahm.
Mitten in der hektischen Betriebsamkeit erkrankte sie an einem Blinddarmdurchbruch und musste operiert werden. Sie hatte wohl sporadisch Schmerzen verspürt aber für diese Art Schmerzen hatte man in dieser Familie kein Verständnis. Das seien Frauensachen sagte seine Mutter. So konnte diese eigentlich harmlose Sache sich ausweiten und die Erkrankung und Operation kostete sie fast das Leben.
Da auch andere Organe betroffen waren, sollte sie nur geringe Chancen haben, ein Kind zu bekommen.
Doch nichts hielt sie davon ab, sich wieder in die Arbeit zu stürzen. und es
ging weiter aufwärts. Die Arbeit und der Erfolg wirkte wie ein Narkotikum. Ihre Erkrankung hatte Lothar betroffen gemacht. Nun war er liebevoll um sie bemüht.
Es war wie zu Beginn ihrer Zweisamkeit. Er half ihr beim Einkauf und abends gingen sie zum Essen aus. Nun war er wieder der liebenswerte Mensch, wie zu zu Beginn ihrer Beziehung. Das beeinflusste den Heilungsprozess.
Eine Zeit lang mied er den Alkohol und sie nahmen den Tennissport wieder auf, den sie der Arbeit wegen vernachlässigt hatten und nun standen sie schon um sieben morgens auf dem Platz. Immer war das kleine schwarze Ungeheuer, wie sie den kleinen Dackel nannten..., dabei...
Es war eine gute Zeit...!
Ihre Hausbesitzerin, die sie zu ihren Partys einlud, machte sie mit einigen ihrer Freunde im so genannten “Höfchen”, einer Künstlersiedlung, bekannt. Diese Kreise setzten sich aus homosexuellen- und heterosexuellen, namhaften Künstlern und Künstlerinnen, zusammen. Es waren interessante Menschen, die man hier antraf.
Sie hatten oft Zeit für ein Gespräch und für ein Glas Wein oder einen Tee und einige wurden Mandanten.
Hier lernten sie Billy kennen, die steuerliche Probleme hatte. Eine Malerin und außergewöhnliche Frau! In der Nazizeit hatte sie, die wegen ihrer lesbischen Ausrichtung Repressalien ausgesetzt war, einen
Großindustriellen geheiratet, aber ihre Veranlagung hatte sie nicht unterdrücken können und sich heimlich eine Freundin zugelegt, der sie auf Kosten ihres Ehemannes ein Geschäft einrichtete. “Eine abstruse Idee…”, meinte Lissy.
Ihr Ehemann wollte die Scheidung und sie, die aus wohlhabenden Kreisen stammte, verzichtete auf jedweden Unterhalt, um den bekannten Namen zu behalten. Ein prominenter Name war sehr wichtig, wenn man auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten und dem so genannten Parkett, Erfolg haben wollte und als Lesbe hatte man es besonders schwer. Mit einem besonderen Namen behielt man den Kontakt zur Gesellschaft. Es war eine verlogene Gesellschaft, wie Lissy bemerkte, mit Small Talk, elitärem Gehabe und ohne Hintergrund, aber man brauchte sie, wenn man finanziellen Erfolg- und Ansehen wollte. Billy fuhr als eine der ersten Frauen, die Lissy kennen lernte, einen Porsche. Sie fuhr in einem Tag, von Lothar bewundert, die Strecke Düsseldorf - Ascona.
Lissy hatte keine lesbischen Ambitionen, aber sie mochte diese Frauen, die so frei und selbst bestimmt lebten. Sie hatten einen eigenen Humor und machten sich nicht abhängig von Männern, doch hatten auch sie Probleme, wegen ihrer sexuellen Ausrichtung.
Bei den Heteros war es so, dass Frauen den Mund zu halten hatten, und doch den Männern nach dem Mund redeten, um anzukommen.
Frauen hatten immer noch nichts zu sagen, denn die neuen Eherechte waren noch nicht verabschiedet. Homosexualität wurde bestraft und Ehescheidungen unterlagen dem Schuldprinzip. Man brauchte Beweise für Untreue. Die Rechte der Frauen waren sehr eingeschränkt. Selbst wenn Frauen unschuldig geschieden waren, wurden sie meist nicht mehr bei früheren Freunden eingeladen. “Geschieden” …, ein Makel für sich. Die Männer hatten Narrenfreiheit. Sie waren wieder dabei…
Auch Witwen, vor allem wenn Kinder da waren, hatten keine großen Chancen wieder einen Partner zu finden.
Viele heterosexuelle Männer sahen es als ihr Grundrecht an, zu Prostituierten zu gehen oder machten ihre Spielchen mit Kolleginnen. Sie behaupteten, Frauen seien monogam, und Männer polygam. Das erlaubte ihnen, so zu sagen, Seitensprünge. Lautstark sagten sie auch, dass sie es ablehnten, ein Kondom zu benutzen und steckten ihre Frauen mit Geschlechtskrankheiten an. Bei Ehescheidungen wurde schmutzige Wäsche gewaschen, doch manche Ehepaare blieben zusammen, damit diese Dinge nicht an die Öffentlichkeit gelangten, oder weil die Frauen kein eigenes Geld hatten, um Anwälte zu konsultieren. Wohin sollten sie auch gehen, ohne Geld? Da mussten sie noch froh sein, wenn ihr Eheherr sie nicht schlug.
Hätte Lissy solche Scheidungsinteressen gehabt, so hätte sie sich keinen Anwalt erlauben können, aber das stand ja nicht zur Debatte.
Einige der Mandantenfrauen, die für ihre Männer Buchführungsarbeiten machten und mit Lissy ins Gespräch kamen, schütten ihre Herzen aus. Sie wussten, dass Lissy nicht darüber sprechen würde, so, wie ja überhaupt Schweigen über die Verhältnisse der Mandanten angesagt war. Nicht einmal Lothar erzählte sie etwas von diesen Gesprächen. Sie gewann tiefe Einblicke in das Gefühlsleben der Menschen, doch, es gab auch Frauen, die eine Affaire hatten und auch das vertrauten sie Lissy
unter dem “Siegel tiefster Verschwiegenheit”, an…
Später erfuhr Lissy, dass auch Lothar ihr Vertrauen genoss und sie ihm Avancen gemacht hatten.
Im Nachhinein fand Lissy das alles auch sehr komisch.
Zu Weihnachten schenkten sie Lothars Eltern und Anna eine Reise nach Bayern und Lissy erarbeitete einen Reiseplan für den Sommer.
Alle Unterkünfte waren vorgebucht, denn Lothar wollte auf keinen Fall ins Blaue fahren. Zu dieser Zeit waren die Unterkünfte noch dürftig und allzu teuer durfte es auch nicht sein. Menschen um die fünfzig hatten meist noch nie eine Reise gemacht und schon gar nicht mit einem Kraftfahrzeug. Sie hatten hart um ihre Existenz kämpfen müssen.
Sie hatten zwei Kriege, Inflation und Hunger, und die entsprechende Nachkriegszeit erlebt. Nun, im Sommer fuhren sie in den Schwarzwald und in die bayerischen Berge, die sie noch nie gesehen hatten. Es war schade, dass Lothars Mutter noch immer unter ihren Eifersüchteleien litt. Es muss schrecklich für sie gewesen sein, dass Lissy und Anna zusammen dabei waren, aber es war auch nicht schön, diese Missgunst zu spüren, obwohl Lissy, und nur sie, doch so liebevoll alles vorbereitet hatte.
Bissige Bemerkungen waren dabei an der Tagesordnung aber Anna sagte:
“Hör einfach nicht hin und freue Dich, dass wir das, nach all’ dem Chaos, noch zusammen erleben können!”
Eines Tages kam Lothar mit einem dicken Bündel 5-D-Mark-Scheinen, im Wert von fünfhundert D-Mark ins Büro. Beratung bei einer Bordellbesitzerin, weil sie eine Betriebsprüfung erwartete.
Lissy fand es geschmacklos, dass Lothar das “Geld für Liebesdienste”, in bar angenommen hatte. Schmuddelige, zerknitterte Banknoten.
In dem Bordell “Hinter dem Bahndamm” kostete ein Besuch bei den “Damen” fünf D-Mark…
Auf diese Firma hätte Lissy gerne verzichtet, aber Lothar schien es egal zu sein. Er sagte: “Geld stinkt nicht!” Vielleicht fand er es auch interessant, sich in diesem Milieu zu bewegen. Die Bordellbesitzerin, eine ganz normale, einfache Bürgerin hatte das Geschäft von ihrem Onkel geerbt und die Umsätze waren für sie so verlockend, dass sie dies Geschäft, trotz bester Verkaufsmöglichkeit, behalten wollte. Mit ihrem Ehemann, der Dekorateur war, zog sie in den Schwarzwald und überließ den “Laden” einem der Zuhälter.
Da die Betriebsprüfung gut verlaufen war, machte dieser Zuhälter in der Szene Reklame für Lothars gute Beratung und schon war das nächste Bordell Kunde. Diese Besitzerin war mit einem homosexuellen Mann verheiratet, der wegen seiner Veranlagung von der Polizei verfolgt wurde. Durch die Ehe war er geschützt. Zu einem späteren Zeitpunkt spielte er eine tragische Rolle. Ein Drama…, das Lissy mit erleben musste, und dieser Mann tat ihr sehr leid.
Inzwischen hatte sich der Mandantenkreis so ausgeweitet, dass sie es kaum noch schaffen konnten. Es gab noch keine elektronische Datenverarbeitung und alles wurde in Doppelter- oder Durchschreibebuchführung gemacht. Zwei Buchhalterinnen arbeiteten zu Hause, weil sie inzwischen kleine Kinder zu versorgen hatten.
Noch aus den Anfängen betreuten sie die kleinen Lebensmittelläden mit Einnahme-Ausgabe Buchführungen, die ihre ganzen Belege in Margarinekartons anschleppten. Auch hier wurde Lothar in Ehekonflikte eingeweiht und musste Versöhnungsgespräche führen. Was dann auch meistens gelang, denn er hatte eine besondere Art mit den Menschen zu reden. Mit seiner schönen Stimme und den gewählten Worten beruhigte er die Gemüter und die kleinen Geschäftsleute vertrauten ihm.
Hin- und wieder gingen sie ins Kino. In dem Film “Rembrandt” hatte Lissy eine Schauspielerin bewundern können, die im gleichen Hause wohnte. Groß und schlank, rothaarig und immer sehr weiß geschminkt, nahm manchmal an den Festen teil, die ihre Hausbesitzerin veranstaltete.
Sie war eine außergewöhnliche Frau und berühmte Schauspielerin, die bei Gründgens spielte.
Während ihrer Spaziergänge mit dem kleinen Dackel begegnete Lissy mehrfach einem außergewöhnlich schönen, dunkelhaarigen, jungen Mann. Täglich führte er zwei Pfirsichfarbene Hunde spazieren, die perlenbesetzte Halsbänder trugen. Er wohnte bei der Filmschauspielerin, grüßte freundlich- , sah traurig aus und sprach mit niemandem. Er wohnte bei der Schauspielerin und Lissy dachte, er sei ihr junger Liebhaber.
Eines Tages war er verschwunden und es gab Gerüchte…
Es wurde gemunkelt, er sei der Geliebte eines bekannten Mannes aus der Großindustrie und habe nur bei ihr gewohnt, damit dieses Verhältnis geheim bleiben konnte.
Dann wurden Andeutungen wegen Mordes aus Eifersucht gemacht.
Den schönen Jungen sah Lissy nie wieder, aber sie dache oft an ihn.
Dann bekam sie die “Geschichte der O” zu lesen, und dachte an die letzten Zeilen. Vielleicht hatte der Mann aus der Industrie ihn umgebracht…
Bei einer der Partys, die ihre feierfreudige Hausbesitzerin veranstaltete, hatte die geschiedene Ehefrau eines berühmten Dirigenten, Lothar lautstark beschimpft, weil er auf Wunsch der Gastgeberin, dieser Dame ein Taxi besorgt hatte und dem Fahrer die Adresse dieser etwas unsicher auf den Beinen stehenden Dame, genannt hatte.
Wie eine Furie war sie auf ihn losgegangen und hatte versucht, ihm eine Ohrfeige zu verpassen.
Lissy hatte beobachtet, dass diese Dame heimlich eine Flasche Bommi mit Pflaume, damals ein beliebtes Getränk geleert, und unter der Couch der Gastgeberin versteckt gehalten hatte. Diese Dame war wütend, weil Lothar dem Taxifahrer ihre Adresse genannt hatte. Sie aber hatte sich in den Kopf gesetzt unbedingt noch in die Altstadt zum “Czikosch” zu fahren, weil sie angeblich eine Verabredung mit Günther Grass hätte. Grass lebte damals in Düsseldorf und hielt sich öfter in dieser Gaststätte auf.
Diese alkoholisierte Dame war die erste Alkoholikerin, die Lissy persönlich kennen lernte. Die meisten Menschen wussten nicht, das Alkoholismus eine Krankheit ist. Man sagte: “Das ist ein Säufer!”
Seltsamerweise hörte man nicht das Wort “Säuferin”.
Frauen tranken heimlich und noch sah man selten Frauen alleine in Kneipen, außer in “Bumslokalen“. Lissy konnte sich den Ausdruck “Bums” nicht erklären aber dort wurde auf jedenfalls viel Alkohol konsumiert und man traf auf ein ziemlich ordinäres Publikum.
Der Ausdruck “Säuferin” wurde nicht benutzt. Die Frauen tranken heimlich und Lissy traf einmal eine ihrer Mandantinnen, die sich mit hochprozentigem Melissengeist tröstete.
Lothar war empört über die Attacke der Frau G. und zeigte es auch, als er wieder zu der Gesellschaft stieß. Die Gastgeberin berührte sein Zorn kaum. Sie bedauerte den Vorfall, aber sie negierte ihn und sagte nonchalant: “Ach, nehmen sie das nicht so ernst…, Frau G. macht das immer, wenn sie gefeiert hat und eigentlich ist sie doch ganz witzig…!”
An diesem Abend hatte Lothar, weil er die Attacke der Frau G. vergessen wollte, mit der Frau eines Weinhändler getanzt und geflirtet.
Diese Frau war süchtig nach einem Kind, das ihr wohl der Ehemann, ein älterer Herr, der zuckerkrank war, nicht beschaffen konnte.
Der Mann war um ein Mehrfaches älter als diese Dame und er tat Lissy leid, weil sie sah, dass er die junge Frau liebte und wegen ihres Benehmens litt.
Sie war keine schlechte, aber eine sehr naive Frau, die fast krankhaft davon besessen war, ein Kind zu haben und sie bedrängte Lothar, der mit ihr tanzte.
Sie wollte ihn tatsächlich verführen und begann sich auszuziehen, was die anderen Gäste etwas merkwürdig fanden. Als Lothar, dem es peinlich war, als sie ihn plötzlich küssen wollte und sein Gesicht wegdrehte, biss sie ihm in die Wange…
Ihre Zähne müssen echt gewesen sein, denn man sah Blut…
Wütend stürmte er in die Hausbar und rief: “Was ist das für eine Gesellschaft? Erst wird man auf der Straße von betrunkenen Damen beschimpft und dann wird man von liebestollen Weibern gebissen…!”
Das daraufhin ausbrechende Gelächter, klang ebenfalls ziemlich trunken und Lissy konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, denn Lothar hatte sich allzu sehr den Damen gewidmet und als “Sonny Boy” beliebt gemacht. Nun musste er die Suppe auslöffeln.
Lissy amüsierte, und ärgerte sich gleichzeitig über diese kuriose Welt und über ihren Ehemann. Und auch über die damals reichen oder reich scheinenden und sich wichtig fühlenden Menschen und deren Traumwelt, die doch eigentlich schon längst untergegangen war.
Es waren Reste der wilden Zwanziger, die hier noch einmal ausgebrochen waren, und sie glaubten immer noch, eine Elite zu bilden. Doch die Zeiten waren vorbei…
Lissy beobachtete die Gesellschaft und sie konnte verstehen, dass einige der Frauen, die in ihrer Jugend zur Elite der Gesellschaft zählten, sich ein wenig von der Freizügigkeit gönnen wollten, die sie in der Aufbruchstimmung der zwanziger Jahre erlebt hatten. Rauschgift gab es, soweit Lissy das beobachten konnte, nicht. Madam hatte wohl eine Opiumpfeife auf dem Kaminsims deponiert und behauptete, in Paris, mit einem alten Kapitän in einer der Opiumhöhlen gewesen zu sein.
Sie gab zum Besten, dass ihr Ehemann, der Ulanenoffizier, sie vor die Alternative gestellte hatte: “Entweder Opium, oder ich?” Diese Frage hatte er ihr aber auch gestellt, als sie einen Rhesusaffen ins Haus geholt hatte, den er nicht dulden wollte. Sein Spruch: “Entweder der Affe oder ich!” wurde zu einem geflügelten Wort.
Hildegard sagte: “Ich habe IHN…, Hans…, gewählt und Billy, die auch zu der Zeit in Paris gelebt hatte, blinzelte Lissy zu und sagte: “Der Affe habe an den Zipfeln der Tischdecke geschaukelt und das hätte Hildegards Ehemann nicht gefallen, weil das kostbare Tafelgeschirr zu Bruch gegangen wäre. Der kleine Affe sei danach in einem Zoo gelandet.
Großen Wert legte die so genannte Gesellschaft, auf Doktoren und Professorentitel. Nachdem man vorgestellt war, hatte man die Last der Richtigstellung. Dann sagte Lothar: “Ich bin nicht Doktor!” Die Antwort war: “Wir kennen das von Hildegard, wir hatten auch schon Titel…!
Sie waren auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten angekommen, und das, nach dem entsetzlichen Morden der Kriegsjahre und der Naziherrschaft. Manche Leute benahmen sich so, als hätte es den Krieg und die Nazizeit nie gegeben. Diese Leute hatten das Glück der späten Geburt oder sie wollten da weitermachen, wo sie vor dem Krieg aufgehört hatten und alle wollten etwas nachholen. Manche hatten sich auch rechtzeitig aus dem Staub gemacht und lebten während der Kriegszeit in Amerika. Sie hatten die Schrecken des Krieges nicht erlebt.
Es war für Lissy jeweils eine Erholung, wenn sie mit Anna, ihrer Mutter, zusammen sein konnte, denn diese hatte ihre Natürlichkeit und ihren Humor nicht verloren, wenngleich sie auch manchmal traurig war, dass sie nun so wenig persönlichen Kontakt hatten. Zwar holte Lothar seine Eltern und Anna manchmal zum Essen, und zum Kartenspielen oder zum Roulett ab, aber nie jeden für sich allein. Seine Mutter war eifersüchtig, wenn Anna alleine bei ihnen war. Sie führte Buch über ihre Besuche bei ihrem Sohn und hatte die Termine in ihrem Kalender rot angestrichen. Es war schrecklich…!
Die Zeit raste dahin! Konrad Adenauer war sehr aktiv. Lothar war Mitglied in der SPD, besuchte hier und da Versammlungen und lernte dort, den damals sechzigjährigen Walter Sch. kennen. Er war Geschäftsführer im Stahlhof und hatte dort eine der ersten Computeranlagen in Deutschland eingeführt. Die Anlage füllte die Wände eines riesengroßen Raumes, der vollkommen staubfrei gehalten werden musste. Nur amerikanische Experten konnten die Anlage bedienen.
Lothar war begeistert und sagte: “Das wird einmal eine phantastische Sache. Eine ganz neue Welt…!” , von der aber zu diesem Zeitpunkt nur wenige Menschen etwas wussten.
Dass viel später auf einem Computer, nicht größer als eine Schreibmaschine, diese Geschichte geschrieben würde, das hätte man sich in den frühen fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, nicht vorstellen können…
Durch einen neuen Mandanten sollte das Leben von Lothar und Lissy eine weitere Wendung nehmen und es gab Möglichkeiten, an die sie nie gedacht hatten. Herr Schumacher, Vertreter einer Bausparkasse für den Bereich Rheinland Pfalz, bot Lothar ein Grundstück im Westerwald zum Kauf an. Zuerst war Lothar ohne jegliches Interesse an einem solchen Grundstück denn er sagte:
“Was soll ich im Wald?, ich war vier Jahre in Sibirien zum Bäume fällen…!
Doch dieser sechzigjährige, erfahrene Vertreter hatte den Bogen raus, um Lothar die Sache schmackhaft zu machen. Nicht ohne Eigeninteresse suchte er Teilhaber an einem Riesengrundstück, das aus vielen Erbteilungen bestand, und das er selbst nicht in Gänze hätte kaufen können.
Vor allen Dingen suchte er seines Alters wegen, und um noch etwas davon zu haben, Teilnehmer an einer Baugemeinschaft. Nebenbei wollte er natürlich auch Bausparverträge verkaufen, um sein Wochenendhaus zu finanzieren. Mit dem Gedanken daran, hatte er schon seit Jahren gespielt und nun, nach dem Krieg, wollte er sich endlich diesen Wunsch erfüllen und in dieser wundervollen Gegend bauen. Immer schon hatte er in jungen Jahren, wenn er auf der Reise war um Bausparverträge abzuschließen, hier…, in vierhundert Meter Höhe, mit Blick auf das Siebengebirge den Traum gehabt, hier ein Haus zu haben. Dann war der verdammte Krieg dazwischengekommen und danach die schreckliche Hungerzeit und nun… nun könnte es endlich dazu kommen…
Lothar ließ sich begeistern und Lissy und er trafen sich mit dem Ehepaar Schumacher.
Nur fünfzig Pfennige kostete der Quadratmeter.
Es war eine aufregende Angelegenheit und die Besprechungen endeten mit viel Bier und Schnaps in der Gaststätte von Simon, im Dorf. Es war eine Gaststätte mit Saal, und Plumps Klos. Simon, der Wirt…, ein Schlitzohr ersten Ranges, mit viel Mutterwitz lispelte ein wenig aber das kam seinen Erzählungen, denen sie lauschten, besonders zu Gute.
Die Bekanntschaft mit Herrn Schumacher sollte einen großen Einfluss auf das Leben von Lissy und Lothar haben.
Sie kauften zweitausend Quadratmeter Wald und Wiese..
Hier lernten sie auch Jupp Hallerbach, Oskar und seine schöne Frau Brigitte, wie auch ein Ärzteehepaar, Wim und Marlene aus Düsseldorf kennen. Oskar, ein umtriebiger Architekt, der an der Erschließung der Grundstücke sehr interessiert war, weil er Aufträge für Wochenendhäuser suchte und auch die Bauleitung übernehmen wollte, wurde Mandant bei Lothar.
Zu Besuch kam Schorsch, ein Freund aus der Gefangenschaft, der in Rosenheim wohnte und mit Elisabeth verheiratet war.
Elisabeth war Mitinhaberin des größten Trachtenkaufhauses in Bayern in dem Schorsch Geschäftsführer war.
Die Bayern…, eine besondere Variante ihres Freundeskreises…
Von da ab kaufte Lothar seine Anzüge in dem Geschäft für Herrenausstattung in Bayern.
Lothar hatte eine gute Zeit und keine Bedrängnisse durch Stimmungen
und seelischen Stress. Das machte ihr Zusammenleben angenehm.
Inzwischen war er im Besitz eines neuen Wagens. Es war ein Volkswagen mit Schiebedach, aber Lissy durfte, oder konnte den Wagen selten benutzen. Lothar wollte von ihr gefahren werden, wenn es um Alkohol
ging. Ansonsten fand er immer Gründe, für Termine den Wagen selbst benutzen zu müssen und so nahm sie, wenn nötig ein Taxi.
Sie gingen gerne aus, doch…, selbst wenn sie alkoholfrei bleiben wollten, wurde das von Gastgebern und bei Kneipenbesuchen nicht akzeptiert. Sie waren beleidigt, wenn man nicht mithielt.
Andererseits feierte auch Lissy am Wochenende gerne und scheute nicht Alkohol und Nikotin aber betrunken war sie nie.
In diesen Jahren hielten es die meisten Männer für selbstverständlich, dass ihre Frauen, so sie einen Führerschein hatten, den Fahrdienst übernahmen. Aber oft fühlten sich manche Männer, besonders mit Alkohol im Blut, außergewöhnlich fahrtüchtig.
Die Arbeitsteilung gefiel Lissy überhaupt nicht. denn Lothar gab ihr sonst nie die Möglichkeit mit dem Wagen zu fahren. Es gab keinen Streit, aber Lissy weigerte sich nun konsequent Fahrdienste zu übernehmen, wenn Alkohol im Spiel war. Sie verstand einfach nicht, warum er ihr das Auto sonst nicht geben wollte, wo er doch so darauf gedrängt hatte, dass sie im Jahr 1952 den Führerschein machte und stolz darauf war, dass sie es so schnell geschafft hatte.
Ihr fehlte nun auch die Routine und das bedrückte sie, zumal er sie ständig wegen ihres Fahrstiels kritisierte. Er sagte: “Du fährst wie ein Taxifahrer!” oder: “Siehst du die Bürgersteigkante nicht!” Warum bremst du jetzt?“
Er war es nicht gewohnt, auf der rechten Seite zu sitzen und sah die Straße aus einem anderen Blickwinkel, aber vielleicht hatte er dann auch nicht den richtigen Blick wegen des genossenen Alkohols. Lissy schwieg dazu und weigerte sich später, bei solchen Gelegenheiten zu fahren.
Lothar war keine Ausnahme mit solchen Sprüchen. Die meisten Männer sagten: “Frauen können nicht Auto fahren!”
Hausbesitzerin Hildegard, hatte eine besondere Methode, der Polizei, die oft gegenüber ihrer Wohnung auf der Allee ihren Dienst verrichtete, zu entgehen. Sie schob mit spitzen Fingern ihren Führerschein durch den Fensterschlitz damit die Polizisten nichts rochen und tat beleidigt wegen der Kontrolle. Da sie unmittelbar vor ihrer Garage standen, ließ man sie fahren und sie schaffte es immer, hochnäsig, damenhaft Haltung zu bewahren. Vielleicht gaben die Polizisten ihr auch Narrenfreiheit. Sie hatte
noch nie in das “Tütchen” blasen müssen. Einmal erwischte Lothar sie, als sie einfach über den breiten Bürgersteig nach Hause fuhr. Zu der Zeit fuhr sie noch den alten Wanderer, das alte Schätzchen, mit dem sie Stadt bekannt war. Schon vor dem Krieg, war sie mit ihrem Mann und diesem Wagen in Frankreich, Spanien und in Afrika gewesen.
Bei dem Auto fiel leicht die rechte Türe heraus, weil eine Halterung fehlte und für den linken Blinker gab sie mit dem Arm Zeichen. Der Klappblinker funktionierte überhaupt nicht!
“Ein echtes Schätzchen… !”…, dieses Auto.
In den frühen fünfziger Jahren waren solche Geschichten immer noch
möglich… Viele Jahre danach sah Lissy in Istanbul ähnliche Vehikel. Lothar besorgte Madam Hildegard später einen Karmann Ghia, ein Cabrio.
Mit diesem Wagen fuhren sie zur Einführung in die Eifel, wo ihr Bruder Charly im alten Jagdhaus ihrer Eltern, wohnte.
Lothar am Steuer des Cabrios, Hildegard mit Strohhütchen, als Beifahrerin, und Lissy im Fahrwind mit Kopftuch auf dem Rücksitz…, eine unbequeme und kalte Sitzgelegenheit, am Karfreitag.
Madam hatte ein Fläschchen Cognac vorrätig. Bei Erreichen der Stadt Adenau bat sie um einen Halt, um die Eifelerde mit einem Becherchen zu begrüßen.
Sie war eine sehr witzige, auf Eleganz achtende und gut aussehende, Frau, mit einem katzenhaften Gesicht. Sehr gepflegt, immer elegant, Reitstiefel ja, aber niemals mit Sportschuhen. Sie war sehr gebildet und gepflegt. Ohne elterliche Liebe, Jahre lange in einem Schweizer Internat erzogen und jung mit dem vorher erwähnten Ulanenoffizier verheiratet.
Ihre Mutter war eine Adelige aus ersten Kreisen. Der Vater, ein Jurist von hohem Rang und mit großem Vermögen. Schon die Vorfahren der Mutter waren im Besitz großer Porzellan Manufakturen in Belgien und sie hielt hohe Aktien. Sie hatte kein großes Interesse an ihren Töchtern und nur der spät geborene Sohn Charly, zu dem sie nun unterwegs waren, war ihr Liebling.
Charly hatte dreimal ein Studium angefangen und wieder abgebrochen und hatte dreimal geheiratet. Mit der ersten Frau hatte er zwei Töchter, doch seine Ehefrau ließ sich scheiden, weil sie um das Vermögen fürchtete, das sie in Form einer Fabrik von ihren Eltern geerbt hatte.
Ein W. arbeitet nicht, hatte er gesagt, und sie, als praktische Westfälin, hatte ihm den Laufpass gegeben.
Mit der zweiten Frau, einer Prostituierten, war er nur einen Tag verheiratet gewesen, denn er hatte sie wohl im Alkoholrausch geheiratet und wurde mit einer Abfindung, die seine Mutter bezahlt hatte, geschieden.
In ihrem Umfeld fanden das alle komisch und es wurde gelacht und gelästert aber das sah man in diesen Kreisen nicht so eng. Er war ein verwöhntes Muttersöhnchen, hatte nie in seinem Leben gearbeitet, das Erbe vertan, und war nun mit der um zwanzig Jahre jüngeren Elsbeth, die aus dem Dorf stammte, verheiratet. Er spielte den Lebemann und war sehr charmant. Mit seinem Jeep fuhr er in der Gegend herum und galt bei den Eifelbauern noch als Gutsherr. Er hatte in jungen Jahren, mit seinem Bugatti auf dem Nürburgring private Rennen gefahren und war mit dem Grafen Berge v. Trips befreundet, der später bei einem Rennen tödlich verunglückte.
Auch Billy, die Malerin, die in der Düsseldorfer Künstlersiedlung zu Hause war, stammte aus diesen Kreisen. Ihre Eltern besaßen große Kiesgruben in Bergheim.
Charlys Haus war ein wundervolles, altes Herrenhaus, zu dem noch zu Lebzeiten seiner und Hildegards Eltern große Wald- und Jagdgebiete gehörten. Charly hatte einen großen Teil der Ländereien verkauft, weil er selbst keinen Beruf ausübte, keine Einnahmen sonstiger Art hatte und mehr oder weniger den Junker spielte, aber irgendwie passte es zu ihm. Er war eine “Ausnahmeerscheinung.” Wie seine Schwester…
Später traf noch die zweite Schwester ein, die jedoch ihren Ehemann nicht mitbrachte. Dieser war ein Keramikkünstler mit eigenem kleinen Atelier, doch nicht besonders erfolgreich. Erfolglose Menschen jedoch, waren in diesen Kreisen nicht willkommen.
Doch Lissy und Lothar waren anpassungsfähig und unterwarfen sich den Umgangsformen dieser Leute, die von einer ungeheuren Sicherheit waren, obwohl sie eigentlich nichts Nennenswertes hervorgebracht hatten. Sie waren einfach da und genossen Privilegien.
Zweifellos war Charly sehr charmant und gastfreundlich. Das Haus hatte eine besondere, etwas morbide Atmosphäre. Einige sehr schöne Kunstwerke, englisches Porzellan und kostbare Teppiche waren den Notverkäufen von Wald und Ackerland noch nicht zum Opfer gefallen.
Lissy, die sich sehr für Malerei interessierte, bewunderte die Gemälde des Heidemalers Fritz von Wille und das schöne Mobiliar.
Sie hielten drei Hunde und vier Katzen, die sich in den Wohnräumen räkelten, aber nachts in einem Vorraum schlafen mussten.
Lissy fragte, ob sie mit den Hunden einen Spaziergang machen dürfe und ging mit ihnen auf den hinter dem Haus gelegenen Hügel, wo hoch in den Lüften Vögel sangen. Es war wundervoll, dort alleine zu sein und zuzuhören.
Charly und Elsbeth freuten sich über den Besuch, denn viel Unterhaltung gab es in diesem Dorf nicht, aber nun war Kirmes und es wurde gefeiert. Zur Zeit war hier Cinzano mit Wodka ein Modegetränk. Sie nannten es Weihwasser. Dieser Aperitif hatte es “in sich!“ Lothar und Charly wurden mit dem Jeep zum Einkaufen geschickt. Sie sollten Hackfleisch für das Abendessen besorgen.
Unterwegs hatten sie wohl noch eine Pause gemacht und Elsbeth sagte: “Hoffentlich sind sie nicht in einer Kneipe gelandet…!”
Nach zwei Stunden hörten sie den Jeep und warteten draußen auf der Treppe. Charly fuhr und Elsbeth sagte: “Komm schnell rein…, der Charly bremst an der Wand…!”
“Lothar!, halt dich fest!”, rief der…, und mit einem
B u m m . . ., stand das Fahrzeug. “Hoffentlich ist ihnen nichts passiert!”, sagte Lissy. “Ach”, sagte Elsbeth, “das macht der immer, der Jeep hält was aus…!”
Beim Hereinkommen sagte Charly:
”Wir haben das Fleisch mitgebracht…!”
Sie brachten die Lebensmittel in die Küche aber das Fleisch legte Lothar auf eine kostbare Porzellanvase, die auf einem Hocker stand. Er meinte, die Vase habe einen Deckel aber dem war nicht so. Später wurde überall das Hackfleisch gesucht und erst dann wieder gefunden, als sie sahen, dass eine der Katzen unentwegt mit der Pfote das Fleisch aus der Vase zu angeln versuchte.
Lothar rettete in letzter Minute die kostbare Meißener Vase, die fast vom Hocker gefallen wäre und endlich konnte Elsbeth das Hackfleisch braten. Sie waren sehr heiter, aber nicht betrunken und dann wurde getanzt. Sie legten flotte Musik auf und Hildegard war in ihrem Element. Hier konnte sie einmal zeigen, wie es “früher” war, und wie sie “früher” gefeiert hatten. Sie war ja auch jetzt erst kurz über fünfzig und schon lange Jahre Witwe und sie freute sich, dass Lothar, der unter dreißig war, sich so sehr um sie bemühte, mit ihr tanzte und fröhlich war.
Sie war einfach glücklich, hatte für eine Zeit alle Kalamitäten vergessen und sie freute sich, dass sie die Hauptperson war und dass sich alle amüsierten. Wie ein junges Mädchen, das aus dem Internat nach Hause gekommen war. Hier gab sie sich natürlich und eigentlich tat sie Lissy leid, denn sie hatte nie ein richtiges Familienleben kennen gelernt.
Lothar trug für den “Eifelbesuch” kräftige Schuhe und trat Hildegard bei der Charleston-Einlage versehentlich auf den Fuß.
Sie sagte: “Herr Behrendt, Sie haben auf mein Rehknöchelchen getreten…!”, aber sie war nicht böse. Der Fuß schwoll an und sie legten Eis darauf. Hildegard, sah das als Abenteuer. Lothar machte ihr den Hof auf eine wirklich nette Art und Lissy gönnte ihr Lothars Aufmerksamkeit.
Am Tag darauf ging es mit “Hallo” auf den Kirmesball, wo der
“arme Hahn” geköpft wurde.
Eigentlich ein gruseliges Ritual, aber sie hatten den Hahn wenigstes nicht lebendig auf die Schnur gehängt. Beim Tanzen schlugen sie dem armen Hahn mit einem alten Degen den Kopf ab. Ein alter Eifelbrauch. Lissy fand das alles schrecklich und die Eifler Bürger feierten heftig, denn auch hier gab es das besagte Weihwasser.
Als Hildegard müde war und ihr Fuß schmerzte, bat sie Lissy, mit ihr nach Hause zu gehen und unterwegs sangen sie auf Hildegards Wunsch: “Jenseits des Tales standen ihre Zelte!” Danach kühlten sie wieder Hildegards Fuß, der immer weiter anschwoll.
Das hinderte sie aber nicht, am Tag darauf, auf einen Abstecher nach Bad Neuenahr zu fahren, um dort ein Spiel zu machen, wo Lissy zum ersten Mal eine Spielbank betrat und an dem Abend eine sehr große Summe gewann…, und diese…, bis auf fünfzig D-Mark, wieder verlor, weil sie nicht aufhören konnte.
Sie war gefangen in einem Rausch des Spielens und konnte sich kaum aus diesem erregenden Gefühl befreien. Sie fühlte sich, als könne sie die Bank sprengen und hatte beide Manteltaschen dick mit Chips gefüllt. Ein Raunen ging um den Tisch und alle Spieler schauten sie an. Eingetauscht hatte sie für fünfzig D-Mark Chips und nun schaufelte sie fünfzig D-Mark Chips zusammen. Es war eine unglaubliche Glückssträhne… Zwei Nächte träumte sie von diesem aufregenden Spiel und nach dieser Erfahrung sagte sie: “Ich werde nie mehr spielen, denn ich habe Angst süchtig zu werden! Wie konnte ich nur den großen Gewinn wieder verlieren!?” Sie hätte aufhören können, als der Coupier den Tisch wechselte und er hatte sie auch bedeutungsvoll angesehen…, so…, als wollte er sagen: “Hör auf!“ Aber sie folgte ihm an den anderen Tisch und dann verlor sie alles. Vom Rest des Geldes erstand sie an der Bar des Spielcasinos das Buch “Der Weltraum rückt uns näher”. Ein Buch, das gerade in Amerika erfolgreich verlegt wurde, wobei es um unbekannte Flugobjekte ging.
Hier, in der Bar, hatte sich Hildegard noch einen “Manhatten” gegönnt…, “Zur Erinnerung!”… , sagte sie.
Sie und Lothar hatten von Lissys Gewinn und Verlust nichts bemerkt und Lissy hatte nichts gesagt.
Am nächsten Tag ging Madam freiwillig ins Krankenhaus nach Kaiserswerth. Sie hatte tatsächlich ein “Rehknöchelchen” am Fuß gebrochen und als Lissy sie dort besuchte, hatte Herr Meyer, der Ehemann der jungen Frau, die Lothar in die Wange gebissen hatte, einen Karton Sekt gebracht, mit dem sich ihre Besucher vom Reitstall Taliho, wo ihr Pferd stand, amüsierten. Alle Freunde hatten sich auf dem Gips verewigt und sie brachte den Beingips, wie sie sagte, als Trophäe mit nach Hause, wo sie mit Lissy und Lothar, Billy und einigen anderen Bekannten das Wiedersehen feierte. Mit Sekt natürlich…
Nach dem Besuch bei Charly hatte Hildegard Lissy und Lothar für “gesellschaftsfähig” erklärt und Lissy fand das sehr komisch, denn die Vorkriegsgesellschaft war entweder vor den Nazis geflohen oder ausgestorben. Die Daheimgebliebenen waren entweder verarmt oder in Naziverstrickungen gelandet, wollten nun davon nichts mehr wissen und waren sehr zurückhaltend, wenngleich sich jetzt eine Art “Geldadel” breit machte.
Dann begann auch für manche Bundesbürger die Flucht in die Schweiz. Ascona war eines der Hauptziele für vornehme und weniger vornehme, reiche Deutsche, die ihren “Sitz” in die Schweiz oder nach Luxemburg verlegten. Das Fußvolk blieb “drinnen” im Land, für den Aufbau der Republik…
Im Bildungsbereich machte man Fortschritte, denn viel mehr Schüler, vor allen Dingen aus Akademikerkreisen, besuchten nun höhere Schulen. Es wurde viel gelesen und geschrieben und wirtschaftlich ging es, im Allgemeinen, stetig aufwärts.
Seit 1954 hatten sie auch ein Fernsehgerät.
Lissy erinnerte sich an ihren Kindertraum. Am Plafond ihres Schlafzimmers sollte ein Heimkino Märchenfilme vorführen, wie im Planetarium.
“Das sind Spinnereien” sagte Anna damals, aber nun hatte sich dieser Traum erfüllt und sie konnten in dem “kleinen Kasten”, wie im Kino die Ereignisse verfolgen. War schon das Radio eine wunderbare Erfindung gewesen…, wie phantastisch nun dieses “Heimkino!”
So waren sie nun auch Teilnehmer bei der Reise Konrad Adenauers, der mit einer hochrangigen Delegation im Sonderzug nach Moskau gereist war und tatsächlich die Freilassung von mehr als zehntausend gefangenen Soldaten erwirkte.
Zehn lange Jahre hatten diese unter furchtbaren Umständen in Bergwerken und als Baumfäller in Sibirien vegetiert und nun kamen sie in eine völlig fremde Welt zurück.
Es waren erschütternde Szenen, die sich bei der Heimkehr der Soldaten, in Frankfurt an der Oder abspielten, als diese abgehärmten Menschen nach ihren Angehörigen suchten, die dort auf sie warteten. Ihre Kinder waren inzwischen erwachsen geworden und hatten ihre Väter nicht kennen gelernt. Manche der Ehefrauen hatten mit ihrer Rückkehr nicht mehr gerechnet, weil ihre Männer als vermisst gemeldet waren.
Die Spätheimkehrer von 1949 verfolgten das Geschehen mit großem Interesse und Lothar sagte: “Sie haben es noch viel schwerer als wir, sich zurecht zu finden.
Für die meisten Menschen hatten sich in den letzten Jahren die Ereignisse überstürzt und durch die modernen Medien hatte man das Gefühl, dass die Zeit davon lief.
Man wollte ja auch etwas erleben…!
Dazu kam das Kino. Man ergötzte sich an Heimat- und an Kriminalfilmen. Bei privaten Einladungen wurde getanzt. Hauptsächlich Tango, Foxtrott, langsamer Walzer, Zitterfox und allerlei neue Tänze, wie Rock’n Roll. Auch wurde geflirtet wie wild. Alle wollten es noch einmal wissen…
Peter Alexander, Heidi Brühl, Camillo Felgen, Vico Torriani,
Hazy Osterwald und viele andere Interpreten lieferten Stoff.
Lothar tanzte sehr gut, hatte aber für Rock und andere moderne Sachen kein Interesse. Seine Mutter sprach von “Negermusik“. als Sächsin…: “Neeschermusik.“
Im Haus nebenan wohnte Nicole Heesters und eines Tages stand auch er, Traummann Johannes Heesters, dort vor der Türe, und er sah genau so aus wie im Film. Wirklich ein gut aussehender Mann…! Er grüßte Lissy freundlich, als sie an ihm vorbei ging, und Lissy grüßte freundlich, lächelnd zurück, so als ob man sich täglich sehen würde.
Man war wieder romantisch, aber auch wild entschlossen, alles nachzuholen, was in den langen Kriegsjahren versäumt worden war.
Und: Es ging nichts ohne Alkohol und gutes Essen. Die Deutschen nahmen langsam zu. Kleidergröße zweiundvierzig war ganz normal und Mannequins waren mit Größe achtunddreißig auch noch gefragt.
Männer waren dem auch nicht abgeneigt, denn die “Hungerhaken”, wie sie sagten, wären nicht ihr Geschmack. Die Männer bekamen kleine Bäuche und manche klopften darauf und sagten: “Der hat viel Geld gekostet!”
Der Bierkonsum stieg und stieg und die Altstadtlokale waren voll.
Das aber würde sich auch noch ändern, denn der Einfluss von Twiggy und ihrem Dresseur war noch nicht spürbar. Bald würde es heißen: “Das Ganze zurück, Marsch…!”
Es ging allerdings etwas ungerecht zu, denn die Frauen sollten nun wieder elfenhaft schlank sein, aber die Männer durften ihre Bäuche behalten. Die “Herren der Schöpfung” schmückten sich mit schlanken Frauen und die Magazine schrieben Konzepte für Gewichtsabnahmen.
Appetitzügler erschienen auf dem Markt und Pharmafirmen und Apotheken steigerten ihre Umsätze.
Es half alles nichts…!
Die fünfziger Jahre waren wohl die aufregendste Zeit nach dem Krieg.
Alles wurde auf den Kopf gestellt…, und… man war mitten drin, im aufregenden Getriebe. Die Wirtschaft war angesprungen und man war, so es eben möglich war, konsumfreudig. Man musste nur jung genug sein, um alles genießen zu können. Alles wurde geboten, was vorher verboten war…, und fast alles war erlaubt. Moral…, was ist das schon? Damit haben sie uns früher gefüttert, sagten manche Leute.
Bei festlichen Angelegenheiten oder im Theater wurde “lang” getragen und ein Abendmantel sollte es sein, oder Pelz. Immerhin war auch erlaubt, den Mantel locker um die Schulter zu legen.
Die Männer trugen Smoking und auf Hochzeiten den Stresemann. Allenthalben wurden “Benimmbücher” verkauft und Lissy kaufte auch eines dieser Bücher denn sie wusste noch nicht, wie man Krebse oder Hummer zu sich nimmt. Lissy kaufte auch ein Kochbuch und dann gab es gespickten Hecht… Dazu bedurfte es einer Spicknadel, die Lissy noch nicht besaß und die noch besorgt werden musste, aber der Hecht von Maaßen schmeckte dann wirklich köstlich.
Auch von Kaviar und Sekt war in dem Buch die Rede und wie Madame ins Auto zu steigen hat, damit man ihre Unterwäsche nicht sieht. Dass man Kartoffeln nicht mit dem Messer schneidet, nicht die Ellbogen auf dem Tisch aufstemmt und wie man ein gekochtes Ei behandelt. ( Pellen oder mit dem Löffel aufstoßen). Nur ja nicht köpfen…, das wäre das Letzte. Auch wie man zum Nachtisch Birnen, schält und was man mit Bananen macht, die es ja auch noch nicht lange wieder gab und dass man unbedingt Hummergabeln decken musste. Also wurden diese angeschafft. Das meiste wusste Lissy ja, aber das mit den Krebsen war neu, aber doch schnell gelernt und abgeschaut, und Madam: die eine gute Köchin war, brachte Krebse und Hummer auf den Tisch.
Durch die Aufbauarbeiten, nach der Bombenzerstörung, wurden viele Arbeitskräfte gebraucht.
Italiener, viele, junge Menschen aus dem tiefsten Süden Italiens kamen nach Deutschland, denn sie lebten in ihrer Heimat in bitterster Armut.
Sie wurden, hauptsächlich in der Müllabfuhr, in Fabriken und im Bergwerk für Schwerarbeit eingesetzt und schlecht bezahlt. Zusammengepfercht wohnten sie in sehr einfachen Gemeinschaftsunterkünften, und waren doch froh, endlich eine Verdienstmöglichkeit zu haben, denn in ihrer Heimat war alles noch ärmlicher.
Mit großem Interesse hatte Lissy das Buch von Carlo Levi: “Jesus kam nur bis Eboli!” gelesen. Die Menschen in diesem Teil Italiens hatten bitterste Not durch gestanden und träumten davon, endlich Arbeit zu finden, und ein paar Mark zu verdienen. Mit diesem geringen Einkommen unterstützten sie noch ihre Verwandten in den abgelegenen kleinen Dörfern.
Lissy verstand nicht, dass die deutschen Bürger den ausländischen Arbeitskräften mit Misstrauen begegneten, wenngleich diese auch zum Empfang, mit Musik auf den Bahnhöfen begrüßt wurden.
Wenn Kinder in der Schule in ihren Leistungen nachließen, wurden sie gefragt: “Wollte ihr denn Müllmann werden, wie die Itacker?”
Später wurden die Itacker durch Türken ersetzt, vor denen manche Deutsche Angst hatten. Die Italiener und Türken aber waren froh, dass sie überhaupt etwas verdienen konnten.
Auch Griechen kamen nach Deutschland, um zu arbeiten, doch durften die Griechen auch ihre Ehefrauen mitbringen. Die meisten Griechen verschwanden allerdings nach ein paar Jahren wieder in ihre Heimat, wo sie mit dem erarbeiteten Geld, kleine Läden eröffneten oder auf Märkten tätig wurden. Manche der ausländischen Arbeitskräfte eröffneten in späteren Zeiten Gaststätten oder Lebensmittelläden.
In Berlin heuerten auch Engländer an und im Rheinland waren viele Spanier tätig.
Conny Frobös sang: “Zwei kleine Italiener, die wollten nach Napoli…, und eine Reise in den Süden ist so fein, so wunderfein, doch zwei kleine Italiener wollten gern zu Hause sein.”
Derweil machten in diesen Jahren deutschen Touristen ihre ersten Reisen nach Italien, sangen immer noch die “Capri Fischer” und schwärmten von italienischen Nächten.
Lissy und Lothar und ihre Freunde schwärmten ebenso und so machten sie sich wieder auf nach Italien. Immer noch zu Viert mit allem Gepäck in dem Volkswagen und mit großer Begeisterung für die Dolomiten, Cortina und Venedig…
Immer auch verbunden mit einem Besuch in Rosenheim, bei ihrem Freund Schorsch, aus der Gefangenschaft.
Lissy und Lothar waren auf der Leiter nach “Oben“, wenngleich manchmal eine der “Sprossen” nachgab und die die Kasse eigentlich, trotz aller Arbeit und guter Einnahmen, immer wieder leer war. Irgendwie war das auch unheimlich.
Der Bausparkassenagent, von seiner Ehefrau “Papi” genannt, war nicht untätig geblieben und so saßen sie, es war im Frühjahr 1956, im Sonnenschein auf dem warmen, moosigen Boden, unter kleinen Bäumen, Tannen, Eichen und Buchen, auf “Ihrem Grundstück.”
Zweitausend Quadratmeter hatten sie, für zweitausend D-Mark, geliehenes Geld…, erworben. Das war der beste Entschluss, den man fassen konnte und sie hatten es nie bereut, wenngleich es auch manche schlaflose Nacht kostete. Mit Bankschulden zu leben, ist gar nicht so einfach…
Das Grundstück, das aus vielen kleinen Erbteilungen bestand, musste notariell aufgeteilt werden. Besitzer wurden zwei Architekten und ein Unternehmer mit Kühltransporten und ein Tankstellenbesitzer aus Essen.
Als Lissy das Geld für ihr Grundstück zu dem Vorbesitzer brachte, sagte dieser: “Nun kann ich meiner Frau endlich einen neuen Wintermantel kaufen!” Dies ältere Ehepaar sah sehr verhärmt, grau, müde, abgekämpft und hungrig aus. Sie lebten in bitterer Armut. Hier waren die Leute ebenso arm wie in Süditalien, denn auch hier gab es keine Arbeit und keine Touristen. Es gab schon gar nichts für ältere Leute.
Die Leute aus dem Dorf sagten: “Die da bauen:, das sind die Millionäre
aus Düsseldorf…!”
“Wenn die wüssten!”, sagte Lissy…
Das Grundstück wurde auf Lothars und Lissys Namen, je zur Hälfte ins Grundbuch eingetragen und nun fuhren sie immer wieder zum Westerwald, um dort Spaziergänge zu machen. Das gefiel auch dem Rauhaardackel, der dort frei laufen konnte.
Besonders hatte es ihnen eine kleine Gastronomie angetan, die tief im Tal lag und die Teil eines früheren Mühlenbetriebes war. Diese Wassermühle war noch in Betrieb. Es wurde noch Mehl gemahlen und auch Pferdehafer gequetscht..
Peter Müller und seine freundliche, fleißige Frau betrieben eine kleine Freiluftgaststätte. Frau Müller buk riesengroße Backbleche Streusel- und Pflaumenkuchen. Von eigener Schlachtung gab es so genannte Mühlenbrote mit Leber- Blutwurst und Schinken und auch Spiegeleier von eigenen Hühnern konnte man genießen.
Die Hühner liefen dort frei herum und eines der Hühner legte seine Eier in einen Korb, der an einem Haken neben der Türe hing. Man konnte dabei zusehen, während man Kaffee trank und manchmal saßen die Hühner auf dem Mühlsteintisch, neben der Kaffeetasse und wurden von Peter Müller herunter gescheucht.
Lothar und Lissy legten immer eine Rast in der “Mühle “ ein. Es war, nach der anstrengenden Tätigkeit in Düsseldorf, eine erholsame Zeit.
Sie übernachteten in der Gaststätte Waldesruh, deren Eigentümer der frühere Lehrer der einklassigen Dorfschule gewesen war.
Als solcher hatte er verständlicherweise keine Ahnung von Hotelbetrieb, und ohne Sachkenntnis hatte er eine sehr große Gaststätte und Pension erbauen lassen. Leider wurde nicht berücksichtigt, dass die Zimmer auch Nasszellen brauchten und so war auf jeder Etage nur eine Toilette und man hatte die Warmwasserleitung vergessen.
Den “Häuslebauern“, die hier übernachteten, war das alles egal, und es ging in der Gaststätte jeden Samstag hoch her. Einer der Söhne war Koch und einer war Konditor. Das Essen gut und sehr gehaltvoll. Hier fragte kein Gast nach Kalorien…
Da es in dieser abgelegenen Welt keine Abwechslung gab und niemand ein Auto besaß, floss der Alkohol in Strömen.
Modegetränk war eine Zeit lang Escorial grün. Die Männer rauchten “dicke Zigarren” und Alle wollten sich amüsieren. Es war außergewöhnlich gemütlich…
Hier trafen sich die Bauherren und Architekten und Überall herrschte Aufbruchstimmung…! Die männliche Dorfjugend hatten hier ihre Zelte aufgeschlagen, doch auch bei Simon, im Dorf, war immer etwas los.
Inzwischen war auch ihr “Häuschen” sieben mal neun Quadratmeter Wohnfläche, größer hatte es der Baurat nicht genehmigt, (im Rohbau) fertig. Eigentlich war es unverständlich, dass alles so klein sein sollte aber man hatte sich den Anweisungen unter zu ordnen, sonst durfte man nicht bauen.
Bei Regenwetter war der Bau nur durch den Wald zu erreichen, denn der vor dem Haus verlaufende Karrenweg war ein einziger Lehmmatsch und mit dem Auto nicht zu befahren. Zu Fuß ging es auch nicht, denn der zähe Lehm hätte einem die Schuhe ausgezogen, aber stolz und glücklich feierten sie im Winter 1957 Richtfest. Die Arbeiter wollten nicht Richtfest feiern, sondern etwas bar auf die Hand, denn sie hatten Familie.
In einer Sonderaktion hatten Brigitte und Lissy Frankfurter Ziegel für das Dach, direkt ab Ziegelei für alle Häuser gekauft und den Transport in einem Lastwagen begleitet. Das brachte eine Verbilligung um fünfzig Prozent.
Das Dachgeschoss war, wie in alten Bauernhäusern, mit einer echten Holzbalkendecke vom Wohnraum getrennt. Der Baurat hatte auch bestimmt, dass die Häuser, wegen des rauen Westerwaldwindes, mit einem Walmdach bedeckt sein sollten, und daran hatte man sich zu halten.
Schön waren die großen Fenster, die mit einer Dickglasscheibe versehen, und durch schwere Holzrollläden geschützt waren, denn von Doppelglasscheiben war noch nicht die Rede.
Der Clou war der Heizölofen. “Der letzte Schrei!” Ein Ölofen, der schrecklich qualmte und Gestank verbreitete. Ein Holzdauerbrennofen wäre viel besser gewesen, denn Holz gab es in Hülle und Fülle, aber es musste Heizöl sein… Sie hatten noch keinen Strom und kein fließendes Wasser und es gab noch keine Gasleitungen. Trinkwasser holten sie von der Gaststätte. Brauchwasser holten sie aus einer kleinen Quelle, zwanzig Meter von dem Häuschen entfernt, aber das war alles kein Problem. Es war Abenteuer pur und sie fühlten jung und wie Pioniere im wilden Westen.
Rund herum gab es ein ausgedehntes Waldgebiet und auch tief im Wald ein Jagdhaus mit Jagdgebiet, das von einigen Bürgern aus Bonn gepachtet war. Doch war es keine besonders feine Gesellschaft, die dort die Jagdgesellschaft spielte und Jagdregeln wurden hier nicht eingehalten.
Eines Tages kamen Lissy und Lothar mit Hund zum Westerwald und mussten zusehen, wie die “Jagdherren” von der Straße, und aus dem Auto heraus, auf die vor ihrem Grundstück grasenden Rehe schossen, die in wilder Flucht das Gelände verließen.
Es war eine rüde Gesellschaft, die sich dort breit machte, aber sie bezahlten die Pacht und das war für das Dorf wichtig, denn die Gemeinde war sehr arm und auf jede D-Mark angewiesen, aber feine Jagdherren waren das nicht, diese Metzger aus Bonn.
Der örtliche Junggesellenverein und der Fußballverein tagte in der “Waldesruhe” und eine Fußballmannschaft hatte das Dorf auch. Es war Ehrensache, dass die Junggesellen und Fußballer von den Wochenendlern unterstützt wurden. Die jungen Leute hatten noch keine richtigen Verdienstmöglichkeiten, weil es keine Verkehrsanbindungen und es auch keine Industrie in dieser Gegend gab. Alles musste sich noch entwickeln.
Drei Landwirte gab es im Dorf und nur zwei hatten mehr als zwanzig Kühe. Es wurde noch Korn und Hafer gesät und auch Kartoffeln wurden gepflanzt. Die Böden in dieser Region sind nicht besonders ertragreich und so hatten sich einige Landwirte auf die Milchwirtschaft eingestellt. Sie züchteten auch Schweine und hielten Hühner. Die meisten Leute hatten einen Hausgarten und versorgten sich selbst. Die Häuser waren zum großen Teil noch unverputzt und wirkten ärmlich mit ihren grauen Hohlblocksteinen, doch das sollte sich bald ändern, denn eine junge Generation wuchs heran, die noch keinen Krieg gesehen hatte und nun tatkräftig zugriff. Es wurden auch Aufbaukredite gegeben, und unter den Leuten herrschte Aufbruchstimmung.
Nur einer der früheren Landwirte, Jupp Hallerbach, hielt ein Pferd. Dieser Mann war ein Original…
Johann, sein intelligenter Sohn, ein sehr tatkräftiger junger Mann, der zuvor als Jupp noch im Krieg war, mit seiner fleißigen Mutter, den ursprünglichen kleinen Hof erweitert hatte, baute nun ein Haus auf der Höhe über dem Dorf und Ställe für eine besondere Rasse von hornlosen, schwarzen Milchkühen.
Endlich wurde dann auch ihr Haus fertig und sie feierten mit ihren Freunden aus Düsseldorf “Einweihung“. Alles war perfekt…
Lothar musste an diesem Tag zu einem Beratertreffen nach Krefeld, wie er sagte. Doch Lissy dachte, er wolle sich vor der Arbeit drücken, die noch bevor stand. Er hatte ihr zwar eine Putzhilfe besorgt, aber noch vieles war zu ordnen und Lissy war, als alles fertig war, “hundemüde”.
Die Gäste schliefen in der Gaststätte, in der es kein warmes Wasser gab. Aber man war noch nicht so verwöhnt und duschen konnte man ja zu Hause. Zu der Zeit war man noch sehr bescheiden in den Ansprüchen, aber immerhin hatten sie Wein und im Gasthaus gab es das gehaltvolle Essen, als gute Unterlage, wie man zu sagen pflegte.
Nach und nach wurden auch die grauen Häuser verputzt und die Neubauten konnten sich sehen lassen. Handwerker taten sich zusammen und arbeiteten im “Eigenbau”, und sie bauten großzügig. Die kleinen ärmlichen Katen von “Früher” waren passee. Es war erstaunlich, was die Leute zustande brachten aber es gab auch noch viel Armut. Vor allen Dingen bei den Alten und den Rentnern. Sie konnten sich überhaupt nichts leisten. doch bei den wenigen Gelegenheiten, wie Kirmes und Karneval feierten alle mit.
Bei Simon gab es dann Tanz im Saal zu Kirmes, Karneval und auch zum “Tanz in den Mai.” Drei Tage lang wurde Kirmes gefeiert und diese Feste wurden in Lothars und Lissys Leben zu einer bleibenden Erinnerung. Sie feierten mit…!
Zu Kirmes nahm niemand Anstoß daran, wenn die Männer einen über den Durst getrunken hatten und gegessen wurde da, wo man gerade landete. Manchmal waren die Familienmitglieder irgendwo in der Nachbarschaft und die Fremden wurden bei ihnen zu Hause beköstigt. Bei manchen Leuten drehten sich große Spießbraten vor den Häusern und der Bratenduft stieg den Spaziergängern in die Nase.
An solchen Tagen waren die Einheimischen den Fremden gegenüber sehr entgegenkommend aber ansonsten sagten die Leute: “Mit den Westerwäldern muss man erst einen Sack Salz gefressen haben, bevor sie einem vertrauen!”
Dann, an einem Abend im August 1958, als sie vom Westerwald zurück waren, erwartete sie ihre Hausbesitzerin und sagte: “Ich hoffe sie haben heute Abend Zeit. Ich habe ein paar Gäste und würde mich freuen…
Sie saßen alle draußen und als Lissy die Bekannten begrüßte, stand Frau Meyer, die Frau des Weinhändlers, die Lothar in die Wange gebissen hatte, auf, ging auf Lissy zu, und fragte sie, vor versammelter Mannschaft, mit großen Augen, laut und deutlich, wie ein Detektiv: “Sind sie schwanger?”
Lissy sagte: “Nein! Wie kommen Sie darauf?”
“Sie sind schwanger, Sie wollen es nur nicht zugeben…!
Das war eine wirklich kuriose Situation, aber Lissy sagte: “Bis jetzt weiß ich es nicht, aber wenn Sie es sagen, das muss ich dann wohl klären…”
Einige der etwas hölzern wirkenden Anwesenden schienen indigniert.
So…, als wäre Lissy von einer unheilbaren Krankheit befallen.
Doch dann…, ja dann…, drei Wochen später, war Lissy wirklich schwanger.
Die einzige Frau in dem ganzen, großen Bekanntenkreis…!
Wie hatte diese Frau das wissen können? Rein äußerlich war doch nichts zu bemerken gewesen…!
Lissy wollte es zuerst selbst nicht glauben. Noch nie hatte sie sich in einem solchen Glückszustand befunden. Eigentlich hatte sie, nach der schweren Operation, nicht mehr an eine Schwangerschaft gedacht und bei der aufregenden und anregenden Tätigkeit auch nichts vermisst, aber nun…?
Es war zauberhaft und sehr beglückend, auch für Lothar, der nun, mit dreiunddreißig Jahren, Vater werden sollte. Lissy war zweiunddreißig, aber sie fühlte sich wie zwanzig. Sie war in einem Schwebezustand…
Es war reine Freude! Sofort rauchte sie nicht mehr und trank keinen Alkohol. Sie kaufte entsprechende Lektüre und ernährte sich gesund.
Mit zweiunddreißig sei sie Spätgebärende, sagte man ihr.
Allen Tätigkeiten, die sie bis dahin ausgeübt hatte, ging sie weiter nach…
Sie fuhren in Urlaub in die Schweiz, nun mit dem lang ersehnten Mercedes 180A, und von dort nach Italien. Es war eine wundervolle Reise, voller Freude und ohne Stress. Lothar war ausgeglichen und glücklich.
Doch als die Schwangerschaft im siebten Monat sichtbar wurde, war Lothar wie ausgewechselt.
Er rührte sie nicht mehr an und es war, als betrachtete er die Schwangerschaft wie eine Krankheit. Er war fürsorglich, aber nicht liebevoll und Lissy steckte voller Bedürfnisse. Irgendwie spielten die Hormone verrückt, doch mochte sie nicht darüber reden und
gegen Ende der Schwangerschaft ließ er Lissy, unter dem Vorwand Termine wahrzunehmen, abends oft allein.
Lissy hatte das Gefühl, dass er sich mit Frauen traf. Er schob Treffen mit Mandanten vor, und vielleicht stimmte das ja auch…
Es gab Probleme mit dem Geburtstermin und die Geburt sollte eingeleitet werden.
Lissy ließ durch einen Dekorateur die aufwändigen Gardinen abnehmen, die gewaschen und gespannt werden mussten.
Als Lothar um Null Uhr nach Hause kam und sah, dass die Fenster ohne Dekoration waren, geriet er in Wut und schimpfte, dass er nun, während sie im Krankenhaus sei, ohne Gardinen in der Wohnung wäre…
Er war alkoholisiert, aber nicht betrunken und hatte wohl vergessen, dass Lissy am nächsten Tag ins Krankenhaus musste, weil die Geburt eingeleitet werden sollte und es hatte sie tief verletzt, dass er wegen Gardinen ein solches Theater machte. Sie hatte Angst und hätte seines Beistandes bedurft, aber er schlief tief und fest und Lissy war die ganze Nacht wach. Am nächsten Morgen wusste er nicht, was am Abend zuvor vorgefallen war.
Sie fuhren zum Krankenhaus. Sie sprach nicht mit ihm und er konnte auch zu seinem Verhalten am Abend zuvor nichts sagen.
Wahrscheinlich wusste er auch nichts mehr davon. Sie half ihm nicht… Sie war eiskalt im Herzen und dachte jetzt nur an ihr Kind.
Der kleine Junge kam erst am Tag darauf, nach quälenden Stunden, morgens um sieben Uhr fünf zur Welt. Es war einer der glücklichsten Momente in Lissys Leben. Leider hatte das Kind nach dem schweren Geburtsvorgängen Atemstörungen. Lissy hatte schreckliche Stunden, in der Sorge um das Überleben des Kindes, zu überstehen.
Nachdem sie lautstark nach einen Kinderarzt hatte rufen lassen und dieser ihr am Tag nach der Geburt sagte, dass alles gut sei, war das Glück vollkommen.
Lissy hatte Lothar sofort nach der Geburt benachrichtigt und auch Anna, ihre Mutter und Lothars Eltern. Lothars Mutter war beleidigt, dass Lissy zuerst ihre eigene Mutter benachrichtigt hatte. Sie war leider eine Frau ohne jedwedes Verständnis und sie war zerfressen vor Eifersucht.
Lothar hatte nach der Benachrichtigung, morgens um sieben Uhr, nichts Eiligeres zu tun, als eine Flasche Sekt zu öffnen und die Geburt des Sohnes zu feiern und im Überschwang der Gefühle, Mandanten und Freunde anzurufen.
Er war wirklich der Freund aller Mandanten und sie freuten sich mit ihm und eine Unmenge von Blumen überfluteten Lissys Zimmer.
Lissy dachte: “Wie bei einer Beerdigung…”
Dann kam Lothar…
Lissy hörte ihn schon auf dem langen Flur. Er ging mit eiligem, aber schwerem Schritt und sie wusste, dass er getrunken hatte. Er sank vor ihrem Bett auf die Knie, fast weinte er und sagte: “Kannst du mir verzeihen? Es tut mir so leid!”
Lissy sagte: “Steh auf”, es tut mir auch leid, aber du brauchst nicht zu weinen, ich habe auch nicht geweint…!” Er war tief erschüttert und sie wusste, er ist kein schlechter Mensch, aber Gefühle waren ihr abhanden gekommen. Dieser Tag und der Tag zuvor, waren ein Einschnitt in ihrer Gefühlswelt und es hätte doch ein Tag tiefsten gemeinsamen Glücks sein können.
Sie konnte ihm nicht verzeihen. Sein Verhalten am Tag zuvor hatte etwas in ihr zerstört. Später dachte sie, dass er eigentlich ein unglücklicher Mensch war. Er konnte über manche Themen nicht reden.
Für Lissy aber war nun alles erträglich, denn was nicht mit dem Kind zu tun hatte, hatte im Augenblick keine Bedeutung und sie war durch den unglaublich schwierigen Geburtsvorgang total erschöpft. Der Frauenarzt verordnete ihr drei Wochen Aufenthalt im Krankenhaus, aber schon dort erledigte sie die Glückwunschpost mit vielen Dankes- und jeweils auch persönlichen Worten, denn es war ihr wichtig, dass das gute Verhältnis zwischen ihnen und der Praxis erhalten blieb. Es ging ihr um die schwer erkämpfte Existenz und auch um die Leistung, die sie erbracht hatte. Wie viel schöner hätte alles noch sein können, wenn die Launen ihres Ehemannes nicht den Tag der Geburt so gestört hätten und sie wusste nicht, ob noch mehr dahinter steckte. Doch all’ das konnte ihre Freude nicht trüben. Sie war im tiefsten Herzen glücklich.
Ihr Geburtshelfer, der Frauenarzt, beglückwünschte sie und fragte scherzend: “Noch ein Kind wollen Sie wahrscheinlich nicht, nach dieser Strapaze?”
“Doch”, sagte Lissy…, “wenn es geht, möchte ich noch ein Kind, denn
Einzelkinder haben es im Leben meist schwerer.” Sie dachte dabei an Lothar und an seine Eltern. “Doch wenn es bestimmt ist, soll es auch so genügen.”
Darauf sagte er:
“Ich habe noch nie gehört, dass eine Frau, einen Tag nach einer so schwierigen Geburt, einen solchen Wunsch geäußert hat!”
Lissy aber hatte, als sie das Kind im Arm hielt, allen Schmerz vergessen und sagte scherzend:
“Ja…, Sie sind ja auch ein Mann!”
“Ich weiß“, antwortete er.
Dann sprach er etwas ernster:
“Ich wundere mich immer wieder, mit welcher Konsequenz alle diese Schmerzen, die Ängste und Bedrängungen hingenommen werden…”
Lissy lächelte und sagte: “Ich hätte nie gedacht, dass ich so glücklich sein könnte…!”
Lothar besuchte sie jeden Tag und er war sehr glücklich und stolz über den kleinen Sohn. Langsam legte sich Lissys Groll. Sie versuchte ihren Ehemann zu verstehen, der immer wieder versicherte, wie sehr er sie liebe und wie glücklich er über das Kind sei. Er hatte eine wirklich phantastische Art sich zu vermitteln, und im Grunde genommen, war Lissy froh, dass alles wieder in normale Bahnen kam.
Disharmonie und Streit waren ihr von je ein Greuel.
Sie ließen das Kind im Krankenhaus taufen, und nannten ihn, den kleinen Sohn, nach dem Taufpaten, der mit dem Zweitnamen Timo hieß…, Tim.
Lissy war glücklich, aber auch schrecklich müde, denn die Geburt hatte sie viel Kraft gekostet. Das vorangegangene Zerwürfnis hatte auch einen Teil dazu beigetragen, dass sie so geschwächt war. Doch nach drei Wochen kam sie mit dem Kind nach Hause und war sehr froh, dass alles wieder in normalen Bahnen verlief. Morgens war sie glücklich, wenn sie den schlafenden kleinen Tim in seinem Bettchen sah, das über Tag noch so eben Platz neben ihrem Bett, in dem kleinen Schlafzimmer hatte.
Bei der Heimkehr aus dem Krankenhaus waren auch Lothars Eltern und Anna in der Wohnung und Hildegard, die Hausbesitzerin erschien zur Gratulation.
Als diese den kleinen Tim ansah, sagte sie bewundernd: “Wie ein kleines Tier!“, und das klang nicht abwertend, denn Katzen und Affen waren ihre Lieblingstiere. Sie brachte dem kleinen Tim eine wunderschöne Steifkatze. Sie hatte keine Kinder.
Der kleine Hund, Lissys treuer Freund und Begleiter, kam auch wieder nach Hause und es gab eine geräuschvolle Begrüßung.
Alle wollten Tim einmal auf den Arm nehmen und freuten sich über das schöne Kind und dabei hatten sie den kleinen Hund, dem sonst große Aufmerksamkeit geschenkt wurde, total vergessen.
Plötzlich stand der Hund mitten auf dem Tisch, reckte den Hals und ein lang gezogenes, herzzerreißendes Heulen ertönte. Er, der sonst die Hauptperson gewesen war, von allen Besuchern begrüßt wurde, wurde nun nicht beachtet…
Lissy sagte: “So geht das natürlich nicht…!”
Sie nahm ihn auf den Arm, obwohl er ein schwerer Brocken war, streichelte ihn und sagte: “Sieh mal, ich hab’ Dir etwas mitgebracht. Das ist Dein Tim! Du musst auf ihn aufpassen!”
“Aufpassen…!”, das kannte er…
Sie zeigte ihm das Kind und er durfte den Geruch des Kindes aufnehmen und speichern. Von diesem Moment an, war er Tims Freund.
Beim Spaziergang machte sie Experimente. Sie band den Hund an den Kinderwagen, sagte “Pass auf”…, und ließ für kurze Zeit Wagen, Hund und Kind alleine auf der Rheinpromenade stehen. Dann verschwand sie hinter einem der Bäume, und Spaziergänger, die das Spiel beobachtet hatten, näherten sich. Sie wollten einen Blick in den Kinderwagen werfen, aber sobald sie sich auf zwei Meter näherten, stürzte der kleine Dackel sich mit wütendem Geheul auf die “Angreifer”.
Ihm kam dabei zugute, dass er die Stimme eines Schäferhundes hatte und damit verschaffte er sich Respekt. Ob seines Einsatzes wedelte er dermaßen mit dem Schwanz, dass er fast umfiel und sorgte so für gute Laune und Gelächter.
Doch bald hatte der Büroalltag und die Haushaltführung Lissy wieder voll im Griff, und vor allen Dingen, die Beschäftigung mit Tim. Es war im Moment nichts mehr mit Tennis und Sport aber sie machte nun Gymnastik zu Hause.
Die Großeltern hatten endlich eine Aufgabe und Lothar holte fast jeden Tag eine der Großmütter. Sie gingen mit Tim spazieren und waren mit dem Kind sehr lieb. Lothars Vater war inzwischen pensioniert und er holte die monatlichen Buchführungen bei den Mandanten ab. So hatte er eine Aufgabe und kam mit Menschen zusammen. Auch trat er dem Kegelclub in Oberkassel bei, in dem Lothar Mitglied war.
Das macht dem Vater, der nun nach der Pensionierung keine sonstigen Kontakte hatte, viel Spaß und besonders, weil er mit seinem Sohn, auf den er so lange gewartet hatte, zusammen sein konnte.
Für den Haushalt hatten sie inzwischen eine Hilfe eingestellt. Diese Frau war Witwe und hatte schweres Leid erfahren, denn ihr Ehemann, ein selbständiger Apotheker, war der Morphiumsucht verfallen gewesen und als die völlige Pleite drohte, beging er Selbstmord. Mittellos und mit einem Berg Schulden blieb sie zurück. Sie arbeitete nun als Wirtschafterin und war für Lissy eine große Hilfe, denn sie war eine gute Köchin. Sie war durch das Leben an der Seite des süchtigen Mannes in einem schlechten seelischen Zustand und sehr nervös, aber es war Lissys Art, die Menschen
selbständig und in ihrem Rhythmus arbeiten zu lassen.
In der ersten Zeit nahm Lissy Tim in seinem Körbchen mit ins Büro, während Lothar Mandantenbesuche machte, denn selbstständige Handwerker und Handelsvertreter hatten meist erst in den Abendstunden Zeit. Sie führten sie ein zeitlich ungeordnetes Leben...
Lothars Vater erkrankte an Diabetes. Diese Erkrankung wurde nicht ernst genommen und sein Vater schien den Vorschlägen des Arztes nicht zu folgen. Er trank bei den Kegelabenden Pils mit Genuss und Lothar ließ dies zu und sagte: "Bier heilt alles!"
"Ein blöder Spruch", sagte Lissy, denn sie machte sich Sorgen um den Schwiegervater, der unter typischen Durst Attacken litt und von dem sie wusste, dass er an Trinkbüdchen kalte, gezuckerte Limonade oder Cola trank. Sie kaufte ein Kochbuch für Diabetiker und brachte es den Schwiegereltern, aber Lothars Mutter sagte: "Alles was ich koche, kann der Vater essen!Er braucht keine Tabletten! Tabletten sind Gift!"
Der Vater hatte einen starken Leistungsabfall und fühlte sich nicht wohl. Lissy beobachtete ihn mit Sorge, denn sie hatte in ihrer Nachbarschaft einen solchen Krankheitsfall, mit schlimmen Folgen, erlebt..
Lothar hatte eine seltsame Einstellung zu Krankheiten. Er wollte nicht wahr haben, dass die Zuckerkrankheit, wenn sie unbehandelt blieb, lebensbedrohliche Folgen haben kann und er wollte nicht glauben, dass sein Vater krank war, und gewisse Einschränkungen hinnehmen sollte.
Allerdings war auch zu diesem Zeitpunkt im Allgemeinen noch nicht bekannt, welche Auswirkungen eine Diabetes haben konnte. Doch hätten Lothars Eltern wissen müssen, wie gefährlich die Situation war, denn Lothars Großvater in Chemnitz hatte durch diese Krankheit ein Bein verloren und war mit Siebzig daran gestorben.
Lissy hatte ein Ärztebuch gekauft und wusste, dass eine unbehandelte Diabetes zu Amputationen führen könne, aber Lothar wollte davon nichts wissen. Er meinte, dass er seine Sorge verstecken könne und machte sich selbst etwas vor. Seltsam..., diese Reaktion, dachte Lissy und das bei einem so intelligenten Menschen.,Aber sie schwieg, denn Diskussionen darüber hätten zu Streit geführt.
Der tägliche Kleinkram, die Arbeit, das Kind und die Fahrten zu ihrem Ferienhaus lenkten von diesem Thema ab und Routine bestimmte den Alltag. Sie hielten eine Tageszeitung, die Lothar schon vor seinen Terminen, beim Frühstück las, um informiert zu sein. Einige der Mandanten legten Wert darauf, die wirtschaftliche Lage, und manchmal politische Themen zu besprechen.
Zu dieser Zeit war es allgemein üblich, dass die Großeltern sich um die Enkelkinder kümmerten.
Annas Sohn Gerd und die Schwiegertochter Lena waren beide berufstätig.
Ein Auto, Radio, Fernsehen, Waschmaschine und Möbel, gute Kleidung, das waren die Wunschträume aller Bürger und nur zu erfüllen, wenn ein größeres Einkommen garantiert war.
Ricka, ihre Tochter, Annas Enkelin, ein schönes, intelligentes junges Mädchen, hielt sich oft auch bei Anna auf und fand bei ihr ein offenes Ohr für alle ihre Interessen, denn Anna war eine gute Zuhörerin.
Anna gehörte zu der Generation von Großeltern, die zwei Kriege, und deren Folgen getragen hatten. Sie hatten sich geschworen:
"Unseren Kindern soll es einmal besser gehen!", so, wie es ihre Vorfahren auch schon gesagt hatten und immer wieder hatten Kriege und falsche Politik die Menschen in ihrem Vorwärtsstreben behindert.
Für sie war es selbstverständlich, dass ihren Kindern ermöglichten, was ihnen selbst verwehrt geblieben war und sie waren stolz und glücklich, wenn den Kindern der Aufstieg gelang.
Dieser Generation, und ihrer Bescheidenheit war es zu verdanken, dass für die nachfolgenden Generationen, Wohlstand in Deutschland ermöglicht wurde. An Urlaub und Reisen dachten die wenigsten älteren Menschen und Anna sagte: "Das größte Glück ist, dass wir Frieden haben. Es ist ein gutes Gefühl, gebraucht zu werden!"
Das Kind wurde zu einem geliebten Bindeglied in der Familie.
Lissys Freundin Karin, mit der sie durch die Zeit ihrer Tätigkeit bei den Engländern befreundet war, und nun in Hamburg lebte, war allerdings anderer Ansicht, Sie sagte: "Kinder können auch zu Zankäpfeln werden!" Sie hatte drei Kinder und mit der Verwandtschaft ihres Ehemanns, der einer elitären Hamburger Familie entstammte, schlechte Erfahrungen gemacht. Lissy dachte: "Hoffentlich passiert das nicht bei uns!" Denn auch hier lag Eifersucht in der Luft.
Lissy hatte ihre Freundin lange nicht gesehen, denn Lothar sah es nicht gerne, wenn Lissy mit alten Freunden oder Freundinnen sprach. Er fühlte sich ausgeschlossen, weil er die Zeit nach dem Krieg, in den langen Jahren in Sibirien, nicht erlebt hatte. So hatte Lissy viele ihrer alten Freundinnen und Freunde aus den Augen verloren.
Doch mit Karin verband sie immer noch eine innige Freundschaft, wenn man sich auch auf Telefonate beschränken musste.
Auch Karin arbeitete, wie Lissy, im Büro ihres Ehemannes, der eine große Opelvertretung in Hamburg betrieb und sehr erfolgreich war.
Lothar war begeistert von dem Opel Commodore den Karins Ehemann, Erhard, fuhr, so, wie er sich überhaupt zu erfolgreichen Menschen hingezogen fühlte und auch bei Ihnen großen Erfolg hatte.
Er Biederte sich nicht an, sondern man brachte ihm, seiner überaus angenehmen Verhaltensweise wegen, Sympathie entgegen.
Sie hatten ein Wochenendhaus in der Heide und Karin sagte: "Wenn Tim etwas größer ist, müsst ihr uns besuchen...!"
"Ich bin gespannt, wann das sein wird", dachte Lissy.
Mit Tim im Kinderwagen und dem kleinen Dackel an der Leine fuhren die Großmütter oft in den schönen Nordpark. Anna, die ja allein lebte, freute sich, nun wieder etwas Sinnvolles tun zu können.
Lothar war eifersüchtig auf Anna, so, wie er eifersüchtig auf jeden war, der Lissys Interesse weckte. Er konnte es nicht ertragen, wenn Lissy gelobt wurde. Lissy nahm das nicht mehr ganz so ernst, denn ihr war wichtig, dass sie Erfolg hatte, und den hatte sie..., zweifellos.
Als Tim sechs Wochen alt war, fuhren alle zusammen in den Westerwald. Das kleine Haus wurde zu ihrer zweiten Heimat, obwohl dort noch alles primitiv war, aber da hier Naturliebhaber zusammen kamen, war alles gut.
Es gab noch kein Leitungswasser und keinen Strom, aber Lothar war erfindungsreich und fürsorglich. In Kanistern holten sein Vater und er Leitungswasser in der Gaststätte Assmuth und mit Autobirnen und Batterien, Petroleumlampen und Kerzen hatte man Licht.
Brauchwasser holten sie in Eimern aus einer kleinen Quelle in der Nähe. und Lothar..., handwerklich sehr begabt, begann das Grundstück zu kultivieren und mit Begeisterung stürzte er sich in die Arbeit. Er fällte Bäume und beseitigte Ginster und das alles überwuchernde Farnkraut.
Er sagte: "Alles kein Problem! Das habe ich zur Genüge in Sibirien gelernt!"
Auch Maurer- und Putzarbeiten machte er, und Lissy betätigte sich als Schreinerin. Sie besorgte sich zugeschnittene Bretter von einem Sägewerk und baute ein Regal für das Werkzeug. Es war ein einfaches Leben, aber es war friedlich und gut.
Zurück in der Stadt traf man dann wieder auf eine ganze andere Welt. Da hieß es...: "In allen Sätteln gerecht zu sein!"
Mandanten in hohen Stellungen, Handwerksmeister, Fabrikbesitzer, Künstler, Handelsvertreter, Lehrer, Gastwirte, Lebensmittelhändler und Hausbesitzer mussten steuerlich betreut werden. Es war sehr interessant mit diesen Mandanten zu arbeiten. Die verschiedenen Berufsfelder gaben tiefe Einblicke in das Leben der Menschen und ihre Erlebniswelt.
Oft auch wurden sie eingeladen oder sie hatten Gäste aus diesen Kreisen und es wurde heftig gefeiert. Es war eine aufregende Zeit..., und man musste Up to Date sein...!" Ein Spruch, der in aller Munde war. Es war zur Gewohnheit geworden, sich mit allerlei englischen oder amerikanischen, oder auch mit französischen Redewendungen zu schmücken.
Lissy begeisterte sich für die Beatles und für Elvis Presley, was Lothar überhaupt nicht gefiel. War es Eifersucht oder Festhalten an alten Traditionen? Er hatte die Zeit der neuen Rhythmen nicht erlebt, und lehnte diese Musik ab. Eigentlich hatte er ein Vorurteil gegen alles, was amerikanisch war. Doch war er sehr musikalisch und tanzte sehr gut die lateinamerikanischen Tänze was den Damen und auch Lissy sehr gefiel, ausgezeichnet die lateinamerikanischen Tänze. Ein Glück, dass Lissy nicht eifersüchtig war, denn Lothar war sehr beliebt bei den jungen Frauen, deren Männer sich oft mehr für Fußball und Bier interessierten.
Doch besuchte Lothar, meist in Begleitung seines Freundes Günther, dem Juristen, fast jedes Fortunaspiel im Rheinstadion von Düsseldorf. Da konnte Lissy nun nicht mehr mithalten aber ihre Fürsorge galt nun Tim, der ein Jahr alt und über das Krabbelalter hinaus war. Es war seltsam gewesen, dass er mit großem Tempo nur rückwärts krabbelte, bevor er sich auf die Beine stellte, doch nun konnte er laufen, auch mit Tempo..., und jetzt..., vorwärts.
Schon früh begann er eine technische Begabung zu entwickeln.
War sein erstes Wort das er sprechen konnte: "Hammer"..., so verschwanden nach und nach die Schlüssel der Büro-Rollschränke. Nichts war vor ihm sicher. Schlüsselverstecke wurden nicht gefunden und mehrfach musste der Schlüsseldienst einschreiten, damit die Damen im Büro ihr Schreibmaterial benutzen konnten.
Lissy wünschte sich eine zweite Schwangerschaft, denn als Einzelkind, nur unter Erwachsenen, würde Tim zum Egoisten erzogen.
Sie sagte: “Es ist besser, wenn der Junge lernt, sich mit anderen Kindern auseinanderzusetzen und lernen würde, zu teilen.
Als Einzelkind wurde er mit zu viel Aufmerksamkeiten von Großeltern Mandanten und Freunden überschüttet.
Lothar liebte Tim sehr, aber auch er wollte seine ganze Aufmerksamkeit und war beleidigt, wenn Tim nicht seinen Forderungen sofort nach kam. Er sah nicht, dass das Kind eine ganz andere Vorstellung von Tagesablauf hatte als er, denn Tims Konzentration drehte sich um irgendein Spiel und er verstand nicht, dass sein Vater täglich eine Stunde Zeit einplante, um sich mit ihm zu beschäftigen und dann seine volle Aufmerksamkeit forderte. Das Kind wollte erst sein Bauwerk fertig machen, das er angefangen hatte und sah Lothars Forderung als Herausforderung, nun noch mehr seinen Willen zu bekunden, um das begonnene Spiel, oder Experiment durchzuführen. Lothar stimmte das traurig, hatte er sich doch extra eine Stunde Zeit genommen, um mit dem Kind zusammen zu sein. Lissy tröstete ihn und sagte: “Lass ihn nur, er hat gerade eine Idee!”
Bei einer anderen Gelegenheit sagte Lothar: “Komm Tim, wir wollen essen!” Tim ließ sich nicht stören. Er war vertieft in seine Aufgabe und sagte: “Lass ihn nur…!”
Lothar lachte nun doch amüsiert und sagte: “Bei dem Knaben muss man aufpassen, was man sagt, der vergisst nichts!”
Tim kam in ein besonderes Trotzalter und weigerte sich guten Tag zu sagen, sofort zum Essen zu kommen, wenn er gerufen wurde, oder einen Diener zu machen und “Händchen” zu geben, wenn Mandanten ins Büro kamen.
Dann legte er den Kopf in den Nacken und versteckte das besagte Händchen hinter dem Rücken und sah die Leute herausfordernd an. Auch wollte er die Buchhalterin nicht begrüßen. Doch er musste, weil diese sonst beleidigt gewesen wäre, und schlecht gelaunte Buchhalterinnen stören den Büroalltag.
Dann sagte er: Guten Tag…, Frau Fix…, obwohl sie Fuchs hieß. Immerhin hatte er dann doch einen Teil seines Willens durchgesetzt.
Lissy sagte: “Es ist ganz normal, dass Kinder in die Trotzphase kommen und Tim bekommt einfach zu viel Aufmerksamkeit geschenkt.
Lothar meinte, dass Lissy das Kind verwöhnen, und nicht richtig erziehen würde.
Einmal, sie gingen im Hofgarten spazieren, kniete der Junge sich auf den Boden um die Enten zu locken. Er beschmutzte seine Strumpfhose… (Lissy dachte:, Es kann nicht sein, dass ihr fünfunddreißig Jahre alter Mann schimpft, weil die Hose des sechzehn Monate alten Kindes an den Knien durch die schwarze Erde beschmutzt ist.”) Lothar sagte vorwurfsvoll: “Andere Kinder gehen gesittet an der Hand ihrer Eltern!”
Dieses: “Gesittet!” und “An der Hand ihrer Eltern…!”, kam Lissy vor, wie aus : “Der Gartenlaube”, dem “Familienblatt für die bürgerliche Gesellschaft” aus dem vorigen Jahrhundert, und sie fragte ihn amüsiert:
“Woher hast Du nun wieder diesen Spruch…?
Lothar hatte ein sehr gutes Gedächtnis und vielleicht in einem Roman, diesen Satz gelesen und diese Aussage hatte ihm wohl gefallen.
Lissys ironische Bemerkung schien ihn verärgert zu haben, denn irgendwie hatte sich der Ton zwischen ihnen verändert.
“Durch wen und was wurde er beeinflusst…?”, fragte sich Lissy, “und…, dann noch diese Sprache…!”
Doch dann dachte sie wieder…: “Das ist nur eine Laune und er ist
überarbeitet!” Es war ihr lästig, immer wieder Erklärungen für das Widersprüchliche in Lothars Verhalten zu ergründen. Auch, weil er anscheinend am Tage darauf nichts mehr davon wusste.
Oft kam er spät nach Hause und roch nach Alkohol, aber er war nie betrunken. Lissy wartete meist auf ihn und arbeitete manchmal noch an den kleinen Buchführungen der Lebensmittelhändler oder auch an der eigenen Buchführung. Sie empfand das nicht als Belastung, aber Lothar schien es nicht zu gefallen. Lissy fand diese Stimmungswechsel unangenehm, aber sie stand ihm wegen seines Arbeitspensums und dem Umgang mit den unterschiedlichen Menschen mehr zu, als sich selbst.
Lissy machte sich aber auch Sorgen, denn er sah sehr abgespannt aus.
“Vielleicht hatte er aber auch ein schlechtes Gewissen,!”
Wenn Lissy ihn frug, ging er sofort in Verteidigungsstellung und fand messerscharfe Formulierungen für sein nächtliches Heimkommen.
Seine Argumentationen formulierte er unter Einfluss von Alkohol, wenn andere nur noch lallten, messerscharf auch dann, wenn kein Anlass zur Verteidigung bestand. Es lohnte sich nicht, zu streiten.
Sein Wahlspruch: “Angriff ist die beste Verteidigung”, hatte Lissy früher amüsiert, doch jetzt…?
Dann drehte er den Spieß einfach um und meinte: “Du brauchst einmal Urlaub!” Mit einem Blick auf das Journal sagte er, “Du arbeitest zu viel, wir fahren mit Tim an die See…!”
Lissy dachte: “Den Urlaub brauchst Du vielleicht mehr als ich.” Aber
sie freute sich sehr, denn sie hatte große Sehnsucht nach der Nordsee, doch nie darüber gesprochen, weil die Kosten für das Wochenendhaus
verkraftet werden mussten, und das Bankkonto trotz der vielen Arbeit dahinsiechte.
Also fuhren sie auf die Insel Texel. Ein Paradies…! Ein Hotel in de Koog und ein Strandhaus am Meer…
Doch nach drei Tagen befiel Lothar eine seltsame Unruhe, denn er hatte mit dem Mandanten aus der Altstadt gesprochen, der gesagt hatte: “Ich brauche unbedingt Ihre Hilfe. Ich will ein Haus kaufen. Einen Altbau, der aber renoviert werden muss. Ich kann das nicht alleine entscheiden!”
So blieb Lissy mit Tim in dem Strandhotel und Lothar fuhr zurück nach Düsseldorf, um diesem Mandanten zur Seite zu stehen. Der aber schien auch Langeweile zu haben und mit Lothar kam er gut zurecht…
Der breite Sandstrand auf Texel war phantastisch und das Baden im Meer ein Erlebnis für sich. Noch Jahre danach dachte sie, welch wundervolles Gefühl es war, sich von den hohen Wellen tragen zu lassen…!
Die Sonne brannte vom Himmel und Tim fand schnell holländische Kinder, mit denen er spielen konnte und hier las Lissy ihm das erste Märchen vor. “Rotkäppchen!” Jeden Tag wollte er das Märchen hören und konnte es dann bald auswendig und machte sofort darauf aufmerksam, wenn Lissy Las: “Blumen standen am Wege”, was er sogleich verbesserte, mit:…, “ Am Wegesrand, Mami!”
Am Wochenende tauchte Lothar plötzlich mit dem Mandanten auf, der seine Hilfe erbeten hatte, den Lissy ja gut kannte, und für dessen Ehefrau sie die Buchführung für das Altstadtgeschäft “Wäsche für die stärkere Dame” machte.
Das Ehepaar hatte keine Kinder und dieser Mandant belegte Lothar mit Beschlag. Nun bestand er darauf, dass Lothar mit ihm zusammen ein Hotel auf Texel buchen sollte, was zu diesem Zeitpunkt sehr schwierig war. Alles war in der Hochsaison besetzt, und so bekamen sie irgendwo unter dem Dach ein Zimmer. Schrecklich heiß und unbequem, wo Lothar diesen wichtigen Kunden auch nicht alleine lassen wollte und konnte, denn dieser Mann war anspruchsvoll, aber als Kunde sehr wichtig.
Ein gut aussehender Mann von ca. sechzig Jahren, der jedes Jahr alleine eine große Urlaubsreise machte, denn seine Ehefrau wollte die anstrengenden Reisen in ferne Länder nicht mitmachen.
Schon ihre Hochzeitsreise war “ins Wasser” gefallen, weil die junge Ehefrau in Wuppertal aus dem Zug gestiegen war, um dort Verwandte besuchen, aber nicht mit nach Venedig wollte.
Sie war eine Warmherzige und geschäftstüchtige Frau, die ihren Ehemann sehr liebte. Einmal sagte sie zu Lissy: ”Ich habe meinen Mann zu sehr geliebt!” Aber wenn es ums Reisen ging sagte sie: “Ich bin zu bang…!“
Diese Venediggeschichte versetzte die ganze geschäftliche Altstadt und die Verwandtschaft in Erstaunen. Für alle ihre Schulfreundinnen war es doch ein Privileg, eine Hochzeitsreise nach Venedig zu machen…, doch Hetty hatte ihren eigenen Kopf und blieb im Geschäft.
Ihr Ehemann Maximilian beauftragte einen Maler der Kunstakademie Düsseldorf, und dieser fuhr mit seiner Frau und den noch gültigen Zugfahrkarten ab Wuppertal…, wo Hetty, die junge Ehefrau fluchtartig den Zug verlassen hatte, nach Venedig.
Der Maler fertigte ein stimmungsvolles Ölgemälde aus dem Innenraum der Basilika und dieses Bild machte Max seiner Ehefrau dann zum
Hochzeitsgeschenk.
“Es war schön in Venedig”, sagte Hetty allen, die es hören wollten und diese bestaunten das Bild.
“Typisch Hetty…,” sagten sie bewundernd.
Lissy hatte seit einiger Zeit begonnen, Tagebücher zu schreiben. Hatte sie doch in den letzten Jahren viele Kuriositäten, sowohl im geschäftlichen, wie im privaten Bereich erlebt und sie dachte: “Das kann ich unmöglich alles im Kopf behalten…, und gerade diese Altstadtgeschichte interessierte sie sehr, weil sie hier einer Bevölkerungsschicht begegnete, deren Geschichte nicht abwechslungsreicher hätte sein können.
Ein so originelles Ehepaar, wie Max und Hetty, hatte Lissy noch nie kennengelernt.
Hetty fand in Lissy eine gute Zuhörerin und sie erzählte, dass sie die Schule für höhere Töchter bei den Nonnen vom Orden der Ursulinen besucht, und dort auch Französisch und Klavierspielen gelernt hatte und sie zeigte Lissy ihr Poesiealbum, mit den vielen Eintragungen ihrer Mitschülerinnen, die zum Teil nicht mehr in der Altstadt wohnten, weil sie als Jüdinnen, mit ihren Familien nach Amerika ausgewandert waren.
Traurig sagte sie: “Die nicht ausgewandert sind, sind umgekommen!”
Ihr Ehemann Max spielte Geige…, ein Pflichtfach, wenn man den Beruf des Volksschullehrers ergreifen wollte. In den Volksschulen war Gesangunterricht ein benotetes Fach und wenn ein Kind absolut gesangunfähig war, konnte eine Fünf das ganze Zeugnis verderben.
Die Lehrer hatten die Kinder im Gesangsunterricht zu begleiten, koste es was es wolle und manchmal wurde eine Geige zum Folterinstrument.
Das ging bis zu Beginn des zweiten Weltkrieges.
Seitdem Max zum Schulrektor befördert worden war, hing das Instrument nebst Bogen, zwischen den schönen, mit weißen Gardinen dekorierten Butzenscheibenfenstern, die zur Altstadtstraße hinaus gingen. Der Versuch zusammen zu musizieren und Hausmusik zu machen, war fehlgeschlagen, weil Hetty mehr Interesse für das Geschäft zeigte als für die Kunst des Klavierspielens und Max sagte, auf das Katzenkonzert habe man gut verzichten können.
Lissy interessierten die wundervollen, im Jugendstil bebilderten Klavierschulenbände für Geige und Klavier, welche die Geschäftsfrau ihr zeigte. Hatte sie doch selbst Quartett gespielt, aber aufgehört, weil sie nicht mehr ausreichend üben konnte und auch, weil Lothar kein Interesse an dieser Art von Musik zeigte. Er hatte als Junge einmal Akkordeon gespielt und versucht, nach der Gefangenschaft mit Unterricht seine Fähigkeiten zu erneuern, aber es dann doch wieder aufgegeben.
Hetty sprach lieber von ihrer geschäftstüchtigen, geliebten Mutter, von der sie das Geschäft übernommen hatte und nun führte sie es mit großem Geschick und Raffinesse, das
Geschäft für die stärkere Dame
Als Geschäftsfrau war sie stolz darauf, dass sie, trotz großer Konkurrenz durch Kaufhof, Karstadt, Klischan und anderen, größeren Unternehmen, ihr Geschäft erfolgreich führen, und im Preiswettkampf mithalten konnte.
Sie legte Wert darauf, diese Unternehmen um ein paar Pfennige zu unterbieten. Sie beschäftigte zwei Verkäuferinnen und eine Näherin, die Kinderkleidung herstellte oder Änderungen vornahm. Häkel- und
Strickarbeiten kaufte sie von Heimarbeiterinnen, die sehr schöne Babykleidung herstellten und auch Taufkleidchen bot sie an.
Weiß- und Aussteuerware… , darunter verstand man Bettwäsche, wie auch Paradekissen mit Spitzen, sowie Bettüberwürfe aus Baumwolle oder Damast. Diese Textilien wurden in vielen unterschiedlichen Qualitäten, noch in den ersten Jahren des zweiten Weltkrieges, im eigenen Atelier, in der ersten Etage des Altstadthauses hergestellt.
Doch den meisten Spaß machte es, den Marktfrauen schöne Nachthemden, Kittelschürzen, Korsetts und Büstenhalter anbieten zu können, die sie ab Größe vierundvierzig, bis Größe 60 bereit hielt.
Wenn nötig, ließ sie nach Maß fertigen und liebevoll sagte sie: “Ich muss doch etwas für meine Dicken haben, sie bekommen doch nirgendwo etwas für ihre Größen und wollen doch auch schöne Kleidung!“
Sie kannte sie alle, die Frauen von den Marktständen und sie wurde von diesen respektiert und geliebt, denn sie gab sich sehr natürlich.
Ihr Ehemann Max, der Schulrektor, machte sich lustig, und nannte die Büstenhalter “Hauszelte…”, aber auch er war bei den Kundinnen sehr beliebt, weil er scherzte und sich freundlich und sachlich mit ihnen, auch über ihre Geschäfte auf dem Marktplatz, unterhielt. Manche der Händlerinnen und Händler waren auch seine Schüler gewesen. Man kannte sich…
Auf diese Weise erfuhr er auch immer wieder von den Räuberpistölchen, die sich auf diesem Platz abspielten. Auch von den Konkurrenzkämpfen und Schummeleien der Bauern und Händler und es wurden Witze oder auch wirkliche Vorkommnisse kolportiert.
Hetty war eine warmherzige und geschäftstüchtige aber auch sehr
eigenwillige Frau, die ihren Ehemann sehr liebte. Einmal sagte sie, eigentlich zusammenhangslos zu Lissy: “Ich habe meinen Mann zu sehr geliebt!” Lissy konnte sich auf diesen Spruch keinen Reim machen.
Wenn es um Reisen ging sagte sie: “Ich muss im Geschäft bleiben!”
Die Hochzeitsreisegeschichte hatte Lissy nicht zum ersten Mal gehört aber
sie wurde jeweils als witzige Einlage erzählt und Hetty sagte stolz, dass Max sie noch nie, auch nicht einen Abend alleine gelassen hätte und deshalb sollte er auf eine längere Urlaubsreise nicht verzichten.
“Ich brauche keine Reisen!”, sagte sie. “Ich habe hier genug Theater…, und Ich bin glücklich, wenn ich das Geschäft führen kann…!
Mein Mann schreibt mir jeden Tag wenn er unterwegs ist, und so bin ich immer dabei…”
So besuchte Max in den dreißiger Jahren, also vor dem zweiten Weltkrieg…, Amerika, Israel, die Türkei, Griechenland, Italien und Frankreich und andere Ziele,
Einmal fuhr Hetty mit an die Ostsee, aber gefallen hatte es ihr dort auch nicht richtig. Sie sagte: “Für Max war das Erholung, für mich nicht!
Ich bin lieber im Geschäft.” Und sie ließ ihn fahren, wohin er wollte.
“Wenn er zurück ist, gehört er mir“, sagte sie.
Max gefiel es umso besser an der Ostsee.
Als gut aussehender Mann ging er dann abends, immer entsprechend gekleidet…, im Smoking…, groß, mit grauen Schläfen, und immer mit flotten Sprüchen auf den Lippen, in die Ballsäle. Bei den Herren und Damen gleichermaßen beliebt…, weil er ein guter Unterhalter und Tänzer war und die Damen elegant über das Parkett führte.
Allerdings war er geizig… Eigentlich war das keine schöne Eigenschaft aber sie bewahrte ihn vor allzu leichtfertigen Abenteuern mit den schönen Frauen. Von Natur aus sparsam…, geriet er in keine Abhängigkeiten.
Aus Prinzip hinterließ nirgendwo seine Anschrift, und bei “Reisebekanntschaften benutzte er niemals deren Visitenkarten. Er sagte: “Reisebekanntschaften sind für die Reise…! Zu Hause will ich keinen Besuch, das führt zu nichts und es geht dann meistens nur um kostenlose Übernachtungen und eventuelle Gegeneinladungen, zu denen ich keine Lust habe und für Hetty ist das gar nichts. Die ist sowieso lieber im Geschäft, bei ihren Marktfrauen.
Lieber gehe ich dann mit Lothar ins Museum oder zum Ürigen.
Hetty sagte: “Für Max lege ich nicht die Hand ins Feuer…!”
Von den Reisen zurück, war Max der perfekte Ehemann, der jeden Abend mit Hetty eine bis zwei Flaschen Wein trank aber nicht mehr rauchte.
Sie hörten gerne Operettenmusik von Schallplatten oder Radio und sie gingen früh schlafen, denn um acht Uhr wurde das Geschäft geöffnet, dann musste Hetty fit sein. Es war selbstverständlich, dass sie als erste im Laden war. Max hatte vorher mit Hetty zusammen, gefrühstückt. Das Frühstück brachte Marianne, die Haushälterin, die schon bei Hettys Mutter gearbeitet hatte und so praktisch von einem Haushalt in den anderen übergegangen war.
Das Kuriose war, dass Hettys Mutter ihrer Tochter die Haushälterin offiziell zur Hochzeit geschenkt hatte. Doch war dies auch im Sinne von Marianne, die niemals den Platz in diesem Hause freiwillig verlassen hätte. Sie war gerne “Geschenk”.
Zur Untermauerung ihrer Erzählungen zog Hetty oft Marianne heran und sagte: ”Marianne erzähl Du mal, wie das damals war…,” und…, eigentlich führte Marianne das Regiment. Sie bestimmte, was eingekauft wurde, dass die Mahlzeiten pünktlich eingehalten wurden und sie ließ keinerlei Änderungen im Tagesablauf zu. Allen diesen Anordnungen hatte sich auch der Hausherr zu unterwerfen, der sich seinerseits darüber lustig machte. Erst nach Geschäftsschluss und nach dem Abendessen zog Marianne sich in ihr Zimmer zurück. Sie war mit der Familie so fest verwachsen, wie es eine Mutter nicht hätte sein können. Ein Leben alleine, hätte sie sich nicht vorstellen können. Sie hatte von Hettys Mutter den Auftrag bekommen, auf Hetty aufzupassen und das tat sie, wenn Hetty auch machte was sie wollte, und Marianne vor vollendete Tatsachen stellte.
Jede Woche gönnte Max sich einen freien Nachmittag, den er manchmal mit Lothar verbrachte. Der skuriler Humor, der den Beiden zu eigen war, hielt sie irgendwie zusammen und im Stillen betrachtete Max seinen Steuerberater auf eine unaufdringliche Art als Sohn oder als Freund, denn die gleichaltrigen Bekannten aus der Altstadt gaben sich ihm zu altbacken. Er liebte Wortgefechte, die ihm auch Lissy manchmal bot. Und er genoss es, zusammen mit Lothar in der Altstadt Essen zu gehen, wobei einer versuchte, den anderen in der Wahl der Lokale bezüglich der Preisgestaltung im Geldausgeben zu unterbieten. Ein Spielchen, das Lissy an Kinderei erinnerte, aber die Beiden zu ketzerischen Wortspielchen animierte. Da spielte der Altersunterschied keine Rolle.
Sie bevorzugten beide Hackfleisch mit Zwiebeln, Röggelchen und Altbier. Und sie versuchten herauszubringen, wo das am billigsten angeboten wurde, denn sie luden sich abwechselnd dazu ein.
Eines Tages hatten sie wohl zu preiswert gegessen, da schlug das Schicksal zu und bescherte ihnen unangenehme Bauchschmerzen.
Sie dachten an Vergiftung und schwiegen beharrlich…, weil sie den Spott der Frauen fürchteten.
Nach einem Arztbesuch beschäftigte sie eine Weile die Beseitigung ihrer Bandwürmer, wobei sie sich nicht einig werden konnten, wie sie diesen zu Leibe gehen könnten.
Zum Schluss nahm Lothar ein Medikament und Max trieb den Bandwurm auf althergebrachte Weise ans Tageslicht. Ein Anlass mehr, Anekdötchen zu erzählen. Und Hetty sagte: “Das haben sie nun davon!”
Was Lissy bei dieser Männerfreundschaft gefiel, war…, dass viel gelacht wurde und…, dass Lissy sich an den Wortgefechten beteiligen konnte, was besonders Max gefiel, denn er bekam sonst wenig Contra in seinem Umfeld, und schon gar nicht von Frauen.
Lissy und Tim genossen den breiten Strand aber nach brütender Augusthitze änderte sich das Wetter und in Sekundenschnelle kündigte sich ein Gewitter an. Sie kamen nicht mehr in ihr Hotel,, denn dazu war der Weg durch die Dünen zu weit.
So erlebten Lissy und Tim diesen gewaltigen Gewittersturm und die Sturmflut unversehrt in dem Strandhaus.
Etwas angstbesetzt begleitete dieses Naturereignis Lissy bis in ihre Träume. Dieses grollende, ohrenbetäubende Donnern zu hören, den wild zuckenden, grellen Blitzen zuzusehen und das hoch schäumende Meer zu beobachten, war “Ein Naturschauspiel…! Ein tiefgreifendes Erlebnis“, das Lissy nie vergaß…
Noch am Abend, als Tim schlief, ging sie zum Meer, das sich nun beruhigt hatte und saß lange auf einem Platz über dem Strand. Sie war hier ganz alleine und genoss die Ruhe, begleitet vom Rauschen, der etwas höheren Wellen und tief berührt sah sie den blutroten Sonnenuntergang.
“Nur “Van Gogh” hätte das malen und begreiflich machen können,” dachte sie…
Sehr nachdenklich ging sie zurück zum Hotel. Sie sah ihr friedlich schlafendes Kind und befand sich in einem Zustand innerer Ruhe.
Nach diesem Gewittersturm änderte sich das Wetter.
Die Flut hatte eine Menge Quallen auf den Strand gespült und zu dieser Zeit wurde der Strand noch nicht gereinigt. Keine Badegäste waren zu sehen und Lissy mit Tim waren allein am Strand.
Die Quallen verbreiteten Verwesungsgeruch, der sich durch die wieder einsetzende Sonnenhitze verstärkte.
Noch einmal ließ sie sich von den Wellen tragen…, aber das Meer hatte sich abgekühlt.
Sie räumte das Strandhaus und brachte Tim und ihr Gepäck in einem kleinen Leiterwagen ins Hotel zurück.
Die Saison war zu Ende…
Als Lothar sie abholte, erzählte er Lissy von einer Fahrradtour nach Flensburg, die er mit Freunden in seiner Kinderzeit gemacht hatte und machte Lissy neugierig, denn sie kannte die deutsche Nordsee noch nicht, und Lothar hatte keine Lust noch länger auf Texel zu bleiben, denn eigentlich war er kein “Strandmensch.”
“Tim war gesund und munter und Lissy war begeistert von Lothars Idee durch Norddeutschland nach Hause zu fahren. Sie empfand Glück, wie in früheren Zeiten… Es gab keine Probleme, keinen Stress…!
Für einen Moment war es wie “früher.“
Die weißen Birkenstämme auf den Landstraßen, die kühle Luft nach der Gewitterschwüle auf Texel und Lothars entspannte Haltung, nach all’ den geschäftlichen Strapazen der letzten Zeit, brachte sie in eine heitere
Stimmung.
In Flensburg war Kirmes und in ihrem Hotel war Tanz in einem großen Saal. Die Menschen luden Lissy und Lothar an ihren runden Stammtisch und alle waren in Festesstimmung. Eine Musikkapelle spielte Tanzmusik und sie tanzten ausgelassen, wie in früheren Zeiten. So ein wildes Fest hatten sie schon lange nicht mehr erlebt. Lothar war an dem Abend “voll
in Fahrt” als er seine Anekdötchen zum Besten gab und die Leute kamen aus dem Lachen nicht heraus. Lissy hatte immer von den ruhigen Nordländern gehört und Friesenwitze wurden erzählt, in denen die Friesen nicht gut wegkamen. Hier aber wurde sie eines Besseren belehrt.
Diese Leute waren von einem hintergründigen Humor, der Lissy gut gefiel.
Sie kamen ins Gespräch mit einem einheimischen Pferdehändler, der den kleinsten Sechserponyzug Europas besaß und mit diesem Gespann auf Pferderennbahnen auftrat. Dieser Mann kannte auch die Düsseldorfer Rennbahn und hatte dort seinen Sechserzug, ein Ponygespann, vorgeführt.
Er fragte, ob sie mit ihrem kleinen Sohn eine Ponykutschfahrt machen wollten. Begeistert stimmten sie zu. Und bereits einen Tag später hatte Lothar in großer Begeisterung, dieses Pony samt Kutsche…, gekauft…
Das Pony sollte per Bahn nach Linz am Rhein transportiert werden…
Auf der Rückfahrt übernachteten sie in der Pension Könen, einem kleinen Gasthof, mit freundlichen Wirtslauten. Sie waren die einzigen Gäste, denn die Saison war auch hier zu Ende.
Mit Tim machten sie noch einen Sparziergang im nahen Wald, tobten mit ihm und spielten “Fangen” und dann kamen sie an einen Platz mit unheimlicher Atmosphäre.
Sie konnten sich eines bedrohlichen Gefühls nicht erwehrten.
Still standen sie dort zwischen den Bäumen, die um ein Areal von schätzungsweise zehntausend Quadratmetern wuchsen. Auf dem Platz standen keine Gebäude aber es sah aus, als ob die ganze Fläche einem Brand zum Opfer gefallen wäre. “Was mag hier passiert sein?”, fragte Lissy.
Die Freude, das Lachen und Singen mit dem Kind - der Gang durch den Wald - war einer nicht erklärbaren, unheimlichen Stimmung gewichen.
Bald gingen sie zu dem Gasthof, dem gemütlichen Friesenhaus, mit den roten Klinkern und dem mit Reet gedeckten Dach zurück, und abends
servierten Herr und Frau Könen ihnen einen exquisiten, friesischen Tee, der liebevoll, in einer besonderen Teekanne zubereitet, und mit Kandiszucker und Sahne serviert wurde. Sie erklärten auch, dass man den Tee so trinkt, dass man ein Stück Kandiszucker in den Mund nimmt und den Tee dann über den Zucker trinkt, was dem Getränk dann einen besonderen Geschmack verleihe. “Wieder etwas dazu gelernt!”, sagte Lothar.
Dann fragte Lothar: “Was ist mit dem großen, leeren Platz im Wald?
Wir hatten dort ein einheimliches Gefühl und es riecht, als ob dort ein großer Brand den Wald zerstört hätte! Was ist da passiert?”
“Ja“, sagte der Gastwirt, “Ich bin hier im Ort geboren und habe das ganze Elend der armen Leute gesehen. Haben Sie noch nichts vom
KZ-Buchenwald gehört?”
“Ja…, doch…, sagte Lissy. “Nach dem Krieg wurde viel darüber berichtet. War das hier…?”
Lothar wusste über dieses Lager nichts, denn zu der Zeit war er in russischer Gefangenschaft. Auschwitz war ihm bekannt und er wusste auch von Massakern, die in Russland an Juden und Russen verübt wurden. Lissy aber dachte an die traurige Begegnung mit der jungen Jüdin im Kriegsjahr dreiundvierzig, von der sie nicht wusste, ob diese dem Naziterror entkommen war. Doch wusste sie nach dem Krieg, dass Millionen Juden in den Konzentrationslagern ermordet wurden. Sie schrieb über dieses Mädchen die Geschichte; “Das Mädchen mit dem gelben Stern!”
Herr Koenen wurde regelrecht wütend, als er sagte:: “Das war schrecklich für die armen Menschen. Man konnte ihnen nicht helfen. ”Zum Schluss haben sie die völlig unschuldigen Leute umgebracht…, diese Bestien!”
Er sagte, dass sie als Kinder den Gefangen Brot an den Zaun gebracht hätten und als man ihnen auf die Schliche gekommen wäre, hätte die Gestapo ihre Eltern verhört und bedroht.
“Sie drohten…: “Wenn wir Eure Kinder noch einmal in der Nähe des Zaunes sehen, müssen sie in ein Erziehungsheim. Da wird man ihnen die Flötentöne schon beibringen…! Aus denen werden wir dann gute Soldaten machen!”
Ihre Eltern hätten dann die Gänge zu dem Zaun verboten und man hätte nichts mehr für die Gefangenen tun können.
Er wurde regerecht wütend als er sagte: Zum Schluss haben sie die armen Leute umgebracht…, diese Bestien.
Er sprach auch darüber, dass noch Jahre später der Ort Buchenwald von den Menschen gemieden wurde und die Gasthöfe in der Umgebung des Konzentrationslagers keine Gäste hatten.
Lissy konnte das verstehen… Hatte doch der große schwarze Platz auch in ihnen Angstgefühle ausgelöst.
Frau Köenen sagte: “Reg’ Dich nicht so auf, Du kannst doch nichts daran ändern! Und etwas traurig fügte sie hinzu: “Wir konnten doch nichts dafür und hatte selbst große Angst! Dieses Lager hat uns die ganze Kriegszeit und belastet uns bis heute.”
Das waren doch sehr traurige Gespräche an diesem Urlaubsabend und sehr nachdenklich gestimmt, sagten sie den Wirtsleuten “Gute Nacht.
Als Lissy am nächsten Morgen erwachte, sah sie einen nachdenklich
gestimmten Lothar, denn er hatte ein überaus mulmiges Gefühl und sein Gesicht sprach Bände.”
“Was ist los?“, fragte Lissy. “Geht es Dir nicht gut?”
“Wohin mit dem Pferdchen?”, fragte er.
Im Überschwang des Kaufrausches, mit etlichen Promillen im Blut,
hatte er noch nicht an die Unterbringung dieses kleinen Pferdes gedacht. Nicht viel größer als ein großer Hund, schien es wohl gut verstaubar zu sein aber nun…?
Das war eben kein großer Hund, denn den hätte man ja zur Not noch in Düsseldorf unterbringen können, aber ein Pferd…?
Zwar hatte Lothar an Jupp, den Mann aus dem Westerwald, der das Fjordpferd besaß, gedacht. Aber würde dieser das Pony in Pflege nehmen? Er hatte ja auch schon zwei Apfelschimmel in Pflege, die einem Sauerkrautfabrikanten aus Neuß gehörten und…, hatte er nun auch noch Platz für das Pony…?
Lothar war äußerst besorgt, doch Lissy, die in den Kriegszeiten so oft vor nicht vorhersehbare Tatsachen gestellt worden war…, sagte:
“Kommt Zeit kommt Rat!” und scherzhaft: “Notfalls stellen wir das Pferd auf unseren Balkon und es ist ja noch nicht da.”
“Aber es kommt…,” sagte Lothar…, mächtig bedrückt.
Lissy war in ihrer ganzen Haltung optimistisch, wenngleich sie eigentlich nicht so spontan handelte wie Lothar, wenn er etliches an Wein konsumiert hatte. Nun aber war es so und sie konnten von dem Kaufvertrag nicht zurücktreten. Also galt wieder der Wahlspruch: “Kommen wir über den Hund, kommen wir über den Schwanz!” Und dieses Mal…, “Pferd und Schwanz.” und Alex hatte für ein so kleines Pferd, einen wunderschönen dichten Schweif.
Dieser kleine, schwarze Wallach, mi Namen A l e x war brav, wenn auch stur. Es war der Beginn einer langen Pferdebesessenheit.
Auf der Rückfahrt fuhren sie zuerst zum Westerwald, denn Lothar war voller Zweifel…, doch nach Rücksprache mit Jupp, dem Pferdenarr, konnten sie in Ruhe zurück nach Düsseldorf, denn Jupp hatte… “Ja“…, gesagt. Er hatte noch einen kleineren Stall auf der Wiese vor dem Haus. Dort konnte er sein Fjordpferd Wotan, zusammen mit Alex unterbringen.
Ein paar Tage später, Jupp hatte sich einen Transporter für die Abholung des Ponys besorgt, rief er in Düsseldorf an und sagte: “Alex ist da…!”
Und dann im westerwälder Dialekt: “Dat es ke Päd, dat es ene jrote Honk!”
Jupp hatte bei einem Sattler, den er von früher kannte, einen Kindersattel in Auftrag gegeben und nun waren alle gespannt auf das kleine Pferd.
Morgens um sechs erschien Tim vor Lissys Bett und erklärte: “ Aus die Bett, auf die Stuhl, auf die Tisch, auf die Erd gekettert, Mami“.
(kl konnte er noch nicht) Folgerichtig stellte er dar, wie er das gemacht hatte.
Lissy war erschrocken, als er plötzlich vor ihrem Bett aufgetauchte, denn das Gitter des Kinderbettchens war hoch und er hätte sich schwer verletzen können, wenn er gefallen wäre.
So wurde bald ein Klappbett angeschafft. Vorteil: Platzbeschaffung am Tage…, Nachteil: Ein breiter Spalt zwischen Wand und Matratze. Gefahr für das Kind… Lissy holte ihr Handwerkszeug das sie für den Bau des Werkzeugregals im Westerwald angeschafft hatte, und versah die Wand mit Klavierband. Ein Brett daran geschraubt, mit dem man das gefährliche Loch schließen konnte und fertig…
“Gefahr erkannt…, Gefahr gebannt…!”, sagte sie stolz.
Dem Kind konnter nun nichts mehr passieren aber
von diesem Tag an, hatten die Steckdosen Sicherungen, alle Türen wurden abgeschlossen und die Fenster bekamen kleine Vorhängeschlösser. Gelüftet wurde nur, wenn Tim unter Aufsicht war, denn er kletterte, wo immer dies möglich war. Der kleine Hund war immer dabei und Lothar bezeichnete diesen als Tims Assistenten.
Eines Tage deckte die Wirtschafterin den Tisch und legte auch ein Besteck neben Tims Teller.
Der rief laut: “Um Gottes Willen…, dem kein Messer…!”
So hatte es Lissy ein paar Tage vorher gerufen, nachdem er versucht hatte, mit einem Sägeschliffmesser eine Kerbe in die Tischkante zu schneiden.
Lissy dachte: “ Wie wird er sich verhalten, wenn ein zweites Kind in der Familie ist.
Zwar hatte sie eigentlich nicht mehr mit einer Schwangerschaft gerechnet, doch es gab es untrügliche Anzeichen, dass doch noch etwas daraus würde und…, ja, es stimmte…, sie war wieder schwanger und die Übelkeit, die sie am Meer befallen hatte und die sie den toten Quallen zugerechnet hatte, war bedingt durch die Schwangerschaft.
Lissy war sehr glücklich und voller Freude sagte sie es Lothar, der bedingt froh war. Das enttäuschte Lissy etwas, aber dann dachte sie:
”Er muss sich an den Gedanken erst gewöhnen.”
Bedeutete es doch wieder eine Umstellung der gesamten Lebensbedingungen. Auch Wohnraum bedingt, würde es wohl nicht mehr so weiter gehen. Also wieder allerlei Komplikationen . Aber dann freute er sich doch…, auf “Männerart.”
Wegen Tim blieben sie nun abends zu Hause, denn niemals würden sie ihr Kind alleine lassen und oft hatten sie Besuch von Freunden.
Lissy war erstaunt darüber, dass Lothar ein absolutes Rauchverbot verhängte und auch selbst einhielt, obwohl er gerne Zigarren rauchte.
Die Raucher mussten auf den Balkon und Lissy freute es, denn sie vertrug den Rauch nicht mehr.
Heftig wurde über Wirtschaft und Politik diskutiert.
Konrad Adenauer hatte die Republik geprägt und sich durchgesetzt. Man nannte ihn scherzhaft: “ Den Alten vom Berge”, weil er ein Haus über Rhöndorf bewohnte und auf die Bundeshauptstadt Bonn herab sehen konnte. Lothar mochte Adenauer nicht aber Lissy sagte: “Er ist auch nicht mein Typ, aber er war der Mann der Stunde und er hat den Karren aus dem Dreck gezogen!” Lothar fehlte die politische Erfahrung der Jahre zwischen Kriegsende, der Kapitulation, die Zeit der Besatzungsmächte…, den vier Hungerjahren und der Einführung der Währungsreform.
Als dann im Jahr neunzehnhundertsechsundfünfzig die Bundeswehr aufgebaut werden sollte, war dies ein heißes Thema, das zu großen Diskussionen im Freundeskreis führte.
Die Meinungsverschiedenheiten hierzu führten sogar manchmal zu Streit und zur Beendigung von Freundschaften zwischen Befürwortern und solchen, die partout eine neue Wehrpflicht ablehnten. Es wurde politisch heiß gestritten und argumentiert. Diejenigen, die die ganze Brutalität des Krieges in Kampfgebieten und in Gefangenenlagern erlebt hatten, und Andere, die davon verschont geblieben waren, bewerteten die Wehrpflicht sehr unterschiedlich. Lissy hörte wieder von Lothar: “Ich werde nie mehr ein Gewehr in die and nehmen!”
Nie mehr sollte von deutschem Boden aus eine Kriegsgefahr ausgehen.
So warb man für die Laufbahn der Berufssoldaten, die nun ausschließlich, nur zur Landesverteidigung eingesetzt werden sollten. Man warb für den zwölfjährigem Dienst. Neben der militärischen Ausbildung konnten die Soldaten studieren…, einen handwerklichen, oder kaufmännischen Beruf erlernen…, oder eine Offizierslaufbahn anstreben.
Deutschland sollte nur Waffen für die eigene Verteidigung herstellen. Diese Verfügung wurde später häufig nicht eingehalten. Es blieb alles geheim und diejenigen, die davon profitierten, waren schweigsam.
Ältere Berufssoldaten mit Erfahrung gingen, wenn sie entnazifiziert waren…, zum “Bund,” oder zum “Zoll”. Sie sahen in der neuen Bundeswehr eine Fortsetzung ihrer Laufbahn denn sie hatten keine anderen Berufserfahrungen und keine Ausbildung in anderen Berufen. Nur die “Schreibstubenhengste” konnten in kaufmännischen Berufen zu besseren Verdienstmöglichkeiten kommen und selbst für sie gab es nur wenig Möglichkeiten.
Uniformträger waren in der Bevölkerung nicht angesehen. Wenn die Soldaten, auch Offiziere Urlaub hatten, erschienen sie immer in Zivilkleidung.
Für die die Kriegs- und Nachkriegsgeneration war dies eine aufregende Zeit…
Nur wenige Menschen hatten alle Programme, die von den Politikern und ihren Parteien erdacht, oder wieder verworfen waren, verstanden.
Zehn Jahre waren vergangen, seitdem Adenauer Bonn als Bundeshauptstadt und die CDU durchgesetzt hatte.
Frankfurt, SPD regiert, passte nicht in Adenauers Konzept, auch weil Frankfurt Sitz des US-Amerikanischen Militärgouverneurs war.
Adenauer wurde verdächtigt, die Einbindung Westberlins verhindert zu haben, weil er dort eine SPD-Mehrheit fürchtete, die seine Position hätte gefährden können.
In privaten Kreisen waren Adenauers Pläne heftig umstritten.
Lissy interessierte sich sehr für politische Zusammenhänge und machte sich bei einigen Frauen in ihrem Freundeskreis unbeliebt, weil sie sich nicht ausschließlich auf die Erzählungen über die Verhaltensweise ihrer Kleinkinder beschränken wollte. Sie eckte aber auch bei älteren Frauen von Mandanten an, wenn sie nicht ausschließlich über deren Enkelkinder reden wollte. Später wurde ihr bewusst, dass sie selbst zwischen die Fronten geraten war. Die Jüngeren hatten die Kriegsauswirkungen nicht am eigenen Leibe verspürt, und die Älteren wollten von Politik nichts mehr wissen, und sich endlich an den Enkelkindern erfreuen.
“Die machen ja doch was sie wollen und wir, die kleinen Leute, werden wieder nicht gefragt…! Wir Frauen schon gar nicht“…, sagten sie.
Um Geschäftsinteressen zu schützen und nicht als Besserwisserin dazustehen, hielt Lissy sich dann an Annas Spruch: “Reden ist Silber, Schweigen ist Gold!”
Letztlich waren die Mandanten ja auch ihre ”Brötchengeber.” Da streitet man nicht um Politik… !
Bei vielen Menschen galt auch immer noch der Spruch:… “Politik ist was für Männer…, Frauen können nicht politisch denken…!” Das hatten die Männer ja auch schon zur Zeit von Lissys Großeltern gesagt.
Doch auch viele der Männer hatten kein Interesse an Gesprächen zu politischen Fragen, oder über Themen zur Wirtschaft. Bei vielen Menschen war das Hauptthema der Urlaub und Mallorca, Eisbein, Bier, Wein, Tabak und Sex… oder der Beruf und vor allem Sex…, oder Fußball.
Und dann kam sie…: DIE PILLE…
Plötzlich ein heißes Thema bei allen Zusammenkünften mit Freunden, im Mandantenkreis, in Rundfunk und Fernsehen.
Es wurde heftig diskutiert und “d i e P i l l e” war “in aller Munde“, in jeder Hinsicht…! Wenn auch von kirchlicher und politischer Seite heftig diskutiert, war diese kleine, weiße Tablette von vielen als “Teufelszeug” verschrien, oder von Befürwortern gelobt. Moralapostel empfahlen sie heimlich.
Das sind die Schlimmsten“, sagte Anna. “Hätte man die Pille schon früher gehabt, wären unsere Eltern nicht so kinderreich gewesen, es wären nicht so viele Frauen im Wochenbett gestorben und hätten ein leichteres Leben gehabt. Vielleicht hätte es auch nicht so viele Kriege gegeben, denn dann wäre ihnen das Kanonenfutter ausgegangen!”
Worauf Lissy sagte: “Dann hätten findige Köpfe sicher eine andere Methode gefunden, die Menschheit zu reduzieren und die Geldsäcke wären auch davon gekommen!”
Lothar sagte: “Diese Pille…, das ist ein ganz gefährliches Mittel!”
Da war er im Einklang mit seiner Mutter, die noch Lothars Vater die Tablette gegen den Zucker ausreden wollte.
Aber Lothar hatte in gewisser Weise Recht, denn die Pille war noch nicht ausgereift. Von Ärzten wurde behauptet, dass durch die Pille der gesamte Hormonhaushalt gestört würde.
In mancher Ablehnung von Männern spielte wohl noch der Gedanke an eheliche Untreue eine Rolle, und Misstrauen schlich sich ein. Sie dachten…, was für den Mann ein Kondom, ist jetzt für die Frau die Pille.
Lothar sagte: “Ich vertraue nur mir selbst…!“, was Lissy allerdings nicht ganz ernst nahm. Denn von ihm stammte auch der Spruch im Soldatenjargon: “Wenn er erst steht…, ist der Verstand im Eimer!”
Doch vertraute sie ihm, weil sie ihm die etwas freizügige Art, mit der er sich Frauen gegenüber verhielt, nicht übel nahm…, weil Eifersucht ihr nicht eigen war, und weil sie ihm das sich Appetitholen gönnte. Hatte er doch in jüngeren Jahren wenig Gelegenheit gehabt, seinen Charme einzusetzen. Solange er sie begehrte und ein guter Vater war, wollte sie nicht kleinlich jeden seiner Schritte überwachen.
Im Bekanntenkreis gab es einige Frauen, die ihren Ehemännern nachspionierten und sie überwachten. Ein solches Verhalten hätte Lissy eher unglücklich gemacht, denn sie sah…, wie Lothar unter Eifersucht litt…, obwohl er keine Veranlassung hatte.
Doch als es um die Pille ging, lernte sie Lothar von einer anderen Seite kennen, denn er sprach den Frauen die Entscheidung zur Verhütung ab, weil Männer nun, wegen der Pille, nicht die Kontrolle hätten, wessen Kinder sie groß zögen.
“Eine abstruse Idee, auf die nur Du kommen kannst!, sagte Lissy.
“Dann müssten wir Frauen Euch ja auch verdächtigen, weil Ihr Kondome benutzt, um wegen unerwünschtem Kindersegen, nicht aufzufallen…”
Fast gab es Streit…
Viele Männer lehnten Kondome ab, weil sie meinten, dass der sexuelle Genuss geringer sei, aber sie wollten auch nicht für eventuellen Nachwuchs aufkommen. Irgendwie…, wollten sie alles auf einmal…
Die Pille, dieses Verhütungsmittel war noch nicht vollkommen sicher, und nicht jede Frau nahm sie ein, aber viele Männer dachten, sie könnten Sex nun ungeschützt genießen.
Die Verantwortung läge nun bei der Frau…, sagten manche.
Unerwarteter Kindersegen war möglich und Abtreibungen fanden immer wieder statt. Es war ein Thema ohne Ende…
Ein Steuerfall machte Lothar mit einem Berufskollegen aus Wien bekannt. Dieser gab sich als Mensch aus höheren, gesellschaftlichen Kreisen, der Lothar für eine Praxisgemeinschaft interessieren wollte.
Mit Wiener Schmäh, sehr charmant, luden er und seine hübsche Frau, Lissy und Lothar zum Essen in ihre Oberkasseler Villa ein.
Er wollte Lothar eine Praxisgemeinschaft schmackhaft machen aber das passte nicht in Lothars Konzept, denn dann hätte er einige Kompetenzen abgeben müssen und das wäre bei der Art seiner Geschäftsführung nicht möglich gewesen.
Einiges jedoch sprach für einen solchen Zusammenschluss, denn beide hatten einen großen Mandantenkreis. Büro- und Personalkosten hätten geteilt werden können und man hätte, da dieser Kollege auch Jurist war, in mancher Hinsicht profitieren können. Aus kaufmännischer Sicht fand Lissy die Idee überlegenswert. Wenn nicht mit diesem Kollegen, dann vielleicht in einer anderen Praxisgemeinschaft, denn manchmal wuchs ihnen die Arbeit “über den Kopf.” Doch Lothar wollte absoluter Alleinherrscher sein.
Lissy dachte: “Eines Tages wird ihm diese Sucht zum Verhängnis werden!”
Anwesend war auch der achtzehnjähriger Sohn des Ehepaares, der zwischen Suppe und Dessert, in Anwesenheit seiner hübschen Verlobten, großmäulig die “freie Liebe” propagierte. Die junge Frau erklärte, dass sie bereits das Experiment mit der Pille gewagt hätte.
Aus so jungem Mund, klang das sehr großspurig und Lissy war erstaunt, dass so frei über die sexuelle Praktike diskutiert wurde.
Lothar war diesbezüglich sehr zurückhaltend, obwohl er sexuell äußerst interessiert war. Reden konnte er darüber nicht.
Er hatte in den entsprechenden Jahren der Pubertät, wie viele seiner Altersgenossen, mit Frauen wenig Kontakt gehabt . Wie die meisten seiner Altersgenossen hatte er keine Erfahrungen machen können, und so rettete er sich jeweils mit ein paar flapsigen Bemerkungen über das Thema hinweg.
Den anderen Gästen waren diese Gespräche bei Tisch peinlich gewesen und Frauen hatten, bei Kaffee und Cognak, trotz Pille, immer noch keine Erlaubnis und Gelegenheit über sexuelle Bedürfnissen zu reden, wenn auch nur “Allgemein.“ Das war bei solchen Einladungen kein Thema für Damen.
Männer fühlten sich bei diesen Gesprächen zumeist unangenehm berührt und angegriffen, wenn Frauen dabei waren und so blieb fast alles ungesagt, was doch so hilfreich hätte sein können. Frauen hatten, mindestens nach außen, immer noch zu kuschen.
Einige Monate später, Lissy dachte, sie traue ihren Augen nicht, erschien die junge Verlobte des Steuerberatersohnes in einem Interview im Fernsehen. Zu dem Thema:
“Die Pille”
Sie war eine der ersten Frauen, die diese Tablette genommen hatte.
Doch das Experiment war insofern misslungen, als die Einnahme dieses Mittels ihr einen Gewichtszuwachs von zwanzig Kilo gebracht hatte.
Die vorher attraktive junge Frau von zwanzig Jahren sah mit unnatürlich aufgeschwemmtem Gesicht und ihren zwanzig Kilo Übergewicht, entstellt aus.
Es war ein Glück, dass sie ein halbes Jahr zuvor beim Opernball in Wien, als sie debutierte, noch ihre Taille hatte.
In dem besagten Interview erklärte sie, dass “Die Pille” ihr diesen Gewichtszuwachs eingebracht hätte und sie mit allen Mitteln versuchen würde, die Pfunde loszuwerden. Ihre Verlobung drohe in die Brüche zu gehen und das schrieb sie der Pille zu, deren Einnahme sie so entstellt hatte. Es dauerte nicht lange und auch die Skandalblätter hatten sich des Themas bemächtigt.
“Siehste“, sagte die Frau vom Zeitungsbüdchen …, “siehste…, dat hat se nu davon…! Ne dicke Bauch un kein Kind…!”
Für das Fernsehinterview und die Zeitungsartikel hatte die unglückliche, junge Frau ein hohes Honorar kassiert…, das ihr dann einen langen Kuraufenthalt mit entsprechenden Maßnahmen zur Gewichtsreduzierung ermöglichte. Doch die Verlobung ging schlussendlich trotzdem in die Brüche, weil die Familie des Berufskollegen, des Skandals wegen, eine Einheirat verhinderte.
Intensiv arbeitete die Medikamentenindustrie an der Verbesserung des Verhütungsmittels, und es war wirklich ein Segen, dass Frauen nun die Möglichkeit hatten, selbst zu entscheiden, ob sie Kinder wollten, oder nicht. Die Pille wurde allerdings nicht verschrieben und sie war zudem sehr teuer, sodass es trotzdem viele unerwünschte Schwangerschaften gab. Wieder hörte man von Schwangerschaftsabbrüchen mit tödlichen Folgen und Babys, die ungewollt zur Welt kamen.
Männer schützten sich vorsichtshalber mit Kondomen, wenn sie sicher sein wollten und vor allen Dingen, weil Aids, diese unheimliche, entsetzliche Immunkrankheit, immer mehr Opfer forderte.
Doch gingen viele Menschen leichtfertig mit der Droge Sex um, obwohl es Möglichkeiten gab, die Folgen des Beischlafs zu verhindern.
“Carpe ‘diem ! Sex ist schön“, sagte einer der Mandantinnen, die Lissy ins Vertrauen zog. Sie sagte: “Jetzt kann ich es machen, wann ich will!
Solche Sprüche gingen reihum und ließ die Männer oft an der Identität ihrer Nachkommenschaft zweifeln. In manchen Fällen hatten sie auch schlechte Karten, denn es gab noch keine sicheren Tests und nun hatte man neuen Gesprächsstoff.
Bei Verdacht auf Untreue mussten Blutuntersuchungen durchgeführt werden. Blut von den Akteuren…, wenn es heraus kam, und zum Vergleich…, auch vom Ehepartner.
Es gab neue Arbeit für Detektive, Polizei, Rechtsanwälte, Ärzte, Apotheker, für die Pharmaindustrie und Gerichte, Eifersuchtsdramen, Morde und das Allerschlimmste: “Aids!” “Alles wegen Sex…!”
Von Aids hatten sie bis dahin noch relativ wenig gehört und sollte es im Freundes- oder Mandantenkreis einen Fall geben, hätte man tunlichst darüber geschwiegen. Denn immer wieder tauchten Gerüchte auf, dass Aids eine ansteckende Krankheit sei, die auch durch Kontakt mit Körperflüssigkeiten, wie Blut oder Urin, bei Unfällen oder Operationen übertragen werden könne.
Skandalblätter berichteten von Aidskranken, die aus Rachsucht und Wut absichtlich Männer und Frauen durch ungeschütztem Sex infizierten…
Einige Bundesbürger wollten Aidskranke in Lager stecken und isolieren. Lange hielt sich der Verdacht, dass bei dem Austausch von Körperflüssigkeiten, so auch durch den Zungenkuss, Aids übertragen werden könne. All’ dies wurde aber im Freundeskreis nicht offen diskutiert, und Einige hatten wohl ein schlechtes Gewissen.
Auch wurde berichtet, dass Patienten durch verseuchte Blutkonserven mit Aids infiziert wurden. Pfleger, Ärzte und Krankenschwestern hatten Angst vor Ansteckung.
Sexualität geriet immer noch in den Verdacht, Sünde und Sucht zu sein. Manch’ einer sagte: “Das haben sie nun davon…, von einem Bett in das Andere, aber im Stillen hätten sie auch gerne mal in einem fremden Bett gelegen und den Lebemann oder die “Femme fatale” gespielt. Ein Thema ohne Ende… , das seine Fortsetzung in anderer Weise fand, als Lissy Anna besuchte.
Anna erzählte ihr, dass sie das freie Appartement im Hause, zwei Monate zuvor an ein älteres Ehepaar vermietet habe, doch würde die kleine Wohnung von deren Tochter bewohnt. Es waren sehr nette Menschen die Anna anvertrauten, dass ihre Tochter drogenabhängige Alkoholikerin gewesen sei und aus dem Grunde mehrfach ihre Arbeitsstelle verloren hätte. Nun aber sei sie durch eine lange Therapien geheilt und seit einem halben Jahr, sie in ihrem Beruf als Anwaltgehilfin tätig.
Sie wollten die Tochter besuchen, aber diese habe nicht geöffnet, obwohl sie verabredet gewesen seien. Nun machten sie sich große Sorgen. Sie fragten, ob Anna nicht auch die Möglichkeit habe, ihnen die Türe zu öffnen, was Anna auch tat, denn letztlich waren sie ja ihre Mieter und hatten ein Recht dazu, aber ihre Tochter war nicht zu Hause, und besorgt verließen sie das Haus.
Anna schaute noch einmal in die kleine Küche und entdeckte die junge Frau, die sich im Winkel hinter der geöffneten Küchentüre, still…, versteckt gehalten hatte.
Überrascht fragte Anna: “Warum halten Sie sich versteckt? Ihre Eltern machen sich große Sorgen um Sie!”
Die Pupillen der jungen Frau waren unnatürlich geweitet und hatten einen seltsamen Glanz.
An Anna vorbei lief sie ins Schlafzimmer und sprang splitternackt, wie sie war auf ihrem Bett herum und rief: “Sex ist schön…, Sex ist schön…!”
Anna sagte: “Ich konnte im Moment nichts sagen…, denn diese junge Frau war so schön…, so vollkommen schön, wie sie da…, so außer sich, mit fliegendem Haar, und diesen glänzenden Augen, die Arme bewegend wie eine Tänzerin auf dem Bett stand.
Und erst da nahm sie Anna bewusst wahr.
Für Anna war das ein seltsames Erlebnis, denn eine nackte Frau, Im Spiegel außer sich selbst, hatte sie noch nie in Natura und so nah gesehen. Sie hatte gelernt, sich immer bedeckt zu halten. Darauf legte man in ihren Kindertagen größten Wert. In ihrer großen Familie, mit Jungen und Mädchen, Vater und Großvater, Gesellen und Lehrling, Mutter, Großmutter, Schwester und Cousine, alle in einem Haus, und dazu noch ganz der katholischen Religion verhaftet, war es Sünde, sich den anderen Menschen nackt zu zeigen.
Wenn einmal die Rede auf Nudisten kam, sagten sie hinter vorgehaltener Hand: “Die Schweine laufen nackt herum! Männer, Frauen und Kinder! Alte und Junge! Mitten auf der Wiese…! Sie nennen das Freikörperkultur!”
Selbst Schwestern, die in einem Zimmer schliefen, gingen hinter eine spanische Wand, bevor sie das Nachthemd anzogen.
Den eigenen Kindern gegenüber, und wohl auch gegenüber ihrem Ehemann hatte Anna es immer vermieden, sich unbekleidet zu zeigen.
Ihr Mann das auch nicht ungewöhnlich. Hatte es doch seine streng protestantische Mutter nicht anders gemacht.
Nackt im Bett, mit dem Ehemann allein, das genügt…, sagte er. Seine Schwestern hatte er auch nie nackt gesehen.
Hier hielt Anna auch strenge Regeln ein und im Nachthemd oder Schlafanzug, ungewaschen und ungekämmt kam niemand an den Frühstückstisch! Es ist nicht erstaunlich, dass in Kindertagen Erlerntes, sich im Erwachsenenalter fortsetzt und weiter vermittelt wird.
Auch für Lissy war es, obwohl sie freier dachte als Anna unangenehm, im Bad oder auf der Toilette mit ihren Angehörigen oder Freunden,
konfrontiert zu werden. Einen Platz an dem man allein sein kann, braucht jeder Mensch,“ sagte sie und wenn es nur darum geht, dabei ein Buch zu lesen und sich ungestört zu fühlen.
Es ist ein ganz natürliches Verhalten…, denn als die Menschen noch im Freien ihre Notdurft verrichteten, gingen sie auch…, “hinter die Büsche” und ließen nicht vor der Hütte die Hose herunter.
Männer schienen allerdings nichts dabei zu finden, ihre Namen um die Wette in den Schnee zu pinkeln um sich darüber köstlich zu amüsieren.
“So was lernen die beim “Barras”! Manchmal pinkeln sie auch an der Toilette vorbei und die Frauen können dann für Sauberkeit sorgen“, sagte Anna empört.
Zu ihrer Mieterin, der jungen Frau sagte sie: “ Ihre Eltern waren hier! Sie machen sich große Sorgen um Sie. Ziehen Sie etwas an!
Nun, völlig außer sich, brach die Frau in Tränen aus und erklärte, dass eine ihrer Kolleginnen Geburtstag gefeiert habe und obwohl sie keinen Tropfen Alkohol trinken dürfe, habe sie einem Glas Sekt nicht widerstehen können. “Ein Glas kannst Du doch trinken“, hatten sie gesagt.
“Nur zur Gesellschaft. das kann dir doch nicht schaden1” und alles sei plötzlich so leicht gewesen. Sie habe dann mitgefeiert und gedacht: “Ich bin geheilt, ich kann nun auch feiern, wie die Anderen!”
“Was soll ich nur meinen Eltern sagen? Was habe ich nur wieder gemacht? Ich weiß gar nicht, wie ich nach Hause gekommen bin! Sicher habe ich jetzt wieder meine Arbeitsstelle verloren! Ich wünsche, ich wäre tot…!”
Anna, die dies Leid kaum ansehen konnte sagte: “Machen Sie keinen Unsinn…! Ich rufe Ihre Eltern an und Sie gehen zum Arzt.
Bleiben Sie nicht allein…! Sie müssen sofort etwas unternehmen, sonst sind Sie verloren und die ganze Therapie war umsonst… !“
Sie sagte zu Lissy: “Der verdammte Alkohol hat schon so manches Leben und so manche Existenz zerstört!”
Lissy erzählte ihr dann von einen Fall im Mandantenkreis. Einer ihrer ersten Kunden war unter Alkoholeinfluss gegen einen Baum gerast.
Lebensgefährlich verletzt lag er nun im Krankenhaus. Als selbständiger Handwerksmeister stand seine ganze Existenz auf dem Spiel, denn sein Geselle und sein Lehrling konnten die Aufträge alleine nicht bewältigen und dementsprechend fehlte auch das Geld für das Geschäft und die Familie. Eine tragische Geschichte!”
Das Weihnachtsfest 1961 war harmonisch verlaufen und wie immer hatten sie mit den Eltern den heiligen Abend verbracht. Und immer noch gab es für jeden einen “Weihnachtsteller mit Gebäck…, Süßigkeiten, Nüssen und Orangen. Das gehörte…, schon des Duftes wegen dazu, wenngleich eigentlich nun alles zu haben war und die Lebensverhältnisse sich allgemein gebessert hatten. Sentimentale Nostalgie…
Tim half wieder beim Schmücken des Christbaumes und war begeistert von Christbaumschmuck und der Krippe mit dem Jesuskind Maria und Josef und den Hirten und vor allen Dingen von der “Arbeit”, was er immer wieder betonte,
Lissy legte Wert darauf, in ganz persönlicher Weise mit dem
Personal zu feiern. Alle bekamen ein Geschenk und ein doppeltes Gehalt.
Nun, im letzten Drittel ihrer zweiten Schwangerschaft, ging es ihr gut, bis auf eine schwere Erkältung im Februar, die sie sehr schlecht verkraftete, denn Medikamente nahm sie wegen des zu erwartenden Kindes nicht. Immer noch arbeitete sie im Büro und saß lange über Buchführungen und Korrespondenz, denn Lothar war, wie immer um diese Jahreszeit, in den Schwarzwald gefahren und hatte seine Urlaubszeit auf vier Wochen ausgedehnt, so dass sich die Frage nach Terminvereinbarungen häuften und Lissys Arbeit im Büro immer anstrengender wurde. Als er dann anrief und von einer weiteren Verlängerung sprach, weil Max gesundheitlich nicht auf dem Posten sei, platzte Lissy der Kragen.
Nein, sagte sie…, du kommst jetzt sofort nach Hause! Was er dann auch einsichtsvoll, und ohne zu Murren tat.
Fast sah es aus, als habe er ein schlechtes Gewissen und wie sie nachher erfuhr, hatte er sich besonders mit einer Studentin beschäftigt, die in dem Hotel einen Genesungsurlaub verbrachte.
Es war eine neue Erfahrung für Lissy, dass sie Eifersuchtsgefühle entwickelte, weil er Tim einen kleinen Stoffhasen mitbrachte, den diese Frau ihm geschenkt hatte.
Lothar sagte Lissy nicht, dass er sich in diese junge Frau verliebt hätte, aber er schien doch sehr beeindruckt von ihr zu sein. Er sprach von langen Spaziergängen, die er mit ihr gemacht hätte und wie erstaunt er gewesen sei, mit wie viel Einfühlungsvermögen sie, trotz ihrer Jugend, seinen Gesprächen gefolgt sei.
Dazu noch ein paar dumme Bemerkungen von Max, der die Schönheit dieser Frau beschrieb und welche phantastische Figur sie habe.
Lissy stand vor dem Spiegel und dachte: ”Da kann ich natürlich, in meinem Zustand, achter Monat, nicht mithalten“. Über ihre Probleme sprach sie nicht, auch nicht mit Anna.
“Wird es wieder ein Junge oder diesmal ein Mädchen?“, rätselte sie.
Sie wollte sich überraschen lassen.
Für den Haushalt hatte sie nun eine nette Putzhilfe, die ihr manches abnahm aber den Einkauf, und das Kochen übernahm sie wieder selbst, denn die Wirtschafterin musste wegen einer Erkrankung aufgeben.
Ende Januar war Lothar, wie jedes Jahr in den Schwarzwald gefahren um zu kuren. Er machte lange Spaziergänge, ging zum Schwimmen ins Kurhaus, nahm Moorpackungen und Massagen. Lissy gönnte ihm diese Kururlaube, denn er arbeitete intensiv und scheute auch Sonn- und Feiertag nicht, wenn Mandanten ihn brauchten. Er buchte ein gutes Hotel, das Lissy auch kannte und im Winter war dort der Gast König, denn dann waren die Hotels nur zur Hälfte belegt. Einige der Gäste, ziemlich gleichen Alters und in ähnlichen Positionen trafen sich hier jedes Jahr wieder und auch sein Mandant Maximilian fuhr mit.
Dieser freute sich, die Reise mit Lothar unternehmen zu können, denn er war von seinem Neffen, einem Arzt mit dem er zuvor in der Türkei gewesen war, bitter enttäuscht worden.
Dieser unternahm jedes Jahr eine Reise mit einem seiner Kinder und hatte dieses Mal seinen kleinen Sohn von vier Jahren dabei. Abends, nach dem Abendessen sagte er: “Maximilian…, Du kannst hier mal Opapflichten wahrnehmen und mir einen Ausflug in die Freiheit gönnen!” Wütend erzählte Max, dass er mit dem Jungen im Hotel bleiben musste. “Mit dem fahre ich nie mehr“…, sagte er.
Er schrieb an Hetty einen Brief, den diese auch Lissy zeigte, in dem er schrieb, dass Lothar ihm solche Enttäuschungen nicht bereitete wie sein Neffe, und dass er einen so schönen Urlaub noch nie erlebt hätte.
In seinem Urlaubsspaß hatte er für Tim Schienen, Lokomotive und Wagen für eine elektrische Eisenbahn aus dem Schwarzwald mitgebracht und diese musste dann immer wieder aufgebaut werden. Lothar hatte sich wohl, wie viele andere Jungen auch einmal eine Carrera-Bahn gewünscht, aber das waren Weihnachtsgeschenke, die sich normale Bürger nicht leisten konnten und nun spielte Lothar begeisterter als der kleine Sohn, der diese wunderbare Sache noch nicht richtig verstand.
Tim war dafür noch zu klein und trampelte auf den Schienen herum, was Lothar als sehr ungezogen fand. Er sagte: “Lass’ das, sonst packen wir alles ein!” Aber Tim ließ sich nicht beirren und lief auf den Schienen herum. Lothar war deshalb aufgebracht, und schämte sich Maximilian gegenüber, der Tim doch diese Eisenbahn geschenkt hatte, aber beide Männer hatten wohl nicht daran gedacht, dass so ein empfindliches Spielzeug nichts für ein zweieinhalbjähriges Kind ist.
Darauf schrie Tim und war furchtbar aufgebracht, weil Lothar ihn nicht beachtete, die Schienen abbaute und alles im Karton verstaute. “So“, sagte er…, “wenn du sie kaputtmachst, stellen wir sie weg!”
Lissy konnte sich Tims Verhalten nicht erklären, aber später dachte sie…, er habe, weil Lothar die Lokomotive von den Schienen genommen habe, statt derer auf den Schienen herumlaufen müssen. Vielleicht wollte er eine Lokomotive sein. Tim weinte und schrie aber Lothar beachtete ihn nicht und das brachte Tim noch mehr auf, denn er liebte seinen Paps sehr. Lissy konnte nicht ansehen, wie das Kind litt und schluchzte. “Nun ist es aber gut…, das Kind liebt dich doch! Er ist noch so klein…!”, sagte sie.
Über die Reisebekanntschaft aus dem Schwarzwald sprach Lissy nicht mehr und ließ das Stoffhasen verschwinden, denn sie dachte: “Da bekomme ich ja doch wieder Lügen aufgetischt!”
Lothar sah ihr manchmal in die Augen während er Märchen erzählte aber dann hatten die Augen keinen richtigen Glanz und sahen angestrengt aus.
Lissy sprach nicht darüber, denn er hätte doch alles abgestritten und so wollte sie es einfach vergessen. Sie wusste wohl, dass sie eine Vogelstraußpolitik betrieb aber sie wollte sich selbst nicht unnötiges Leid zufügen, indem sie misstrauisch hinter Lothar her spionierte und dumme Redensarten von Max ignorierte sie. Dieser wollte sie eigentlich nur provozieren, denn sie hatte von ihm auch schon begehrliche Blicke aufgefangen, als sie noch nicht schwanger war. Vielleicht auch, weil sie sich mit ihm Wortgefechte leistete, die ihm gefielen.
Was Lissy schon früher aufgefallen war, die verheirateten Männer, vor allem die älteren, ließen sehr oft sexuelles Verlangen bei den Frauen ihrer Freunde erkennen. Es wurde hier und da geküsst, Händchen gehalten und beim Tanzen Körperkontakt gesucht. Sie nannten sich Freunde, aber was ist das für eine Männerfreundschaft, wenn Begehrlichkeit so offen gezeigt wird.
Dann hieß es: “Appetit kann man sich holen, gegessen wird zu Hause…!”
Irgendeinen Spruch fand sich immer und Lissy sagte: “Auch den Frauen tut es gut, wenn sie Interesse in den Augen anderer Männer erkennen! Das alte Spiel hört nie auf!”
Doch nun, in der Schwangerschaft bestand natürlich kein Interesse an solchen Geschichten, was aber bei den “schwangeren Vätern” vielleicht ganz anders war.
Marlene, die Ärztefreundin sagte: “Gerade dann, werden die meisten Ehebrüche begangen!
Diese Geschichten kommen mir oft zu Ohren, da spielen manche Männer verrückt!”
Lissy fand das abstrus und sagte: “Das kann ich mir nicht vorstellen!” Sie sollte aber doch irgendwann eines Besseren belehrt werden. “Eines Besseren?” ein seltsamer Spruch, wenn man bedenkt mit welchen Tatsachen man letztendlich konfrontiert werden kann.
Eines Abends, gegen null Uhr klingelte es Sturm in der vierten Etage der Düsseldorfer Wohnung. Kein Termin war geplant und kein Besuch erwartet. Sie schauten hinunter auf den Reitweg und wer stand da? Der Eigentümer der Gaststätte Waldesruh’, aus dem Westerwald, mit seinem jüngsten Sohn, dem Koch.
Zuerst dachten sie, ihr Häuschen wäre vielleicht abgebrannt oder sonst etwas passiert wäre, aber nachdem der Wirt keuchend in der vierten Etage angekommen war, zog er einen Wechsel aus der Tasche, der am Tag darauf eingelöst werden musste.
Er hätte den Wechsel über fünfhundert D-Mark nicht einlösen können und war mit dem letzten Geld für Benzin, das eben noch für die Fahrt nach Düsseldorf ausreichte, in wilder Panik losgefahren.
Lissy beruhigte ihn und bot Wasser und Kaffee an. Völlig entnervt saß er in seinem Sessel und sein junger Sohn wusste nicht was er sagen sollte.
Lothar beruhigte ihn und versprach ihm, sich am nächsten Tag für ihn beim Finanzamt Neuwied einzusetzen.
Er erfuhr, dass sein neuer Mandant drei Jahre keine Steuererklärung abgegeben,
keine Umsatzsteuererklärungen eingesandt und
keine Vorauszahlungen geleistet hatte.
Die Steuerschätzungsurkunde wies Gewinnbeträge auf, die er niemals gehabt haben konnte. Die Durchführung des Verfahrens hätten den völligen Konkurs nach sich gezogen.
Lissy stellte einen Barscheck für die Ablösung des Wechsels aus, damit er straffrei bleiben konnte und versprach ihm, seine Buchführung zu erstellen, sofern er alle Unterlagen bereitstellen könne.
Insgeheim grauste es Lissy vor diesem Chaos.
Sechs Wochen vor der Entbindung war ihr der Aufenthalt in dem Restaurant nicht angenehm, aber andererseits wollte sie auch den Wirtsleuten helfen, denn es hatte sich auch ein persönlicher Kontakt entwickelt.
So oft hatten sie in diesem Gasthof gefeiert und geschlafen, und wollten die Familie, die sie so freundlich umsorgt hatte, nun nicht in ihrem Chaos alleine lassen.
Aus Erfahrung wusste Lissy, was sie dort zu bewältigen haben würde, aber der Spruch von “Hund und Schwanz” war schon so oft bemüht worden, warum nicht auch hier?
So fuhren sie am Wochenende mit Tim in den Westerwald, wo Lissy mit Tim im Wochenendhäuschen schlafen, und über Tag in der Gaststätte arbeiten konnte, denn ein Büro hatten die Wirtsleute nicht.
Ob sie überhaupt über eigenen Wohnraum, außer dem Schlafzimmer verfügten, wusste Lothar nicht und Lissy glaubte, sie benutzten den Gastraum auch als Privatwohnung.
Der Schwangerschaftsbauch wurde immer stärker und das Kind strampelte heftig. “Es muss sich um ein gesundes Kind handeln“, dachte sie und sie fragte sich auch, was ein Mann empfinden würde, wenn er dieses Leben in sich spüren könnte…
Lissy stellte sich vor, wie es wäre, wenn jeweils unter den Paaren entschieden werden könnte, wer das Kind austrägt. Einmal die Frau und einmal der Mann…
Das war auch schon einmal Thema im Freundeskreis gewesen, wobei fast alle zu dem Ergebnis kamen, dass es dann wohl nur höchstens Drei - Kind - Ehen geben würde…
Anna sagte: “Nach der Geburt hätten die Männer sich gedrückt und dann hätte Hitler auch nicht das Mutterkreuz verteilen können, denn das gab es erst bei vier Kindern!”
Was nie hinterfragt worden war…: “Warum hatte Adolf Hitler keine Kinder? Er war doch so für das Verteilen des Erbgutes…!
Hatte er sein Pulver verschossen, oder hatte er keinen Revolver?”
Lissy vertiefte sich in die Materie Steuerunterlagen und was sie da zu sehen bekam, ließ sie das kalte Grauen spüren.
Fünf Margarinekartons mit Einkaufsbescheinigungen, Baukosten, Einrichtungsgegenständen Möbeln u.
Handwerkerrechnungen. Nur wer einmal ein solches Chaos beseitigen muss, kann nachvollziehen, was in Lissy vorging, aber sie hatte versprochen, die Buchführung nachzuholen. Es ging ans Sortieren. Rücksprachen halten mit Handwerkern über nicht bezahlte Rechnungen.
Täglich mindestes acht Stunden.
Noch lag Schnee und Jupp, der Pferdefreund holte Tim, jetzt drei Jahre alt, ab. Er nahm ihn zu sich nach Hause und seine Frau Maria kümmerte sich lieb um ihn. Dort durfte er auf Alex reiten, oder Jupp spannte seinen Isländer in die Kutsche oder vor den Schlitten und fuhr mit ihm spazieren.
Es war ein reizendes Bild, wenn Lissy dem Bauern in seinem Lodenmantel mit der Schirmkappe, das Kind an der Hand, in eifrigem Gespräch, auf dem Weg zum Dorf nachsah.
Sie wusste…: bei diesen netten Leuten war er gut aufgehoben.
Die Buchführung war ein Abenteuer. Sie hatte Ähnliches ja schon einmal für einen Lebensmittelhändler gemacht aber das hier…, war ein ganz anderes Unternehmen.
Die Pappkartons mit den Einkaufszetteln und mit den Unkosten stapelten sich. Es mussten Ordner und Journale besorgt werden. Im Jahr 1959 ging alles noch per Hand und Lissy musste sich erst einen Überblick verschaffen.
An ein Honorar war überhaupt nicht zu denken. Immerhin brauchte Lissy nicht einzukaufen und hatte Vollpension im Hotel. Es war eine sehr aufwendige Arbeit, aber sie schaffte es.
Lothar kam am Wochenende und kümmerte sich um die Finanzamtgeschichte. Er hatte Einsprüche eingelegt und einen Aufschub erwirkt, um die Schätzung rückgängig zu machen. Der Hotelbetrieb konnte weiter gehen und Lissy hatte es nach fast drei Wochen intensiver Tätigkeit geschafft. Es war anstrengend gewesen, aber auch erfolgreich.
In Düsseldorf angekommen, gab es neue Aufregungen.
Eine Betriebsprüfung für einen Mandanten im eigenen Büro. Das hieß für Lothar wieder Aktenschleppen, in Wäschekörben, bis in die vierte Etage…
An den nächsten Wochenenden fuhren sie zum Westerwald, wo immer noch viel Schnee lag. Eine zauberhafte Landschaft breitete sich vor ihnen aus und hier fühlten sie sich zu Hause. Oft nahmen sie Lothars Eltern oder Anna mit, die sich um Tim kümmerten. Dann konnten Lissy und Lothar auch einmal etwas länger schlafen.
Lothar meinte, dass Lissy auch noch ein paar Tage Urlaub machen solle. Nach der anstrengenden Arbeit in dem Gasthof, solle sie sich vor der Geburt noch etwas auszuruhen.
So blieb sie mit Tim und Anna auch noch eine Woche länger im Westerwald, denn das phantastische Wetter mit Sonne und Schnee musste man nutzen.
Jupp…, der Bauer und Freund aus dem Westerwald holte Tim mit Pferdchen und Wagen ab und ein kleines Stück fuhr Lissy mit durch den verschneiten Wald.
Anna machte sich über die kleine Gesellschaft lustig, denn sie sagte: “Als ihr hier so vermummt am Fenster vorbei gegangen seid, habe ich gedacht: “Da kommen Josef und Maria mit Kind
durch den Schnee gestapft!”
Sie hatte wirklich einen köstlichen Humor und vor allen Dingen fühlte sich Lissy von ihr geliebt und verstanden. Es waren sehr schöne, harmonische Tage, in dem kleinen Haus, zwischen den Bäumen…, im Winter 196l/62.
Obwohl Lissy sich besonders während dieser Schwangerschaft gesund ernährte, war sie wassersüchtig geworden, denn ihr Umfang hatte nach dem achten Monat stark zugenommen und das war ein sehr unangenehmer Zustand. Sie dachte: “Ich sehe abscheulich aus!” Und sie konnte die Geburt kaum erwarten.
Lothar verhielt sich weitaus angenehmer als vor der Geburt des ersten Kindes, aber er legte oft seine Termine auf den Abend und kam spät Heim.
Lissy arbeitete immer noch viel und oft bis in die Nacht hinein. Das lenkte ab von der Frage, warum ihr Ehemann sie so oft alleine ließ und gerade jetzt, da sie ihn so sehr brauchte…
Wenn Probleme auftauchten, lief er davon und nun konnte sie ihm, in ihrem jetzigen Zustand, nicht helfen.
Niemals hätte er zugegeben, dass er Probleme hatte, aber intuitiv hatte sie ihn aus den Depressionen, die ihn hier und da immer noch überfielen, herausgeholfen.
Er hatte, das empfand sie erst in den letzten Jahren, ihr “Helfersyndrom” vielleicht auch unbewusst ausgenutzt, oder auch bewusst…?
Letztendlich war es ja bequem für Lothar, seine Tiefs bei Lissy abzuladen.
Mit der Zeit wurde alles zur Gewohnheit und Lissy dachte…, es kommen auch wieder bessere Zeiten. Wenn erst das Kind da ist…, und Normalität eintritt…
Andererseits hatte Lothar Stärken, die Lissy beeindruckten, dann konnte er, wenn es sonst keinen Ausweg gab, plötzlich souverän schnelle Entscheidungen treffen. Krisensituationen bei Mandanten ließen Lothar zu Höchstleitungen auflaufen. Manchen Konkurs konnte er durch gute Beratung verhindern.
Für einen seiner Mandanten ging er wegen Steuerungerechtigkeiten bis zum Bundesfinanzhof und gewann den Prozess nach zwei Jahren.
Er kämpfte für seine Mandanten und das verhalf ihm zu einem außergewöhnlich guten Ruf. Er spielte nicht den “Großen Mann!” Das imponierte Lissy und diese positiven Eigenschaften banden sie immer wieder zusammen.
So hielten sich Glück, Liebe und Unmut die Waage und man blieb privat in ewig währender Spannung.
Es waren nur noch zwei Tage bis zum ausgerechneten Geburtstermin, und Lissy arbeitete bis Null Uhr, als Lothar noch nicht zu Hause war. Es war eine ähnliche Situation, wie vor der Geburt von Tim…
Plötzlich klappte sie das Journal mit der Buchführung des kleinen Lebensmittelladens, eine der ersten Buchführungen die sie vor zehn Jahren gemacht hatte zu…, warf den Kugelschreiber auf das Journal und sagte:
“So, das war meine letzte Buchführung, bis auf unsere eigene!”
Es war eigenartig, dass sie diesen Schlussstrich ohne Vorsatz machte denn sie hatte ihre Arbeit seit Beginn der Selbständigkeit Lothars gerne gemacht und war auf den Erfolg sehr stolz gewesen. Ja, sie hatte es auch so gewollt…
Die Verbesserung ihrer Lebensgestaltung und des gesellschaftlichen Ansehens war ihrer beider Ziel gewesen, und in den ersten Jahren hatte Lothar ihre Zielstrebigkeit auch voll anerkannt und immer wieder gesagt, dass er es alleine nicht gewagt hätte…
Sie fühlte sich nicht mehr von ihm geliebt und verlassen, und plötzlich befiel sie ein Gefühl von Angst.
Kurz vor der Niederkunft stehend dachte sie: “Alle sagen, dass es bei der zweiten Geburt einfacher geht, aber ich fühle mich wie ein Nilpferd. So, wie ich jetzt aussehe, kann mich ja keiner mehr lieben. Wäre doch schon alles vorbei…!”
Dann dachte sie wieder an ihre Mutter die gesagt hatte: “Man muss tapfer sein im Leben!”
Dann kam Lothar nach Hause und sagte: “Ich hatte eine schwierige Beratung!”
Wieder am frühen Morgen die Fahrt in die Klinik, doch zur ausgerechneten Zeitpunkt setzten keine Wehen ein und die Geburt musste, wie bei Tim eingeleitet werden.
Dieses Warten und dann endlich Wehen, aber keine Presswehen. Man musste das Fruchtwasser nehmen.
Nach weiteren fünfzehn Stunden war Lissy, sonst immer mit positiven Sprüchen bei der Hand, am Ende ihrer Kräfte.
Es dauerte noch länger als bei Tim.
Um zwölf Uhr mittags, der Arzt gab noch einmal eine Wehenspritze und endlich, am fünfundzwanzigsten April, um
12 Uhr 15 wurde Georg, Jorgi…, geboren.
Die Hebamme sagte: “Ein Prachtbursche!”
Lissy meinte: “Er ist doch nicht anders als jedes andere Babys!” Aber die erfahrene Hebamme sagte:
”Doch, ein Prachtbursche!”
Jedenfalls hatte der Prachtbursche sich eine lange Zeit genommen, bevor er die warme Hülle verließ.
Der Kinderarzt sagte:
“Er wird ungefähr einmeterfünfundachtzig groß!”
Im Gegensatz zu Tim hatte Jorgi fast keine Haare und die Hebamme sagte: “Er kommt auf den Vater!”
Interessant fand Lissy auch, dass die Hebamme, als sie Lothars Vater, ohne ihn zu kennen gesehen hatte, sagte: “Das ist sicher der Opa von Frau Behrends Kind!” Vielleicht aber auch, weil dieser eine große Stirnglatze hatte.
Erstaunlich war auch, dass das “Prachtkind“, nachdem es getrunken hatte, nicht wie andere Babys sofort einschlief, sondern mit großen, blauen Augen die Welt betrachtete.
Der Frauenarzt sagte:
“Das ist außergewöhnlich, das habe ich noch nie gesehen! Dieses Kind muss eine ungeheure Willenskraft haben!”
Eine Bestätigung dieser Aussage erhielt Lissy während des Aufwachsens ihres kleinen Jungen, denn die Eigenschaft von Willenskraft, gepaart mit einer ordentlichen Portion Eigensinn und Sensibilität, würde sie und ihn, noch manche Kraft kosten. Aber vorerst war es ja ein Baby, das vor allen Dingen seine Willenskundgebungen durch unwahrscheinlich lautes Brüllen kund tat.
Diese Entbindung war wirklich eine Strapaze gewesen und diesmal sagte Lissy nicht:”Ich möchte noch ein Kind!” Aber sie war unendlich glücklich über diesen gesunden, schönen Jungen und Tim würde nun einen Bruder haben.
Was sie dazu tun konnte, um einen Bund zwischen den Brüdern zu schmieden, würde sie mit allen Mitteln versuchen.
“In allen Zeiten ist es gut, einen vertrauten Menschen zu haben, der zu der eigenen Altersgruppe gehört“, dachte sie.
Sie nahm sich vor, alles zu tun, damit ihre Kinder in dem auf- und ab der äußeren Einflüsse, von Politik, Gesellschaft und Familie bestehen konnten.
Sie wusste aber auch, dass es ihr nur zu einem kleinen Teil gelingen würde, denn auch sie unterlag den Einflüssen dieser Zeit, in der sich mit rasender Geschwindigkeit die Verhältnisse veränderten. Sie waren alle drin, in dem sich immer schneller drehenden Karussell von Arbeit, Erfolgsstreben, Genuss, Krankheit, Liebe und Lüge, Alkohol und Drogen, Leid und Tod…, und nicht zu vergessen:
“Süchten und Sex…!”, und fast alles, in aller Heimlichkeit, wenn auch manchmal nur in Gedanken.
“Allen diesen Einflüssen sind nun auch sie, meine geliebten Kinder unterworfen”, dachte Lissy, wenn sie in die klaren, fragenden Augen ihrer Kinder sah.
“Könnte ich sie doch nur beschützen…!”
Jetzt, in den fünfziger Jahren hätte Lissy einen Pferdeschwanz tragen dürfen, was ihr in der in der Jugend verwehrt wurde, aber nun war das eine Frisur, die den Jugendlichen zukam.
Die männlichen Jugendlichen trugen “Entenschwanz” oder eine “Haartolle“.
Für alle diese “Extras” war der Zug für Lissys Altersgruppe abgelaufen.
So schnell ließ sich die konservative Erziehung aus Nazizeiten nicht abschalten.
Lissy hatte ja schon Erfahrung mit den missbilligenden Blicken gesammelt, als sie noch in der Telegrafie arbeitete, und Kopfschütteln bei den älteren Ingenieuren hervorrief, als sie die Marinehose mit dem “Marlene-Dietrich-Schlag” getragen hatte und einer der Kollegen fragte, ob sie krumme Beine hätte.
Doch nun, Anfang der Sechziger, war das ganz normale Kleidung für Mädchen, die in den Fünfzigern, wenn sie in Hosen erschienen, der Schule verwiesen wurden. Doch die Mode hatte sich durchgesetzt.
Trotz der neuen Freiheiten wurde immer noch getuschelt, wenn Lissy bei offiziellen Einladungen in einem eleganten Hosenanzug erschien. Sie schwamm immer schon gerne gegen den Strom, aber zu Extremen hatte sie sich nie hinreißen lassen. Lothar trug Anzüge, denn sein Mandantenkreis war konservativ, bis auf die Künstler, die hier und da seine Beratung in Anspruch nahmen und legere Kleidung bevorzugten.
Nur einmal hatte Lothar sich erlaubt, bei einem seiner Mandanten einen leichten Popelinanzug, mit weißem Hemd, aber ohne Krawatte zu tragen, als dieser ihn maliziös fragte, ob ihm heiß sei und Lothar burschikos antwortete: “Ja, ein Glück, dass man keine Uniform mehr tragen muss!”
“Mir ist auch warm…!”, sagte dieser Firmenchef beziehungsvoll…
Lothar sah, dass dieser ältere Geschäftsmann, Besitzer einer Telefonbaugesellschaft…, einen grauen Fischgratanzug, wahrscheinlich aus reiner Wolle, mit Hemd und Krawatte trug.
Hier hatte Lothar einen Fauxpas begangen und es war ihm sehr peinlich, zurechtgewiesen zu werden, zumal dies sein größter Kunde war…
Lothar sagte später zu Lissy…: “Das passiert mir nicht noch einmal!”
Die Frau dieses Geschäftsmannes, die als “Die Chefin” anerkannt war, bückte sich für jede Büroklammer und sagte: “Auch das ist bezahlt und Firmeneigentum.”
Doch war sie eine sehr menschliche und natürliche Dame, die für die Sorgen ihrer Angestellten großes Verständnis hatte. Der Aufstieg der Firma war schwer erkämpft gewesen und Verschwendung duldete sie nicht.
Anders verhielten sich die in den “Fünfzigern” entstandenen Existenzialistengruppen, die so genannten “Exis”. Sie hielten sich am liebsten in verrauchten Jazzclubs auf und verehrten Jean-Paul-Sartre und Albert Camus. Und von konservativer Kleidung hielten sie nichts.
Im Trend war immer noch die Jugendzeitung “Bravo”, die sich lange halten sollte. Die Mädchen nannten sich Teenis und die Jungen wurden “Halbstarke.” Immer noch erklang Bill Haylis “Rock around the clock. One, two, three o’clock four o’clock, rock”. Das fuhr wirklich in die Beine und Lissy hätte gerne auch noch einmal mitgetanzt aber das kam für Lothar nicht in Frage und für seine Mutter war das immer noch Negermusik.
Im Tabaris auf der “Kö” ließen einige Jungen das Becken kreisen, wie Elvis, und von überdrehten Rockfans wurden Straßenschlachten gegen die Polizei inszeniert. Ganze Konzertsäle fielen den aufgewühlten Fans, die von Zerstörungswut befallen waren, zum Opfer. Überschäumendes Lebensgefühl hatte die Jugendlichen erfasst. Es waren Jugendliche, die ja die Auswirkungen des Krieges in Form von Not und Tod, Leid und Zerstörung nicht am eigenen Leibe erfahren mussten.
Hinzu kam die modern gewordene und bequeme…, von manchen Eltern angewandte antiautoritäre Erziehung, die manche Jugendliche außer Rand und Band geraten ließen. Lissy versuchte einen Mix aus Autorität, liebevolles Einfühlen und Antiautorität anzuwenden.
Sie las über moderne Erziehungsmethoden, Gesundheit und Schule aber sie wusste auch, dass nur ein Teil dieser Vorschläge zum Zuge kommen würde und dachte…, am wichtigsten ist doch Liebe, Schutz und Vertrauen.
So, wie Anna gesagt hatte…, Sie sollen eine schöne Kindheit haben…
Von all’den Auswüchsen sahen Behrends jedoch nicht allzu viel, weil ihr Domiziel im Westerwald sie fast jede Woche dort hin lockte, wo Natur war, und ländliche Ruhe herrschte. Hier konnten auch die Großeltern Erholung finden und sich an den Enkelkindern erfreuen. Ein einfaches, beglückendes Leben und außerdem war dort Alex, das Pony…
Die Kinder freuten sich auf das Reiten und die Ausflüge mit der kleinen Kutsche.
Durch Hildegard, ihre Hausbesitzerin, hatten sie auch, nachdem sie das Pony hatten, viel über den Reitsport gehört und sie waren auch mit ihr zu dem Reitstall gefahren, wo ihr Pferd stand.
Von der Tribüne aus sahen sie an einem Sonntagvormittag einer Quadrille zu, einem Reiten zu entsprechender Musik. Es war ein wundervolles Bild, den Pferden und Reitern zuzusehen und Lissy sagte: “Das möchte ich auch können!”
“Dafür sind wir zu alt“, meinte Lothar. “Damit fängt am besten in der Kindheit an“. Er hatte während seiner Offiziersausbildung auch Reitunterricht gehabt, aber dort hatte man die jungen Männer nicht mit Vorsicht und Rücksicht behandelt. Die meist nicht ausgebildeten Lehrer ließen die jungen Männer ohne Sattel aufsitzen und lachten sich kaputt, wenn diese immer wieder herunterfielen.
Man hatte ihnen auch entsprechende Pferde zugewiesen, von denen sie wussten, dass sie diese Amateure abwerfen würden. Doch zur Ausbildung der Volksoffiziere gehörte Reiten und Lothar hatte zu dem Zeitpunkt auch den Ehrgeiz gehabt, die Offizierslaufbahn zu ergreifen.
Hatte man den jungen Leuten doch in der Finanzschule die Köpfe heiß gemacht und den Ehrgeiz in ihnen geweckt, zur Elite zu gehören.
Oft sprachen sie über Politik und versäumten nie die Nachrichten.
Konrad Adenauer war noch “Am Ruder”, wie die Kaisertreuen immer gesagt hatten, wenn von einer Partei die Rede war. Er festigte die CDU mit allen verfügbaren Mitteln und sparte nicht mit Kritik an den anderen Parteien. Gerne hätte er alle Parteien auf den Katholizismus eingeschworen und er war nicht zimperlich, wenn er die Politiker kritisierte. Wieder wurden Witze verbreitet und einer von diesen traf Konrads Einstellung auf den Punkt:
Die kleine Episode:
Konrad Adenauer war beim Papst zu einer Audienz eingeladen und ein Staatssekretär, der vor der Türe warten musste, hörte immer lauter werdendes Gemurmel. Dann die erhobene Stimme des Papstes:: “Aber Herr Bundeskanzler, ich bin doch katholisch…!”
Immer noch lieferte die die “Göbbelsschnauze”, Musik und Politik.
Die neuesten, gesellschaftlichen Ereignisse aus Politik und Wirtschaft, aus aller Welt, erfuhren sie in der der Kino-Wochenschau.
Während der Nazizeit erfuhr man von “Außen” nur das, was dem Führer und dem Propagandaminister genehm war. Normale “Volksgenossen” waren über politische Zustände in der Welt nicht…, oder falsch unterrichtet.
Nun waren viele afrikanische Regionen, von denen man bis dahin nicht viel wusste, in großem Aufruhr.
Marokkanische Nationalisten hatten im Kampf um die Unabhängigkeit gegen die französische Nationalmacht, ein Attentat auf den Sultan von Marokko verübt.
Im Irak wurde König Feisal II erschossen. Irakische Offiziere hatten die Irakische Republik” ausgerufen. Man las es, und vergaß es. Das war ja alles weit weg.
In der Bundesrepublik Deutschland wurde ein neuer Bundespräsiden gewählt. Der von allen geliebte und verehrte Professor Theodor Heuss war zurückgetreten und Heinrich Lübke wurde der neue Präsident.
So, wie das auf Konrad Adenauer im Jahre Neunzehnhundertzweiundfünfzig geplante Attentat, dem ein Polizist zum Opfer gefallen war, wurde Alles von den Zeitungslesern zur Kenntnis genommen und schnell wieder vergessen. Hatten sie doch genug zu tun, ihre Bundesrepublik wieder aufzubauen, sich eine neue Existenz zu schaffen und ihre Häuser wieder aufzubauen. Parkanlagen mussten gepflegt werden. und der Düsseldorfer Hofgarten erfuhr eine Erneuerung.
Man hatte “keine Zeit!” und alles ging im “Schweinsgalopp!“ Dabei wurde natürlich auch manches vermurkst und mancher Handwerker lieferte Schrott. Neue Handwerkermärkte taten sich auf und machten gute Geschäfte. Schlagwort: ”Selbst ist der Mann!”
Die Deutsche Demokratische Republik, die so nah war, fand normalerweise in der Bevölkerung keine große Erwähnung, denn wer wollte in ein Land, in dem die Russen stationiert waren?
Das war nur etwas für Angehörige der Zonen-Deutschen oder den
DDR-Flüchtlingen. Besucher von “Drüben”, die mit Passagierschein in die BRD kamen, wurden manchmal schief angesehen, wenn man hörte, dass sie sächsisch sprachen. Das Sächsische wurde belächelt und wegen des allgemeinen Aufschwungs wurden einige Bundesbürger übermütig und meinten, die bescheidenen DDR-Bürger als Kleinbürger zu betrachten.
Lothar äußerte sich nicht dazu und meinte, Lissy könne so viel Pakete schicken wie sie wolle, aber ihn kriegten keine “zehn Pferde” in ein sowjetisch besetztes Land. Er habe immer noch Alpträume, in denen er im “Lager” sei, wo jeder hergelaufene Russe ihm in den Hintern treten dürfe.
“Nie…, Nie mehr Russland”, sagte er, obwohl er von der Naturschönheit der Taiga und den nächtlichen, melancholischen Gesängen der Russen schwärmte.
Nie sprachen er und seine Freunde von den Erniedrigungen, die sie hatten erleiden müssen. Sie hielten diese schrecklichen Erlebnisse wohl verpackt in den tiefsten Tiefen ihrer Erinnerungen, aber alles war gespeichert.
Zwei Generationen, auch diejenigen, die nicht die Grausamkeiten der Gefangenschaft erleiden mussten, waren in der Seele krank und alles musste verschwiegen werden, wenn man ein normales Leben führen wollte.
Mit Alkohol und Medikamenten verschaffte man sich Ruhe vor den immer wiederkehrenden, schrecklichen Bildern der sterbenden Kameraden die auf den Schlachtfeldern zurück blieben und den in der Gefangenschaft an Entkräftung gestorbenen Kameraden, aber sie sprachen nicht darüber…
Sie alle…, und auch die in der Heimat immer noch an den Folgen des Krieges und der Vertreibung leidenden Menschen, sie bezahlten die Rechnung für diesen sinnlosen Krieg und…, schwiegen…, schwiegen bis zu ihrem Lebensende.
Es wollte ja auch keiner hören und schon gar nicht diejenigen, die verschont geblieben waren.
Nur in wenigen Fällen gab es psychologische Hilfe. Die finanziellen Hilfen waren gering und die Gesunden hielten sich möglichst von Kriegsversehrten fern. Auch, weil sie nicht wussten, wie sie sich verhalten sollten…
Nur die Familie gab ihnen Halt, sofern sie nicht durch Bombenschäden oder Flucht aus den Heimatgebieten vertrieben waren und viele Spätheimkehrer fanden ihre Familien erst nach langem Suchen wieder.
“Jeder ist sich selbst der Nächste”, war eine gängige Redensart.
Es gab noch keinen Behinderten Sport und Freunde aus dem Turnverein, die Arme oder Beine verloren hatten, wurden zwar bedauert, aber da sie nicht mehr aktiv mitmachen konnten, verlor man an ihnen schnell das Interesse. Sie wurden zu Vereinsfeiern eingeladen und mit lobenden Worten bedacht und wieder verabschiedet.
Die Jugendlichen, die nun im Verein das Wort hatten, konnten naturgemäß kein Verständnis für diese Menschen haben, denn sie hatten die Schrecknisse des Krieges nicht erleiden müssen.
Der Kinder wegen, nutzten sie nun fast jedes Wochenende, um zum Westerwald zu fahren und zuerst fuhren sie immer zum Stall
(zu Alex) und meist blieben die Kinder gleich dort, um mit Jupp und der kleinen Kutsche loszufahren.
Tim ritt schon alleine nebenher und nach dem Ausflug lieferte Jupp die Kinder zu Hause ab. Dann tranken sie zusammen “ e Gläsche Wein” und Jupp erzählte ein Paar “Räuberpistölchen” aus vergangenen Zeiten.
Lissy schrieb einige der Erzählungen in ihr Tagebuch, weil sie von einem Humor getragen wurden, den sie so noch nicht kennen gelernt hatte.
Der Interpret dieser wahren Geschichten, dieser sechzigjährige Mann hatte eine Art von Witz und Clownerie, die Lothar schätzte und die beiden überboten sich manchmal in der Darbietung ihrer Geschichten.
Lissy beneidete Tim, wenn sie ihn mit Jupp über die Felder reiten sah und wäre gerne dabei gewesen.
Wegen der Pferde hielten sie sich oft auf dem Gelände hinter Jupps Haus auf, denn dort longierte er die Pferde eines Sauerkrautfabrikanten aus Neuss, den Jupp auch mit Augenzwinkern, “Gurkenkönig” nannte.
Er pflegte zwei der ihm gehörenden wunderschönen Apfelschimmel, die in seinem Stall standen und bewegt werden mussten, wenn die Familie nicht da war.
Einmal fragte Jupp Lissy…, die zusah…: “Wellst du op dem Wotan reide?
Willst du auf dem Wotan reiten!”
Lissy lachte und sagte: “Ich würde das ja gerne machen, aber ich glaube, das Reiten lernt man besser als Kind…
Er aber meinte: “Dat kannste auch jetzt och noch…!
Ech don dem Wotan der Sattel drop, un lonjeer dech…
Wat die Kenner könne, dat kannst du och…!”
(“Ich tu dem Wotan den Sattel drauf und longier dich, was die Kinder können, das kannst du auch”)
Lissy, in Skihose und Schneestiefeln sagte: “Ich glaube nicht!
Ich bin siebenunddreißig…!”
“Jooo…, en aaal Frau…, Esch han net jedaach, dat du so feisch bes“, sagte er.
(“Jaaa“…. “Eine alte Frau“…, “Ich hätte nicht gedacht, dass du so feige bist…!”)
Das wollte Lissy nicht auf sich sitzen lassen, zumal die Kinder zugehört hatten.
“Mams, sagte Tim, “du warst doch im Sport so gut…, das kannst du auch…, und dann können wir zusammen ausreiten.”
Es war verlockend… und dann, nach einigem Zögern, sagte Lissy:
“Jupp ich mach’s…!”
Gesagt, getan…, aber als sie oben war und Wotan sich in Gang setzte, begann der Sattel zu rutschen. Jupp hatte den Gurt nicht fest angezogen und so hing Lissy schon schräg auf dem Pferd und wäre fast heruntergefallen. Es muss ein komisches Bild gewesen sein…
Unter Gelächter der Kinder und Zuschauer brachte Jupp alles in Ordnung und schon begann die erste Reitstunde.
Das Fjordpferd, der kleine Wotan, war brav und Lissy versuchte sich gerade zu halten. Es war wunderbar aufregend…
Sie war so glücklich, so glücklich wie damals, als sie unter Aufsicht von Wilhelm, ihrem Vater, am Reck turnte.
Wilhelm…, ihr Vater, hatte ja auch immer vom Reiten geschwärmt. Nur war das zu seiner Zeit unter wenig glücklichen Umständen gewesen…, im ersten Weltkrieg. Genau…, wie bei ihrem Bruder, Gerd, im zweiten Weltkrieg.
Unter Jupps Regie ging es nun zwar immer an der Longe im Kreis herum, aber es war ein herrliches Gefühl, die Bewegung des Pferdes unter sich zu spüren und den herben Geruch wahrzunehmen. Außerdem war es auch schön, von der “höheren Warte”… auf die Anderen herab zu sehen und dem Himmel näher zu sein….
Ihr Alter hatte sie nun völlig vergessen.
“Morgen mehr, ja, Herr Reitlehrer…?” sagte Lissy begeistert, obwohl sich eine gewisse Steifheit breit machte, konnte sie nicht ahnen, dass sie am nächsten Tag schon, zwar immer noch im Schritt, mit in den Wald reiten sollte, und Tim war dabei.
Tim war jetzt sechs Jahre alt und konnte schon selbst aufsatteln und sogar den Alex in die Kutsche spannen.
Lissy schlug alle Bedenken in den Wind. Sie hatte im Bezug auf Sport so vieles ausprobiert und immer noch große Freude an Tanz und Bewegung. Sie war hingerissen von der Sportart Reiten und nie hätte sie gedacht, dass es ihr so große Glücksgefühle vermitteln würde. Dies hier war so außergewöhnlich, dass alle ihre Sinne darauf ausgerichtet waren, die enge Verbindung zwschen Mensch und Tier zu vervollkommnen. Es war unbeschreiblich…
Sie wusste…: “Das wird mich so schnell nicht loslassen…!”
So ritten sie am nächsten Tag tatsächlich mit Tim in den Wald.
Jupp hatte das Fjordpferd mit einem besonderen Knoten an seinem Sattelgriff festgebunden. Es war eine besondere Schlinge, die er im Notfall mit einem Griff hätte lösen können.
Unterwegs trafen sie auf einen einheimischen Bekannten der Jupp fragte:
“Ei, Jupp, worum haste die Frau festjebunne?” (Warum hast du die Frau festgebunden“?)
Jupp antwortete: “Die Frau soll mich net davonreide!” (Die Frau soll nicht durchgehen)
Sie hatten großen Spaß und Lissy lachte und freute sich, dass sie mit ihrem Sohn Tim diesen wunderschönen Tag genießen konnte.
Dass Jupp unbekümmert in seinem Westerwälder Dialekt sprach, fand sie witzig und auch Tim hatte alles verstanden, freute sich und sah Lissy spitzbübisch an…
Auf dem Weg zur Mühle trafen sie dann auf einen etwas verärgerten Lothar mit Jorgi, der mit verheulten Augen im Auto saß.
Lissy hatte Jorgi, der jetzt fast drei Jahre alt war, bei Jupps Frau Maria und deren Enkelkindern gelassen. Jorgi aber ließ sich auf dieses Arrangement nicht ein und brüllte, so laut er konnte. Er war wütend, weil Lissy ihn nicht mitgenommen hatte.
Das Geschrei hörte nicht auf und das “M a m a a a a” schallte durch das ganz Dorf. Maria, die doch so gut mit Kindern umgehen konnte schämte sich und wusste keinen Rat. Sie brachte den wütend schreienden Jorgi zu Lothar, der an einer schwierigen Bilanz arbeitete und froh war, für diese komplizierte Arbeit Ruhe zu haben.
Notgedrungen packte er Jorgi ins Auto und fuhr auf den Waldwegen in Richtung Mühle. Als er die drei Reiter sah, war seine Mine nicht freundlich, eher neidvoll sah er, wie glücklich Lissy war.
Sie trafen sich dann an der Mühle und bestellten ein Glas Wein von der
Mosel, während sie die Pferde am Halfter hielten.
Lothar hatte zwar gesagt, dass er nach seinen Erfahrungen beim Militär niemals mehr auf ein Pferd steigen würde, aber Lissy sah Lothar an, dass er auch nicht mit Jorgi alleine spazieren gehen wollte, während sie fröhlich, wenn auch nur im Schritt, durch den Wald ritt und es schien ihm nicht zu passen, dass er nicht der Anführer dieser Aktion sein konnte.
Lissy sagte: “Komm’ , mach’ mit! Es wird dir auch gut tun, denn du hast keinen Ausgleich zu deiner sitzenden Tätigkeit!”
Nach anfänglichem Zögern…, ein paar Wochen später…, gingen sie noch einmal zu Madams Reitstall, um zuzusehen.
Danach entschloss sich Lothar, Reitunterricht zu nehmen und war ebenso begeistert wie Lissy, die nun auch in den Genuss des Reitunterrichtes kam. Gemeinsam litten sie an einem furchtbaren Muskelkater.
Sie ritten Verleihpferde und gerieten unter den Einfluss des nicht eben freundlich redenden Reitlehrers Arno, der sie zusammen schnauzte wie die Schulbuben und ließen sich widerstandslos alles gefallen.
Auch Tim bekam Reitstunde und ritt auf einem kleinen Rotschimmel, den die Stallbesitzerin schon auf der Flucht aus dem Osten nach Wien- und dann nach Düsseldorf mitgebracht hatte. Ein gut gerittenes, kleineres Pferd, schon zwanzig ahre alt…, auf dem Tim saß, wie festgewachsen.
Für die Erwachsenen kostete es Kraft, in guter Haltung und mit Einfühlungsvermögen auf dem Rücken der Pferde, eine gute Figur zu machen und enorme Ausdauer.
Bei eisigem Winterwetter, manchmal im Nebel oder bei
Schneetreiben fuhr Lissy morgens um sechs Uhr zum “Stall”, und wenn sie die Eisenbahnbrücke in Derendorf überfuhr, beschlich sie ein Gefühl von Abenteuer- oder Kriminalfilm. Da war das kalte Licht der Lampen über einem Gewirr von Geleisen und alles wirkte unheimlich und verlassen. Es sah aus, wie in alten Schwarzweiß-Kriminalfilmen.
Lothar bestand darauf, Tim zur Schule zu fahren, was Lissy nicht so gut fand, denn Tim sollte selbständig werden und mit den anderen Kindern in der Straßenbahn fahren, aber Lothar hatte einen starken Willen und setzte sich durch. Nach- und nach fand Tim es dann auch bequem.
Seine Reitstunden plante Lothar zwischen seinen Terminen am Abend, oder nach dem Abendessen.
Nie versäumten sie das Abendessen um neunzehn Uhr, um es mit den Kindern zusammen zu genießen. Es wurde dann viel gelacht und gealbert und es war sehr entspannend, wenngleich sie am Abend oft noch Gäste hatten oder arbeiteten.
Bei dem nächsten Besuch im Westerwald sah Lissy, dass Jorgi ganz lässig auf dem kleinen Alex neben der Kutsche ritt und er rief: “Mami, ich kann es auch!” Er war gerade drei Jahre alt…
Jupp sagte: “Dat es ene deckkopp,! Wat dä well, dat well dä, un dat kann dä och…, op wem kömmt dä…?
Das ist ein Dickkopf, was der will, das will der und das kann der auch! Auf wen kommt der?
Ja, das ist die Frage: “Auf wen kommen die Kinder?
Hatten sie im Jahre 1961 von der Ermordung des afrikanischen Politikers
Lumumba, dessen spektakuläre Lebensweise Aufsehen erregt hatte gehört, so hatten sie doch nie daran gedacht, dass es in Deutschland oder Europa zu solchen Exessen kommen könnte. Es wurde viel spekuliert und nach einiger Zeit, war auch Lumumba wieder vergessen.
Konrad Adenauer leitete weiter die Geschicke des Landes und wenn auch einige Bürger seine Vorgehensweise nicht gut fanden, bewies er doch großes Geschick im Einsatz seiner Führungskräfte. Er verstand es, die Menschen so einzusetzen, dass sie sich seinen Vorgaben und Manipulationen unterwerfen mussten. Politisch bewies er, sowohl im Finanzwesen als auch in der Kommunalpolitik, großes Geschick, wenngleich man ihm vorwarf, oft seine Meinung zu ändern. Ihn ließ das alles ziemlich kalt. Er setzte sich durch. Er sagte: “Wichtig ist allein, dass wir im Frieden politisch und finanziell weiter kommen.”
Franz-Josef Strauss, ein CSU-Politiker mit starkem Willen zur Macht bekam nicht den Ministerposten für die neu aufgestellte Wehrmacht, was diesen mächtig wurmte, aber Adenauer ließ diesen Machtmenschen vorerst abblitzen. Er fragte Strauß, warum er nicht verheiratet sei, denn
der Ehestand, bei seinen Ministern, sei ihm wichtig.
Damit konnte Strauß jedoch nicht dienen, und so musste er seinen Ehrgeiz noch eine Zeit bezwingen.
Frühere Nazibefürworter setzte der Kanzler ein, um sie in der Hand zu haben, wenn er bestimmte Vorhaben durchsetzen wollte. Sie würden sich ihm nicht widersetzen.
Im Volk nannte man Adenauer einen “schlauen Fuchs”.
“Der Alte” verteilte die Posten nach seinen Vorstellungen von Macht und Einfluss und es wurde kolportiert, dass einer seiner CDU -Leute gewagt hatte, ihm zu widersprechen. Mitten im Plenarsaal sollte der Kanzler gesagt haben: “Wenn Sie in dieser wichtigen Sache nicht zustimmen, dann sach ich ihrer Frau, wo sie jestern Abend waren…!“
Adenauer liebte es, den leicht rheinischen Dialekt zu benutzen, und Bonn war in dieser Zeit, als Sündenbabel verschrien.
Er schaffte es, friedlich und zurückhaltend die bedrohliche Lage zwischen Russland und Amerika, beobachtend zu begleiten und reiste sogar im Sonderzug nach Moskau, um dort Kontakte aufzunehmen und Gespräche über Berlin zu führen, denn die Russen wollten Berlin für sich allein.
Ganz war es ihm nicht gelungen, denn Berlin wurde geteilt. Der Mauerbau begann, aber Adenauer erreichte die Freilassung, der noch in der Sowjetunion gefangenen, deutschen Soldaten, die nun schon so lange auf ihre Freilassung warteten und den Glauben daran fast aufgegeben hatten.
Eine schriftliche Bestätigung über die Freilassung erhielt Adenauer nicht, wohl aber das Ehrenwort der russischen Führung.
Sicher war dieses Versprechen nicht, wurde aber dennoch eingehalten und endlich kamen die letzten deutschen Teilnehmer an dem unseligen Krieg, der auf allen Seiten so viele unnütze Opfer gekostet hatte, heim…
Nie wieder Krieg…! Das hatten sie alle wieder auf ihre Fahnen geschrieben.
Ergreifende Szenen spielten sich ab, als die Spätheimkehrer die Grenze überschritten und zusammen mit den Angehörigen, die teilweise sehr verhärmt aussahen, aus vollem Herzen sangen:
“Nun danket alle Gott!”
Weil Konrad Adenauer der sowjetischen Führung nicht traute, hatte er auf diese Reise, sogar eigene Köche und Lebensmittel mitgenommen, weil er einen Angriff auf seine eigene Person befürchtete. Auch kugelsichere Kraftfahrzeuge wurden vorausgeschickt und böse Zungen sagten:
“Er geht nur mit kugelsicherer Weste ins Bett…”
Wenn ihm auch politisch manches nicht oder nur schlecht gelang, so war er doch der richtige Mann zu dieser Zeit und ihm hatte die Bundesrepublik manches zu verdanken. Auch sein Besuch in Amerika brachte friedlichere Töne in die Politik und besonders die Kontaktaufnahme zu dem französischen General De Gaulle sollte Frieden zwischen den Nationen signalisieren.
Trotzdem sagten einige Politiker: “Der Alte muss weg!”
Doch der “Alte” ließ sich nicht vertreiben. Auch Kritiker aus Presse und Gesellschaft, die ihn aus dem Amt jagen wollten mussten eingestehen, dass er die Lage, die er stets als “ernst” bezeichnete, raffiniert und mit Geschick meisterte. Er entwarf Konzepte zum Wiederaufbau der Städte, der Kirchen, der Kulturstätten und der Universitäten und Schulen.
Deutschland erlebte das erste, kleine Wunder…
Adenauer aber kommentierte immer noch:
“Die Lage war noch nie so ernst wie heute…!”
Wer aber hätte je daran gedacht und geglaubt, dass man in dieser modernen Welt, einen amerikanischen Präsidenten ermorden könnte?
Schon gar nicht einen wie John F. Kennedy, der mit seiner Frau Jacky bei einer Südstaatenreise in der Stadt Dallas, am 22.11.1963 erschossen wurde.
Es war ein Zufall, dass das Fernsehgerät eingeschaltet war, als in einem Sonderbericht und kurz nach dem Attentat, die Bilder vom Ort des grausamen Geschehens, über den Bildschirm gingen.
“John F. Kennedy ist tot…!”
Lissy und Lothar waren erschüttert, als sie die Bilder sahen. Es war noch gar nicht lange her, dass der amerikanische Präsident in Berlin die Worte:
“Ich bin ein Berliner !”
über die Mauer gerufen hatte und für sein friedliches Auftreten in Deutschland gefeiert wurde, obwohl es politisch keineswegs friedlich zuging und man einen dritten Weltkrieg befürchtet hatte.
Sein Auftritt hatte für Beruhigung gesorgt…
Nun also des Präsidenten jäher Tod, und alles wurde auf den Kopf gestellt.
Weder der Geheimdienst, noch die Polizei hatte den Mord verhindern können, obwohl alle diese Sicherheitskräfte eingesetzt waren.
Viel später erst sollten Verantwortliche gefunden und abgeurteilt werden und noch lange beschäftigte der Tod dieses Weltpolitikers die Presse und die Menschen in aller Welt, denn die Drahtzieher dieses Verbrechens wurden nie wirklich bekannt.
“Es muss weitergehen“, sagten alle und es ging weiter…, ohne Rücksicht auf Verluste…
Auch privat ging es weiter, denn ihre Hausbesitzerin hatte es für nötig befunden, eine vorsorgliche Kündigung zu erteilen, weil sie das Haus verkaufen wollte, in dem sie nun seit zehn Jahre wohnten.
Hildegard, die Hausbesitzerin und Mandantin, hatte inzwischen eine Menge Bankschulden angehäuft, aber das ließ sie ziemlich ungerührt, denn das erst im Jahre neunzehnhundertsechsunddreißig erbaute, unbeschädigte und schuldenfreie Haus, auf einer Prachtstraße am Rhein, hatte einen hohen Wert.
Der Erlös, gut angelegt, würde ihren Lebensbedarf bis zum Ende decken, wenn sie es zum Teil auf Rentenbasis, mit Übernahme der Heiz- und Stromkosten, freiem Wohnrecht und monatlichen Ratenzahlungen verkaufen würde. Unter diesen Aspekten hatte Lothar ihr vorgeschlagen
das Haus zu verkaufen…, da sie von den Mieteinnahmen allein, ihre kostspieligen Hobbie nicht hätte bezahlen können.
Sie hatte beklagt, dass sie schon des Öfteren ihr Konto überziehen musste.
Lothars Rat war richtig, wenngleich auch für ihn und Lissy nun die Frage nach einer neuen Wohnung und einem neuen Büro im Raume stand, denn der Kaufinteressent brauchte die von ihnen benutzte Kniestockwohnung für eigene Wohnzwecke. Die Etage sollte komplett ausgebaut und ein Fahrstuhl eingebaut werden.
Vieles hatte sich in den wenigen Jahren nach dem verheerenden Krieg verändert und nicht nur die äußeren Umstände.
Manche Menschen konnten sich überhaupt nicht vorstellen, wie es dem größten Teil der Bevölkerung in den schweren Zeiten ergangen war und noch ging. Sie glaubten wirklich, ein Anrecht auf einen besseren Status zu haben, obwohl sie selbst nichts dazu beigetragen hatten, ihren aufwendigen Lebensstil zu finanzieren.
Vieles im Wertekatalog hatte sich verändert. Namen, Herkunft und Geld brachten Gewinn aber manchem Aufsteiger brachen Alkohol, Drogen, Spielsucht und Scheidungen das Genick, und sie landeten in der Bedeutungslosigkeit und zum Teil im Elend.
Auch in ihrem Mandantenkreis gab es diese Excesse und Lissy dachte: “Manche Leute spielen verrückt!”
Der Spruch: “Wer angibt hat mehr vom Leben!”, machte die Runde.
Sie spielten nicht nur verrückt, sondern sie spielten auch in Spielkasinos, wie ein Beamter des Finanzamtes, der nach mehreren Hilfsleistungen der Kollegen, immer wieder abstürzte und dann Selbstmord beging.
Der geschäftliche Erfolg hatte sie in ihrer Denkweise nicht verändert, doch mussten sie auf der Welle des Erfolges mitschwimmen.
War es auch noch gar nicht lange her, dass sie nahe des Verhungerns waren und die Männer in Krieg und Gefangenschaft ihr Leben aufs Spiel setzten…, als Bomben und Lebensmittelnot die Bevölkerung bedrohte… Die Welt war eitel geworden und alle wollten mehr scheinen als sein.
Statussymbole, in Form von Kleidung, Autos und Reisen mussten her…
So prahlten auch Einige mit Schulbildung, Titeln und Geld…
Sie schämten sich ihrer armen Eltern und Verwandten und logen sich selbst etwas in die Tasche…
Die neuen Eigentümer wollten mit dem Umbau beginnen. Das hieß für Behrends…, raus aus dem Haus…! Keine leichte Sache…! Sie setzten sich mit einem Makler in Verbindung, der ihnen einige Empfehlungen brachte und Lissy durchforstete die Rheinische Post.
Entspannung brachte der Umgang mit den Pferden und dem Sport und sie hielten durch, trotz aller Anspannung mit Büro, Kindern, Haushalt und Fahrten ins Wochenendhaus.
Lissy sah nachdenklich aus dem Fenster auf den Rhein und die vorüber gleitenden Schiffe…
Rückblickend und mit leiser Wehmut dachte sie: “Zehn Jahre…!”
Zehn Jahre Freud’ und Leid, Erfolg und Misserfolg. Das Beste:
“Zwei gesunde, schöne Kinder“. Nun, etwas ganz Neues…
Es waren zehn ereignisreiche Jahre gewesen, in denen sie in diesem Hause wohnten. Sie hatten viel erreicht, aber nun mussten sie Veränderungen vornehmen. Immer noch herrschte Wohnungsnot. Immer noch wurden verlorene Baukostenzuschüsse verlangt und nun kam neben der Wohnung noch das Steuerberatungsbüro dazu. Die Suche nach dem geeigneten Objekt verlangte einen Makler.
Wieder hatten sie Glück… Maximilian, Lothars Freund aus der Altstadt, machte ihn auf einen Makler aufmerksam, der sein Büro auf dem
Kaiser-Friederich-Ring betrieb. Er sagte: “Der vermittelt nur größere Objekte… Vielleicht ist das eine Möglichkeit…!”
Es war eine…! Eine Möglichkeit mit einem Pferdefuß und sehr teuer…!
Doch ohne die Symphatie des ca. sechzigjährigen Maklers wäre aus der Idee vielleicht doch nichts geworden, wenn er das Ehepaar Behrendt nicht ausnehmend sympathisch gefunden hätte.
Jedenfalls war er, nachdem er von den beiden Kindern gehört hatte bereit, ihnen eine Wohnung zu vermieten, die groß genug war, um wieder Büro und Wohnung miteinander zu verbinden und Lissy könnte ihrer Bürotätigkeit weiter nachgehen, ohne die Kinder zu vernachlässigen.
Obwohl sich eine preußische Prinzessin und ein Fabrikant, ebenfalls um diese Räumlichkeiten bemüht hatten, wollte der Makler ihnen das Objekt vermieten. Das war ungewöhnlich, denn eigentlich war es für Menschen mit Kindern schwerer, eine Wohnung dieser Qualität zu bekommen, als reichen, kinderlosen Ehepaaren und dazu noch ein Büro…
Es ging um zweihundertdreißig Quadratmeter Räumlichkeiten mit
Drei-Meter-Siebzig hohen Stuckdecken, einer riesigen Fensterfront und ebenso großen Kellerräumen, zwei Balkonen, plus einer Mansarde, in einem Jugendstilhaus aus dem Jahre 1912.
Der Makler bot ihnen die Wohnung zur Besichtigung an.
Jetzt war diese Luxuswohnung leider total verwohnt und verkommen.
Der Makler hatte gesagt “Es muss schnell gehen, weil die jetzige Bewohnerin, eine Medizinalrätin, in Pension geht und ihren Umzug in eine kleinere Wohnung plant. Diese große Wohnung hätten bis zum Krieg ihre Eltern, der Vater sei ein Bergwerksdirektor gewesen, bewohnt.
Später seien Bombengeschädigte und Parteigenossen eingezogen. Die Medizinalrätin habe nur noch zwei Räume bewohnen dürfen.
“Sehen Sie sich die Räumlichkeiten an, und erschrecken Sie nicht, die Wohnung ist stark renovierungsbedürftig!”
Lothar sagte: “Ich habe morgen einen Termin in Köln, aber meine Frau kann sich die Räume ansehen! Sie ist kompetent…!” Lissy sagte nichts, aber sie fragte später: “Warum hast Du das gesagt, das stimmt doch gar nicht!“
Er, der so souverän das Büro und seine Praxis managte sagte:
“Weil Du das besser kannst…!”
Es war eine ähnliche Situation, wie bei der Einstellung des Personals, und bei der Einweihung des Wochenendhäuschens im Westerwald. Das hatte er auch Lissy überlassen.
Lissy ließ sich wieder einspannen, obwohl sie nicht verstand, dass er als Chef des Unternehmens, diese Sache nicht selbst in die Hand nehmen wollte, denn einen Termin hatte er nicht.
“Sollte er immer noch unter den Komplexen leiden, denen er seit seiner Gefangenschaft unterworfen war? Er war immer auf eine gewisse Sicherheit aus und stützte sich auf Lissy, die mit Unternehmensgeist die Dinge vorantrieb, die er dann zur Vollendung brachte.
Lissy ließ ihm instinktiv immer den Erfolg, an dem sie ja teilnahm, und er hatte zum Schluss und im Endeffekt immer die Ass-Karten in der Hand…
Sie dachte: “Er ist beruflich so sicher, so kompetent und auch beliebt! Warum schaltet er sich in solchen Sachen nicht selbst souverän ein?”
Nun hatten sie eventuell die Möglichkeit, eine neue Wohnung für das Unternehmen und für private Zwecke mieten zu können. Nur hundert Meter weiter, auf der gleichen Allee.
Sie verstand nicht, dass Lothar diese wichtige Sache nicht selbst in die Hand nahm, doch sagte sie sich: “Was kann schon schief gehen? Vielleicht ist es auch gar nicht in unserem Sinne, und vielleicht will ich die Wohnung auch nicht. Wer weiß, was auf dem Spiel steht!”
Sie nahm Jorgie mit, um sich das Objekt anzusehen und dachte…,
“Das klappt bestimmt nicht. Das ist etwas für Millionäre…, oder Rauschgifthändler!”, aber sie ging, mit Jorgi an der Hand, hin…
Es war eines der Jugendstilhäuser, um 1900 erbaut.
Sie atmete durch und klingelte…
Mit Jorgi ging sie zwei Etagen hoch, über eine weiße Marmortreppe, Flurfenstern mit bunten Jugendstilmotiven, und dann standen sie vor der Türe, in der zweiten Etage. Lissy dachte: “Wie im Film!”
Eine feine, ältere, weißhaarige Dame öffnete die Tüte und wunderte sich, dass der Makler eine Frau mit einem Kind an der Hand, als Mieterin für die Wohnung vorgeschlagen hatte, denn die im Schwarzwald wohnende Hausbesitzerin hatte von einer preußischen Prinzessin gesprochen.
Die Bewohnerin war die Tochter des Bergwerkdirektors, der ursprünglich Mieter der Wohnung gewesen, aber während des Krieges nach Bayern gezogen war, weil die Wohnung für Bombengeschädigte und Parteigenossen freigegeben wurde und seine Tochter nur zwei Räume benutzen durfte.
Die Ärztin hatte im Sozialdienst der Stadtverwaltung eine leitende Position und wunderte sich über Jorgis Sprachschatz. Sie sagte: “Wie haben Sie das gemacht…?
Lissy sagte, dass sie sich viel mit den Kindern unterhielte und oft Geschichten vorlese, worauf diese antwortete, dass die Kinder, die sie zu Gesicht bekäme, auch mit fünf und sechs Jahren nicht über einen solchen Wortschatz verfügten.
Lissy sah sich die Wohnung an, und dachte: “Von der Größe her, wäre es genau das Richtige, aber es ist eine Bruchbude!”
Verlockend waren die Räumlichkeiten. Ein großes Büro für das Personal und einen Arbeitsplatz für Lothar. Alles zur Allee hinaus, mit Blick auf den Rhein. Es gab eine Garderobe und eine Gästetoilette.
Leider nur eine kleine Küche mit drei Türen und einem Vorratsraum und einem Fenster zum Luftschacht. Die Wohnung hatte ein so genanntes Berliner Zimmer und ein riesengroßes Schlafzimmer zum Garten. Daneben ein weiteres Schlafzimmer und ein Ankleidezimmer.
Kurios war das große Bad. Es gab zwei zartgrüne Waschbecken, in Muschelform, aus Keramik, die mit zahllosen Rissen behaftet waren. Ebenso sahen die Toilette und die riesengroße, tiefe Badewanne aus.
Die Armaturen waren nicht mehr zu gebrauchen, und doch, ein Luxusobjekt.
Jorgi raste durch die Flure und fragte: “Mami, können wir hier wohnen?”
“Ich weiß nicht, das müssen wir mit dem Paps besprechen aber schön wäre es…!”
Sie sah aber auch das beschädigte Parkett und spürte den Luftzug, der von den Doppelfenstern ausging.
“Das wird teuer“, dachte sie. “Die Miete wird sicher hoch sein…!”
Im Geiste sah sie wieder Zahlenkolonnen von Schulden und dachte schon an den Verkauf des Wochenendhäuschens, denn die Existenz war wichtiger.
Nichts war Lissy unangenehmer als der Gedanke an Schulden, aber Lothar sagte, “Das kriegen wir schon hin!”
Er hatte zu einigen Mandanten einen so guten Kontakt aufgebaut, dass sie ihm seine Honorare für Buchführungsarbeiten auf Monate im voraus gaben und besonders ein Mandant, der gerade eine Vertretung für Schaumwein übernommen hatte, und unglaubliche Provisionen bekam, bot ihm zinslosen Kredit an. Außerdem konnten sie mit einer Mandantin, die ein Sanitärgeschäft geerbt hatte, auf Verrechnung arbeiten.
Sie bekamen den Mietvertrag und eine Mietkürzung für fünf Jahre, und einen Mietvertrag, als Sicherheit, auf zehn Jahre.
Dafür die Kostenübernahme aller Renovierungsarbeiten…
Diese Renovierung dauerte sechs Wochen und war auch beim Umzug noch nicht abgeschlossen.
Der Käufer des Hauses bedrängte Hildegard, weil er unbedingt zu einem bestimmten Zeitpunkt einziehen wollte.
Nebenbei musste natürlich die Arbeit im Büro weiter gehen und es mussten neue Möbel angeschafft werden, denn die Möbel aus der Kniestockwohnung hätten die neuen Räume zu einer Puppenstube gemacht.
Es war ein unglaublicher Stress, aber irgendwie wurde doch alles geschafft. Sie feierten Einweihung mit den Eltern und dem Personal und Lissy dachte immer noch, sie befände sich in einem Jugendstilfilm…
Wer Lothar empfohlen hatte wurde nicht bekannt, aber nach ein paar Wochen meldete sich das Büro einer großen Architekturfirma und bat um einen Termin für den Chef, wegen einer privaten Steuererklärung.
Das war der Beginn der Erweitung des Mandantenkreises, auf einer höheren Ebene.
Das Ehepaar, das Lissy einließ, war Besitzer einer Burganlage in der Eifel. Dort war der Buchhalter wegen Unregelmäßigkeiten entlassen worden und nun brauchten sie einen neuen Berater, der die letzten Jahre aufarbeiten und die steuerlichen Belange in Ordnung bringen sollte.
Lothar erfüllte es mit Stolz, dass man ihn um seine Hilfe bat und sagte zu, obwohl er ziemlich ausgelastet war. Er arbeitete vierzehn Tage auf der Burg, und einigte sich mit dem Finanzamt in Trier.
Nun war die neue Wohnung zu einem Prestigeobjekt geworden, denn ob die Burgbesitzer in dem winzigen Büro, das sie vorher hatten Vertrauen gefasst hätten, war fraglich. Hier konnte man repräsentieren.
Die Welt ist eitel…
Endlich war die Betriebsprüfung für das Antiquitätengeschäft vorbei. Die Betriebsprüfer waren gegangen und Lissy sagte: “Das war mal wieder ein Stress!”
“Ja…, das kann man wohl sagen!” meinte Lothar, froh, dass die Prüfung so gut abgeschlossen werden konnte, denn in diesem Metier ist man nie sicher…, was die Mandanten im Geheimen veranstalten.
Dieser Kunde hatte sich Lothars Sympathie schon vorher verscherzt, weil er ihn vor den Steuerfahndern als seinen Steuerfritzen bezeichnet hatte. Wegen dieser Redensart hatte Lothar sich gerächt, indem er ihm eine der Gebührenordnung entsprechende Honorarrechnung ausstellte.
Als dieser sich über die Höhe der Rechnung beschwerte, sagte Lothar: “Suchen Sie sich für die Zukunft einen anderen Steuerfritzen…!”
Nach dieser Aktion machten sie endlich ihr Versprechen wahr und verabredeten ihren Besuch bei ihren Freunden in Hamburg.
Die Kinder durften zu den Großeltern. Tim zu Oma und Opa und Jorgie zu Anna. Lothars Mutter konnte sich nicht enthalten zu sagen:
“Tim gehört ja auch mehr zu uns, denn er sieht genau so aus wie Lothar…, als er so alt war wie Tim.
Opa Emil, Lothars Vater, hatte schon einen Hammer und große Nägel zurecht gelegt und Tim war schnell bei der Hand, die Nägel in ein dickes Stück Holz zu schlagen. Das hatte er auch schon mit drei Jahren getan und das war jetzt Routine.
Opa Emil sagte: “Tim wird bestimmt ein Ingenieur!”
Oma Gertrud, Lothars Mutter dagegen meinte:
“Jorgi passt besser zu Anna! Er kennt schon jetzt alle Bilderbücher auswendig, weil Anna ihm so viel vorliest und auch die vielen Gedichte…”
Das klang so, als wäre das rezitieren von Gedichten für das Kind schädlich.
Diese Seitenhiebe konnte sie sich nicht verkneifen, obwohl sie den Kindern auch “Pu der Bär” mit großer Ausdauer, in sächsischem Tonfall vorlas, wobei “Winni der Pu” zum großen Vergnügen der Kinder “Buh…, der Bär”, genannt wurde. Obwohl sie selbst gerne las, war sie immer noch eifersüchtig auf Anna.
Den häuslichen Frieden wollte Lissy nicht stören. Sie wusste dass es den Kindern bei den Großeltern gut ging.
Die Kinder schrien ihnen auch nicht hinterher, wenn sie sich verabschiedeten.
Die Großeltern waren zu einem festen Bestandteil in ihrem Kinderleben geworden aber sie wussten, dass ihre Eltern im Endeffekt das Sagen hatten.
Während der Vorbereitung zu ihrer Hamburgreise rief plötzlich ihre Freundin Karin an und sagte: “Lissy…, ich habe ein Problem! Ich muss unbedingt mit Dir sprechen, bevor Ihr kommt!”
Ich sah sie vor mir, meine attraktive, blonde, damenhafte Freundin und sagte: “Nur zu, ich höre!” Sie sagte gehetzt:
”Ich habe eine Affaire!”
“Du?”, sagte ich, “Du, meine solide Freundin, Mutter erwachsener Kinder und Ehefrau, die ihren alkoholkranken Mann pflegt, hast eine Affaire?”
“Ja!”…, sagte sie erregt, “es ist schon keine Affaire mehr, ich liebe den Mann! Ich muss es Dir erklären!”
Bis zu diesem letzten Satz hatte Lissy amüsiert zugehört, denn sie hatten immer schon mit ironischen Bemerkungen ihre Gespräche gewürzt, aber nun fühlte sie, das war ernst.
Lissy kannte Ehrhardt, den immer noch attraktiven Mann mit den schönen, braunen Augen, der verstanden hatte, mit Karins Hilfe und Loyalität, seinen Status aufrecht zu erhalten.
Nur so konnte er seine Sucht verheimlichen. Er war sehr eifersüchtig und besitzergreifend gegenüber Karin.
Das hatte Lissy schon früher gesehen, wenn sie sich zu Begegnungen im Schwarzwald getroffen hatten und schon da hatte sie bemerkt, dass Ehrhardt mehr Alkohol konsumierte, als ihm gut tat. Doch nie hatte er sich schlecht benommen.
Karin sagte dann: “Ehrhardt…, denk an Dein Herz…!”
Dann verabschiedete er sich mit den Worten: ”Gut, dass ich so eine fürsorgliche Ehefrau habe,“ und verschwand, ohne zu schwanken.
Sie wusste auch, dass Karin ihn wegen dieser Exzesse nicht mehr in der Weise liebte, wie in früheren Zeiten, als sie gemeinsam ihr Geschäft gründeten und ihre Kinder groß zogen.
Zusammen hatten sie ein stattliches Vermögen erarbeitet und Karin ging es finanziell gut. Das schmiedete zusammen.
Doch fehlte Liebe und sexuelle Erfüllung. Ehrhardt war sehr gepflegt und eitel. Frauen gegenüber verhielt er sich sehr charmant und er war er ein guter Gesellschafter.
Im Grunde hatte Lissy Vergleichsmöglichkeiten zu ihrer eigenen ehelichen Beziehung.
Erregt erzählte Karin ihr von ihrer Liebesgeschichte, in die sie so plötzlich hineingeschliddert war und nie hätte sie gedacht, dass sie nun, in der Mitte des Lebens, in ein solches Gefühlchaos geraten könnte.
Bei einem Klassentreffen hatte sie ihre Jugendliebe Thomas Hochheimer wieder gesehen.
Als sie sich in die Augen sahen, waren sie beide überrascht, dass es sie so traf und wie nah’ sie sich noch waren, trotz der langen Trennungszeit.
Sofort entspann sich zwischen ihnen ein Faden, der sie über die unbelastete Zeit ihrer Jugendliebe sprechen ließ, als sie voller Tatendrang…, so jung und unbekümmert waren.
Die Jahre hatten ihn etwas ergrauen lassen, aber er hatte noch seine sportliche Figur und ein paar Fältchen unter den Augen. Die Zeit hatte ihm nicht viel angetan, aber eine gewisse Ernsthaftigkeit lag über seiner ganzen Erscheinung.
Sie trafen sich heimlich und nun nach der langen Zeit, verliebten sie sich leidenschaftlich und Irene sagte:
“So glücklich war ich noch nie…, nicht einmal mit Baldur in den ersten Jahren…!”
Sie hatte alles vergessen, was sie in den letzten Jahren erlebt hatte. Ehrhardts Alkoholkrankheit und ihre seelische Einsamkeit.
Die Kinder, die sie sehr liebte, waren zum Studium in England, mit eigenen Interessen…
Es tat ihr leid, Ehrhardt so oft außer Kontrolle zu sehen und einer Entziehung wollte er nicht zustimmen. “Ich bin doch kein Alkoholiker!“, sagte er.
In jungen Jahren war er ein liebevoller Ehemann und Vater gewesen und die gemeinsame Arbeit und ein hohes Einkommen schmiedete sie zusammen.
“Man kann nicht alles haben im Leben…!” So hatte Karin sich oft geäußert…
Doch nun beendete sie gehetzt das Gespräch mit den Worten: “Ehrhardt fährt gerade vor…, wir sehen uns dann morgen, hier bei uns in Hamburg!”
Lissy freute sich dann doch, ihr langes, hamburgisches:
“Tschüüüss…” zu hören.
Doch war sie verblüfft über Karins vertrauliches Geständnis und hoffte, dass es sich nur um eine augenblickliche Gefühlskrise handelte, denn sie wusste, dass Ehrhardt sein Geschäft aufgeben und nach Ascona auswandern wollte, natürlich mit Karin…
Lothar konnte sie so etwas überhaupt nicht erzählen, weil sie wusste, dass er für eine solche Krise überhaupt kein Verständnis hatte. Nach dem Motto: “Frauen sind monogam!”
“Sie haben es zu sein, und das ist ja auch bequem“, dachte Lissy.
Jedenfalls fuhren sie am nächsten Tag nach Hamburg.
Lissy mit gemischten Gefühlen und Lothar mit dem Wunsch nach Abwechslung und Abstand vom täglichen Bürokram.
Gespräche mit Ehrhardt, bei Zigarren, Wein, Whisky u. Cognac. Also Entspannung total!
Auch Lissy freute sich sehr auf das Wiedersehen und dachte:
“Es wird sich hoffentlich alles wieder einrenken. Vielleicht ist es auch mit Ehrhardt noch nicht so schlimm, und alles wird wieder gut!”
Eine etwas egoistische Denkweise, wie sie sich eingestehen musste, aber sie war in der letzten Zeit so eingespannt im
Büro, im Haushalt, mit den Kindern und beim Reiten im Westerwald, und nun die Kofferpackerei, so dass sie sich nicht all’ zu sehr mit Karins Problemen belasten wollte.
Hatte sie doch selbst mit Lothars absonderlichen Verhaltensweisen zu kämpfen und endlich wollte sie sich wieder einmal auf etwas freuen.
Sie hatten sich so lange nicht gesehen und sie war gespannt, welchen Eindruck sie gewinnen würde.
„Nein…, so groß habe ich mir Hamburg nicht vorgestellt“, sagte Lissy, die den Stadtführer, den sie sich besorgt hatte, las.
„Les mal was vor“…, sagte Lothar, der auch interessiert war, was ihn erwartete, denn auch er und Lissy kannten Hamburg, wegen eines Geschäftsbesuches zehn Jahre zuvor, nur flüchtig.
Hamburg war ihnen eher als Fußballmetropole bekannt.
Der Hamburger SV spielte in der Bundesliga eine große Rolle.
Lissy hatte auch einen Stadtplan für Hamburg besorgt, denn Ehrhardt hatte gesagt, dass sie in der Nähe der Stadtkirche…, dem bekannten “Hamburger Michel” wohnten. Dort sei auch das Autohaus, das ihm gehöre, untergebracht. Man könne es nicht verfehlen.
Die Fahrt verlief gut und sie freuten sich auf dieses verlängerte Wochenende, denn sie hatten schon lange keine Reise gemacht.
Ihre Freizeit verbrachten sie in Düsseldorf und Umgebung oder meistens in ihrem Wochenendhaus und mit den Pferden aber nun freuten sie sich auf dieses Wiedersehen mit den Freunden und Lissy besonders auf Karin.
Es war ungewohnt, ohne die Kinder zu sein…, aber sie wussten, dass diese bei den Großeltern gut aufgehoben waren und konnten sorglos sein.
Bis auf die Rückreise von Texel und dem Kauf des Ponys
war ihnen Norddeutschland ziemlich fremd, denn vor der Geburt der Kinder hatte es sie eher in den Süden gezogen.
Bayern, Österreich und Italien waren ihre Ziele gewesen, und nun also Hamburg, die
„Achtzehn-Millionen-Stadt“.
„Wir haben in der Heide ein Ferienhaus, und am Sonntag fahren wir hin“, hatte Ehrhardt gesagt, als sie telefonierten.
Und da waren sie nun an der Michelskirche mit dem runden, grünen Kupferdach vorbeigefahren…, und standen vor dem Autohaus…
Es war ein beeindruckendes, achtstöckiges Gebäude und die Freunde wohnten in einem Penthaus, im neunten Stock. Sie freuten sich sichtlich, Lissy und Lothar zu sehen.
Karin, Lissys Freundin aus Kriegszeiten sah gut aus. Blond, schlank und elegant. Ehrhardt, sehr gepflegt, in einem eleganten Anzug mit schmaler Seidenkrawatte, wie es Mode war, vom Scheitel bis zur Sohle ein Hamburger Kaufmann. „Wie bei den hamburger Buddenbrocks“, dachte Lissy…
In dem Schwarzwaldhotel war Lissy nicht aufgefallen, dass er sich den Anschein des etablierten, eleganten Geschäftsmannes gab, aber er ließ sie wissen, dass er Mitglied der Kaufmannsgilde sei und das bedeutet in Hamburg viel. Lissy erschien es ein wenig elitär… ”Aber warum auch nicht…?”
Es passte zu seiner gepflegten Sprache mit hamburger Akzent…
“Ehrhardt…, Du hast es geschafft!“, sagte Lothar, ehrlich anerkennend, denn er wusste wie schwer es war, etwas aus dem “Nichts” zu schaffen.
Böse Zungen hätten wieder von den “New Richs” gesprochen.
Natürlich gab es ein großes Hallo und eine Führung durch das Haus. In den sechziger Jahren gab es noch nicht so viele dieser Hochhäuser und Penthäuser kannte man eigentlich nur aus amerikanischen Filmen. Das Besondere war der Blick in den Hafen, wo man die großen Handelsschiffe sah und wie man zusehen konnte, wie die Schiffe entladen und beladen wurden. Eilende Arbeiter liefen über die Stege und großes Ladegut wurde von Kränen befördert. Es war faszinierend, zuzusehen.
Lissy und Karin hatten sich viel zu erzählen und Ehrhardt und Lothar entspannten auf der Terrasse aber etwas stimmte nicht.
Die Atmosphäre zwischen den Eheleuten war irgendwie gespannt.
So…, als würden sie sich belauern und Lissy dachte: “Vielleicht hat Ehrhardt doch von Karins Beziehung zu dem früheren Jugendfreund erfahren“.
Über Karins Beziehung zu Hochheimer sprachen sie nicht, denn Ehrhardt lauschte auf ihr Gespräch und so sprachen sie über die Kinder…
Die großen und die kleinen und über die Geschäfte.
Ehrhardt hatte in einem Restaurant einen Tisch reservieren lassen und er hatte nicht vergessen, dass Lissy im Schwarzwald einmal von einem Hummeressen bei Madam Hildegard gesprochen hatte.
Ehrhardt war in der Gaststätte bekannt und genoss besondere Aufmerksamkeit. Der Hummer war köstlich und der Champagner auch.
Sie waren in einer entspannten Stimmung und es wurde viel gelacht. Jedoch fiel Lissy auf, dass ihre Freundin plötzlich still und etwas starr da saß und Ehrhardt umständlich eine Zigarre entzündete, wobei sein Blick an Karin vorbei, interessiert ein Objekt in ihrem Rücken fixierte. Lothar erzählte gerade eine Anekdote, als Lissy bemerkte, dass Karin gespannt da saß und ihre Lippen zusammen presste. Was war passiert?
Kurz darauf stand Ehrhardt auf und sagte: “Entschuldigung…, ich komme gleich wieder…!”
Lothar hatte von dieser besonderen Stimmung nichts bemerkt und Karin flüsterte Lissy zu: „Er ist da…, ich habe ihn gesehen!” Lothar fragte:
„Was ist los, was habt ihr für Geheimnisse?”
„Frauensache“, sagte Karin…!“
„Kannst Du mir behilflich sein?” fragte sie, zu Lissy gewandt.
„Ja klar…”, sagte Lissy.
„Ihr wollt mich doch hier nicht allein lassen?” fragte Lothar.
Karin sagte scherzend:
„Doch, das musst Du schon aushalten, wir sind gleich wieder da!”
Doch Ehrhardt, das sah Karin beim Hinausgehen erleichtert, hatte einen wichtigen Kunden entdeckt, mit dem er in Verkaufsverhandlungen über ein sehr teures, amerikanisches Fahrzeug stand. Geschäfte also…
Karin winkte diesem Kunden erleichtert zu.
Vor dem Spiegel im Waschraum erzählte Karin von Hochheimer und atmete auf. Sie war froh, dass es nicht zu irgendwelchen Komplikationen gekommen war.
Ehrhardt aber hatte Karins Bekannten doch gesehen, denn als er zurück kam sagte er: “Dass der auch hier verkehrt, ist mir neu…!”
Mit einer Kopfbewegung deutete er auf einen Gast und sagte:
„Karin, da sitzt dein alter Jugendfreund Hochheimer, der war doch in Deiner Klasse! Du hast gar nichts von Deinem Klassentreffen erzählt…!“
„Ach, das hat Dich, als ich Dir davon erzählen wollte, doch gar nicht interessiert und woher kennst DU ihn denn?” fragte Karin.
Lothar hatte Karins Gespanntheit und Ehrhardts Bemerkung keine Bedeutung zugemessen, aber er horchte auf, als Ehrhardt sagte:
„Ich kenne mehr Leute als Du weißt!“ In seiner Stimme klang eine gewisse Schärfe mit…
Das ließ Lissy aufhorchen. „Was ist hier los?”, dachte sie, weil plötzlich eine Pause entstand und Lothars Aphorismen, die er gerade erneut zum besten geben wollte, “Im Sande verliefen”, denn keiner hörte zu.
Die so entstandene Pause bemerkte nun auch Lothar, der fragte: „Ist was…?” Dieses “Ist was” war die ständige Redensart eines Kabarettisten, kam aber in dem Moment nicht an und etwas gepresst sagte Ehrhardt: „Nein…, alles Okay…!”
„Wollen wir nach Hause fahren…? Da können wir es uns bequem machen…,” sagte er. „Ihr habt die lange Fahrt hinter Euch und sicher hattet ihr auch vor der Abfahrt noch viel zu tun.”
Karin sagte erleichtert: „Ja, das tun wir!”
Sie fuhren mit dem Taxi durch das nächtliche Hamburg und Ehrhardt dirigierte den Taxifahrer zur Reeperbahn, um ihnen diese Unterhaltungsmetropole zu zeigen und sagte:
„Die Hamburger gehen nicht zur Reeperbahn, das ist nur was für Fremde, oder für das primitive einheimische Publikum. Aber Ihr müsst es doch einmal gesehen haben!”
Lothar sagte: „Wir waren schon einmal hier. Da hatte ich geschäftlich hier zu tun, aber auch da haben wir außer Nepp und komischen Sexfilmen nichts gesehen. Es ist schon lange her, aber der Aufenthalt gehört nicht zu meinen besten Erinnerungen.“
Am Tag darauf fuhren sie in die Heide und verbrachten einen wundervollen Tag mit den Freunden. Die gespannte Stimmung war vorbei.
Karin sprach mit Lissy noch einmal über die Beziehung zu Hochheimer, aber alles war sehr vage. Sie sagte:
„Ich weiß auch nicht, wie das werden soll aber die ganze Geschichte bringt mich völlig durcheinander! Ehrhardt will alles verkaufen und nach Ascona und dort ein Haus bauen. Was soll ich machen? Ich kann ihn doch nicht allein lassen, denn ohne mich kommt er unter die Räder, mit seinem Alkohol, aber ich will auch nicht auf alles verzichten!
Was würdest Du tun?“, fragte sie und Lissy antwortete:
„Mir ist bis jetzt keiner begegnet, für den ich meine jetzige Existenz, vor allen Dingen der Kinder wegen, aufgeben würde. Lothar nimmt sich ja allerhand heraus, und ich kann nicht an seine Treue glauben, aber mir würde er das Leben zur Hölle machen, käme er hinter eine Affaire. Ich hätte bei einer Trennung jedenfalls die schlechteren Karten.
Außerdem würde ich meinen Kindern auch nicht den Vater entziehen wollen und sie ihm allein überlassen, schon gar nicht…!“
„Trinkt er auch so exzessiv wie Ehrhardt?”, fragte Karin.
„Ja”, sagte Lissy, „das tun sie alle, bis auf wenige Ausnahmen. Alle die ich kenne, die diesen verdammten Krieg überstanden haben. Ob sie nun im Beruf Erfolg haben oder nicht. Arm oder reich…!”
„Das muss aber nicht heißen, dass alle auch alkoholkrank sind“, sagte Karin. Nachdenklich sagte Lissy: „Viele sind Gewohnheitstrinker und wenn ich nicht aufpasse, werde ich auch dazu, denn es gibt kaum eine Gelegenheit, bei der nichts angeboten wird und man als verschroben und als Spaßverderber gilt, wenn man nicht mit macht. Außerdem schmeckt mir der Alkohol, aber ich kann auch tagelang nichts trinken ohne danach zu suchen und das lässt mich hoffen.“
Sie verabredeten, diesmal mit den Kindern zu Sylvester wiederzukommen.
„Es ist ein Riesenspektakel, wenn die im Hafen liegenden Schiffe ihre Raketen zum Jahreswechsel in den Himmel schicken. Das müsst Ihr gesehen haben!” sagte Ehrhardt „Vielleicht kommen wir Euch zwischendurch einmal in Düsseldorf besuchen.“
Es war ein seltsames Gefühl, ohne Kinder unterwegs gewesen zu sein und nun freuten sie sich auf das Wiedersehen mit ihnen und den Großeltern.
Gut auch, einmal fern aller privaten und geschäftlichen Probleme zu sein.
Zuerst holten sie Tim bei Oma und Opa ab und fuhren dann zu Anna um Jorgi abzuholen.
Lissy betrachtete überrascht und gerührt, dass sich die Brüder, die sonst so oft stritten, schon im Treppenhaus in Wiedersehensfreude in die Arme fielen…
Doch schon fünf Minuten später gerieten sie in heftigen Streit.
Wutentbrannt verteidigte Jorgi mit dem Paddel, einem Schaumlöffel aus Aluminium, seine Piratenehre als Kapitän.
Seine Augen schossen Blitze und er war bereit, das Paddel als Schlagwaffe einzusetzen, weil der drei Jahre ältere Tim das Kommando über das Boot, das aus dem umgedrehten Küchentisch bestand, und an dessen Beinen rotkarierte Küchenhandtücher als Segel flatterten, übernehmen wollte.
Die Situation wollte eskalieren…, doch Lothar konnte hier eventuell sein schauspielerisches Talent einbringen.
Er spielte Friedensrichter im Piratengericht, wobei Anna und Lissy als Beisitzer fungieren mussten.
Trotzdem maßen sich die Brüder mit wütenden Blicken, wobei der ältere Tim abfällig grinste.
Jorgi wäre ihm am liebsten an die Kehle gesprungen. Aber Lothars Idee, zu einem Kegel Center zu fahren, dort zu essen und eine Partie zu spielen, wurde mit Begeisterung aufgenommen.
Auf dem Parkplatz des Sportzentrums angekommen, fuhr Lothar zügig in eine Parklücke und übersah einen Laternenmast. Lissy sah den Laternenmast auf sich zukommen, als habe er ein Eigenleben, konnte aber nicht mehr warnen. Mit hässlichem Knirschen verbog sich der Kotflügel und bohrte sich in den Vorderreifen. Das Fahrzeug ließ sich nicht mehr bewegen.
Die herbei gerufene Polizei bestätigte, dass der Mast im “toten Winkel“ stand und für den Fahrer nicht zu sehen war.
Für „die feindlichen Brüder“ war der Polizeieinsatz der interessanteste Teil der Veranstaltung und ihren Streit hatten sie vergessen. Es blieb nichts anderes übrig, als das Reisegepäck umzuladen und mit einem Taxi nach Hause zu fahren.
Eine Nachricht, die besonders erfreulich war, lag auf dem Schreibtisch, als sie nach Hause kamen.
Die Arbeit für den Burgherrn war erfolgreich gewesen und so bekam Lothar auch den Auftrag, die steuerliche Vertretung für den zweiten Burgbesitzer, der eine Professur an der Universität Düsseldorf hatte und Ehrenbürger der Stadt Düsseldorf war, zu übernehmen.
Kurz danach übertrugen die beiden Herren Lothar die steuerliche Vertretung für ihre gesamte Architekturfirma, die mit achtzig Architekten in aller Welt tätig war. Es war eine wirklich ehrenvolle Aufgabe, die Lothar mit großem Stolz erfüllte.
Es sprach sich herum, dass er gute Arbeit leistete und so traten zwei weitere Inhaber von großen Architekturfirmen an ihn heran, deren Vertretung er übernahm.
Lissy schrieb die Verträge und Bilanzen und führte die Korrespondenz mit den Finanzämtern, zudem stellten die noch eine Bürokraft ein.
An ihrer Lebensführung hatten sie nichts geändert. Sie blieben bescheiden.
Immer noch besuchten sie jeden Monat das Schauspielhaus oder die Oper.
Sie pflegten ihren alten Freundeskreis und hielten Kontakt zu den Eltern.
Reiten war zu einem täglichen Ritual geworden.
Lissy war, neben ihren Haushaltspflichten, immer noch tagtäglich im Büro tätig und der Sport war ein wundervoller Ausgleich. Doch erforderte es auch eine große Disziplin, mehrmals in der Woche um sechs Uhr, morgens, zum Reitstall zu fahren. Lothar nahm um zwanzig Uhr Reitstunden und manchmal traf er danach noch Mandanten.
Oft kam er erst um Mitternacht nach Hause. Lissy spionierte ihm, schon aus Selbstschutz nicht nach, denn Fragen führten meist zu einem Streit.
Es war insgesamt eine aufregende Zeit und so blieb manche Frage ungeklärt.
Lissy genoss den Aufschwung in ihrem Leben, den sie ja auch Lothar verdankte, wenngleich ja auch er, von ihrem Aufstiegswillen und Mut profitiert hatte.Sie empfand dies als ein Geben und Nehmen, aber sie bemerkte, dass er eigentlich den Erfolg nun allein für sich verbuchen wollte und dass er nach und nach versuchte, sie aus seinen Plänen auszuschließen.
Hatte er etwas zu verheimlichen?
Lissy vermutete, dass er sich in Kreisen bewegte, die ihr nicht gefallen hätten. Doch privat gab es in ihren Gesprächen, wenn sie abends zusammen waren, keinen Leerlauf. Sie fühlte, dass er Probleme hatte.
Einmal erzählte er Lissy, dass ein Mandant, ein Friseur, sich mit ihm über sexuelle Praktiken unterhalten und ihm die Frage gestellt hätte, ob er außerehelich nichts vermisse. Er habe ihm geantwortet, dass er keine Probleme habe, worauf dieser gesagt hätte:
„Es gibt vieles, was Sie bestimmt noch nicht kennen!“
Lissy fand es nicht angepasst, dass er sich mit einem Friseur so vertraulich unterhielt und er sagte nicht, was er darauf geantwortet hatte.
Lissy vermutete, dass dieser ihn hatte neugierig machen wollen, weil er, wie sie später erfuhr, an einem Edelbordell beteiligt war.
Lothar, der wegen seiner Eifersuchtsgefühle und einer Art von Kontrollzwang Lissy gegenüber nicht mit der Sprache heraus wollte, schien jedoch neugierig gewesen zu sein. Vielleicht war er schon auf Vorschläge dieses Mannes eingegangen.
Als Lissy mehr wissen wollte, brach er abrupt das Gespräch ab und sagte: „Ist auch nicht so wichtig!“ Irgendwie kamen Lissy diese Gespräche wie ein „Katz- und Mausspiel“ vor. Was wollte er ihr sagen?
Die Kinder liebte er sehr und für sie tat er alles, was in seiner Kraft stand.
Er scheute keine Mühe, spannende Spiele zu erfinden.
Das versöhnte Lissy mit manchen seiner Eigenarten, die sie er erst in den letzten Jahren entwickelt hatte. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass er in irgendeiner Form erpresst wurde, denn es kamen seltsame Anrufe.
Wenn sie den Hörer abnahm, hörte sie heftiges Atmen oder meckerndes Lachen. Es war erschreckend, aber Lothar sagte: „Irgendwelche Verrückte!“
In ihrem Leben gab es keine Langeweile und manchmal war Lothar auch wieder so, wie sie ihn kennengelernt hatte.
Gelöst war er bei ihren Aufenthalten im Westerwald.
Er hatte seinen Spaß mit Jupp, der inzwischen sogar ein Reiterstübchen eingerichtet hatte, wo sie nach den Ausritten zusammen saßen.
Zuerst wurden immer die Pferde gepflegt und wenn diese mit zufriedenem Schnauben die Futterkrippen leerten, hatten sie ein Gefühl großer Zufriedenheit.
Mit Jupp spielten sie Skat, und meistens verloren sie, denn er war ein schlauer Fuchs und Skat war sein Hobby. Die Menschen aus diesen ärmlichen Dörfern hatten in ihrer Jugend keine anderen Unterhaltungsmöglichkeiten gehabt als das Kartenspiel und Jupp war von Natur aus ein intelligenter Mann.
Lothar aber war ein „Siegertyp“ und ärgerte sich, wenn er verlor.
Lissy hatte hier keine Ambitionen. Für sie war es nur ein Spiel.
Ein alter Küchenherd, der mit Holz beschickt wurde, lieferte im Reiterstübchen Wärme und Lissy buk Reibekuchen oder sie kochten serbische Bohnensuppe. Jupp und Lothar überboten sich mit ihren Geschichten aus der Jugendzeit. Anfangs holte Jupp immer seine Frau Maria ins Reiterstübchen aber sie fand die Gespräche langweilig und sicher kannte sie auch alle diese Geschichten. Sie saß dann lieber gemütlich vor dem Fernsehgerät und ruhte aus. Jupp schilderte indessen gekonnt die Verhältnisse in denen sie in dieser ärmlichen Welt gelebt hatten und wie er seine Kindheit und Jugendzeit verbracht hatte. Er sagte:
„Noch nie ist es uns so gut gegangen wie heute!“
Er erzählte, dass er in seiner ganzen Kindheit und Jugend keinen Schlafanzug und keine Unterhose besessen hätte. Von Handschuhen ganz zu schweigen. So trug er auch jetzt, selbst bei großer Kälte, keine Handschuhe, was Lissy veranlasste, wenigstens Strickhandschuhe für ihn zu besorgen.
Arbeit, erzählte er, habe es in diesen Dörfern nicht gegeben und die kleine Landwirtschaft reichte nur für ihren eigenen Bedarf. Sie mussten
“Geld verdienen!“
“Geld verdienen“, jedes zweite Wort.
So liefen die Jugendlichen und die Männer montags, um vier Uhr früh zu Fuß, zwanzig Kilometer, zum Betonwerk Rasselstein in Neuwied und blieben dort in Notunterkünften, bis sie Freitags zurück kamen, um das Wochenende in ihren Heimatorten zu verbringen.
Wenn sie ein paar Tage Urlaub hatten, pflegten sie ihre Ställe und arbeiteten auf den Feldern. Die Frauen und Kinder versorgten die Hühner und die Schweine und molken die Kühe.
Später hatten sie dann einen Ochsen, der den Pflug zog.
Ihre Frauen und Mütter hatten unglaubliche Leistungen zu erbringen, denn neben ihren Kindern und den Tieren mussten sie den Hausgarten versorgen, in dem sie Gemüse und Obst anbauten.
Das erinnerte Lissy an die Erzählungen ihrer Mutter und ihre Besuche in Kleve bei den Großeltern. Verbesserung der Lebensverhältnisse erlebten die Menschen in den Dörfern erst nach dem zweiten Weltkrieg und nach der Währungsreform.
Wenn Lissy mit Jupp und Tim zu Pferde unterwegs war, erzählte er ihr Geschichten aus seinem Leben, die sie an die Geschichten der Romanschriftstellerin Clara Viebig erinnerten, die seit dem Jahre 1897 durch ihre Eifelromane und besonders durch ihren damals skandalträchtigen Roman „das Weiberdorf“ Aufsehen erregte hatte.
Dieser Roman brachte die Schriftstellerin auf den Index der Katholischen Kirche.
Erstaunlich war, dass die Menschen in dem kleinen Dorf, wenn man sie erst besser kannte, von unschlagbarem Humor waren.
Fremde allerdings…, mussten erst den sogenannten “Sack Salz“ mit ihnen fressen.
De Sonn krüpt in de Sack! Sächt Vaader.
„Die Sonne kriecht in den Sack.“ Das hörte Lissy, als sie früher bei den Großeltern in Kleve war und nun stand sie am Fenster und sah, wie die Sonne über dem Rhein von aufsteigendem Nebel verschluckt wurde.
Ein milchig, weißer Schleier verdeckte das flammende Rot der Sonne geheimnisvoll, bis sie in einem Streifen von hellem Gold, hinter einer dichten Wolke verschwand.
Dieses Naturschauspiel erinnerte sie an ihren so früh verstorbenen Vater, der ihr und Gerd, als sie noch klein waren erzählt hatte, dass bei diesem Licht, von den Engeln im Himmel die Plätzchen für Weihnachten gebacken würden.
Zwar hatten sie es nicht geglaubt, und doch war es eine so schöne Vorstellung gewesen. So schön, dass Lissy nun auch ihren Kindern davon erzählte, obwohl noch Herbstzeit war.
Immer wieder wollten sie auch die Froschgeschichten hören, die sich Lissy ausgedacht hatte. In dieser Geschichte lebte Vater Frosch, der strenge Erzieher, der jedoch seiner Bequemlichkeit wegen, manches durchgehen ließ, wenn sich seine Kinder stritten. Mutter Frosch dagegen ermunterte die Kinder, ihre Streitereien und Probleme selbst zu lösen. Das erlaubt ihr, von Bestrafungen abzusehen.
Tim und Jorgi bogen sich vor Lachen, wenn sie sich in ihren Rollen in Frösche verwandelten und eigene Geschichten erfanden. Es waren beglückende Stunden und oft dachte Lissy an ihre Mutter, die gesagt hatte: “Sie sollen eine schöne Kindheit haben, das ist Kapital fürs Leben!“
Einmal fragte Jorgi: „Mami?, wann kommt denn der Ernst?“
„Welcher Ernst?“
„Oma hat gesagt, dass der Ernst kommt!“
„Kennst Du einen Ernst, Mutter?“, fragte Lissy.
„Ich weiß nicht, was er meint“, sagte sie, „ich kenne keinen Ernst!“
„Du hast doch gesagt, dass der Ernst kommt…, der Ernst des Lebens?“ fragte Jorgi. Und du hast auch gesagt, “Der kommt noch früh genug, der Ernst!“
Tims Grinsen trieb Jorgi auf die Barrikaden und er schrie wütend:
„Du brauchst nicht so blöde zu lachen, der Ernst ist doch im Kindergarten!“
„Aber den Ernst meint Oma nicht“, sagte Tim, überlegen lachend.
Anna sagte begütigend: „Jorgi…, ich meinte den Ernst des Lebens.
Das ist es, was uns manchmal die Lebenslust nimmt!“
Lissy hörte zu und dachte: „Alles muss bezahlt werden! Eine Rechnung ist immer offen! Aber gut ist, dass man noch Träume hat!“
„Ernst des Lebens, haha, reine Ironie!“
Ihren Lebensmut hatte sie Anna zu verdanken, die immer wieder Türen fand, durch die man in einen schönen Garten gehen konnte.
In letzter Zeit dachte Lissy oft daran, dass sie sich früher mehr für Politik und Wirtschaft interessiert hatte, aber nun nahm sie eigentlich nur noch teil, indem sie die Nachrichten im Fernsehen verfolgte und die Tageszeitung las. „Das muss anders werden“, dachte sie.
Ihre Tage waren so sehr mit Arbeit und Sport ausgefüllt, dass für nichts anderes Zeit blieb. Dazu kam die ständige Kofferpackerei für den Westerwald und neuerdings die Klavierstunden für Tim, die er sich gewünscht hatte und die Lissy veranlassten, trotz fortgeschrittenen Alters, und weil sie schon einmal in der Klavierschule war, selbst Unterricht zu nehmen. Das hatte sie sich schon immer gewünscht.
Die Klavierlehrerin war einst Konzertpianistin gewesen und ihr verstorbener Ehemann war Direktor der Musikhochschule in Düsseldorf.
Es war eine anspruchsvolle Schule, die ihr Günters Frau, Marlene, Altistin im Opernchor Düsseldorf, empfohlen hatte.
Tim lernte schnell und auch Lissy machte es große Freude, Etüden zu üben und leichtere Stücke zu spielen. Der ihnen zugeteilte Klavierlehrer, ein versierter Pädagoge verstand es, Tims Begabung zu fördern, so…, dass er Lissy bald überholte und die Pianistin selbst den Unterricht übernahm.
Trotz seiner Begabung, behauptete Tim, er könne nicht singen, was Lissy nicht glauben wollte. Konnte oder wollte er nicht singen? Lissy glaubte, er fände es blöde, zu singen. Wenn er auf ihren Wunsch willig den Versuch machte, sang er genau eine Oktave tiefer, als die Tonart angespielt wurde. Das klang sehr seltsam und Lissy meinte, dass es schwerer sei, als mit Klavierbegleitung in der gleichen Tonart zu singen.
In der Schule nahm er nicht am Gesangunterricht teil, weil er störte.
Sie übten jeden Tag eine Stunde und geduldig wiederholte er komplizierte Stellen. Viel später wurde Lissy klar, dass seine Begabung eher in Bezug auf die Technik lag. Als sie ihn frug, wie er auch komplizierte Stücke auswendig spielen könne, sagte er:
„Ich sehe das ganze Blatt, das fresse ich in mich hinein!“
Durch Politiksendungen im Fernsehen angeregt, wurde im Freundes- und Mandantenkreis viel diskutiert, aber dabei auch viel Alkohol konsumiert.
Sie pafften wie die Weltmeister und ungesunde Rauchwolken waberten in den Wohnräumen. So genannte Rauchverzehrer sollten die Luft verbessern, wurden aber auch wieder abgeschafft, weil die Beigaben von Tannenduft oder anderen Duftstoffen noch schlimmer rochen als Tabak. Besonders Zigarrenrauch erschwerte das Atmen und manche hatten schon einen Raucherhusten und rote Augen. Jeder wusste: “Das kann nicht gesund sein!“
Die verschiedensten Formen von Zigarettenspendern gehörten zum Geschenkekatalog. So auch eine besonders geschmackvolle Ausfertigung in Form eines Skelettes, das beim Aufspringen des Dosendeckels eine Zigarette in der knochigen Hand hielt. Das war „cool“!
Es war nie langweilig und die lebhafte Unterhaltung entwickelte sich oft zu hitzigen Streitgesprächen, die ein erneutes Anzünden einer Zigarette erforderten.
Der Alkoholpegel stieg beträchtlich, aber Lüften, Goulasch Suppe und Kaffee wirkten stets beruhigend. Man sprach auch über die französische Küche und da war die äußerst moderne, überbackene Zwiebelsuppe, die alle Probleme lösen sollte. Für diese Suppe mussten natürlich besondere Tassen angeschafft werden.
Ein aufregendes Gesprächsthema, in den sechziger Jahren war die Kuba Krise.
Lothar und Lissy waren in Richtung München unterwegs gewesen, um Georg, Jorgis Patenonkel, zum Geburtstag zu gratulieren. Auf der Autobahn beobachteten sie mit Erschrecken, dass amerikanische Wachposten, an bestimmten Knotenpunkten, in Kampfuniform Posten bezogen hatten und Kampfjets mit großem Getöse das Gelände überflogen.
Ihre Freunde in Rosenheim waren besorgt, dass es wegen Kuba zu einer, bis dahin noch nie dagewesenen kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Russland und Amerika kommen könnte.
Von der Besetzung Westdeutschlands durch die Russen, dem die Deutschen nichts entgegen zu setzen hätten, wurde geredet. Deutschland würde insgesamt überrollt werden, wurde kolportiert, denn in Berlin wären die Russen ja schon. Ein Spielball zwischen den Weltmächten und Ideologien.
Von Atomsprengköpfen war die Rede. Die Welt hielt den Atem an.
Alle dachten an Hyroshima und an die verheerende Wirkung der Atombombe.
In letzter Minute konnte ein Krieg verhindert werden.
Zum Kampf bereite Exilkubaner konnten trotz Hilfe der Amerikaner, Kuba nicht zurück gewinnen. Fiedel Castro hatte die Macht. Er und Ernesto „Che“ Guevara behielten das 1959 angetretene Kommando und die Macht auf Kuba. Für den Westen war Cuba vorerst verlorenes Terrain. „Che“ Guevara“, galt als der „Freiheitskämpfer“ schlechthin, obwohl er eigentlich ein Mörder und Aufrührer war. Sein Bild klebte auf allen Blättern der aufrührerischen Jugend der Nachkriegszeit.
In Kreisen der Kriegsjugend und in den Medien wurde viel über deutsche Politik diskutiert. Nach vierzehn Jahren Amtszeit war Konrad Adenauer zurückgetreten und Ludwig Ehrhard wurde zum zweiten Bundeskanzler gewählt.
Als Bundeswirtschaftminister hatte er zuvor großen Erfolg. Man nannte ihn: “Vater des Wirtschaftswunders“.
Ludwig Ehrhard sah man nur mit dicker Zigarre und Lästerer sagten, er ginge damit zu Bett.
Als Bundeskanzler jedoch, war er eher glücklos und wurde im Jahre 1969 von Kurt Georg Kiesinger abgelöst.
Viele Menschen im Land wollten von Politik nichts wissen. Sie wollten Ruhe und Eisbein mit Sauerkraut und Bier.
„Die machen ja doch was sie wollen“, sagten sie. „Zum Schluss muss der “Deutsche Michel“ ja doch wieder den Kopf hinhalten und die “Großkopfeten“ sacken das Geld ein!“
Da war es gut, dass sie im Westerwald eine zweite Heimat gefunden hatten.
Hier war es friedlich.
Durch Zufall lernten sie eine ältere Dame aus Neuwied kennen, die ihr Klavier abgab, weil sie in ein Altersheim gehen wollte.
Es war ein wunderschönes „Schimmel“ Klavier mit Kandelabern, die Lissy mit Kerzen bestückte. Für Lissy, im Stillen immer noch eine Romantikerin, war es die Erfüllung eines Kindertraums.
Leider war das Instrument wegen der unterschiedlichen Temperaturen im Haus sehr oft verstimmt. Der Klavierstimmer aus Neuwied hatte gut zu tun. Er ließ Lissy eine Stimmgabel da, aber es gelang ihr nicht immer, den richtigen Ton zu treffen. Zum Üben reicht es, dachte sie.
Jorgi ging in die Grundschule und seitdem ging er auch mit zum Klavierunterricht. Er bestand darauf und sagte, was Tim kann, das kann ich auch! Lissy dachte, dass Jorgi eigentlich musikalischer sei als Tim.
Wenn er ein Stück beherrschte, spielte er es begeistert immer wieder mit Gefühl, aber Neues erarbeiten wollte er nur unter Druck und mit gutem Zureden.
Vielleicht war es auch für ihn nicht das richtige Instrument. Vielleicht hätte er besser Saxophon oder Trompete gespielt, aber weil Tim Klavier spielte, wollte er es unbedingt auch.
War das Leben in Kriegs- und den ersten Nachkriegsjahren langweilig, von Hunger Not und Tod geprägt gewesen, so bot es nun fast ein Übermaß an Reizen angenehmer Art. Man fühlte sich jung und begeisterungsfähig und war allem Fortschrittlichen zugetan.
Lissy hielt weiterhin den Kontakt zu Lothars ostdeutscher Verwandtschaft in Karl-Marx-Stadt. Ein reger Briefwechsel entwickelte sich zu dieser Zeit zwischen ihr und Helga, der Ehefrau von Lothars Cousin Karl. In einem Ordner sammelte Lissy diese Briefe und fertigte Kopien ihrer eigenen Briefe, sodass ein reger Gedankenaustausch zwischen Ost- und West dokumentiert wurde. Nie hätte Lissy gedacht, dass so viele Jahre darüber vergehen würden, bis Ost- und Westdeutschland wieder eine Einheit werden würden.
Helgas Ehemann Lothar war Friseurmeister und leitete einen HO-Friseursalon, wo Tag und Nacht, in Schichten gearbeitet wurde.
Westlich orientiert, litt er unter dem Kuratel der DDR-Bonzen.
Sie hatten zwei Söhne, Gunter und Ralph, im gleichen Alter wie Tim und Jorgi.
Weil Karl und Helga nicht in die Partei eintreten wollten, durften ihre Kinder nicht die höhere Schule besuchen.
Helga arbeitete weiter als Lehrerin für blinde, und spastisch behinderte Kinder. Die Arbeit machte ihr Freude, aber die ständige Kontrolle der parteiorientierten Vorgesetzten, deren oberste Hüterin Margot Honnecker war die Frau des Parteivorsitzenden, ärgerte sie.
Lissys Briefe und Pakete wurden geöffnet und kontrolliert.
Wegen der problematischen, politischen Lage hatten sich viele DDR-Bürger zum Westen abgesetzt. Im Volksmund…, sie machten rüber…, (über die Grenze)
Helga schrieb: „Die DDR Führung mauert ihre eigenen Genossen ein!“
Das Interesse der Westdeutschen an den “Schwestern und Brüdern“ in der “Zone“ ließ nach und nur wer dort Verwandte oder Freunde hatte, interessierte sich für sie.
Lothar als SPD-Mitglied, war hocherfreut als es dem regierenden Bürgermeister von Berlin, Willy Brand, der auch Landesvorsitzender der Berliner SPD war gelang, die Lage etwas zu entschärfen. Er traf mit der SED-Führung ein Passierscheinabkommen.
“Wandel durch Annäherung“ war seine Devise.
Doch weder bei den Wahlen 1961, noch 1965 gelang es ihm, mit der SPD Bundeskanzler zu werden.
Weil CDU und FDP in Streit geraten waren, holten sie Kurt-Georg-Kiesinger ins Kabinett und bildeten eine große Koalition mit der SPD.
Willi Brand wurde Vizekanzler und Außenminister.
In den sechziger Jahren jagte ein politisches Ereignis das andere und erst im Jahre 1969 wurde Willi Brand mit der SPD Bundeskanzler.
Diese aufregenden Ereignisse vermerkte Lissy, neben privaten Dingen in ihrem Tagebuch. Als sie bemerkte, dass Lothar ihre Eintragungen las und mit eigenen Bemerkungen versah, was sie irgendwie lustig fand, entzog sie es den Blicken ihrer Familie, denn auch die Kinder begannen darin zu lesen.
Privat waren sie nicht müßig. Der Reitsport hielt sie in Atem und der Klavier Unterricht ging ins zweite Jahr. Lothar nahm sein Amt als Schulpflegschaftsvorsitzender weiter wahr, und half bei der Organisation der Schulfeiern.
Es gab keine besonderen Querelen mit der Schule, wenngleich Jorgi sich immer wieder als Klassenclown hervortat. Ein befreundeter Studienrat meinte, er sei hochbegabt und deshalb wäre es ihm in der Schule langweilig was aber zu Defiziten in Bezug auf den Klassen Lernstoff führte, weil er sich nicht intensiv am Unterricht beteiligte. Viel lieber beschäftigte er sich mit dem Erfinden einer Alarmanlage in seinem Zimmer,
Tims Ehrgeiz lag nicht darin, Klassenbester zu werden. Er neigte nicht zu aufsässigem Verhalten. Latein, Geschichte und Kunst waren seine Lieblingsfächer. Für ihn war Schule ein notwendiges Übel, um nach dem Unterricht das zu tun, was ihm Freude machte. Handwerkliches, und Organisatorisches lag ihm sehr. Er spielte nun anspruchsvollere Klavierstücke und übte für das Reiterabzeichen.
Lissy nahm regen Anteil an allen Aktivitäten. Sie nahm ihre Kinder sehr ernst und fühlte sich geliebt.
In allen Ferien und an vielen Wochenenden fuhren sie in den Westerwald. Besonders, seitdem es samstags keinen Schulunterricht gab. Dann fuhr Lissy mit den Kindern schon freitags voraus. Lothars Missgeschick hatte sie es zu verdanken, dass sie nun endlich auch ein Auto zur Verfügung hatte. Beim letzten ihrer Westerwaldbesuche hatten sie mit Bekannten aus dem Westerwald zusammen Kirmes gefeiert und es wurde mächtig gebechert. Lothar war in seinem Element… Er hatte alle Zuhörer auf seiner Seite und sprühte vor witzigen Einfällen.
Als Lissy sich ihrerseits auf ein kleines Wortgefecht mit einem der Gäste einließ, reagierte er beleidigt und fand scharfe Worte der Zurechtweisung. Nach Alkoholgenuss war er nicht zu bremsen und Lissy hielt sich zurück.
Einer der Gäste fragte sie, warum sie sich das gefallen ließe. Die Zeiten seien doch vorbei, dass Frauen nicht mitzureden hätten, meinte dieser.
Lissy sagte: „Der Alkohol spricht aus ihm und morgen tut es ihm leid, ich nehme das nicht so ernst und ich hasse Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit“. Doch war es ihr unangenehm, dass Lothar diesem Mann Gelegenheit zur Kritik gegeben hatte. Die Stimmung war verloren gegangen, und die Leute gingen auseinander.
Sie hatten in der Einfahrt vor Jupps Pferdestall geparkt und Lissy sagte: „Lass‘ doch den Wagen stehen, den holen wir morgen ab. Gehen wir doch zu Fuß!“ Stur sagte er: „Nein, wir fahren!“ Er stieg in den 180er und stieß die Beifahrertüre auf. Lissy blieb nichts anderes übrig als einzusteigen, und Lothar setzte zurück. Dabei kam er über die weiße Linie, die die Fahrspur teilte und im gleichen Moment kam ihm mit hoher Geschwindigkeit ein Fahrzeug auf der Gegenspur entgegen, das auf den hinteren Kotflügel prallte.
Wütend stieg Lothar aus, noch bevor Lissy ihn warnen konnte und fuhr den Fahrer des anderen Fahrzeugs an: „Können sie nicht aufpassen? Sie sind wohl betrunken?“ Sicher hätte dieser Fahrer auch langsamer fahren können und vielleicht war er auch alkoholisiert, wie alle, wenn Kirmes war.
Nach einem kurzen Wortgefecht lief er weg und ließ sein Fahrzeug auf der Straße stehen.
Neugierige Zuschauer hatten sich schon versammelt und all‘ dies war Lissy peinlich.
Lothar stieg wütend wieder ein und sie fuhren nach Hause. Er fuhr den Wagen in die Garage und schloss sie ab. Dann ging er ins Bad, stieg stocksteif die Treppe hinauf und ging ins Bett. Lissy dachte, er wäre schon auf der Treppe eingeschlafen und war wütend über sein Verhalten.
Weil im Dorf Kirmes war und sie abends nicht allein bleiben sollten, waren die Kinder bei den Großeltern in Düsseldorf geblieben und Lissy war froh, dass sie ihren Vater nicht so gesehen hatten.
Am nächsten Morgen schlief sie bis zehn Uhr. Lothar lag da, als sei er tot.
Kaum war sie angezogen, polterte die Polizei gegen die Türe.
Lissy war schockiert und öffnete.
Die Dorfpolizisten fragten streng: „Wo ist Herr Behrendt?“
Lissy sagte: „Mein Mann ist schon früh nach Düsseldorf gefahren, er hatte einen wichtigen Termin! Was wollen Sie?“
Wir haben eine Anzeige wegen Trunkenheit am Steuer und wegen Fahrerflucht…!“
„Ja, aber der Mann, der uns angefahren hat, ist doch weggelaufen!“
„Sie hätten dort warten müssen! Er hat die Polizei angerufen“, sagten die Polizisten, die mit ihren Schlamm bedeckten Schuhen Lissys handgewebte, weiße Teppiche beschmutzten.
Verlegen folgten sie Lissys vielsagenden Blicken und verabschiedeten sich indem sie die Hand an die Mütze legten. Dass sie nicht stramm standen, hatte noch gefehlt.
Lissy war jedoch froh, dass sie nicht Einlass in die Garage verlangt hatten, wo der zerbeulte Wagen stand.
Sie bewunderte sich selbst wegen der Ruhe, mit der sie diesen Besuch überstanden hatte. Eigentlich hätte sie diese Polizisten nicht hereinlassen brauchen, sagte später ihr Anwalt.
Lothar behauptete, man habe ihm etwas ins Bier geschüttet. Wer weiß, dachte Lissy, vielleicht stimmt das sogar, denn sie hatte schon von solchen Manövern gehört und in der Zeitung gelesen aber nun war es einmal so.
Einen Tag später traf eine Vorladung für das Gericht in Neuwied ein.
Lothar nahm seinen Hausanwalt in Anspruch, der den Termin für ihn wahrnahm.
„Abstreiten“, sagte der Anwalt…, „abstreiten!“
Eine Blutprobe war nicht entnommen worden und so gab es nicht den direkten Beweis.
Der anzeigende Fahrer war Bürger des Dorfes und fand Zeugen, die seine Angaben bestätigten.
Laut Gerichtsurteil wurde die Fahrerlaubnis auf ein halbes Jahr entzogen, und Lothar musste die Reparatur bezahlen. Jetzt war guter Rat teuer.
Lothar überließ Lissy nun den 180er Mercedes und sie übernahm für ein halbes Jahr den Fahrdienst. Lothar war wütend, dass er nun nicht selbst fahren konnte. Es war sehr stressig, denn viele Termine mussten wahrgenommen werden und er war ein unangenehmer Beifahrer. Doch auch diese Zeit ging vorüber und Lothar übernahm einen Mercedes 220 von der Telefonbaugesellschaft, die aus Abschreibungsgründen ein neues Fahrzeug bestellt hatte.
Lissy war glücklich nun unabhängig zu sein und Lothar fuhr nicht mehr unter Alkoholeinfluss.
So hatte Lothars Missgeschick, Lissy endlich ein eigenes Fahrzeug gebracht. Leider hatte der Wagen noch keine Servolenkung und fuhr sich wie ein Lastwagen, aber Lissy war ja sportlich gestählt.
Für die meisten Menschen, die wegen zu hohen Alkoholkonsums eine Zeit lang auf den “Lappen“, wie manche Menschen den Führerschein nannten, verzichten mussten, war es besonders bei Selbständigen und Berufsfahrern, ein einschneidendes Erlebnis wenn die Fahrerlaubnis für eine Zeit entzogen war. Ansehensverlust und Existenzgefährdung konnten die Folge sein. Im Dorf wurde gemunkelt, dass tatsächlich einer der Dorfbewohner K.O.-Tropfen ins Bier geschüttet haben sollte, denn auch ein anderer Gast war betroffen. Lothar war machtlos, denn weder er, noch sein Anwalt konnte einen Beweis erbringen. In solchen Dingen hielt die Dorfgemeinschaft zusammen.
Dieses Thema war dann auch schnell vom Tisch als der Führerschein wieder da war. Und Lissy war froh, sich wieder anderen Dingen zuwenden zu können.
Unabhängig von Lothars Zeiteinteilung konnte sie mit den Kindern schon am Freitag in den Westerwald fahren. Treu nach dem Wahlspruch: „Wat dem en sin Uhl, is dem annern sin Nachtigall…!“
Dieser Plan konnte jedoch vorerst nicht ausgeführt werden, weil Lothars Vater erkrankt war. Er hatte sich bei der Fußpflege verletzt und ein Zeh hatte bereits eine dunkelblaue, fast schwarze Färbung angenommen.
Statt den Arzt aufzusuchen, hatte er versucht, mit Umschlägen die Entzündung zurückzudrängen,und nun hatte er große Schmerzen.
Als Lothar den Fuß sah sagte er: „Das ist eine ganz schlimme Sache und ich weiß…, sehr schmerzhaft… Habe ich doch viele Kameraden gesehen, deren Verletzungen nicht früh genug behandelt wurden.
Lothars Mutter aber sagte: „Der Vater braucht keine Tabletten…, Tabletten sind Gift!“ Lothar…,der vor einem Jahr Lissys Worte über die Krankheit Diabetes nicht hatte wahr haben wollen, war nun sehr besorgt. Fürsorglich bestellte er den Hausarzt, der auch sofort kam und dieser verschrieb schmerzstillende Mittel und sagte, der Vater müsse sofort ins Krankenhaus. Er schrieb eine Einweisung und gab diese in einen Umschlag, den Lissy jedoch heimlich öffnete und sie las: “Gangrän“.
Lothar, der den Vater ins Krankhaus begleitet hatte,war nun doch voller Hoffnung und sagte: „Es gibt jetzt so viele Mittel, die Ärzte bekommen das sicher wieder hin!“
Lissy aber hatte in ihrem Gesundheitslexikon gelesen, dass „Gangrän“
zur Amputation führen könne. Sie zeigte es Lothar. Er wurde blass und war wie versteinert. Er sagte: „Das kann ich nicht glauben, das ist ein altes Buch!“ Sie sah in seine Augen, die selten so offen in die ihren sahen und sein Blick sagte resigniert: „Ich habe verstanden!“
Sie fuhren ins Krankenhaus und Lissy sah voller Mitgefühl, wie der Schwiegervater litt und sofort war die Erinnerung an ihren eigenen Vater da, dessen Leiden sie als Kind so lange gesehen hatte.
Um sich abzulenken, fuhren sie nun doch in den Westerwald, weil sie im Moment für den Vater nichts tun konnten. Schmerzlindernde Mittel hatten ihn ruhig gestellt und er wollte Ruhe haben. Die weitere Behandlung sollte Montag erfolgen. Sie nahmen Lothars Mutter mit die sehr tapfer war, aber auch fest daran glaubte, dass der Vater wieder gesund würde.
Die Kinder waren traurig, dass der Opa so krank war, denn sie liebten ihn sehr, weil er mit ihnen spielte und bastelte.
Lothar, getreu seinem Vorsatz traurigen Stimmungen nicht nachzugeben, sagte: „Opa wird wieder gesund!“ Das beruhigte die Kinder und auch seine Mutter, die ja auch daran glauben wollte und Lissy ließ sich gerne mitnehmen auf diesen Pfad der Hoffnung und sie unterstützte Lothar, denn sie wusste…, nur mit diesem Optimismus hatte er das Gefangenenlager überlebt. Jedoch hatte ihn diese Art der Überwindung des Schreckens immun gegen Gefühlsregungen gemacht. Er hatte Dämme aufgebaut, die er nicht übersprang und lieber entzog er sich, als sich mit Problemen auseinander zu setzen. Lissy hatte ihn noch nie weinen sehen.
Fremden gegenüber konnte er gefühlvoll sein und sie trösten, nicht aber die Menschen, die ihm nahe standen und die er liebte. Er ängstigte sich vor Rührung und wollte Stärke zeigen.
Lissy fiel eine Bemerkung seines Freundes Günther ein, dem Freund, der mit ihm zusammen in Russland sein Lagerleiter gewesen war. Er hatte bemängelt, dass er sich nie ernsthaft mit Lothar unterhalten könne. Er wäre gerne mit ihm, seiner Frau Marlene und Lissy alleine zusammen gekommen, aber immer wären zu viele Leute da, die nur oberflächliche Reden führten und immer sei es Kabarett, sagte er.
Gehaltvolle Unterhaltung und Diskussionen wollte Lothar nicht, denn er gestattete sich keine Gefühle.
Lissy glaubte, dann würden Dämme brechen und davor hatte er Angst. So rettete er sich in oberflächliche Geselligkeit, Spaß und Alkohol… Nichts durfte in die Tiefe gehen, was ihn persönlich betraf. Er hatte sich wohl selbst ein Versprechen gegeben.
An diesem Samstag kam Jupp, der den kleinen Alex in die Kutsche gespannt hatte und der nichts von Emils Erkrankung und seinem Krankenhausaufenthalt wusste mit einem Hannoveraner den er neben der Kutsche führte und meinte…, Lissy solle ihn mal ausprobieren, er stünde zum Verkauf. Lothar habe ihm gesagt…, er solle die Augen offenhalten.
Lothar hatte Lissy nicht davon gesagt. Es war ähnlich wie mit dem Schmuck und den Pelzen. Spontan traf er Entscheidungen ohne mit Lissy darüber zu reden, und nun stand Jupp mit diesem Pferd vor ihrem Haus.
Ein hochbeiniges Riesenpferd, von dem er sagte:
„Dat Päd es brav, äver jet groot!“ (brav aber groß).
Lissy stand vor diesem Hannoveraner und dachte: „Wie komm‘ ich da rauf?“ Sie war nicht in Reitkleidung und trug leichte Schuhe.
Jupp machte eine Reiterleiter und Lissy setzte sich, so wie sie war, auf das Pferd, das auch brav still stand, aber sobald sie leichte Reithilfe gab, jagte es dahin wie der Teufel. Es machte Riesen Galoppsprünge, und war in wenigen Minuten am Waldrand und in Sekundenschnelle zurück.
Spaziergänger dachten, es sei durchgegangen und standen sensationsgierig am Weg. Lissy hatte keine Angst und kam sich vor wie in einem Wildwestfilm.
Wie sie nachher erfuhr, hatte der Vorbesitzer dieses willige und brave Tier unglaublich gehetzt, und war sogar mit ihm über einen VW gesprungen, wobei das Pferd sich verletzt hatte. An der Flanke hatte es eine große Narbe.
„Ein Glück, dass nicht zufällig ein Auto im Wege steht!“, dachte Lissy.
„Es gehört schon eine Menge Brutalität dazu, einem Pferd so etwas anzutun! Hoffentlich kommt es in gute Hände!“ und nachdenklich:
“Wie sich die Zeiten ändern…! Vor ein paar Jahren hätten wir nicht daran gedacht, dass aus hungrigen Volksgenossen und Kriegsgefangenen freie Bundesbürger werden könnten. Nun kann man mit dem Gedanken spielen, ein Pferd zu kaufen…, auch wenn man es nicht tut.
Welches Glück…, so frei zu sein!“
Nun aber stand die Krankheit von Lothars Vater im Vordergrund. Lothar und seine Mutter besuchten ihn jeden Tag. Lissy und die Kinder einmal in der Woche. Der Vater war sehr tapfer, aber er hatte eine lange Leidenszeit vor sich. Zuerst wurde ihm ein Zeh amputiert und dann der Fuß. Der Heilungsprozess dauerte sehr lange, weil die Medikamente bei Diabetes und Wundheilung gegeneinander wirkten.
Eines Tages kam Jupp…, plötzlich, unangemeldet, aus dem Westerwald zu Besuch nach Düsseldorf. Er hatte sich spontan von einem Lastwagenfahrer, der an der Raststätte eine Pause gemacht hatte, mitnehmen lassen.
„Ich will den Emil noch einmal besuchen!“ sagte er., Dieses “noch“ klang seltsam in Lissys Ohr. Zutiefst erschrocken sah sie ihn an und er meinte begütigend: „Vielleicht hat der Vater ja Glück! Man darf die Flinte nicht sofort ins Korn werfen.“
Weit weniger verständnisvoll war ein Mandant, ein Bauer, der auf dem Großmarkt in Wuppertal einen Stand hatte. Er war einer der ersten Kühltransporte-Unternehmer nach dem Krieg. Mit Lothar und seinem Vater war er im gleichen Kegelclub und er sagte mitleidlos:
„Wenn das einmal angefangen hat, dann ist er in einem Jahr tot!“
„Wie können sie so etwas behaupten?“, sagte Lissy empört und dachte dabei an dessen Frau, die sich mit Melissen Geist tröstete, weil er, wie Lissy erfahren hatte, eine Geliebte auf dem Markt in Wuppertal haben sollte. Er redete er gefühllos von Emils Tod…, ohne jedes Bedauern…
„Kein Wunder, dass seine Frau säuft,“ dachte Lissy empört…
Als er sah, dass Lissy sich erregte, meinte er: „Vielleicht geht es ja gut, aber wenn das einmal so weit ist, kann der beste Arzt nichts mehr machen!“
Nichts davon sagte sie Lothar und auch nicht seiner Mutter, die auf Heilung hoffte.
Lothar hatte schon Kontakt mit einem Prothesenmacher aufgenommen, der aber dazu geraten hatte, noch eine Weile zu warten, aber Lothar drängte darauf. Er wollte es erzwingen und musste doch einsehen, dass der Vater Gehhilfen benutzen musste.
Tapfer übte der Vater das Laufen und war stolz darauf, dass er schon einen Weg durch den Wald machen konnte, was ihn, den Naturliebhaber, besonders erfreute und Lissy dachte besorgt: „Hoffentlich haben die Männer Unrecht, die nicht an Genesung glauben!“ Sie bemerkte, dass Lothars Mutter nun auf Diabetikerkost achtete und dafür sorgte, dass er seine Medikamente regelmäßig nahm, doch gab sie ihm keine schmerzstillenden Mittel. „Tabletten sind Gift“, sagte sie immer noch, obwohl der Arzt ihm diese verschrieb.
Lissy schob ihm die Tabletten unter die Decke und versprach ihm, mit dem Arzt zu reden.
Lothars Mutter glaubte wirklich, sie könnte den Vater mit den Tabletten umbringen. Vielleicht dachte sie dabei an ihren Bruder, der sich vor Jahren mit Tabletten das Leben genommen hatte, aber sie hatte sich nie dazu geäußert.
Es ist eine gute Gelegenheit, einmal aus dem allgemeinen Stress herauszukommen, sagte Lothar…
Die holländische Firma, für die er 1958 in Hamburg einen Vermögensstatus erstellt hatte, benötigte eine Bilanz und der Hauptsitz der Firma befand sich in der Schweiz. Ich habe keine Lust alleine zu fahren, komm‘ doch mit, sagte er und das ließ Lissy sich nicht zweimal sagen…
Sie machte Lothar darauf aufmerksam, dass Ehrhardt und Karin aus Ascona angerufen hatten und dabei waren, ein Haus am Lago Maggiore zu kaufen und außerdem war Billy, die Malerin, mit ihrer Freundin seit Mai in Ascona und hatte sie eingeladen, sie dort zu besuchen.
Sie würden nur kurzzeitig mit ihren Freunden zusammen sein können, denn sie sollten bei einer Bank in Lichtenstein für den Hamburger Mandanten eine Verhandlung führen und hatten nur eine gute Woche Zeit. Lothar fuhr und Lissy hatte die Karte ausgebreitet. Sie nannte Lothar die Namen der Berge, ihre Höhe und die Bedeutung der Ortschaften und sie erinnerten sich an die Gipfel, die sie auf früheren Reisen per Seilbahn besucht hatten.
Bei Radiomusik genossen sie entspannt die wundervolle Bergwelt.
Lissy hatte die Gabe, sich voll der Gegenwart hinzugeben und war glücklich und entspannt und auch Lothar genoss es, ohne Ablenkung die Reise zu genießen.
Am Vierwaldstätter See machten sie eine Pause, um nach der langen Fahrt einen Spaziergang zu machen, doch dazu sollte es nicht kommen.
Betroffen hörten sie im Deutschlandfunk, dass der deutsche Bundeskanzler, Konrad Adenauer, am 19. April 1967 in seinem Haus in Rhöndorf verstorben war.
Als graue Eminenz war Konrad Adenauer immer noch politisch gegenwärtig gewesen und nahm im Hintergrund Einfluss auf das politische Geschehen, wenngleich man ihn in Fernsehbildern nur noch in seinem Pavillon in Rhöndorf wahrnahm, wo er an seinen Memoiren arbeitete. Man hatte sich in seiner langen Amtszeit nach dem Krieg so an sein Wirken gewöhnt, dass man sich nicht vorstellen konnte, wie es ohne ihn gehen würde.
Lissy und Lothar waren sich einig, dass Konrad Adenauer die wichtigste Gestalt in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland war.
Ohne ihn, und sein politisches Engagement würden sie wahrscheinlich nicht in aller Freiheit hier am Vierwaldstätter See sein, und auch seinem politischen Geschick war es zu verdanken, dass Deutschland wieder Ansehen in der Welt gewann. Bei dieser Nachricht wurde ihnen bewusst, wie groß der Einfluss dieses Mannes auf die Nachkriegsgeschichte war.
In seiner Amtszeit war unendlich viel passiert.
Im Tagesgeschehen nahm man Politik, Wirtschaft, Weltpolitik und private Erlebnisse nur in allgemeiner Hetze wahr. Konrad Adenauer, der Alte…, war nicht mehr…
Sie redeten nicht viel, und hingen ihren Gedanken nach.
Karin und Ehrhardt wohnten in Ascona in dem ihnen bekannten Hotel am See, wo für sie ein Zimmer reserviert war.
Es war ein schönes Zusammentreffen mit den Freunden und diese freuten sich sehr, dass Lissy und Lothar sie hier besuchten, aber Lissy hatte das Gefühl, dass die Stimmung zwischen den beiden getrübt, und ihr Besuch eine Ablenkung von deren Problemen war.
Irgendwie schwelte noch immer Karins geheime Liebesgeschichte.
Neue Treffen mit Hochheimer hatte sie zwar abgesagt, aber er war in ihrem Kopf… Mit Ehrhardt hatte sie noch nicht gesprochen und sie wusste nicht, ob er etwas ahnte. Aus Angst vor seiner Reaktion wusste sie nicht, was sie tun sollte und als sie mit Lissy alleine war sagte sie: „Ich muss mich entscheiden… Ich glaube, es ist besser zu verzichten, denn es kann ein schlimmes Ende nehmen, so wie ich Ehrhardt kenne…
Ich muss auch an die Kinder denken und an das Chaos, das ich anrichte! Wie würdest du dich verhalten?“
„Mich darfst du nicht fragen“, sagte Lissy. „Ich befinde mich, was meine Gefühle betrifft, in einem Niemandsland. Aber irgendwann werde ich wieder Boden unter die Füße bekommen. Es ist alles nicht so einfach, denn Lothar macht es mir nicht leicht aber wer hat es schon leicht im Leben und in der Partnerschaft? Man ist ja auch Mutter…! Ich sehe es als meine Pflicht an, die Familie zusammen zu halten. Ich will auch alles nicht so genau wissen. Das mag ja feige sein, aber noch ist es auszuhalten. Wer weiß was noch kommt…! Im Mandanten- und Freundeskreis sehe ich so viel Unglück… Sie laufen auseinander und haben neue Partnerschaften, die sich am Ende meist auch wieder lösen. In den letzten Jahren habe ich so viele existenzbedrohende Trennungen gesehen…
Sie leben nun allein oder in dritter Ehe und ich frage mich, warum heiraten sie immer wieder? Die Kinder tragen die größte Last. Sie lieben beide Eltern und werden hin- und hergerissen, weil die Eltern nicht den richtigen Weg finden, in Anstand eine Trennung durchzuführen. Da geht es dann nur noch um finanzielle Mittel und um die letzte Mark wird gestritten
Wer ist nach fünfzehn Jahren Ehe wirklich glücklich? Bestenfalls schätzt man einander und liebt sich auf eine andere, bessere Art, wobei es immer einen der Partner geben muss, der Vernunft vor Emotion stellen kann. Kommt jedoch Brutalität, unsägliche Lügerei und Hass ins Spiel, dann ist es wohl besser auseinander zu gehen, denn das hinterlässt Spuren, die sich nicht löschen lassen. Es wäre besser, wenn man sich die Wahrheit sagen könnte! Wir Alle spielen voreinander Theater. “Schmierentheater“ und lügen uns selbst etwas in die Tasche. Ich nehme mich da nicht aus, aber ich spreche es aus und belüge mich nicht auch noch selbst! Nach all‘ den Erfolgen und Niederlagen, nach all‘ den Tagen und Nächten die man zusammen war, muss es doch etwas geben, das gut war und noch ist. Man hat doch vollen Herzens „Ja“ gesagt, und einmal hat man sich geliebt…!“
„Aber die Liebe kann sterben!“, sagte Karin traurig. „Trotz der Kinder…! Ist es nicht Lüge, dann zu bleiben?“
Lissy sagte nachdenklich: „Es gibt einfach keine Formel für schmerzfreie Trennungen und ein Besseres danach! Ich bin noch nicht in der Lage zu entscheiden, was für mein Leben gut wäre. Es ist alles ein bisschen lau.
Vielleicht fehlt die unsägliche Leidenschaft und Liebe und ein Partner, der einem alles geben kann. Doch wem begegnet der wirkliche Lebenspartner und gibt es ihn überhaupt? Bin ich die richtige Partnerin für ihn? Was hat er sich erträumt? Die ihn leidenschaftlich begehrende, unersättliche Sexpartnerin? Oder die ergebene, hilflose, alles erduldende Hausfrau? Eine sich unermüdlich um ihn bemühende Geliebte, oder will er geprügelt werden?“
„Ich frage mich, ob Männer sich wirklich etwas “erträumen“, sagte Karin
ironisch. “Ich glaube, wir machen mehr daraus, als es ist!“
Lissy hatte sich in Rage geredet und wurde in ihrem Redestrom unterbrochen, denn Ehrhardt erschien in der Türe und ließ es sich nicht nehmen, sie zu einem Begrüßungsschluck einzuladen. Das lockerte die Stimmung und hier war Alkohol der “Gute Freund“.
Karin war beeindruckt von Lissys Worten und sagte: „Ich ruf‘ dich an, wenn wir wieder in Hamburg sind. Du hast ja so Recht, aber es tut doch sehr weh, Vernunft zu üben!“
Danach besichtigten sie die Baustelle am Berg und waren begeistert von der wundervollen Aussicht auf den See und die Insel Brissago. Lothar war der Bewunderung voll. Auch Karin war entspannter als am Mittag und Ehrhardt hielt sich mit seinem Alkoholkonsum zurück.
Am Tag darauf trafen sie sich mit Billy der Malerin und ihrer neuen Freundin, einer ganz reizenden Person. Diese Frau war zwanzig Jahre jünger als Billy und Lissy sah, dass diese junge, schöne Frau Billy liebte.
Sie bewegte sich natürlich, unaufdringlich, elegant und nicht exaltiert. Sie war selbst Malerin und begütert. Da passte wirklich alles…
Lissy bemerkte die gesellschaftlich unterdrückte, erotische Spannung zwischen den Frauen, so wie sie es selbst in jungen Jahren mit ihrem bisexuellen Freund erlebt hatte. Eine Art von Spannung, die man nicht erklären kann und die dennoch so leicht ist. Es knistert, aber es brennt nicht. Es sei denn, man wäre total involviert. Dann kann es bei solchen Paaren zu extremen Ausbrüchen kommen.
Billy hatte eine kleine Wohnung mit Atelier gekauft, denn sie wollte in Ascona bleiben und übertrug Lothar die Verwaltung ihrer Liegenschaften in Köln. Sie hatten eine sehr lockere Unterhaltung und es wurde entspannt gelacht und gelästert. Wortspiele einbegriffen, so, wie Lissy sie liebte.
Es waren ein paar eindrucksvolle Tage, aber auch Nächte gewesen und sie und Lothar waren sich näher, als Lissy es während der Unterhaltung mit Karin vermutet hatte.
Nun freuten sie sich wieder auf die Kinder und auf die Arbeit. So muss es sein, dachte Lissy, die an den Sport und die Klavierstunden dachte und… auf den schwarzen 180er. Harmlose Freuden…!
Lothar besuchte nach der Rückkehr in Düsseldorf noch am selben Tag seinen Vater, der ja wieder zu Hause war. Es ging ihm den Umständen entsprechend gut, aber der Zuckerspiegel wollte sich nicht regulieren lassen, weil die Medikamente gegeneinander wirkten. Lothars Mutter ertrug alles bewundernswert tapfer.
Lissy machte immer noch die Buchführung für Hetty und das Haus in der Altstadt und Lothar kümmerte sich um das von Max gekaufte Haus in Kaiserswerth, das umgebaut werden sollte. Max sprach davon, dass Lothar das Haus später erben sollte aber Lothar hielt nicht viel von solchen Versprechungen und stellte seine Arbeit in Rechnung. Er wollte nicht abhängig sein.
Das kinderlose Ehepaar hatte noch Verwandte, die auf das Erbe hofften und Lothar war nicht gierig. Er hielt Freundschaft und Geschäft auseinander und das stellte alle gleichermaßen zufrieden.
Max wollte für sich und Hetty eine Etage ausbauen lassen und Lothar sollte alles überwachen. Die Wohnung in dem Altstadthaus war zwar schön aber die Altstadt hatte in den letzten Jahren ihre anheimelnde Gemütlichkeit der Vorkriegszeit verloren. Nachts war es bis zur Sperrstunde laut und Betrunkene grölten auf den Straßen.
Lebensmittel- und Textilgeschäfte wurden nach und nach verkauft und zu Gaststätten umgewandelt. Ein Besucherstrom aus den Nachbarstädten und Gemeinden setzte ein.
Die Brauereien hatten von je her ihre eigenen Gaststätten und nun wurde die gesamte Gastronomie international. Später nannte man die Düsseldorfer Altstadt: “Die längste Theke der Welt“.
Durch Messen im Ausstellungsgelände belebte sich die Hotellerie und Düsseldorf wurde “Die Mode- und Messestadt am Rhein“.
Die Kriegsgenerationen, angefangen von den Jahrgängen der um Neunzehnhundert und den bis Neunzehnhundertfünfundzwanzig Geborenen hatten von politischen Auseinandersetzungen die Nase voll.
Sie, welche die Schrecknisse des Krieges erlebt, viele ihrer Angehörigen durch Bombenangriffe verloren und diejenigen, deren Angehörige qualvoll auf den Schlachtfeldern gestorben waren, wollten endlich den Frieden genießen.
Die aus der Heimat Vertriebenen hatten sich eine neue Existenz schaffen müssen und auch für die oft noch sehr jungen Kriegsverletzten, die Arme oder Beine verloren hatten, war es schwierig, eine Existenz zu gründen oder einen Arbeitsplatz zu finden. Da blieben die Träume von Liebe, Sex und Partnerschaft oft auf der Strecke. Alle waren gleichermaßen jung und geschockt…, wollten etwas erleben und Wohlstand und Lebensgefühl genießen und gierig wurde alles aufgenommen, was die Lebensfreude steigerte. Der Konsumrausch hatte begonnen und man konnte sich dem kaum entziehen.
Besonders betroffen und ausgeschlossen waren die Kriegerwitwen, die ihre zu Waisen gewordenen Kinder aufziehen mussten. Und manches Kind wurde bei den Großeltern groß, weil auch die Mütter umgekommen waren.
Die meisten Menschen wollten einer Arbeit nachgehen, Familien gründen, den Enkeln zusehen und wenn auch der Existenzkampf schwer war, endlich ein Leben in Freiheit genießen.
Immer noch gab es Menschen, die glaubten, dass der Nationalsozialismus die bessere politische Ausrichtung gewesen sei und ebenso gab es Edelkommunisten. Letztere glaubten, dass die Form der Staatsführung in der DDR besser sei, als die freie Marktwirtschaft. Doch alle wollten auch am Wirtschaftswunder teilnehmen.
Da war man glücklich, wenn man in der Freizeit weit ab von allen politischen Fanatikern war, aber entziehen konnte man sich den politischen Ereignissen nicht. Es wäre auch mehr als dumm gewesen, sich auszuschließen.
Manche Leute sagten: „Mer losse der leve Jott ene joode Mann sin“.
(Wir lassen den lieben Gott einen guten Mann sein.)
Gemeint: „Tue Recht und scheue niemand, aber lass` mich in Ruhe!“
Der wirtschaftliche Aufschwung und die politische Freiheit waren noch nicht bei allen Bundesbürgern angekommen und man konnte ihnen ihr Desinteresse nicht verdenken, Wer keine Teilhabe hat, hat auch kein Interesse am politischen Geschehen…
Lothar setzte sich mit den Zielen der SPD auseinander, die studentische Jugend hingegen wollte mit dem sogenannten “Alten Mief“ aufräumen.
Jorgi und Tim waren noch zu jung, um sich für diese Gruppen zu interessieren. Allerdings hatten viele Jugendliche schon begonnen, sich einer Art Protestbewegung anzuschließen. Durch schlampige Kleidung und mit langen, ungepflegten Haaren versuchten sie sich von den Erwachsenen abzugrenzen.
Die Kriegsteilnehmer, die froh gewesen waren, endlich aus den alten zerrissenen Klamotten und den Fußlappen herauszukommen, wollten gute, modische Kleidung und die Jugendlichen - nach guter, alter Sitte - immer das Gegenteil.
In den Sechzigern war es cool, sich politischen Protesten hinzugeben. Die „Flower Power-„ und „Hippie-Bewegung“ riefen bei den älteren Bundesbürgern Entsetzen hervor.
Lissy musste sich eingestehen, dass ihre Meinung vom freiheitlichen Leben, weit hinter den Wünschen der Jugendlichen und der jungen Erwachsenen zurückstand.
Die Zurücksetzung in ihrer Kindheit, hervorgerufen durch den frühen Tod ihres Vaters, hatte ihren Ehrgeiz nach bürgerlichem Vorankommen genährt und der Umgang mit konservativer Literatur von Kindesbeinen an, hatte ihr Lebenswunschgebilde geprägt. Nun musste sie sehen, dass sie an vielen neuen Denkweisen nicht teil gehabt hatte, obwohl sie doch im Telegrafenamt so viele Lebenseinstellungen und Verhaltensweisen kennen gelernt hatte.
„Für die Vergangenheit zu fortschrittlich und für die Gegenwart zu konservativ“, dachte sie.
Lothar hatte die wichtigste Zeit der Lebensumstellung zwischen Kriegsende und Währungsreform nicht erlebt, und schwamm dank seiner Intelligenz und den Fähigkeiten, sich den jeweiligen Trends anzupassen, in einem erträglichen Fahrwasser. Außerdem ließ ihm die stressige Arbeit nicht viel Zeit, sich mit den neuen Lebensweisen zu beschäftigen, zumal sein Mandantenkreis älter war als er selbst, und er schon aus diesem Grunde dem konservativen Lebensstil zugeneigt war. Was Lothar absolut ablehnte, war die lässige Art, mit der viele junge Menschen auftraten. Dies war ja auch verständlich, denn mit der Lebenseinstellung der jungen Generation, hätte er sicher die schwere Zeit in Sibirien nicht durchgestanden. Er duldete nicht, dass seine Kinder mit ungepflegten, langen Haaren herum liefen und forderte gute Haltung. Die Jugendlichen brachte dies jedoch wieder in eine Sonderstellung.
Die Erwachsenen wussten zumeist nicht, wie sie sich verhalten sollten und für das Lehrpersonal in den Schulen, war es der reinste Horror. Es war in den Familien ein Dauerthema und Lissy und Lothar waren nicht die Einzigen, die sich Gedanken machten aber es blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich den Verhältnissen anzupassen. Mal mehr, mal weniger…
Tim machte das nichts aus. Er schwamm im gegenteiligen Fahrwasser und wollte, dass Lissy seine Jeans bügelte, was diese aber ablehnte. Ihn interessierten die hetzerischen Parolen in der Schule nicht. In seiner Klasse gab es nur zwei Langhaarige und einen, der sein wunderschönes, krauses, blondes Haar, in Form eines Schuhkartons hatte schneiden lassen.
Hier machten sich vielleicht die drei Jahre Altersunterschied zu Jorgi bemerkbar, der die despektierlichen Jugendlichen bewunderte.
Die Trends änderten sich in rasender Schnelle…
Jorgi wäre allzu gerne den Schulfreunden gleich gewesen. Weil er keine langen Haare haben durfte, ließ er sich eine Glatze schneiden, was Lissy nicht gefiel aber er sagte ironisch: „Ich wollte dem Paps eine Freude machen!“
Eine schauspielerische Leistung, die Lissy nicht verwunderte. Hatte doch sein Vater auf diesem Gebiet auch besondere Fähigkeiten.
Lothar war es dann doch peinlich gewesen, als bei einer Straßenbahnfahrt ein älterer Mitfahrer ungefragt und bewundernd zu Lothar sagte: „Da sieht man, wer zu Hause das Sagen hat, die Kinder sehen nicht wie Halbaffen aus…!“
Für Jorgi, der die Flöhe husten hörte“ war das ein Anlass, höhnisch vor sich hin zu grinsen. So jung er auch war…, er bemerkte sofort, dass es Lothar peinlich war, dass dieser radikale Alte sich ungefragt in seine Erziehungsmethoden einmischte. Jorgis Mine sagte Lissy: „Siehst du, das hast du nun davon…!“
Insgesamt wollten die Jugendlichen Befreiung von gesellschaftlichem Zwang. Während Tim und Jorgi klassische Musik übten, wurden die Rolling Stones gefeiert und die berühmten Schlagworte “Sex, Drugs & Rock`n Roll“ propagiert.
Lissy fragte sich manchmal, ob es gut war, Tims Wunsch nach Klavierunterricht nach zu kommen, denn eigentlich war diese Art von Bildungsbürgertum „out“.
Oder hatte Lissys Begeisterung für diesen Unterricht vielleicht Gründe wegen ihrer eigenen Wünsche?
Tim aber wollte den Unterricht und es machte ihm sichtlich Spaß. Lissy nahm sich jeden Tag zwei Stunden Zeit und saß beim Üben neben den Kindern. Sie hörte ihnen gerne zu und sie genossen ihre Aufmerksamkeit und ihr Lob. Zu Weihnachten spielten sie vierhändig und auch Jorgi hatte schon ein Programm.
In diesem Zusammenhang konnte auch Lothar Weihnachtslieder hören und er war stolz auf seine Söhne. Die Großeltern freuten sich und waren gerührt.
Die antiautoritäre Erziehungsmethode trieb reiche Blüten. „Trau‘ keinem über dreißig“, war eine beliebte Redewendung. Lissy hielt nichts von den krassen Sprüchen, aber sie gab den Kindern Freiheit im Denken. Die Begriffe Heimat, Vaterland und Bürgerrecht waren für die Jugendlichen „out“, aber sie diskutierten ernsthaft.
Hatte sich die Kriegsteilnehmergeneration dem Nazi-Drill unterwerfen, und die Daheimgebliebenen den Kopf vor dem Bombenterror einziehen müssen, war der zu Nazizeiten erzwungene “Dienst am Vaterland“ jetzt einen Dreck wert.
Man schüttelte den Kopf, wenn man die Nachrichten verfolgte und konnte nicht verstehen, dass ihr ganzes Leben nichts wert gewesen, und nun eine Horde von ungepflegten, Drogensüchtigen und Sexbesessenen das Sagen haben sollten. In einer Fernsehdokumentation erklärte eine einundzwanzigjährige Erzieherin, dass Eltern nicht in der Lage seien, Kinder zu erziehen.
Viele Eltern von Mitschülern der Kinder schwiegen zu all den Kommentaren, weil sie nicht als altbackene Nazis gelten wollten. Es war eine seltsame Zeit von Aufbruch und Konservatismus.
„Da müssen wir nun durch“, sagte Lissy…
Lothars Freund Günther, der Jurist, beschäftigte sich mit Literatur aller Art und brachte ein Buch von Finn Seeboerg , der die antiautoritäre Erziehung glossierte, als Gastgeschenk mit.
“Learning by doing“ hieß die hier geschilderte, alles erlaubende Methode.
(Lernen durch Erfahren?.)
„Nicht schlecht…, und wahrscheinlich bequem“, sagte Lissy. Aber Lothar meinte: „Dazu ist es bei unseren Kindern schon zu spät!“
Da meldete sich Jorgy und sagte: „Andere Kinder dürfen viel mehr als wir! Sie dürfen sich die Haare wachsen lassen und brauchen die Schuhe nicht zuzubinden. Sie haben Risse in den Jeans und deren Eltern finden das schön. Der Claus hat einen Hahnenkamm und der ist bunt gefärbt!“ Ein Dauerthema…
Betroffen sagte Lothar: „Und wir hatten eine Uniform und mussten marschieren und durften uns, halb verhungert, von den Russen in den Hintern treten lassen!
Aber vielleicht lasse ich mir einen Bart und einen Hahnenkamm stehen, mal sehen, ob das meinen Kunden gefällt!
„Vielleicht hast Du dann keine Mandanten mehr“, sagte Lissy…
Lissy erinnerte sich gerne an die Vollmondnächte, die sie während der Kinderlandverschickung erlebt hatte. Da saß sie vor dem geöffneten Fenster des kleinen Mansardenzimmers und beobachtete diese rätselhafte, goldene Scheibe mit den Wolkengebirgen und träumte von einem interessanten Leben, aber auch von märchenhaften Dingen, die ihr begegnen sollten. „Ob es wohl den “Mann im Mond gibt?“, fragte sie als Kind. Es war so geheimnisvoll und phantastisch…
Zuletzt.., nach mehreren Aufenthalten, und etlichen Mondsitzungen, war sie dann doch schon siebzehn und kurz vor ihrer Abreise nach Düsseldorf, als sie sich schwor, diese Träumereien im Gedächtnis zu behalten, und niemals die raue Wirklichkeit ganz an sich heranzulassen. Sie dachte: „Ich will nicht werden wie die meisten Erwachsenen, die ich kennengelernt habe!“ Rückblickend, nun über Vierzig, sagte sie: „Ich hab‘s geschafft!“
Anna hatte sie gewarnt und gesagt: „Du mit Deinen Träumereien, wirst Dich noch wundern! Ich will Dir Deinen Elan nicht ausreden, aber Enttäuschungen werden dir nicht erspart bleiben!“
„Ach, Mutter“, sagte Lissy: „ich hatte deren schon genug und trotzdem bin ich ein glücklicher Mensch, denn das Leben zu leben ist doch schön! Lebendig zu sein, den Krieg überstanden zu haben, gesund zu sein, in die schönen Augen der Kinder zu sehen und geliebt zu werden…! Ist das nichts?
Was aber den Mond betrifft, wird mir sicher bald eine meiner Illusionen genommen werden, denn Ende der Woche wird die erste Mondlandung stattfinden. Es soll im Fernsehen übertragen werden.
Lange habe ich geglaubt, dass auf dem Mond meine Engel ihre Station haben.
Ob es dort Leben gibt? Ich bin gespannt…!“
„Langsam glaube ich daran, dass man durch Träumereien Erfolg haben kann“, sagte Anna scherzend. „Du bist das beste Beispiel dafür!“
Lissy sah Anna an und sagte: „Ich bin so froh, dass Du da bist…! Du hattest es in Deinem Leben nicht leicht, hast nie geklagt und mir Kraft gegeben! Ohne Dich wäre ich nicht so, wie ich jetzt bin. Du hast oft geschwiegen und doch auch gesagt: „Man muss tapfer sein im Leben!“
„Du warst es und ich bin es auch!“
Anna war gerührt ob dieser Worte und Lissy sah, dass sie sich freute. Sie sagte: „Ja, das reicht jetzt aber auch, sonst fange ich noch an zu heulen.“
„Also Mutter, bis zum Wochenende im Westerwald, dann werden wir wissen, was da los ist…, auf dem Mond! Ich freue mich schon aufs Wiedersehen.
Erst jetzt…, selbst Mutter…, wusste sie, mit wie viel Großzügigkeit und Verständnis Anna sie umgeben, und wie egoistisch und wie selbstverständlich sie alles angenommen hatte.
Im Westerwald angekommen wurde sofort das Fernsehgerät eingeschaltet und aufmerksam die Landungsvorbereitungen verfolgt. Cap Canaveral auf allen Kanälen. Eine ungeheure Aufregung hatte die Zuschauer und vor allen Dingen
Mitwirkende in den technischen Zentren erfasst. Würde es gelingen? Würden die Astronauten es überleben? Die Kinder gingen um elf Uhr ins Bett und
Lothar und Lissy hielten Wache. Sie alarmierten die Schläfer, als es ernst wurde.
Tim hielt alles schriftlich fest und es war aufregend zuzusehen, wie in der Nacht vom
vom 20. zum 21. Juli 1969 um 3 Uhr 21, Neil Armstrong meldete:
“The Iagle has landet“
Der Adler ist gelandet) Es war eine aufregende Nacht und eine ungeheure Spannung hatte die Zuschauer in aller Welt erfasst. Es war gelungen…
Sie waren dabei…! Wieder einmal wurde ihnen bewusst, in welch einer interessanten Zeit sie lebten. Die Mondlandung bot noch tagelang Gesprächsstoff.
Da die Schulferien begonnen hatten, waren die Jungen froh, aus dem Schulstress heraus zu kommen und schon meldeten sich ihre Freunde aus dem Dorf, die nun auch Ferien hatten.
Lothar machte ein paar Tage Ferien und genoss es, lange Wanderungen zu unternehmen. Das Wetter war zauberhaft wie lange nicht mehr. Sie verbrachten die meiste Zeit im Freien.
Inzwischen hatten sie ein Rundschwimmbecken mit 5m Durchmesser und 1,50 m Höhe angeschafft, das fünfundzwanzig Kubikmeter Wasser fasste. Jupps Schwager Heinrich und dessen Sohn Bert, zwei Riesen, je mindestens hundert und sechzig Kilo schwer, setzten das fünfundzwanzig Kubikmeter fassende Becken auf ein dickes Beton Fundament, das auch den Höhenunterschied in dem abfallenden Gelände auszugleichen hatte. Es war eine der besten Anschaffungen und Quelle größter Freuden. Lissy kaufte zweihundert Meter Gartenschlauch, die auf dem Saunadach verlegt wurden. Die Sonne heizte das Wasser in den Schläuchen auf, und so konnte das Becken kostenlos aufgeheizt werden. Bei schlechtem Wetter wurde mit Strom geheizt, aber von den Stromkosten konnte man in späteren Zeiten nur träumen.
Jupps Schwager Heinrich war ein rauer Bursche und seine Schwester hatte unter dessen jähen Temperament zu leiden. Bei einem Ausritt erzählte Jupp Lissy, dass seine Schwester am Tag zuvor bei ihm Zuflucht gesucht habe, weil Heinrich einen Tobsuchtsanfall bekommen hätte. Mit roher Kraft hatte er den Küchenherd alleine aus dem Fenster geworfen, weil ihr das Essen angebrannt, und ihm das dafür angebotene Essen zu wenig war. Sie hatte geweint, aber Jupp hatte geraten:
„Dann födder em doch kapkott!“ (Dann füttere ihn doch kaputt)
Zwei Tage später war Heinrich dann los gezogen um einen neuen Herd zu kaufen und diesen schleppte er alleine in den ersten Stock.
Kurz danach wurde kolportiert, dass sein Sohn Bert auf dem Weg von Rossbach nach Breitscheid, (ein Höhenunterschied von vierhundert Metern) bei sehr schlechten Straßenverhältnissen, seinen VW in den Graben gefahren hatte.
Er war wütend, weil seine Frau statt eines von ihm gewünschten Jungen, ein Mädchen zur Welt gebracht hatte. Bärenkräfte hatten ihm erlaubt, den Wagen, der sich überschlagen hatte, wieder auf die Räder zu stellen. Lissy hätte es nicht geglaubt, wenn nicht Nachbarn diese Aktion beobachtet hätten.
Als Lissy Jupp erklärte, dass nur der Mann, von Natur aus, das Geschlecht des Kindes bestimme, und das der Mann überhaupt keinen persönlichen Einfluss nehmen könne, war dieser sehr erstaunt. Hatte er doch, wie er sagte geglaubt, dass er vorher gewusst habe, dass sein erstes Kind ein Junge und sein zweites Kind eine Tochter würde, weil er es so gewollt, und er gewisse Maßnahmen getroffen hätte…
Lissy fragte ihn scherzend wie er das denn gemacht hätte, und er, nie um eine Antwort verlegen, sagte: „Dat möchtste jern wissen, wat? Zeijen…?“ (zeigen)
„Nein danke“, sagte Lissy, „ich hab‘ schon Zwei.“
„Das ist auch genug,“ sagte er in Hochdeutsche verfallend, „gleich kann Lothar sich das neue Pferdchen ansehen, das er für Dich bestellt hat. Ich glaube, das ist was für Dich…!“ Jetzt war Lissy platt!
„Da habe ich aber ein Wörtchen mitzureden“, sagte sie. „Wir wollten das doch eine Weile zurückstellen.
Plötzlich erschien der Pferdetransporter und im Gefolge…, Lothar…, der sich freute, dass ihm die Überraschung gelungen war.
Lissy wusste nicht, was sie sagen sollte, denn ein wunderschönes braun-rotes, dreijähriges Vollblutpferd, mit weißer Flocke auf der Stirn, erschien auf der Laufplanke. Mit feurigem Blick, dichter Mähne, prächtigem Schweif und elegantem Gang, erschien es Lissy wie aus einem Märchen. Seine Mähne flog im leichten Wind…
“Sommerwind“…, sagte sie, du heißt: „Sommerwind.“
Im Augenblick hatte sie alles vergessen, was sie sonst bewegte. Sie legte die Wange an den Hals des Pferdes, spürte seine Wärme und nahm den herben Geruch wahr.
Sie sah Lothar an… Voller Freude! Alle Bedenken waren vergessen…
„Du hast es verdient…!“, sagte Lothar.
Dann geriet sie mit dem linken Fuß in eine Fahrrinne, und sie spürte einen scharfen Schmerz. Das Bein schwoll in kurzer Zeit so stark an, dass sie den Stiefel nicht ausziehen konnte und so endete dieser Tag bei einem Arzt im Nachbarort, der es verstand, den Stiefel vom Fuß zu ziehen. Er sagte, es sei nur eine Verstauchung und sie solle kühlen. So konnte sie am Abend noch einmal dieses Pferd im Stall besuchen, mit einem Pantoffel am Fuß…
Sechs Wochen Sommerferien und sechs Wochen Freude mit den Pferden. Lissy meinte, noch nie so glücklich gewesen zu sein. Lothar verbrachte alle Wochenenden im Westerwald und nie war er so ausgeglichen, wie während dieser Zeit. Lissy longierte Sommerwind, denn geritten werden konnte er noch nicht.
Ein Sattel musste bestellt werden und er bekam die ersten Eisen. Wie würde er sich unter dem Sattel verhalten? Er war sehr schreckhaft und machte wilde Sprünge, aber Jupp meinte, das würde sich geben.
Lissy sagte: „Sommerwind braucht eine richtige Ausbildung!“
Jupp hatte nun noch ein weiteres Pferd, dessen Besitzer erkrankt war, in Pflege. Es war ein großer, rotbrauner Hannoveraner, lammfromm, mit schönen Gängen.
Dieses Pferd konnte Lothar kostenlos reiten, weil es Bewegung brauchte.
Kurios war, dass dieses Pferd auch Wotan hieß, wie der kleine Isländer von Jupp, den sie nun den “großen Wotan“ nannten.
Sie machten Ausflüge, und Alex lief immer neben der Kutsche. Auch Jupps Enkelkinder waren dabei.
Er kannte alle Landgaststätten, in denen sie rasten konnten. Aber am besten gefiel es ihnen in der „Mühle“, der kleinen Gaststätte im Tal, wo sie fast täglich einkehrten.
Während der großen Ferien machten sie Wanderungen mit der “Grünen fünf“, den Kindern aus dem Dorf. Der Name war eine Anlehnung an die Jugendbuchserie von Enid Bleyton. Lissy hatte mit einem Anschlag am schwarzen Brett die Kinder eingeladen. Mit Verpflegung, Kartoffelsalat, Broten und Obst im Rucksack machten sie sich auf den Weg. Es war alles so einfach und unkompliziert und in diesem Jahr war, bis auf ein paar Tage Regenwetter, unendlich Sommer um die fünfundzwanzig bis dreißig Grad.
Wenn sie verschwitzt von der Wanderung oder vom Ausritt zurückkamen, konnten sie draußen duschen und sich im Schwimmbad abkühlen.
Oft hatten sie auch Besuch von ihren Freunden aus Düsseldorf. Dann wurde gegrillt und die Freundinnen und Freunde aus dem Dorf waren immer dabei. Es war ein wundervoller Sommer!
Lothar brachte am Wochenende seine Eltern oder Anna mit und sie genossen das Zusammensein, doch plötzlich, gegen Ende der Ferien, musste Lothars Vater wieder ins Krankenhaus. Sein Leiden hatte sich verschlimmert und eine erneute Operation drohte. Das Bein musste bis zum Oberschenkel amputiert werden.
Lissy machte sich große Sorgen, denn sie dachte an die Warnung des Gemüsebauern, der gesagt hatte: „Nur noch ein Jahr…!“ Lothar fuhr wieder jeden Tag ins Krankenhaus, um seinen Vater zu besuchen.
Hinzu kam, dass wieder diese mysteriösen Anrufe stattfanden. Lothar reagierte nervös. Einmal nahm Tim einen solchen Anruf entgegen und sagte: „Der Mann hat so komisch gelacht und dann aufgelegt!“ Tim sagte: „Es war unheimlich!“
Lissy war wieder voll im Büro tätig, denn es fanden drei Betriebsprüfungen statt… Wegen seines Vaters war Lothar in großer Sorge und er schien Lissy auch in anderer Weise nachdenklich, aber er sprach sich nicht aus. Vielleicht waren es auch die Anrufe, die ihn beschäftigten.
Lissy dachte: „Warum kann er mir nicht vertrauen?“ Sie waren nun schon so lange zusammen und hatten so viel erlebt, aber wirklich geöffnet hatte Lothar sich nie. Er konnte nicht über seine Probleme sprechen, aber er erlaubte auch Lissy nicht, darüber zu reden. Sie waren wie zwei Schiffe, die sich begegneten, aber nie zusammen irgendwo wirklich anlegten.
Eines Tages fehlte die Buchhalterin. Ihre Tochter rief an und sagte dass die Mutter schon am Tag zuvor das Haus verlassen und sie nichts von ihr gehört hätte.
Von ihr erfuhr Lissy später, dass die Mutter schon seit längerer Zeit an einer Depression litt.
Wie sich herausstellte, war sie im Bahnhof Düsseldorf in einen Zug gestiegen und ins Ungewisse gefahren. Lissy vermutete Eheprobleme, aber sie hätte dieses niemals zugegeben und ihrer Tochter hatte sie verboten, über die Zusammenhänge zu reden. Später ging sie in eine längere Therapie und konnte danach wieder arbeiten. Doch hatte Lissy das Gefühl, dass die Buchhalterin ihr misstraute, obwohl Lissy sie schätzte und es ihr auch oft gesagt hatte.
Eine gute Büroatmosphäre war Lissy wichtig und sie regte eine Betriebsfeier in Form einer Party für das Personal an, zu der die Ehemänner und auch Bruder Gerd und Lena eingeladen waren, denn Lena hatte während der Abwesenheit der Buchhalterin einige Arbeiten aushilfsweise übernommen und gehörte so zum Team.
Lissy war bester Laune, weil ihre Vorbereitungen gut gelungen waren und alle lobten ihr Engagement. Lothar hatte am Tag zuvor eine Betriebsprüfung beendet, und konnte nun entspannt den Abend genießen.
Es wurde gelacht und gealbert, wie es bei einer Betriebsfeier üblich ist, als plötzlich, ohne Vorwarnung, der Ehemann der Buchhalterin Lissy wütend ansah und angriffslustig, laut sagte:
„Sie wissen gar nicht, welch einen guten Mann sie haben…!“
Alle horchten auf, weil diese Worte überhaupt nicht zu der Szene passten.
Sie hatten die Stimmungsänderung bemerkt. Plötzlich war es ganz still und Lissy war überrascht und sprachlos, denn sie konnte sich die Situation nicht erklären.
Was war während ihrer Abwesenheit in der Ferienzeit passiert? Alle schienen etwas zu wissen…, nur Lissy nicht.
Gerd, ihr Bruder rettete die Situation und sagte zu Lissy: „Ich möchte mal wieder mit Dir tanzen!“ Das taten sie dann auch und während des Tanzes fragte Gerd: „Was war das denn für ein Geschwätz? Der Mann ist ja betrunken!“
„Ich glaube, der ist oft betrunken“, sagte Lissy, „ und letztlich ist das vielleicht der Anlass für die Depression seiner Frau!“
„Jedenfalls kann der dich nicht leiden, und seine Frau hat bestimmt nicht gut über dich geredet. Du hast Dir so viel Mühe gegeben… Den lädst du besser nicht mehr ein, der macht nur Ärger“, sagte Gerd.
Lothar erschien Lissy nachdenklich und peinlich berührt, aber er sagte nichts und es wurde weiter gefeiert. So war das Fest doch noch gerettet.
„Es lohnt sich nicht, viel darüber nachzudenken“, dachte Lissy. „Es gibt interessantere Themen, und bald ist auch das vergessen!“
Jetzt, Ende der sechziger Jahre erreichte die Studentenbewegung der 68er ihren Höhepunkt. Man sprach von den „linken Rebellen“. Marx und Engels waren hoch im Kurs. Politiker hatten es nicht leicht…
Viele Jugendliche, vor allen Dingen in den Großstädten waren in Aufruhr und demokratische Regeln wurden nicht beachtet. Bei studentischen Unruhen kam im Jahr 1967 der Student Benno Ohnesorg ums Leben und im Jahr 1968 wurde Rudi Dutschke, ein friedlicher Studentenführer, lebensgefährlich verletzt.
Das war der Auftakt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei und den Ordnungskräften. Die Bildzeitung heizte die Stimmung an und aufrührerische Kräfte schufen Bilder der Verwüstung.
Erst ein paar Jahre waren vergangen, seitdem die Deutschen dem Hungertod nahe waren und die Kriegsteilnehmer glaubten, dass sich die verbesserten Lebensverhältnisse nicht so schnell ändern würden, aber ein Teil der Deutschen strafte sie Lügen denn hauptsächlich junge Männer gaben sich dem Radikalismus hin.
Frauenrechte waren immer noch beschränkt. An der Gesetzeslage, was Vergewaltigung, auch in der Ehe, betrifft, hatte sich kaum etwas geändert.
Die Geburtenrate hatte sich verringert und man sprach vom “Pillenknick.“
Neben all’ diesen Erscheinungsformen von Freiheit und Gewalt, Opportunismus und Opposition, sexueller Aufklärung, sexueller Freiheit und Gewalt, Alkoholismus und Drogenmissbrauch lebten die Deutschen ihren Freiheitsrausch.
Weil die wirtschaftliche Lage gut war, glaubte man unentwegt an dauernden Aufschwung und viele Menschen lebten, trotz der besseren Einkünfte, über ihre Verhältnisse. Es wurde ihnen auch leicht gemacht…
Der Spruch: „Wenn man voran kommen will, muss man Schulden machen, das spart Steuern“, war in aller Munde und die Banken machten mit. Viele Bürger verschuldeten sich. Die leichte Kreditvergabe machte leichtsinnig.
Warnende Stimmen wurden nicht gehört, denn niemand dachte, dass sich die Konjunktur abschwächen könnte. Es würde immer so weiter gehen mit dem Aufschwung. Immer weiter nach oben…
Die steuerliche Betreuung für die große Architekturfirma war eine große aber auch lukrative Aufgabe und Lothar wurde beneidet, doch wurden auch außergewöhnliche Anforderungen an ihn gestellt.
Die Einweihung der Burg stand zur Debatte. Eine Festlichkeit großen Ausmaßes war zu organisieren und eigentlich bedurfte es besonderer Erfahrung, über die Lothar jedoch nicht verfügte.
Weil er steuertechnisch die Belange für die Burg in der Eifel so gut geregelt hatte, meinten die Burgherren, dass er auch für diese Aufgabe der richtige Mann sei.
Das nach Originalplänen renovierte Gebäude musste, um den Denkmalschutz zu
gewährleisten, dem Publikum spätestens im Sommer, kostenlos zur Besichtigung zugänglich gemacht sein. Dies hatte das Finanzamt in Trier verlangt.
Gleichzeitig sollte ein Burgfest für die Architekten und ihre Familien stattfinden.
Lissy stellte sich der Burgherrin, einer außerordentlich liebenswürdigen Dame, die den ganzen Einkauf für Essen und Trinken, Pfänder für die Spiele, Spielzeug für die Kinder, sowie Wein und andere Getränke übernommen hatte, zur Verfügung.
Die zarte Frau machte sich stark, für ca. einhundertfünfzig Personen, eine auf Kalb- und Rindfleischbasis gekochte Suppe mit Pilzeinlagen, in der großen Burgküche zu fertigen. Eine Spezialität aus der Steiermark, woher ihr Ehemann, einer der Burgherren, stammte.
Eine Metzgerei wurde beauftragt ein Schwein am Spieß zu braten und auf dem burgeigenen Teich sollte ein Fischerstechen stattfinden.
Lissy, Tim und Jorgi packten Tüten für jeden einzelnen Teilnehmer, mit Keksen, Zigaretten, Schokolade, Chips, Marken für Essen, Suppe, Bier und Wein, Äpfeln und Orangen. Jeder erwachsene Teilnehmer bekam eine Flasche Moselwein und die Kinder und Jugendlichen Cola oder Limonade. Alle Teilnehmer erhielten ein Namensschildchen und weitere Chips für Spiele, Suppe und Spießbraten.
Für mehr als achtzig Architekten und ihre Familien waren Einladungen ergangen und sogar aus Südafrika und Amerika, wo die Firma Projekte durchführte, reisten Teilnehmer an.
Lissy freute sich, weil sie, Lothar und die Kinder während der Festlichkeiten auf der Burg, in den wunderschönen Gästezimmern wohnen sollten. Sie waren eingeladen, die Mahlzeiten an der langen Tafel, mit der Familie des Burgherrn und dem Herrn Professor, in der Burgküche einzunehmen.
Die Burg sollte allen Besuchern, vom Keller bis zum Turm zu besichtigen sein.
Für Lissy und Lothar war es ein großes Erlebnis, denn bei einer solchen Veranstaltung, hatten sie noch nie mitgewirkt.
Am Morgen wurde das große schmiedeeiserne Tor geöffnet und die Besucher aus der ganzen Umgebung kamen, um die nun fertiggestellte Burg zu besichtigen.
Die einheimischen Eifler kannten die Burg nur als Ruine und als Kinder hatten sie hier ihre abenteuerlichen Spiele gemacht. Die damals Jugendlichen hatten hier ihr Tanzvergnügen gefunden, denn eine Einheimische hatte hier in den Ruinen eine Wirtschaft betrieben. Lissy hörte von allen Seiten, welch ein Abenteuer es in der Kriegszeit war, wenn die Jugendlichen sich hier trafen, während die feindlichen Bomber über die Eifelberge hinweg brausten. Immer wieder hörte Lissy:…, Weißt du noch…?“
Lothar, Lissy, Tim und Jorgi waren eingeteilt, die Besucher in den jeweiligen Räumen zu empfangen. Herr Professor, dem das eigentlich lästig war, saß im Rittersaal, neben dem Kamin und ein kleiner Junge frug ihn: „Bist du auch noch von früher?“
Lissy übernahm die große Wirtschaftsküche. Lothar erklärte die Ahnentafel, und Tim hatte den Turm zu bewachen.
Jorgi empfing die Besucher in der höhlenartigen Vorratskammer der Küche, die er zum Ziegenstall umfunktionierte und den Besuchern erklärte, dass die Milch der Ziegen dann sofort für das Essen zur Verfügung gestanden hätte. Das erzählte der kleine Schauspieler mit großem Ernst. Ihm wurde geglaubt, denn eine der Besucherinnen sagte zu Lissy: „Das war der Einzige, der hier richtig erklärt hat!“
Es war ein langer, anstrengender Tag, denn man war den ganzen Tag auf den Beinen. Die ersten Besucher kamen um neun und die letzten gingen um achtzehn Uhr. Lothar hatte mit der Erklärung der Ahnentafel nun alle Daten im Kopf und
Lissy dachte, dass das Leben als Museumsdiener entsetzlich langweilig sein müsse. Die Besucher aber waren hochzufrieden. Hatten sie doch, neben der Besichtigung,. bei dieser Gelegenheit einen Teil ihrer Freunde aus der Jugendzeit wieder getroffen. Lissy beobachtete, wie die Frauen die Köpfe zusammen steckten und über ihre Erlebnisse lachten.
Langsam trafen nun auch die Besucher für das Burgfest, mit Kind und Kegel und Haustieren ein. Sie nahmen ihre Quartiere in den reservierten Hotels und Pensionen in der Umgebung ein und auf der Burg wurde es still. Es war die
„Stille vor dem Sturm“, denn am nächsten Tag war mit fast zweihundert Personen zu rechnen.
Da wurde dann wieder das schmiedeeiserne Tor geöffnet und nun musste alles funktionieren. Die Burgherren begrüßten die eintreffenden Architekten und ihre Familien und die Organisatoren waren erleichtert, dass sich alles nahtlos fügte.
Die Spiele begannen… Das Fischerstechen gelang ohne Unfälle. Die Musikkapelle aus dem Dorf spielte fleißig und die Kinder machten Wettspiele. Die Erwachsenen saßen in Gruppen und genossen das wundervolle Sommerwetter und einige benutzten das hauseigene Schwimmbad, oder machten einen Besichtigungsgang durch die Burg. Für die Kinder hatte die Burgherrin besondere Spiele und Preise vorbereitet und nahe der Burgmauer brutzelte das Schwein am Spieß. Lissy verteilte die Verpflegungstüten und den Wein und half in der Küche beim Spülen der Gerätschaften, die zum Kochen benötigt wurden und beim Verteilen des Spießbratens. Sie kümmerte sich um die Pfänderverteilung bei den Spielen der Kinder und brachte den Musikanten Getränke. Lothar beaufsichtigte den Burgteich und passte auf, dass keines der Kinder den Kahn umkippte. Man konnte nicht Augen genug haben…
Lissy bewunderte die Burgherrin, die sich unermüdlich um alles kümmerte und überall auftauchte.
Zwei künstlerisch begabte Architekten, hatten die Burgherren in Übergröße, als römische Feldherren geschaffen und diese Skulpturen aus Gips, auf einem flachen Gefährt durch Bonn geschleust. Ein abenteuerliches Unternehmen, bei dem eine der Skulpturen einen Arm verlor, den sie erst wieder hatten anpassen müssen. Eigentlich sollten diese Figuren den Auftakt des Festes bilden, aber nun mussten die Reparaturen trocknen und der feierliche Augenblick fand am Nachmittag statt.
Ihre obersten Chefs, die Burgherren, waren gerührt und begeistert…
Es war ein wundervolles Fest und am Abend konnte man sich genüsslich zurücklehnen, aber müde, sehr müde waren sie alle.
Zurück in Düsseldorf, waren einige Telefonanrufe gespeichert, in denen seltsame Geräusche nachgeahmt wurden. Es war erschreckend und Lissy fragte: „Sollen wir die Polizei einschalten?“ Lothar antwortete: „Das hat keinen Zweck! Das sind irgendwelche Verrückte“. Das hatte Lissy doch schon einmal gehört, aber auch er schien besorgt.
Doch dann wartete die alltägliche Büroarbeit. Tim und Jorgi mussten in die Schule. Der Alltag hatte sie wieder…
Lissy bat Lothar, doch einmal wie früher, das schöne alte Weinhaus in der Altstadt zu besuchen. Durch ihre Besuche im Westerwald und wegen der Pferde hatte sie in den letzten Jahren kaum die Altstadt besucht, aber sie hatte das Gefühl, dass er nicht besonders interessiert war, ihr diesen Wunsch zu erfüllen.
Lissy wollte noch einmal das Lied vom “Karrepäd“ (Karrenpferd) hören und das vom Kaninchen im Pappkarton. Lothar hatte allerdings, wie er sagte…, auch einem Mandanten versprochen, dieses Lokal zu besuchen und es wäre eine gute Gelegenheit, ihm diesen Wunsch zu erfüllen. Das hörte sich eher nach einem “Herrenabend“ an. Einer Diskussion darüber wurde sie enthoben, weil ihre Freundin Karin aus Hamburg am Abend mit ihr sprechen wollte. Diesen Wunsch wollte Lissy ihrer Freundin nicht abschlagen, denn sie hörte, dass Ehrhardt einen Herzinfarkt erlitten hatte. Er lag schon drei Wochen im Krankenhaus, war aber auf dem Wege der Besserung.
Karin hatte darauf verzichtet, mit ihrem Freund Hochheimer wieder Kontakt aufzunehmen, denn Ehrhardt erforderte ihre ganze Aufmerksamkeit.
Der behandelnde Arzt hatte ihr gesagt, dass sie von Ehrhardt sexuell nicht mehr viel erwarten könne. Auch seine Leber sei stark angegriffen.
Karin fand es seltsam, dass ein Arzt mit ihr solche Gespräche führte, aber vielleicht war das ja üblich.
„Wir hatten sowieso diesbezüglich nicht mehr viel voneinander und dann tut das ja auch nicht so weh! Es ist schade, dass wir im Laufe der Jahre so auseinander gedriftet sind und auf der menschlichen Ebene so wenig Nähe haben!“, sagte sie.
„Jetzt aber lasse ich ihn nicht im Stich!Ruf‘ Du ihn doch mal an! Er hält viel von Dir“, sagte sie.
Lissy rief Ehrhardt an und er freute sich, flirtete sogar vom Krankenhausbett mit ihr und sie ging darauf ein. Er war charmant wie immer und es tat ihm gut, ihre Aufmerksamkeit zu haben. Er war ja auch erst sechzig, und trotz seiner Alkoholabhängigkeit ein gut aussehender Mann. Lissy ging auf die Scherze ein und dachte, es tut ihm gut, sich begehrt zu fühlen.
Karin hoffte, er würde nach dieser schweren Attacke den Alkoholkonsum einschränken. Jetzt, da er so angeschlagen war, stellte sie eigene Interessen zurück und sie sagte: „Ich lasse ihn nicht allein!“
Ausgerechnet an diesem Abend, Lothar war noch mit dem Bekannten unterwegs, erhielt sie einen seltsamen Anruf:
„Wissen Sie, was ihr Mann treibt? Er betrügt Sie nach Strich und Faden und das nicht erst seit gestern!“, sagte eine blechern klingende Stimme… „Haha…! Und Papa ist er nicht nur von ihren Kindern!“
Bevor Lissy sich sammeln und etwas erwidern konnte, wurde aufgelegt…
Die Stimme erinnerte sie an das seltsame Lachen bei den Anrufen zuvor und dem krächzenden Ton, von dem auch Tim gesprochen hatte.
Lissy war sonst ziemlich hart im „Nehmen“, aber dies war denn doch eine Nummer zu stark und sie war sehr beunruhigt, weil hier die Kinder ins Spiel gebracht wurden.
„Nie“, dachte Lissy, „nie habe ich daran gedacht, dass Lothar so weit gehen würde!“ Wie konnte er es so weit kommen lassen, dass sich Erpresser in seine privatesten Familienangelegenheiten einmischen konnten?“
Sie sprach mit niemandem über das Problem, das sich hier auftat, aber sie musste Klärung herbeiführen.
Das Telefonat am Abend zuvor…, der Anrufer, der behauptet hatte, dass Lothar Vater anderer Kinder sei, hatte sie sehr beunruhigt, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass Lothar sie nach der langen Zeit ihres Zusammenlebens perfide hintergehen würde.
Darauf angesprochen, zerstreute er ihre Zweifel, die er zwar nicht ausräumen konnte. „Was sollte sie tun?“
Ein großer Druck breitete sich in ihr aus. Auch, weil sie sich niemandem anvertrauen konnte. Einen Skandal konnten sie sich nicht leisten. Es wäre eine Geschäftsschädigung großen Ausmaßes gewesen und Lissy vermied Auseinandersetzungen, die am Ende nichts bringen würden, als weitere Zweifel.
Dann kam der entscheidende Abend, an dem Lothar davon sprach, dass einer seiner Mandanten erpresst würde und schon viel Geld investiert habe, um eine Sache geheim zu halten, deren er sich schuldig gemacht hätte…
Er frug Lissy: „Was würdest Du tun, wenn Dir das passieren würde?“
Sie sagte: „Ich würde die Kriminalpolizei einschalten und den Erpresser anzeigen, ohne Rücksicht auf Verluste, die ich erleiden würde und das ist meine ehrliche Überzeugung.“
Und wenn Du Schaden nehmen würdest, sowohl im Beruf als auch im Privatleben?
Lissy erwiderte: „Einen größeren Schaden, als durch Erpressung kann man überhaupt nicht erleben, denn Erpresser hören nie auf. Sie pressen Dich aus wie eine Zitrone und am Ende kommt doch alles raus und man hat Beruf und Familie verloren.
Auch mir würde es schwer fallen, Farbe zu bekennen aber letztendlich bleibt kein anderer Weg, wenn man die Karre aus dem Dreck ziehen will! Aber warum fragst Du mich? Hast Du ein Problem…?“
Es wäre der Moment gewesen, in dem Lothar Lissys Solidarität hätte einfordern können, aber er wollte ihr nicht eingestehen, dass er versagt hatte.
Er verpasste die Gelegenheit und begab sich in die Abhängigkeit der Erpresser.
Hätte Lissy alles gewusst, wären ihr auch die Überlegungen um die dauernde Geldknappheit erspart geblieben.
Sie lebten eigentlich normal und sparsam, aber sie konnte Lothar von den wirklich großen, privaten Ausgaben nicht zurückhalten, weil sie über die Gesamtlage keinen Überblick hatte. Außerdem hatte sie auf stur geschaltet, weil er ihr die Bankvollmacht verweigert hatte.
Nachdem sie Sommerwind nach Düsseldorf geholt, und in die Ausbildung gegeben hatten, ließ Lothar sich von Freunden überreden, ein Pferd für sich anzuschaffen. Lissy fürchtete diese Ausgabe und sagte: „Wir können uns doch abwechseln und Sommerwind, oder hin- und wieder ein Verleihpferd reiten.“
Er ließ sich nicht beeinflussen und schon hatte er ein Pferd, einen Iren, ein Vielseitigkeitspferd mit Namen Bullinukill, gekauft, das die Stallbesitzerin von einer Irlandreise mitgebracht hatte. Sie nannten ihn Bally. Es war ein gutes, ruhiges Vielseitigkeitspferd, aber kein Dressurpferd.
In Düsseldorf waren die Ausgaben für die Pferde hoch und überstiegen eigentlich ihre finanziellen Möglichkeiten. Lissy machte sich große Sorgen, aber Lothar zerstreute ihre Bedenken und da sie nichts dagegen unternehmen konnte, nahm sie es einfach hin, aber irgendwie erschien ihr Lothar überdreht und nervös.
Doch seiner Arbeit kam er unentwegt und erfolgreich nach.
So nahmen sie nun im Winter neunzehnhundertsiebzig an manchem Sonntagmorgen, an dem vorher von ihnen so bewunderten Musikreiten teil, und sogar der sonst so schreckhafte Sommerwind war schon so weit ausgebildet, mit zu machen.
Lothar war auf der Höhe seines Erfolges und gehörte nun zum Prüferteam für Steuerberater und war aushilfsweise Lehrer an der Berufsschule. All‘ dies führte natürlich zur Überarbeitung.
Zur Erholung und Kur fuhr er wieder in den Schwarzwald. Am Telefon sagte er, dass der dort ansässige Arzt nach einem EKG, eine Herzerkrankung bei ihm entdeckt habe und er bekomme nun Strophantin Spritzen.
Er schlug vor, dass Lissy am Ende seines Urlaubs, in den Osterferien mit den Kindern nachkommen solle und er bat Lissy, seinen Vater zu besuchen, der wieder im Krankenhaus lag.
Lissy war wegen der Bürovertretung ausgelastet, aber sie holte jeden Tag eine der Mütter ab, die sich um die Kinder kümmerten und brachte Lothars Mutter abends ins Krankenhaus.
Zum Reiten kam sie nun nicht, doch die Pferde waren gut versorgt.
Im Krankenhaus lag auch Lothars früherer Französischlehrer, der einen Schlaganfall erlitten, und den Lothar steuerlich betreut hatte. Dieser Lehrer war ein sehr unangenehmer Zeitgenosse. Unmittelbar vor seiner Erkrankung wollte er Lothar besuchen und hatte für die Kinder ein altes Lehrbuch mitgebracht mit dessen Hilfe er den Kindern eine gute Aussprache vermitteln wollte. Sie konnten kaum ein Lachen unterdrücken, weil er die einzelnen Laute mit seltsamen Mundbewegungen begleitete, die vielleicht in einer Theaterschule angebracht waren. Laut tönte sein „Ah“ und „Oh“ und seltsam auch das „SSS“ aus seinem Munde und er forderte die Kinder auf…, ihm nachzusprechen, was sie allerdings nicht taten.
Lothar hatte Lissy gebeten, sich um den Mann zu kümmern, der wegen einer Untersuchung ins Krankenhaus musste. Diese Aufgabe war Lissy unangenehm, denn das evangelische Krankenhaus lag mitten in der Stadt.
Sie war ausgelastet durch Büro- und Haushaltführung, Begleitung der Kinder zum Klavierunterricht, die Fahrten zu Lothars Vater und Abholung der Mütter, zur Betreuung der Kinder.
Außerdem lag hoher Schnee und Schneeregen ließ in absehbarer Zeit auf Glatteis schließen. Bei diesem Wetter war der Mercedes ohne Servolenkung schwer zu bewegen, vor allen Dingen beim Ausparken aus einer Parklücke mit Schneematsch.
Es war kurios, mit diesem Mandanten Kontakt aufzunehmen.
Ohne jede Emotion erzählte er Lissy, dass seine Frau vor ein paar Tagen in demselben Krankenhaus verstorben wäre und übergab ihr einen Koffer, den sie für ihre Tochter aufbewahren sollte. Der Koffer sei das Erbe ihrer Mutter, sagte er. Von ihm habe die Tochter nichts zu erwarten, weil sie gegen seinen Willen einen Studienrat geheiratet hätte, den er als „alten Nazi“ bezeichnete.
Der behandelnde Arzt sagte Lissy, dass der in der Privatstation liegende Patient eine offene Krankenhausrechnung habe.
Lissy verlangte von dem Patienten einen Scheck, um die Schulden zu tilgen und auch einen Vorschuss für das Krankenhaus und erstaunt beobachtete sie, dass er
ihr listig zuzwinkerte, ein Auge zukniff, und mit brüchiger Stimme sagte:
„Ich kenne die Frauen! Ihnen geb‘ ich keine Unterschrift!“
Lissy hatte keine Lust sich um die Krankenhausrechnung zu streiten und sagte: „Dann lassen sie es bleiben!“ Ihre Antwort schien ihm nicht zu gefallen und er sagte: „Weiber…!“
Lissy fand das alles ein wenig komisch, doch war es ihr auch lästig, sich mit dem alten Mann zu streiten.
Danach nervte er sie mit dem Anspruch, dass sie einen Notar, der wohl schon früher für ihn tätig geworden war, aufzusuchen, der ein Testament für einen Sterbenden fertigen solle. Sie raste also wieder durch den Schneeregen und traf den Notar, einen jungen, erfolgreichen Mann an, der jedoch an einem solchen Auftrag nicht interessiert war. Er ärgerte sich sichtlich, dass Lissy ihn angetroffen hatte und er sich nicht herausreden konnte, jedoch durfte er einem im Sterben Liegenden…, Hilfe nicht versagen. Er warf sich wütend in seinen Porsche und fuhr mit Lissy zu dem Krankenhaus, wo der Studienrat in einem Sessel sitzend, schon wartete. Lissy sollte als Zeugin in dem Krankenzimmer anwesend sein.
Der Notar schien jedoch nicht daran interessierst zu sein, die Tochter des Patienten zu enterben, aber er musste den starrsinnigen Vorstellungen des Klienten, der den Todkranken mimte…, folgen. Er versprach, das Testament unterschriftsreif vorzulegen und verschwand.
Lissy nahm den Koffer der verstorbenen Ehefrau mit und als sie zu Hause nachsah, was in dem Koffer war, fand sie armselige, billige und schmutzige Unterwäsche, einen uralten Bademantel und eine alte Haarbürste. „Dieser Mann muss ein schrecklicher Geizhals gewesen sein“, dachte sie. Denn von Lothar, der für ihn die Vermögenserklärung erstellt hatte, wusste sie, dass er mehr als hunderttausend D-Mark auf der Trinkausbank hatte und ohne weiteres die Krankenhausrechnung hätte bezahlen können. Auch hätte seine Frau nicht in der dritten Klasse im Fünfbettzimmer ihre letzten Tage verbringen müssen. Obwohl sie in der Sterbephase im selben Krankenhaus lag, hatte er sie nicht besucht. Seiner Tochter hatte er den Umgang mit der Mutter verboten und diese wusste nicht einmal, dass ihre Mutter in diesem Krankenhaus war.
Äußerst verärgert rief Lissy Lothar an und sagte: „Diesen Mandanten besuche ich nicht mehr, der ist ja ein Ungeheuer…!“
Fünf Tage später teilte das Krankenhaus mit, dass der Mann gestorben sei.
„Dem weint keiner eine Träne“ nach, dachte Lissy. Sie vermutete, dass der Notar die Morbidität des früheren Französischlehrers erkannt, und nicht an der Änderung des Testamentes gearbeitet hatte, doch hatte der Notar die Tochter seines Klienten benachrichtigt, nachdem dieser gestorben war.
Nach einem früheren Testament war sie begünstigt und Alleinerbin. Sie bat Lissy um einen Termin, wegen der steuerlichen Abwicklung des Erbschaftsfalles.
Nun begannen die Osterferien. Lothar, noch in der Kur, schickte Lissy Karten für einen Flug bis Freiburg, wo er sie und die Kinder, mit dem Auto abholen wollte.
So gut das vielleicht gemeint war…, es wurde eine Odyssee für Lissy, denn die Warterei auf dem Flughafen, das ganze Gepäck mit der Winterkleidung, und die Vorbereitungen für ihre Abwesenheit im Büro waren strapaziös. Für die Kinder war es natürlich ein Erlebnis, denn im Schwarzwald lag Schnee.
„Besser wäre ich mit dem Auto gefahren, trotz Schneetreibens“, dachte Lissy, aber nun war das ja nicht zu ändern. Sie flogen mit einer zweimotorigen Maschine, die bei dem stürmischen Wetter Schwankungen ausgesetzt war.
Lothar holte sie ab und sie hatten Glück, dass sie trotz vereister Straßen gut in dem schönen Schwarzwaldhotel, das Lissy ja schon kannte, ankamen.
Lissy bemerkte, dass Lothar sowohl Bier als auch Wein trank und Zigarren rauchte. Er machte nicht den Eindruck eines Herzkranken und hatte sich gut erholt, aber wozu dann die Strophantin Spritzen, fragte sich Lissy, aber sie sagte nichts.
Abends, wenn die Kinder im Bett waren, spielten sie Doppelkopf und manchmal tanzten sie. Lothar war entspannt. Auch der behandelnde Arzt spielte mit und sagte: „Lissy solle ihren Mann verwöhnen, so einen bekäme sie nicht wieder!“
Das war…, fand Lissy…, eine ziemlich blöde Bemerkung, aber ihres Großvaters alter Wahlspruch: „Schweigen ist Gold, kam ihr in den Sinn und so genoss sie doch die Tage im Schwarzwald und versuchte, mit Selbstbetrug, die Kalamitäten in Düsseldorf zu lassen. Lothar war wieder in seinem Element und sorgte für gute Stimmung. Einer der Gäste machte Andeutungen, dass Lu, die langjährige Restaurantbedienung und Vertraute der Hoteliers Familie, besonderes Interesse an Lothar zeigte. Lissy kümmerte sich nicht um Klatsch und Tratsch. Sie genoss das hauseigene Schwimmbad und ließ sich mit einigen Massagen verwöhnen und die Kinder tobten im Schnee.
Die Tage im Schwarzwald waren entspannend gewesen und Lissy wunderte sich, dass Lothar nach den Strophantin Spritzen, einer Generaluntersuchung zustrebte. Er folgte einer Empfehlung zu einem Krankenhaus in Krefeld und dort ließ er sich von Kopf bis Fuß untersuchen. Dies dauerte einen ganzen Tag, aber als er abends nach Hause kam, goss er sich sofort ein Bier ein und sagte: „Ich habe überhaupt keine schlimme Herzgeschichte und selbst das Strophantin hat mir nicht geschadet…“
Das war natürlich eine entspannende Botschaft, aber Lissy konnte sich die Diagnose des Arztes in dem Kurort nicht erklären. Hatte dieser doch auch ein EKG gemacht! So lief dann das Leben in den alten Bahnen weiter, und Lissy war beruhigt.
Doch weitaus schlimmerer Stress drohte…
An einem sonnigen Sonntagmorgen…, die Kinder und Lothar schliefen noch und nur Lissy war schon aufgestanden. Heute sollte es ein besonders schönes, gemeinsames Frühstück werden…
Sie genoss die sonntägliche Ruhe. Kein Autoverkehr auf der Allee…, Kirchenglocken, einfach sonntägliche Stille…
Da klingelte um neun Uhr das Telefon und Lissy nahm im Kinderzimmer den Hörer von der Gabel. Dies war der Auftakt zu einer langwierigen, traurigen Geschichte, um die Existenz und das Glück von Geschäft und Familie. Lissy hatte schon lange die Bedrohung gespürt, aber nun, als eine Männerstimme sagte: „Frau Behrendt…, ich muss ihnen sagen…, sie werden seit langer Zeit betrogen und ich auch…!“
Die Männerstimme klang konsequent aber nicht bedrohlich und Lissy wusste, es ist eine wirklich ernste Sache.
„Wer sind Sie und was wollen Sie!“
„Mein Name ist Schuster und ich bin noch der Ehemann der Angestellten aus dem Altstadtrestaurant, und wir haben uns dort auch schon einmal kennengelernt! Erinnern sie sich? Ich will ihren Mann sprechen!“
„Mein Mann schläft noch! Es ist Sonntag...!“
„Ich stehe in zehn Minuten vor Ihrer Haustüre und mir ist egal, ob er schläft…, ich will mit ihm sprechen!“
Lissy zögerte…, doch dann sagte er:
“Ich weiß es und Sie müssen es auch erfahren!“
„Was:?“
„Mein Sohn ist nicht mein Kind, er ist das Kind ihres Mannes!“
„Ich werde ihn wecken, warten Sie bitte so lange…!“
„Ich bin gleich da…“, sagte er
Sie weckte Lothar, der noch ruhig schlief, und sagte:
„Da ist ein Herr Schuster…, der sagt, dass er Dich sofort und hier, wegen einer ernsten Sache, sprechen müsse!“
„Lothar, gerade aus dem Schlaf…, rief…:“ Zuerst wird man bedroht…, und dann noch erpresst!“
Doch dann klingelte es an der Haustüre und kurz darauf stand ein gut aussehender dunkelhaariger, jüngerer Mann vor der Korridortüre und rief:“ Ich will jetzt endlich mit ihnen sprechen!“ Und Lissy ließ ihn…, um nicht auch noch die Hausbewohner aufmerksam zu machen, und die Kinder zu wecken, ein…
So hatte Lothar nicht einmal Zeit sich anzuziehen und kam im Bademantel ins Büro, aber Lissy bewunderte ihn, denn er blieb souverän und ruhig, obwohl er in dieser Situation, und auch vor Lissy der Unterlegene war… Er bewahrte Haltung…
Lissy zog sich zurück, konnte aber von der anderen Türe des Büros die Szene verfolgen. Die beiden Männer saßen sich gegenüber aber es war keine Kampfstellung. Lissy konnte nicht alles verstehen, aber so viel hörte sie, dass das Kind von Herrn Schuster, ein Junge, nicht sein…, sondern Lothars Sohn sei.
Sie hörte, dass Lothar sagte: „Zuerst wird man erpresst…, und dann…
Herr Schuster unterbrach ihn und sagte ruhig: „Ich habe Sie nicht erpresst, das hat meine Frau getan und ich liebe dieses Kind, auch wenn es nicht mein Kind ist. Sie haben meiner Frau ermöglicht meine Wohnung auszuräumen, während ich auf Geschäftsreise war. Sie haben ihr eine Wohnung verschafft und sie hat den Jungen mitgenommen!
Ihre Frau muss Ihnen wohl sehr vertrauen, wenn Sie sie so betrügen konnten aber ich habe ihr reinen Wein eingeschenkt. Sie weiß nun die Wahrheit.
„Nein,“ sagte Lothar, „sie vertraut mir nicht, aber ich hoffe, sie wird mich nicht verlassen!“
Lissy befand sich in einem noch nie dagewesenen Zustand. Sie konnte nicht verstehen, dass Lothar ihr kein Vertrauen geschenkt hatte und sie bloß stellte. Wahrscheinlich wusste der ganze Bekannten- und Kundenkreis was los war.
Sie hatte die ganze Zeit “den Kopf in den Sand gesteckt“ und sich alles schön geredet, und nun dieses Dilemma!
Was die Männer sonst noch besprochen hatten, bekam sie nicht mehr mit und dann hörte sie, wie die Türe ins Schloss fiel.
Lothar sagte: „Jetzt muss ich mit dir reden und setzte sich auf seinen Stuhl am Kopfende des Esszimmertisches im so genannten Berliner Zimmer.
Immer noch im Bademantel, aber irgendwie, kam er Lissy erleichtert vor.
Endlich war, wenn auch gezwungenermaßen, die Wahrheit ans Licht gekommen. Er sagte: „Ich werde dir nun alles sagen und du kannst entscheiden, ob du unter den Umständen bei mir bleiben willst!“
Er sagte auch jetzt nur, was er nicht mehr verschweigen konnte, aber sie kannte ja seine Beschränktheit in diesen intimen Dingen und wollte auch eigentlich gar nicht alles wissen. Nur verlangte sie eine Untersuchung, ob das Kind wirklich sein Sohn war.
Lissy, die Kinder über alles liebte, konnte nicht verstehen, dass Lothar ihr alles verschwiegen hatte. Es gab keine Beschimpfungen und keinen Streit. Die Angelegenheit war zu ernst, um kleinlich zu streiten, denn da war ein Kind im Spiel und nur darum ging es Lissy.
Lothar kam ihr wie eine gespaltene Persönlichkeit vor.
Das Schlimmste war, dass sie diese Dinge vor ihren eigenen Kindern verschweigen musste und Lissy war zu stolz, um vor dem Personal die betrogene Ehefrau zu spielen. Sie hatte in all‘ den Jahren gelernt, wie man Haltung bewahrt und letztendlich blieb sie in diesem Spiel die Siegerin. Sie hatte viel zu hart gekämpft und gearbeitet, um nun das Spielfeld zu verlassen und es vielleicht irgendwelchen Hasardeuren zu überlassen,
Mit Lothar sprach sie nur noch über geschäftliche Dinge. Es fand keine Versöhnung statt und sie lebten nebeneinander her, wenngleich sie zusammen zum Reiten und ins Theater gingen, Partys veranstalteten und so taten, als ob nichts gewesen wäre.
Da nicht hundertprozentig eine Vaterschaft nachgewiesen werden konnte, wurde die Angelegenheit durch Anwälte geklärt und Lothar zahlte, um die Sache aus der Welt zu schaffen, monatlich einen Betrag an die Mutter des Kindes. Lissy wunderte sich, dass er keinen Dauerauftrag erteilte, aber er wollte sich wohl selbst bestrafen und schrieb jeden Monat einen Scheck aus.
Jetzt bot er Lissy auch die Bankvollmacht an aber die wollte sie nun nicht mehr. Lissy sprach mit niemandem, auch nicht mit Anna, über dieses Desaster und sie war oft mit den Kindern alleine im Westerwald.
Nun brachte Lothar auch Anna oft zu Lissy und bezwang seine Eifersucht.
Er kam oft spät nach Hause und was er dann machte, wollte Lissy nicht wissen.
Auch jetzt arbeitete sie zeitweilig im Büro. Teilweise, um ihn zu vertreten, aber auch wenn Personal krank wurde. Die Zeit verging und nun brauchten sie nicht mehr so viele Arbeitskräfte, weil eine Berufskollegin die meisten Buchführungen übernahm, und diese elektronisch über eine Firma in Hamburg vornehmen ließ. Das war die erste Zeit der elektronischen Datenverarbeitung.
Ob die Kinder von den Disharmonien erfuhren, bemerkte Lissy nicht, und sie bewältigte den Alltag wie immer.
Doch Ende des Sommers, sie wollten mit den Kindern einen Ausflug in den Zoo nach Duisburg machen, da stand Lothar vor ihr und sah sie an, wie in den Zeiten ihres Kennenlernens. Sein Blick war sehr offen…
Er streckte die Hand aus und Lissy konnte nicht widerstehen. Sie gab ihm die ihre. Wortlos wurde ein neuer Pakt geschlossen…
Ja…, es ging weiter mit ihrer Geschichte, wenngleich, viel vom „Lack“ weg war. Trotzdem war es eine Erleichterung, dass sie nun über Privates sprechen konnten und dass auch wieder gelacht wurde.
Lothar machte sich große Sorgen um den Vater, dessen Leiden unerträglich wurde und auch Lissy hatte bei ihren Besuchen bemerkt, dass sein Kampf gegen die Krankheit nachließ. Er hatte sehr stark abgenommen.
An einem Sonntag im Advent holte Lothar ihn ab und er mühte sich die Treppe hinauf. Doch er freute sich sichtlich, noch einmal in der Wohnung seines Sohnes zu sein, und den Kindern zuzusehen. Er lehnte Kuchen und Alkohol ab, obwohl ihm der Genuss kaum noch schaden konnte.
Lothar machte mit seinem Vater eine Rundfahrt durch die festlich geschmückte Altstadt, und die weihnachtliche Königsallee. Das hatte sich der Vater gewünscht.
Dann brachte er ihn zurück ins Krankenhaus.
Lissy dachte, dass dem Vater nicht zu helfen war. Er litt sehr und man gab kein Morphium. Die Ärzte hatten versucht das Bein zu retten aber wahrscheinlich war das aussichtslos, denn nach einer letzten Untersuchung sprachen die Ärzte im Beisein des Patienten, zwar mit Fachwörtern, über die Amputation des Beines am nächsten Tag…
Emil Behrendt aber hatte alles verstanden…
Schon am Tag zuvor hatte er Lothar gesagt, dass er sich das Leben nehmen wolle. Er wüsste nur nicht, wie…
Lothar hatte in seiner Aufregung wohl heftig auf diesen Spruch reagiert und gesagt: „Vater, das wirst Du uns doch nicht antun, an so etwas darfst Du gar nicht denken!“ Die Mitpatienten hatten das gehört und meinten, der Sohn habe mit dem Vater geschimpft, doch sie konnten ja nicht wissen wie sie zueinander standen.
Vielleicht wäre es besser gewesen, den Vater in den Arm zu nehmen.
Emil Behrendt hatte die Gelegenheit genutzt…
Er hatte das offen stehende Fenster als einzige Möglichkeit gesehen, seinem Leiden und der Verzweiflung ein Ende zu setzen.
Die Mitpatienten sagten später der eingeschalteten Kriminalpolizei: „Er kam herein und sah, dass das Fenster offen stand. Dann sah er sich noch einmal im Zimmer um, sah uns alle an, und ging ruhig zum Fenster. Wir dachten, er wolle Luft schöpfen.
Er sah einen Moment hinaus, ließ die Krücken fallen und stürzte sich aus dem fünften Stock in die Tiefe.“
Die Mitpatienten, alle schwer erkrankte Menschen, waren geschockt.
Als die Nachricht kam, Lothar war zufällig zu Hause, fuhren sie mit seiner Mutter sofort zum Krankenhaus. Doch man ließ sie nicht zu ihm…
Man bot ihnen ein Platz im Warteraum an. Nie erfuhren sie, ob Lothars Vater noch gelebt hatte. Der Mönch, ein dicker, fetter Mann, sah Lothar und seine Mutter an, als hätten sie, oder der Vater ein Verbrechen begangen, weil dieser sich das Leben genommen hatte. Keine Beileidskundgebung…, nichts! Vielleicht auch, weil Lothars Familie evangelisch war. Für Katholiken ist Selbstmord eine Todsünde… Er sprach das zwar nicht aus, aber er beachtete die Trauer, und die Verzweiflung der Angehörigen überhaupt nicht und kein Wort des Trostes. Lissy war trotz des Schocks wütend auf diesen Mönch.
Für das Krankenhaus war es wohl eine Schande, dass ein Patient in seiner Not, einen Selbstmord begangen hatte und man fürchtete vielleicht Fehlverhalten des Personals, wegen des offenen Fensters.
Als sie wieder zu Hause waren, spielte Lothars Mutter mit den Kindern. Sie hatte sich der Realität völlig entzogen. Der Schock hatte sie wohl ruhig gestellt.
Lothar sagte: „Ich muss raus… Ich laufe eine Runde…!“
Als er eine Stunde später zurückkam, sagte er: „Ich habe mich vom Papa verabschiedet!“ Aber er weinte auch jetzt nicht. Er war wie versteinert und sagte: „Ich habe versagt!“
Lissy saß alleine im Wohnzimmer und sprach am Telefon mit Anna, die erst jetzt erfuhr, was passiert war. Sie erzählte Lissy, dass sie ein paar Tage vorher Lothars Vater besucht habe, und schon da, sei er sehr verzweifelt gewesen.
„Alle sagen, ich soll tapfer sein“, hatte er gesagt, „aber sie wissen gar nicht, welche Schmerzen ich habe!“
Lissy weinte um den toten Schwiegervater, der so tapfer sein Leiden ertragen hatte.
Tim und Jorgi verschonten sie mit Einzelheiten. Sie konnten sich noch nicht dieses “Nie mehr“ vorstellen. Sie hatten ihren Opa sehr lieb gehabt.
Die Beisetzung von Lothars Vater war vorüber. Es kamen viele Trauergäste, auch aus dem Bereich seiner früheren Tätigkeit, die Hausbewohner und etliche Neugierige, die von dem spektakulären Ende ihres Arbeitskollegen und Mitbewohners gehört hatten. Lothar hatte ein großes Arrangement getroffen aber nun waren die Beerdigungsfeierlichkeiten vorüber, und ein anderer Rhythmus bestimmte das Leben. Fast ein halbes Jahr war vergangen, in dem des Vaters Krankheit den Alltag bestimmte. Fast jeden Tag hatten Lothar und seine Mutter, manchmal auch Lissy und die Kinder den kranken Vater besucht und eine bedrückte Stimmung in der Familie war nicht zu vermeiden gewesen.
Zwar war ja der Vater schon ein Jahr vorher schwer erkrankt, aber da hatten sie immer noch gehofft, dass ihm doch noch ein paar Jahre geschenkt würden. Nun war er mit neunundsechzig Jahren gestorben. So hatte also Jupp das richtige Gefühl gehabt, als er per Anhalter nach Düsseldorf gefahren war, um Emil zu besuchen und sich von ihm zu verabschieden.
Mehrere Wochen waren sie nicht im Westerwald gewesen. Da rief Jupp an, der mit bedrückter Stimme sagte: „Alex ist krank! Er hat eine schwere Kolik, ich habe den Tierarzt angerufen! Ich rufe in einer Stunde wieder an!“
Alex…, das kleine schwarze Pony, das ihnen so sehr ans Herz gewachsen war!
Tim und Lissy saßen im Wohnzimmer und warteten auf den Anruf. Jorgi war nicht zu Hause. Er spielte mit einem Freund Eisenbahn und Lissy war äußerst beunruhigt, denn Jupp hatte gesagt, dass es sehr schlimm wäre, aber sie sollte es den Kindern noch nicht sagen, doch ihre Ahnung hatte sich bestätigt…
Zu dem Zeitpunkt war Alex schon tot gewesen und Jupp hatte sie vorbereiten wollen…
Irgendein missgünstiger Mensch hatte Alex Futter gegeben, das zu dieser Kolik geführt hatte. Eine Stunde später rief Jupp wieder an und sagte:
„Der Tierarzt konnte nur noch den Tod feststellen!“
Lissy und Tim weinten, denn das kleine Pferdchen war ihnen so sehr ans Herz gewachsen und hatte ihnen so viel Freude bereitet. Sie hatten es schon, seit Tims drittem Lebensjahr.
Hier war Lothar, der selbst sehr traurig war, dann doch der Retter der Situation.
Er sagte: „Ihr müsst auf andere Gedanken kommen! Ihr könnt nichts ändern indem ihr nun verzweifelt! Unser kleiner Alex ist nicht mehr!
Lothars Stimme kippte etwas, als er zu Lissy gewandt sagte: „In Düsseldorf läuft der Film Mary Poppins. Tim soll sich nicht so grämen! Ich kann das nicht sehen! Fahr‘ mit ihm ins Kino! Für Dich ist es auch besser! Ich weiß, wie Du dich fühlst! Es tut mir auch sehr leid, und ich würde gerne mitgehen aber ich habe gleich einen Termin, und warte auf Jorgy…“
Lissy und Tim fuhren in die Stadt und Lissy war erregter als Tim. In der Nähe des Kinos war eine Baustelle und Lissy übersah ein Verkehrszeichen. Nicht so Tim, er sagte: „Mams, hier ist eine Baustelle, hier kommst du nicht weiter, wir müssen links!“ Das brachte Lissy wieder in die Gegenwart, denn in Gedanken war sie bei Alex gewesen, aber sie war auch stolz auf ihren Sohn, der trotz seiner Trauer die Verkehrszeichen beachtete, also voll konzentriert war.
Lothars Idee war gut gewesen. Dieser wirklich gute Film hatte sie abgelenkt und sie konnten nun mit der Tatsache, dass ihr liebes Pferdchen Alex tot war, besser umgehen.
Da war es gut, dass man wieder in den Weserwald fahren konnte, wo nun die großen Pferde erwartet wurden, die den Sommer über wieder bei Jupp im Stall stehen würden. Jupp verstand es, mit seinen flotten Sprüchen die Stimmung aufzuhellen und es wurde wieder gelacht und gelästert und trotz aller Trauer waren sie froh, dass ein Unbeteiligter, sie in eine bessere Stimmung versetzen konnte.
Der Zufall wollte es, dass ein Baurat aus Neuwied ein größeres Pony abgeben wollte, das bei Jupp im Stall stehen sollte und das seine Enkelkinder reiten konnten.
Es war Moritz, ein Isländer von großem Temperament, der aber auch von Tim und Jorgi geritten werden durfte, wenn sie in den Ferien, oder am Wochenende im Westerwald waren.
Moritz, ein kräftiges Doppelpony, ein ausgesprochenes Kraftpaket, ging auch gut in der Kutsche. Lissy und Tim versuchten auf Moritz zu votegieren.
Lissy ritt Moritz. Sie trieb ihn mit der Dressurgerte, indem sie ihn an der Flanke streichelte und Tim stand hinter ihr auf Moritz Kruppe und hielt die Zügel. Er sagte…, es ist ein tolles Gefühl, wenn Moritz galoppiert.
Jorgi übte mit Moritz in der Reitbahn kutschieren und sie hatten das Gefühl, im Zirkus zu sein.
Schule, Sport, Klavierunterricht und Freunde füllten neben der vielen Arbeit die Freizeit der Familie aus, aber sie hielten auch Kontakt zu ihren Freunden in Düsseldorf, Hamburg und Rosenheim und zu den Freunden aus der Gefangenschaft. Die vielen Aktivitäten hielten sie in Atem.
Die Familie war nun kleiner geworden. Der Opa fehlte und Lothar holte seine Mutter fast täglich ab.
Anna kam nun seltener, denn die Kinder bedurften ihrer nicht mehr so sehr und sie wollte sich auch nicht den eifersüchtigen Redensarten von Lothars Mutter aussetzen. Diese überwachte genau, wann Lissy sich mit ihr traf, und versuchte Lothar gegen Lissy zu beeinflussen. Anna erzählte, dass sie mehrfach nachts durch Telefonanrufe gestört würde, doch würde sich niemand melden, wenn sie den Hörer abnähme. Das war sehr beängstigend…
Doch irgendwann war der Spuk zu Ende, denn an einem Tag ertönte, sofort nachdem Anna den Hörer abgenommen hatte, der Westmünster Schlag…
Anna wusste sofort, wo die dazu passende Uhr, die Emil einst zum Jubiläum bekommen hatte, stand, und sagte: „Hallo Trude…!“
Lothars Mutter war so perplex, dass sie antwortete: „Ich hab‘ mich verwählt!“
Seitdem kamen keine nächtlichen Anrufe mehr.
Lissy war sehr ärgerlich, als Anna darüber sprach aber sie bewunderte ihre Mutter als diese sagte: „Ich bin froh, dass ich von diesen Eifersuchtsgefühlen frei bin. Das muss ja schrecklich sein!“
Anna war ein großzügiger Mensch. Sie hatte schon früher gesagt:
„Wenn sie nicht deine Schwiegermutter wäre, fände ich sie ganz nett, denn sie vertritt eigentlich gute Ansichten, aber die Eifersucht macht krank!“
Eines Tages meldete sich ein junger Mann bei Lissy, der behauptete, Lothar habe ihn eingeladen, als er ihn im Schwarzwald, während der Kur, kennen gelernt hätte und er habe ihm den Auftrag gegeben, für die Kinder ein Go-Cart zu bauen.
Er könne das Gerät in ihrem Keller bauen, da sei Platz genug…, und wohnen könne er während der Zeit auch bei ihnen.
Lissy kannte den jungen Mann nicht und Lothar hatte von ihm nicht gesprochen, aber sie lud ihn ein, auf Lothar, der bei einer Tagung war, zu warten.
Der gut aussehende, schlanke und große, dunkelhaarige Mann von circa achtundzwanzig Jahren, gefiel Lissy. Dem Alter nach, hätte er ihr Sohn sein können aber in dieser Beziehung hatte Lissy keine Hemmungen. Sie teilte ihre Sympathien nicht nach Altersgruppen ein und nie hatte sie sich über Altersunterschiede Gedanken gemacht. Für sie zählte nur der Mensch…
Der junge Mann war erstaunt, dass Lissy nichts über seine Abmachungen mit Lothar wusste.
Vielleicht hatte Lothar diesen jungen Mann bei einem, oder zwei guten Boxbeuteln kennengelernt, und sich später an seine Einladung nicht mehr erinnert. Unter Alkoholeinfluss wird manches mit Begeisterung gesagt, dessen man sich später nicht mehr bewusst ist… So weit so gut…!
Als Reinhardt, so hieß er…, erzählte…, dass er ein naher Verwandter des im Jahre 1943 verstorbenen Schriftstellers und Romanautors Rudolf Herzog sei, und dass er in dessen Haushalt bis vor ein paar Jahren gelebt hätte, erinnerte sich Lissy, dass Lothar von ihm gesprochen hatte. Doch von einem Go-Cart war nicht die Rede gewesen.
Reinhardt sagte, dass er Motorradrennen fahre und auch an dem nächsten Rennen auf der Isle off Man teilnehmen wolle und außerdem wolle er nach Texas, Amerika. Dort seien neue Goldminen entdeckt worden und das sei doch eine reizvolle Sache. Der Bau des Go-Carts solle ihm auch über finanzielle Engpässe hinweg helfen, das sagte er ganz offen.
Lissy, die es sonst hauptsächlich mit Kaufleuten, Bank- und Finanzleuten Architekten, Uhrmachern und sonstigen Handwerkern zu tun hatte, fand die Unterhaltung mit diesem jungen Abenteurer entspannend, zumal er auch witzig seine Ansichten vertrat und sie sich mit ihm Wortgefechte leisten konnte.
Interessant fand sie auch, durch Reinhardt eine Verbindung zu den Werken von Rudolf Herzog: “Die vom Niederrhein“ und “Die Stoltenbergs und ihre Frauen“, die sie als junges Mädchen gelesen hatte, zu finden.
Hier drehte sich die Handlung um die Familie Krupp und eine andere große Industriellenfamilie.
Sie erinnerte sich, dass die Romane altväterlich und umständlich geschrieben waren und doch…, gerade in der Nazizeit und im Krieg, war es interessant gewesen, sie zu lesen. Heimat -Tümelei und braves Bürgertum standen bei den Nazis hoch im Kurs, denn damit ließen sich die fügsamen, jeder Initiative beraubten kleinen Leute gerne füttern, falls sie denn überhaupt lasen.
Reinhardt sagte, sein Onkel habe ebenso antiquiert gesprochen, wie er schrieb.
Rudolf Herzog kam den Nationalsozialisten sehr gelegen und wurde nicht, wie andere Schriftsteller, verboten. Er starb im Kriegsjahr 1943…
Als Kind gefiel Lissy besonders die Darstellung der Frau des Industriellen, Berta Krupp, die in einem finanziellen Engpass ihren ganzen Schmuck hergab, um die Arbeiter zu entlohnen. Sie bewunderte den Industriellen Gründervater Alfred Krupp, der nicht in dem pompösen, schlossähnlichen Jugendstilgebäude für Repräsentationszwecke wohnte, sondern in einer kleinen Villa am Rande des Fabrikgeländes. Da sagten die „Kruppianer: „Dat is enen echten Kerl!“ und…, sie gingen für ihn durchs Feuer.
In der Nazizeit wurden enge Verbindungen mit dem Naziregime geknüpft und die Stahlfirma lieferte in großem Stil Materialien für die Aufrüstung der Armee.
Für Lissy war es interessant, mit Reinhardt zu sprechen, der schon einer anderen Generation angehörte und mit dem sie doch über harmlose Scherze lachen konnte. Lothar, war erstaunt, diesen jungen Mann zu sehen. Er hatte die Gespräche über Go-Cars beim Bocksbeutel ganz vergessen, doch war er nicht abgeneigt, den Auftrag bestehen zu lassen, jetzt wo der junge Mann nun schon einmal da war, aber auch…, weil er sich, wegen des einmal gegebenen Auftrags unter Alkoholeinfluss, nicht lächerlich machen wollte.
„Ziemlich schräg“…, dachte Lissy und bemerkte, dass Lothar eifersüchtig war, weil sie so fröhlich gelacht hatte, doch das war ihr egal. Sie fand den “Mini-Abenteurer“ amüsant und schließlich hatte Lothar ihn engagiert. So quartierten sie ihn für die Dauer seines Aufenthaltes im Eisenbahnzimmer in der Mansarde ein, wo Tims altes Klappbett stand und er war Gast…, jetzt beim Rheinwein.
Reinhardt werkelte nun im Keller. Tim und Jorgy fanden es interessant, ihm beim Go-Cart-Bauen zuzusehen und sie sahen sich schon als Rennfahrer.
In diesem Sommer fand die Fußball Weltmeisterschaft statt und sie verpassten keines der Spiele. Ihr Freund Karl-Heinz, der Prokurist der Telefonbaugesellschaft, besorgte ihnen ein Fernsehgerät mit einer ausziehbaren Antenne, welches sie im Westerwald auch im Freien aufstellen konnten.
So war dieser Sommer an jedem Wochenende “verplant“, denn Lothar wollte keines der Spiele versäumen, aber Lissy freute sich auch auf diese spannende Unterhaltung, zumal sie durch ihre frühere sportliche Tätigkeit im Turnverein, die Regeln für Fußball beherrschte. Hatten sie doch auch eine Fußballmannschaft im Verein gehabt und waren zur Unterstützung der Mannschaft zu Auswärtsspielen immer mit gefahren, bis aus Kriegsgründen die Mannschaft nicht mehr vollzählig war.
Tim und Jorgi interessierten sich nicht so sehr für Fußball, denn das tägliche Reiten in den Ferien und das Üben für Dressur füllte die Zeit. Auch waren sie oft mit ihren Freunden aus dem Dorf unterwegs oder spielten abends mit Lissy und Lothar Skat oder Monopoly.
Anna sagte, den Kartenverstand habe sie von ihrer Mutter geerbt und man konnte ihr keine größere Freude machen, als abends die Karten auf den Tisch zu legen.
Nun kam zu allem Überfluss noch das Go-Cart-Fahren dazu.
Reinhardt hatte sich mit seinem Honorar davon gemacht und war wahrscheinlich auf der Isle Off Man, um an einem Motorradrennen teil zu nehmen.
Mit dem kleinen Go-Cart rasten Tim und Jorgi nun über die nicht asphaltierte Straße und verursachten dicke Staubwolken. Der verbrennende Kraftstoff verursachte stinkende Rauchschwaden, aber dieses Gerät…, es funktionierte!
Reinhardt hatte leider keine Schutzvorrichtung für die Beine gemacht und die Trommel wurde heiß, so dass ein paar Brandblasen nicht zu vermeiden waren. Von der Idee her, war das Go-Cart gut, aber sonst steckte die Konstruktion noch in den Kinderschuhen.
Mehr oder weniger war es eine Höllenmaschine, die die Rentner verfluchten, weil sie aus ihrem Mittagsschlaf aufgeschreckt wurden. Nach ein paar Tagen gab diese, total heiß gelaufen, fürs erste mit einem Pfhhh, ihren Geist auf.
Tim sagte, das Go Cart müsse repariert und geschweißt werden. Außerdem sollte Lothar noch ein Ersatzteil besorgen, wenn er am Wochenende käme. Als Lissy ihn deshalb anrief, reagierte er total entnervt.
Nach etlichen Reparaturen kam dann das tödliche Ende. Doch die Brüder hatten technische Erkenntnisse gesammelt, für die sie später Verwendung finden sollten.
Einmal im Monat fuhren Lissy und Lothar zu Gretchen, einer der ersten Mandantinnen, für die sie die Buchführung erstellt hatten. Eine Art Nostalgie Mandantin, die in der ersten Zeit der Selbständigkeit von Hetty, die das Geschäft für die stärkere Dame betrieb, empfohlen worden war.
Gretchen, ein echtes Düsseldorfer Altstadtkind, war auch mit Maximilian gut bekannt…, der, wie sie sagte, auch einmal hinter ihr her gewesen wäre. Doch hätte er, wegen ihrer anderen Orientierung von einer Annäherung Abstand genommen. Das Wort mit „L“ fiel nicht. Das musste man sich denken.
Gretchen, sehr schlank, trug, was 1970 noch nicht allgemein üblich war, graue Flanellhosen, sportliche Blusen und breite Sportschuhe, ergänzt durch eine graue Kurzhaarfrisur… Sie lebte mit Lotti, einer zehn Jahre jüngeren Freundin und deren Tochter zusammen, aber Lotti, meinte Lothar, sei nicht ganz lesbisch, was Lissy aufmerksam machte…, und Gretchen war sehr eifersüchtig.
Nach ihren Kegelabenden mit den Bekannten von der Stadtverwaltung sagte sie: „Herr Behrendt, ich hab‘ Kopfschmerzen und der Bauch tut mir weh!“ Sie brachte dann ihre Unterlagen und Lissy sah, dass eine rote Wärmflasche in ihrer grauen Flanellhose steckte, deren oberes Ende am Bund herausschaute.
„Lotti schläft noch“, sagte sie jämmerlich, und: „Herr Behrendt, ich han en janz decke Zong!“
Aber trotz ihrer Nachwehen vom Kegelabend, brachte sie Lissy und Lothar ein Mittagessen, als Tellergericht, an den Schreibtisch.
Sehr geschäftstüchtig betrieb sie ein Einrahmungsgeschäft und war bestens bekannt mit den Künstlern der Malerakademie. Einmal trafen sie bei ihr Kay und Lore Lorenz, die Erfolge mit dem Kommödchen, einem der ersten politischen Kabaretts hatten und bei Gretchen die Reklame bestellten.
Gretchens Buchbinderei war stadtbekannt, und sicherte ihren Umsatz, denn sie fertigte alles, was bei der Verwaltung der Stadt Düsseldorf zu “binden“ war, und das war eine Menge, bei all‘ dem Bürokram für das Archiv… Ein gutes Geschäft!
An Gretchens sechzigsten Geburtstag fuhr Lothar hin, um zu gratulieren.
Lissy arbeitete zu Hause an der Vorbereitung einer komplizierten Buchführung, wo einige Fragen offen waren. Sie rief bei Gretchen an, aber Lothar war nicht aufzufinden. Lissy war verärgert, dass sie Lothar telefonisch nicht erreichen konnte, und so fuhr sie in die Stadt
Großes „Hallo, als sie bei Gretchen ankam und sofort hatte sie ein Glas in der Hand.
Da saß die halbe Stadtverwaltung zusammen und feierte. Hoch die Tassen…! Gretchen hielt eine Ansprache und Lissy war erstaunt, wie souverän sie…, mit viel Witz, ihre Gäste unterhielt.
In Hochdeutsch natürlich, sie hatte ja schließlich die Nonnenschule besucht. Normalerweise sprach Gretchen Düsseldorfer Platt, was zu der Zeit noch durchaus salonfähig war. Doch dies war nur bestimmten Personenkreisen erlaubt.
In Hannover, sagte man, würde das beste Deutsch gesprochen und dem eiferten bildungshungrige Düsseldorfer nach. Ansonsten waren die Bürger lässiger geworden, so auch in der Sprache, aber Platt war nicht mehr „in“.
Jetzt aber wurde Deutsch mit Anglizismen angereichert.
Heimatforscher gründeten einen Verein, in dem Düsseldorfer Platt gelehrt wurde. Dieser Verein hielt sich bis in das nächste Jahrhundert.
Lissy machte sich auf die Suche nach Lothar, und fand ihn mit Lotti und einer der Angestellten in einem der hinteren Lagerräume. Sie hörte, dass Lotti wie wild kicherte. Lothar schien auch nicht mehr ganz nüchtern zu sein, und die
Frauen musterten Lissy wie einen Eindringling.
Lissy rief: „Gretchen hat nach Lotti gefragt“, was Lotti auf den Pfad der Tugend zurückbrachte und damit war der Spuk zu Ende.
Lotti aber war böse auf Lissy, weil sie sich in ihre Unterhaltung mit Lothar eingemischt hatte und Lissy dachte…, dass Lotti scharf auf Lothar war.
Zehn Jahre später bekam Lissy die Quittung, als sie Lotti einmal wiedertraf und diese sagte: „Sie sind aber alt geworden!“
Ein halbes Jahr nach Gretchens Geburtstag spielte sich ein Drama ab…
Total entnervt und wütend rief Gretchen Lothar, den Helfer in allen Lebenslagen an, und rief: „Lotti wird enterbt! Ich habe schon mit dem Anwalt gesprochen!“
Es war herausgekommen, dass Lotti Gretchen mit einem Mann betrogen hatte. „Mit einem Mann…!“ sagte Gretchen…, wutentbrannt…
„Wann…, wo…?“, frug Lothar…
„In Neuß, Im Sporthotel…!“
„Doch nicht das, was in der Zeitung steht?“
„Genau das“, sagte Gretchen…, „genau das!“
Sie hatten es am Morgen gelesen…, aber nicht an Lotti gedacht.
Der Mann…, der mit Lotti in dem Hotel abgestiegen war, lebte nicht mehr.
„Herzinfarkt! Ein Skandal! Beim Liebesakt in diesem Hotel gestorben!“
Er hatte, als der Arzt ihn untersuchte, auf dem Rücken gelegen.
Es gab Spuren…
„Eindeutige Spuren!“, sagte der Polizeiarzt.
„Ein Schock für die Partnerin“! Direkt dabei, meinte er mitfühlend.
Lothar…, nachdenklich…: „Ein schöner Tod…!“
„Typisch Mann“, sagte Lissy.
Gretchen hatte Lotti dann doch vergeben.
Sie wurde nicht enterbt. Der Sündenfall…, wenigstens mit Diesem, konnte sich ja nun nicht wiederholen.
Leider brach der persönliche Kontakt mit Gretchen ab, weil auch sie, bezüglich der Buchführung, elektronisch betreut wurde.
Sie sahen die Mandanten nur noch wegen der Bilanz und Steuererklärung und alles wurde unpersönlicher.
Einerseits war das eine Entlastung, aber andererseits war es menschlicher gewesen und sie hatten viel mehr gelacht.
Das Jahr neunzehnhundertsiebzig ging zu Ende. Mit Interesse hatten sie die politischen Ereignisse verfolgt, und rekapitulierten an Sylvester mit ihren Freunden das politische Jahr.
Es war erstaunlich, dass manches wirklich außergewöhnliche Ereignis in Vergessenheit geraten war, obwohl man jeweils mit Heftigkeit die Themen diskutiert hatte. Erst als Lissy ihre Tagebuchaufzeichnungen hervorholte, war nicht alles, aber manches wieder präsent.
Einige der Freunde nahmen sich vor, ebenfalls eine Agenda einzurichten, was aber nur einem Einzigen, wie sich im darauf folgenden Jahr herausstellte, gelingen sollte.
Für Lissy jedoch war es ein Bedürfnis. Sie hatte Aufzeichnungen seit ihrer Kindheit und außerdem die Erinnerung an die Gespräche, die sie an den langen Kriegsabenden und während der Hungerzeit, mit Anna geführt hatte. Damals hatte Anna Socken gestrickt und diese dann ins “Feld“ versandt.
Zum Schluss gab es allerdings keine Wolle mehr und sie hätten gerne ein paar der verschenkten Stricksachen gehabt, die sie hätten für sich selbst verarbeiten können. Nach dem Krieg hatten sie vier Jahre gedarbt und gefroren.
Auch über diese Aufzeichnungen wurde gesprochen, aber für die jüngeren in ihrem Bekanntenkreis waren das unvorstellbare Ereignisse.
“Stricksocken…! Strümpfe stopfen…! Igitt!“
Die Bundesbürger hatten das tiefe Bedürfnis, ihren Kindern alles zukommen zu lassen, was Industrie, Handwerk und Landwirtschaft bot.
Die Wünsche stiegen ins Unermessliche, aber es war verständlich, dass in erster Linie der “fahrbare Untersatz“ im Fokus stand.
Nun gingen die Wünsche schon lange nicht mehr nach “Isetta und Co“. Da musste es schon was „Schnelleres“ sein.
Sylvester feierten sie mit einer Feuerzangenbowle, die Lissy verdünnte, weil sie gesehen hatte, dass ein Teil des hochprozentigen Rums an dem Zuckerhut vorbei gelaufen, und in die Bowle gelangt war. „Etwas Wasser kann nicht schaden“, dachte sie und die sie schmeckte wunderbar. Niemand hatte etwas bemerkt und die Gäste aus dem Dorf sagten am Tag darauf: „Wir haben die Bowle gut vertragen und die Stimmung war “bombig“…!“ Und sie fanden es großzügig, dass Lissy noch eine zweite, große Bowle bereitete.
Sicher sei es ein guter Wein gewesen sagten sie, denn sie hätten am Tag darauf überhaupt keine Kopfschmerzen gehabt. Das Rezept müsse Lissy ihnen unbedingt geben.
Dem wirklich guten Wein gegenüber hatte Lissy allerdings ein schlechtes Gewissen gehabt, und Lothar durfte auf keinen Fall erfahren, dass der Wein vom Rhein nicht „rein von Wein“ gewesen war.
Er meinte nur bewundernd, dass die Leute aus dem Dorf einen „Stiefel“ vertragen könnten und Lissy sagte: „Das kommt daher, dass Du diesmal keinen Schnaps ausgeschenkt hast!“
„Da ist was dran“, meinte er, “das mach‘ ich auch nicht mehr, denn “ohne“ ist es wirklich bekömmlicher.“
In diesem Winter wollten die Feiern nicht enden. Karl-Heinz, der Geschäftsführer der Telefonbaugesellschaft, und Poldi, seine Ehefrau, die Wienerin, hatten eingeladen, denn er feierte einen runden Geburtstag. Der Einladung kamen sie gerne nach, denn bei ihnen war es nie langweilig und Karl-Heinz spielte vorzüglich Hammondorgel und Akkordeon. Sie tanzten Foxtrott und Tango in der Wohnung. Poldi war stets gut gelaunt und verwöhnte sie mit wundervollen Köstlichkeiten der Wiener Küche.
Durch Lothars Vermittlung wohnten sie in dem Haus, das Maximilien und Hetty gehörte, und dessen Renovierung Lothar begleitet hatte.
Sie hatten eine Tochter. Reni, ein hochintelligentes, schönes Mädchen, so alt wie Tim, und zu ihrem Haushalt gehörte Lorita, der redseligste Papagei, dem Lissy jemals begegnet war. Lorita liebte Lothar…! Sobald sie dessen Stimme hörte, drehte sie kopfüber Runden in ihrem Käfig und äffte seine Stimme, und das Gelächter der Gäste, tontreffend nach. Lorita sprach ganze Sätze und parodierte Poldis Telefongespräche in deren Lachtonlage. Eine besondere Zuneigung hegte sie auch für Jorgy, dessen Stimme ähnliche Reaktionen bei Lorita hervorrief wie die von Lothar.
Für Frauen hatte dieses Tier nicht viel übrig und schmähte sie mit Gekreische. Poldi sagte: „Das ist ein Männer-Papagei, der kann mich nicht leiden.“
Außerdem gab es in diesem Haushalt einen rötlich-braunen Langhaardackel, dessen Gebell ebenfalls von Lorita kopiert wurde, was den Hund natürlich ärgerte.
Die Feste bei Karl-Heinz und Poldi waren eine entspannende Bereicherung und nirgendwo sonst, wurde so viel gelacht.
Lothar hatte Hettys Geschäft für die stärkere Dame, in deren Auftrag, an eine Nachtclubbesitzerin vermietet.
Hetty und Max wohnten nun in ihrem neuen Haus…, mit großem, nach französischer Gartenarchitektur angelegtem Rosengarten.
Es war ihnen nicht leicht gefallen, die Altstadt zu verlassen, aber der schöne Garten im neuen Domizil, die Ruhe und die gute Luft ließen sie schnell heimisch werden, zumal auch Marianne, ihre treue Haushälterin bei ihnen geblieben war. Sie führte das Regiment, wie zuvor in der Altstadt und sie ließen es sich gerne gefallen, denn Hetty war immer Geschäftsfrau gewesen und hatte nie Kochen gelernt.
Oft waren Lissy und Lothar bei ihnen zum Abendessen eingeladen, das immer aus Brot und Schinken, Käse, Hackfleisch mit Zwiebeln, Gurken, Salat, auch Pilzen und geräuchertem Fisch wie Aal und dergleichen, bestand. Zu dieser Zeit war es allgemein üblich, abends “kalt“ zu essen, denn fast alle Menschen, auch die Rentner, hielten täglich drei Mahlzeiten ein.
Max legte Wert auf ein gutes Glas Wein, aber es blieb nicht bei einem Glas. Meistens wurden Flaschen daraus und manchmal mixte Max Cocktails, aber er wollte nicht, dass geraucht wurde. Das erlaubte er auch Lothar und Lissy nur dann, wenn sie draußen auf der Terrasse sitzen konnten.
Was Lissy missfiel war, dass sie die Schuhe ausziehen mussten. Es gab zwar Museumspantoffeln in der Garderobe für Gäste, aber Lissy hätte diese niemals angezogen, weil sie nicht wusste, wessen Füße vorher drin gesteckt hatten. Außerdem meinte sie, dass sie nicht im Museum wäre und sie auch nicht mit schmutzigen Schuhen in ihr eigenes Auto stiege. Ohne Schuhe beim Abendessen zu sitzen, war auch nicht erhebend, aber wenn es denn die Gastgeber glücklich macht…! Lothar sagte: „In der Türkei ziehen sie auch die Schuhe aus!“
Hetty ging es manchmal nicht gut. Sie hatte Probleme mit dem Magen, aber sie überging diese Schwierigkeiten und war stolz darauf, ihren schwarzen Mercedes 180 fahren zu können, aber Max kritisierte Hetty, wenn er mit ihr fuhr, was Lissy ärgerte, weil er Hetty nervös machte, wenn er im Fond saß und seine Sprüche klopfte, zumal er selbst keinen Führerschein gemacht hatte.
Hetty konterte: „Du hast ja nicht einmal einen Führerschein!“
Mit Lothar war Max sich sowieso einig, was die Fahrkünste der Frauen betraf, aber das tat Lothar nur wegen der Plänkeleien. Er war Lissy schlussendlich dankbar, dass sie ihn während der führerscheinlosen Zeit gefahren hatte, doch es blieb trotzdem eine wunde Stelle für ihn.
Lissy dachte: „Es ist doch komisch, dass die Männer so sehr an einer Domäne festhalten, die doch gar keine mehr ist!“
Als dann in ihrem Haus noch die Kniestockwohnung frei wurde, zogen Günther der Jurist, Freund aus der Gefangenschaft, und Freundin Marlene, Altistin im Opernchor, ein.
Es wurde eine wirklich gute Hausgemeinschaft und manches Fest wurde dort gefeiert. Feiern…, das konnten sie, die alten Kämpen…
Die Idee, im Waldhäuschen die Terrasse zu vergrößern, hatte Lothar schon lange gehabt, aber nun hatte ihm ein Architekt eine Bezugsquelle für Schiefer genannt, eine günstige Gelegenheit, denn zu der Zeit war Dach-und Terrassen Schiefer noch sehr teuer. Allerdings war es Schiefer im Urzustand.
Lothar sagte: „Ich habe in der Gefangenschaft so viel mit Beton gearbeitet, da werde ich doch hier eine Terrasse bauen können!“
Gesagt, getan…!
In der Nähe von Königswinter gab es eine Schiefergrube. Dort konnte man die Platten selbst aussuchen und in den Kofferraum laden.
Lothar kaufte einen Betonmischer und der ortsansässige Transporteur brachte Sand und Zement. Lothars Freund Günther, der Richter, kam und half beim Mischen. Sie hatten in der Gefangenschaft so viel auf diesem Gebiet gelernt und mit Hilfe eines Maurers aus dem Dorf war die Terrasse schnell fertig. Nach dem Trocknen mussten dann nur noch die Schieferplatten verlegt werden, wofür sich Lissy stark machte, denn die Platten mussten mit einem Spezialmörtel verfugt werden, und dazu fehlte Lothar die Geduld und auch die Zeit.
Er pflanzte mit Jupp dreihundert Tännchen um das Grundstück herum und die sollten eine natürliche Hecke bilden. Auf der Wiese hatten sie Schatten-morellen-, Birnen- und Apfelbäume, sowie einen Pflaumenbaum gepflanzt.
Das Jahr 1971 hatte schon in den ersten Monaten einen anderen Atem bekommen, denn seit dem Jahr 1970 war der Sozialdemokrat Willy Brand, der zuvor Außenminister in der großen Koalition gewesen war, Bundeskanzler. Im Dezember des Jahres 1970 wurde der “Warschauer Vertrag“ zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen, bei Anerkennung der Oder-Neiße- Linie abgeschlossen. Brandt legt einen Kranz am Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettos ab. Brandts Kniefall am Ghetto-Denkmal geht in die Geschichte ein.
„Endlich“, sagte Lothar, „endlich die SPD!“
Willy Brandt und die SPD bildeten eine Koalition mit der FDP. Walter Scheel, FDP, wurde Außenminister.
Nachdenklich erinnerte Lissy sich an den Mann, den sie im vierten Kriegsjahr im Personenzug nach Offenbach kennen gelernt hatte, der gesagt hatte…, er sei SPD-Mann…, und den Lissy gewarnt hatte, das nicht laut zu sagen. Wie sich die Zeiten ändern…!
Dr. jur. Gustav W. Heinemann, ein nachdenklicher, feiner Mann, war seit dem Jahr 1969 Bundespräsident. Seine Amtszeit ging bis zum Jahr 1974. Seine Ehefrau, Hilde Heinemann, gründete das Müttergenesungswerk und andere soziale Stiftungen.
Es war eine aufregende Zeit und sie ergingen sich in heftigen Diskussionen mit ihren Freunden und Bekannten, wenngleich sie, weil es ja auch teilweise Mandanten waren, vorsichtig mit ihren Worten umgehen mussten. Letztlich durften sie sich ihren Kunden gegenüber, die ja auch ihre Brötchengeber waren, nicht allzu hart äußern, doch manchmal wurde es heftig. Besser war es zuzuhören, sich eine Meinung zu bilden, und die Streitenden zu beruhigen. Lissy fand es erstaunlich, dass sich hauptsächlich die männlichen Teilnehmer der Diskussionen in Hitze redeten und im Meinungsstreit zu persönlichen Attacken neigten, während die Frauen eher abwägend argumentierten.
Vielleicht hielten sich diese aber auch zurück…, weil sie bei ihren Ehemännern, wenn sie denn CDU Anhänger waren, mit gegenteiligen Meinungen nicht in Ungnade fallen wollten, zumal Männer immer noch dazu neigten, den Frauen Urteilskraft zum politischen Geschehen abzusprechen. Doch sagten sie wenigstens nicht mehr, dass die Frauen sich um den Kochtopf kümmern sollten. Frauen waren oft berufstätig und praktisch Doppelarbeiterinnen. Die Männer waren zumeist noch in dem alten System befangen, dass die Frauen alleine für den Haushalt und die Kindererziehung zuständig seien, und sie, die Männer, in ihrem harten Berufsleben unterstützen müssten. Das gab ihnen aber auch die Möglichkeit, sich ihren Kegel- oder Skatabend zu sichern. Noch immer hatten die Frauen keine Rechte.
Männer, die ihren Frauen in der Doppelbelastung von Beruf, Haushalt und Kindern beistanden, wurden von manchen Zeitgenossen als Weicheier bezeichnet. Andererseits erzogen auch viele Frauen die “Buben“ (in Bayern), die “Jungs“(in Berlin),, anders als die Mädchen und wollten nach dem Krieg wieder in das alte Fahrwasser zurück. Frauen an den Herd! Was die Frauenberufstätigkeit betraf, war man in der DDR weitaus aufgeschlossener als in der BRD, denn im sozialistischen Staat mussten alle Frauen berufstätig sein. Man hatte ein großes Netz von Kinderbetreuungsplätzen, auch Krippen geschaffen, wo die Kinder Aufnahme finden konnten und hervorragend betreut wurden. Das wollte man aber in der Bundesrepublik nicht gelten lassen. Hier hatten kirchliche Organisationen das Sagen und man war im Allgemeinen der Ansicht, dass…, wenn Kinder da waren, die Mütter zu Hause bleiben sollten. Frauen, die ihre Kinder nicht selbst betreuten, galten als Rabenmütter und Lissy hätte auch nicht so viel im Büro arbeiten können, wenn Büro und Wohnung nicht zusammen gewesen wären. Zwar waren ihre Kinder auch in den katholischen Kindergarten gegangen, aber die Betreuung ging nur von neun bis zwölf Uhr und es war eine bessere Kinderverwahrstelle.
Lissy hatte die Gelegenheit gehabt, Einblicke in die Verhältnisse der ihnen vertrauenden Mandanten zu nehmen. Bedauernd stellte sie fest, dass es noch einzelne Menschen gab, die dem verflossenen Nazi System nachtrauerten und meinten, dass die Nazis zu dem Krieg gezwungen worden seien. Sie behaupteten, die Judenverfolgung hätte nicht stattgefunden. Es waren Menschen, die entweder so verbohrt waren, dass sie den Tatsachen nicht ins Auge blicken wollten oder solche, die von dem Nazisystem profitiert hatten. Dass auch viele Romas, Sinti und deutsche Staatsbürger die denunziert, und in den KZ-Lagern umgebracht worden waren, wurde von manchen Leuten überhaupt nicht zur Kenntnis genommen und wider besseren Wissens abgestritten. Erst jetzt, so lange nach Kriegsschluss, wurde vielen Menschen klar, wie tief überzeugte Nationalsozialisten in ihrer Denkweise beeinflusst waren, und immer noch meinten, das System sei rechtens gewesen und manche blieben unbelehrbar. Sie machten sogar Witze über diese Gruppen… Erstaunlich fand es Lissy, dass es Nationalsozialismus in Amerika und England, in Schweden und in den Niederlanden gab. Jetzt…, viele Jahre nach dem Krieg und dem Naziterror. Der, seit 1969, amtierende Bundeskanzler Willy Brand, der als Bürgermeister in dem abgeschotteten Berlin erfolgreich gearbeitet hatte, war geliebt und gehasst zugleich. Ein Mandant meinte: „Das ist ja gar kein Deutscher!“ Willy Brand war als in Lübeck geboren, äußerst intelligent und politisch hoch motiviert. Schon mit sechzehn Jahren war er Mitglied der sozialistischen Arbeiterjugend geworden. Danach wechselte er in die SPD, aber schon bald wechselte er wieder in die sozialistische Arbeiterpartei und wurde Vorsitzender in dieser Jugendorganisation. Als solcher drohte ihm von den Nationalsozialisten Verbot und Verfolgung und er nahm den Decknamen Willy Brand an. Unter diesem Namen floh er später nach Norwegen, wo er als freier Journalist arbeitete. Er engagierte sich weiter politisch, musste aber mehrfach seinen Wohnsitz wechseln und seine politische Einstellung brachte ihn auf abenteuerlichen Wegen nach Barcelona, wo Bürgerkrieg herrschte, nach Berlin und wieder zurück nach Norwegen. Dort geriet er, in deutsche Kriegsgefangenschaft. Weil er nicht als Deutscher erkannt wurde, erhielt er im Jahre 1940 die norwegische Staatsbürgerschaft. ( Zeiten entnommen, aus der Chronik 1970)
Von der Laufbahn des Bundeskanzlers Willy Brandt, der nun in einer Koalition mit der FDP das Land führte, wussten nur wenige Bundesbürger, aber er führte das Land gradlinig und vertrauenswürdig. Er versuchte unter dem Motto “Wandel durch Annäherung“ in der DDR Vertrauen zu gewinnen, aber die DDR schottete sich ab. Es war schwierig, gute Kontakte zu finden und wirklich etwas zu bewegen. Walter Scheel, der Vorsitzende der FDP als Koalitionspartner, wurde Bundesaußenminister. Dieser FDP-Mann war den Bundesbürgern sehr sympathisch und jeder kannte das Lied: “Hoch auf dem gelben Wagen“, das er freimütig und mit guter Stimme, vor großem Publikum, während einer Fernsehübertragung, sang. Das Publikum liebte das Lied. Es blieb ein Hit.
Immer wieder ging auch der Blick nach “Drüben“. Die wirtschaftliche Lage der DDR-Bürger hatte sich nicht verbessert. Zwar hatte jeder Arbeit und man hatte sogar Inder und Vietnamesen ins Land geholt, weil DDR-Bürger aus Solidaritätsgründen in Kommunistischen Ländern lebten und dort arbeiteten, aber in der DDR Arbeitskräfte fehlten. Helga und viele DDR-Bürger mochten die Vietnamesen nicht und nannten sie „Vitschis“. Ihnen wurden mehr Kompetenzen eingeräumt als den eigenen Landsleuten. So durften diese Zuwanderer Jeans herstellen, die dann aber so teuer waren, dass DDR-Bürger sie nicht kaufen konnten.
Wenn auch niemand in der DDR hungern musste, so waren die Menschen doch von jeder Art Luxus ausgeschlossen. Zigaretten waren von schlechter Qualität. Kaffee war für die einfachen Leute unerschwinglich. Bier von bester Qualität wurde nach Amerika geliefert und war für DDR-Bürger nicht bezahlbar. Aber auch normale Lebensmittel und Obst waren nur zu den entsprechenden Jahreszeiten verfügbar. Südfrüchte gab es nur zu Weihnachten und Bananen überhaupt nicht. Überall mussten die Leute „Schlange“ stehen, wie es im Westen zwischen 1945 und 1948 während der Vorwährungszeit auch gewesen war. Lissy hielt weiterhin Kontakt mit Helga, der Lehrerin für blinde und körperbehinderte Kinder. Aus deren Briefen sprach eine große Unzufriedenheit. Sie hatten immer noch kein Telefon und an ein Kraftfahrzeug oder Motorrad war überhaupt nicht zu denken. Für Normalbürger war es fast unmöglich, einen Führerschein zu machen. Wartezeiten für den Führerschein bis zu zehn Jahren war keine Seltenheit. Vor allem dann, wenn man nicht Mitglied in der SED war. Was das für die jungen Männer bedeutete, wenn sie im sogenannten „West-Fernsehen“ sahen, dass in der BRD schon mancher Jugendliche mit achtzehn Jahren den Führerschein machen konnte, kann man sich heute gut vorstellen. Sie mussten zusehen, wenn diese ein Gebrauchtfahrzeug, wenn nicht gar einen neuen Kleinwagen von den Eltern bekamen, oder mindestens das Fahrzeug des Vaters benutzen durften. An den jungen Menschen in diesem anderen Deutschland gingen die ganzen technischen Errungenschaften vorbei. Sie waren die Verlierer des Krieges und sie hatten sich zu begnügen. Sie konnten sich nicht wehren und mussten zusehen.
Mit Gretel, der Freundin aus jungen Jahren in der Telegrafie in Düsseldorf, die inzwischen bei der Feldmühle in Düsseldorf als Telefonistin und Sekretärin arbeitete, und ihrem Ehemann Heinz, dem Englandheimkehrer aus Dresden, der sich aus einfachsten Anfängen empor gearbeitet hatte, hielt Lissy Kontakt.
Sie wohnten in einem Vorort von Düsseldorf und Heinz, der inzwischen als Lehrer bei der Firma Henkel arbeitete, war dort sehr eingespannt.
Sprachbegabt, hatte er neben seinem Schulfranzösisch und Latein, Spanisch gelernt (Englischkenntnisse erwarb er als Kriegsgefangener). Er betreute nun die vielen, bei der Firma Henkel arbeitenden Gastarbeiter aus Spanien und war auch zuständig für die Filialen der Firma im Ausland.
Lissy bewunderte Heinz, denn er hatte in ihren Augen durch Fleiß und Ausdauer, eine unwahrscheinliche Karriere gemacht. Als sie ihn kennen lernten, hatte er, weil sein in England begonnenes Architekturstudium nicht anerkannt wurde, und er ein Studium in Deutschland nicht bezahlen konnte, eine Schreinerlehre und danach die Meisterprüfung gemacht.
Er sorgte sich um seine Eltern, die in Dresden lebten. Er hatte seinen Vater, einen evangelischen Pfarrer, seit Jahren nicht gesehen. Ohne Reiseerlaubnis konnte er nicht in die DDR einreisen. Heinz galt als Republik- Flüchtling, weil er nach der Gefangenschaft nicht in die DDR zurückgekehrt war. Auch hätte er keine Einreiseerlaubnis bekommen.
Sein Vater hatte keine Ausreise beantragt, weil man ihn vielleicht nicht wieder ins Land gelassen hätte, denn in der DDR setzte man alles daran, die Menschen den Kirchen fernzuhalten, wenn man die Kirche auch nicht verbot. Er wollte seine Gemeinde nicht im Stich lassen, denn er befürchtete, dass man ihn, würde er ausreisen, nicht in die DDR hätte zurückkehren lassen.
In der DDR versuchte man die Religion auszuklammern und ersetzte Kommunion und Konfirmation durch die Jugendweihe.
Eines Tages aber bekam Heinz Mutter, weil sie nun im Rentenalter war, die Reisegenehmigung.
Wie irre das ganz System war, erkennt man daran, dass die Mutter ihrem Sohn nicht ihr altes Meissner Familien Porzellan, ein Kaffeeservice, schenken durfte. Nur wenn sie die gekreuzten Schwerter, das Original Markenzeichen aus dem Porzellan herausschmirgeln würde, könne sie es mitnehmen. Man machte ihr klar, dass Meissner Porzellan ein Exportgut für die DDR sei. An der Grenze müsste sie das Originalporzellan abgeben, sagte man ihr. So führte sie diese Maßnahme nur an einer Tasse und einem Teller durch und ließ das andere, unbeschädigte Porzellan in Dresden für den Fall, dass sich die Verhältnisse einmal bessern würden.
Heinz freute sich sehr, dass er endlich seine Mutter einmal wieder in die Arme schließen durfte und er war traurig, dass er seinen Vater nicht wiedersehen konnte. Hatten sie sich doch nun schon viele Jahre nicht gesehen.
Gerne wäre Lissy einmal in die DDR gefahren, aber Lothar hatte ja schon früher gesagt: „Ich setzte keinen Fuß mehr in ein sozialistisches Land und ich möchte nicht, dass du dich diesem Stress aussetzt!“
So führte Lissy ihre Korrespondenz mit Helga, der Ehefrau von Lothars Vetter, fort. Ein Din-A4-Ordner mit Helgas Briefen würde in Lissys Besitz bleiben.
Dass die DDR lange bestehen würde, wollte man eigentlich nicht glauben, denn Helga schrieb unentwegt, zwischen den Zeilen, von deren Untergang.
Dann rief, völlig verzweifelt, ihre Freundin Poldi aus Wien an.
Ihr Ehemann Karl-Heinz, der Prokurist der Telefonbaugesellschaft, der uns kurz zuvor mit seinem Klavier- und Akkordeon spielen so viel Freude bereit hatte, hatte einen schweren Herzinfarkt erlitten, und sollte nach Düsseldorf transportiert werden.
Lissy versprach…, Poldi vom Flughafen Düsseldorf abzuholen. Karl-Heinz wurde mit einem Krankentransport nach Düsseldorf in die Klinik gebracht.
Man sagt: „Ein Unglück kommt selten allein!“, was Lissy eigentlich als „dummen Spruch“ empfunden hatte.
Gleichzeitig, mit der Botschaft über den Herzinfarkt des Freundes, war auch Lothars Freund, Maximilian, schwer erkrankt…
Eine Duplizität der Ereignisse.
Lothar war mit Max wieder zum Nachmittagstreff verabredet gewesen…, doch wegen einer Verabredung mit einer Mandantin, welche ein Schmuckgeschäft in der Altstadt betrieb, bat er Max, einen Moment vor dem Geschäft auf ihn zu warten.
Als er das Geschäft verließ, sah er, dass Max in einer seltsamen Haltung an dem Schaufenster lehnte, und sich mit einer Hand abstützte und als er Lothar sah, verzweifelte Versuche machte, zu sprechen.
Lothar stützte ihn und sie gingen zum nicht weit entfernten Eigentum, dem Haus in dem Hettys Geschäft gewesen war. Der herbeigerufene Arzt leitete sofort die Einweisung ins Krankenhaus ein. Max hatte einen Schlaganfall erlitten.
Hetty war völlig verzweifelt. War doch ihr Ehemann zwei Stunden vorher aus dem Haus gegangen mit den Worten: „Ein paar Stunden mit dem Behrendt bringen mich wieder voll auf den Plan. Wir gehen ins Kunstmuseum!“
Die Beiden verband eine besondere, skurrile Sympathie und bestimmte Wortspielereien, die sie zwar bissig, aber nicht bösartig anwendeten.
Als Lothar nach Hause kam, bemerkte Lissy, dass er sehr nachdenklich, ja traurig war, aber er sprach nicht darüber.
Die Untersuchungen ergaben, dass Max eine schwere Leberentzündung hatte, und der Arzt meinte, er habe eine “Steinleber“ und frug: „Hat er viel Alkohol zu sich genommen?“
Hetty meinte: „Das Gläschen Wein am Abend kann es doch nicht gewesen sein und wir sind nie in den Kneipen gewesen…“
Maximilian, der Wortgewandte, fand die Sprache nicht wieder und starb mit neunundsechzig Jahren, nach vierzehntägigem Aufenthalt im Krankenhaus, und ließ nur Lothar als Besucher zu.
Er wollte nicht, dass Hetty oder Lissy ihn in einem solchen Zustand sahen. Das ließ sein Stolz auch jetzt nicht zu. Auf die Frage des Arztes, ob er seine Frau benachrichtigen, und sie ihn besuchen sollte, war das einzige Wort, das er hervorbrachte: “NEIN…!“ Er duldete nur Lothar und starb nach vierzehn Tagen in Wut und Trauer.
Lissy stand seiner Ehefrau zur Seite und Hetty, die die sich immer den Wünschen ihres Ehemannes untergeordnet hatte, entwickelte ungeahnte Kräfte. Nun stand sie im Mittelpunkt des Geschehens und war sich voll der Aufgabe bewusst, dass eine würdevolle Beerdigung organisiert werden musste.
Von Maximilians Seite gab es noch eine große, nicht enge Verwandtschaft.
Erstaunlich war, dass kein notarielles Testament vorlag. Max und Hetty hatten jeder für sich, Jahre zuvor, ein handschriftliches Testament verfasst, das jeweils den Ehepartner zum Alleinerben machte. Kinder gab es nicht und direkte Verwandte auch nicht.
Sechs Wochen dauerte es, bis Hetty die Alleinverfügung bekam, weil die Testamente überprüft werden mussten und keine Ansprüche Dritter vorlagen. Das war für Hetty eine fast unerträglich lange Zeit, in der die Verwandtschaft darauf lauerte, ob nicht doch etwas für sie dabei herausspringen würde. Hetty mochte diese Verwandten nicht, die sie nicht anerkannt hatten, obwohl sie vermögender war, als Max. Hetty triumphierte und erbte alles…
Auf der Beerdigungsfeier bemerkte Lissy eine stille Freude bei Hetty, die sich nun dieser ungeliebten Verwandtschaft überlegen fühlte, und im Stillen triumphierte.
Nach der Beerdigung hatte Hetty für die große Trauergesellschaft ein Essen in einem Restaurant bestellt, bei dem nichts fehlte und die große weitläufige Verwandtschaft bemühte sich sehr um die Witwe, die elegant gekleidet, in tiefem Schwarz mit einem extra in der Eile angefertigtem Hut, in der Mitte der Tafel residierte. Marianne war stolz auf ihre Chefin, die so souverän der Gesellschaft vorstand, wie nie zuvor. Immer hatte sie sich ihrem Ehemann untergeordnet und nun, als Hauptperson, im Besitz eines großen Vermögens, gab sie sich souverän dem Publikum gegenüber. Man hatte sie, die Geschäftsfrau eigentlich im Kreise der Akademiker und Beamten, nie richtig anerkannt und nun wurde sie umschwärmt, was sie genoss, und Lissy amüsierte das Getue der Verwandtschaft.
Während der Feierlichkeit suchte Lissy einmal die Toilette auf und während sie in der Kabine war, hörte sie folgendes Gespräch zweier Damen, die nach ihr den Raum betraten.
Dann wurde geflüstert und die Beiden verließen den Raum. Vielleicht hatten sie bemerkt, dass eine Kabine besetzt war.
Als Lissy wieder zu der Beerdigungsgesellschaft stieß, versuchte sie herauszufinden, wer diese beiden “trauernden“ Verwandten gewesen sein könnten, aber sie hatten alle die gleichen undurchdringlichen Trauerminen. Lissy dachte, dass Max dazu mit einem Augenzwinkern seine Bemerkungen gemacht hätte und…, schade, dass er mit neunundsechzig Jahren diese Bühne verlassen musste… Er war eine Ausnahmeerscheinung gewesen in dieser immer noch prüden und verlogenen, besitzgierigen Welt.
Kaum waren sie wieder zu Hause, als eine Nachricht vorlag, dass es Karl-Heinz sehr schlecht ginge und dass sie Poldi anrufen sollten und diese war nach längerem Aufenthalt an seinem Krankenbett, völlig entnervt.
Karl-Heinz hatte, als er von seiner schlimmen Erkrankung erfuhr, auf “stur“ geschaltet und wollte als “halber Mann“ nicht weiter leben. Er verweigerte…, das hatte Lissy noch nie gehört, den Stuhlgang, aber dann auch das Essen. Als der behandelnde Arzt ihm sagte, dass eine Zigarette ihn das Leben kosten könne, schaltete er auf stur.
Poldi war verzweifelt.
Karl-Heinz, der stets ehrgeizig seine Ziele verfolgt hatte, meinte nun, dass er nur noch ein Invalide sei, und wollte so nicht leben.
Die Ärzte waren ratlos. Seine Tochter, die er sehr liebte, wollte er nicht sehen. Er sei ein Wrack, sagte er…
Er war psychisch am Ende.
Poldi, die ebenfalls eine starke Raucherin war, stellte sofort das Rauchen ein, was sie ungeheure Kräfte gekostet haben musste, aber sie hielt durch. Sie sagte zu ihrem Ehemann: „Wenn Du auch nur noch eine Zigarette rauchst, bin ich weg…!“
Es dauerte mehr als ein Jahr, bis ihr Leiden um ihre Sucht geringer wurde und letztendlich gab auch er restlos auf. Aber er sagte: „Das Leben ist nur halb so schön!“
Durch diese Ereignisse hatte sich in ihrem Büro eine Menge unerledigter Korrespondenz angesammelt. Es mussten Termine vereinbart werden und eine neue Steuerprüfung stand an. Die Kinder mussten in die Schule…
Die Buchhalterin hatte Urlaub und so sprang Lissy wieder ein.
Die Arbeit wollte ihnen über den Kopf wachsen, weil alle diese privaten Ereignisse so zeitraubend waren.
Nach diesen aufregenden Tagen um Beerdigung und Krankheit der Freunde, sagte Lissy: „Jetzt ist Schluss, so geht das nicht weiter!“
An einem Wochenende fuhren sie wieder zum Westerwald. Das war der einzige Platz, an dem sie wieder zur Besinnung kamen, und dankbar erinnerte sich Lissy immer wieder an die stille Freude, die sie überkam, wenn sie draußen in der Natur sein konnte.
Allein…, mit den Kindern…, und den Tieren.
Lothar hatte eine außergewöhnliche Unruhe erfasst. Er machte lange Spaziergänge außerhalb der Ausritte, und ging abends manchmal noch in die Dorfkneipe um sich mit Nachbarn zu unterhalten und sich abzulenken.
Er sah abgespannt aus, und müde…, aber er gönnte sich, außerhalb der Nachtstunden, keine Ruhe. Maximilians Tod hatte ihn wohl sehr berührt. Es war
eine Freundschaft zwischen zwei unterschiedlichen Personen, wie sie größer nicht hätten sein können, die sich aber trotzdem ergänzten.
Was Lissy erstaunlich fand, war…, dass Lothar, wenn sie ihn schlafend sah, sehr entspannt aussah und ohne Schlafmittel und ohne Schnarchen, tief schlief, wie ein müdes Kind. Das rührte sie sehr. Er sah dann beschützt aus und schlief ohne
Ängste und wie er sagte…, fast traumlos. Das war nicht immer so gewesen, denn zu Beginn ihrer Bekanntschaft hatte er von Alpträumen gesprochen.
Eigentlich hatte sie nie herausfinden können, in welchen Gefühlswelten er sich wirklich befand. So…, wie er nicht über seine Gefühle sprach, frug er auch nicht nach der Gefühlswelt der Eltern, oder der von Lissy und den Kindern. Zumindest sprach er nicht darüber und vielleicht war dies auch der Grund, warum sie ihn nie hatte weinen sehen. Lissy vermutete, dass er während der Gefangenschaft alle Gefühlswelten verdrängt hatte, um zu überleben.
Lissy dagegen träumte die verrücktesten Dinge und eine Zeit lang hatte sie ein Traumbuch geführt. Die Träume musste sie jedoch sofort nach dem Aufwachen aufschreiben, denn ein paar Minuten später hatte sie sie wieder vergessen.
Manchmal fand sie ihre Träume beängstigend, aber sie nahm sie nicht mit in den Tag.
Später, wenn sie das zufriedene Schnauben der Pferde hörte, deren herben Geruch wahr nahm und mit Sommerwind…, den Himmel über sich und den Bäumen nah, fast lautlos durch den Wald ritt, welch eine Freude! Dann war Sie, tief glücklich!
Dieses Gefühl konnte sie, auch in späteren Zeiten immer wieder zurückholen und sie war froh, dass sie ihren Söhnen diese Erlebnisse in der Natur ermöglichen konnten.
„Wer weiß schon, was morgen ist?“ dachte sie…
Gerade in der letzten Zeit, nach den aufregenden Ereignissen um Maximilians Tod und der Krankheit von Karl-Heinz, war es ihr wieder bewusst geworden, wie zerbrechlich das Leben sein konnte… Ein Freund tot, ein Freund krank…
Alles hatte sich wieder verändert und manchmal war sie sehr traurig.
Hier war es gut, dass der Alltag sie wieder voll in den Fängen hatte und dass sie durch die Kinder, die Arbeit, und den Umgang mit den Mandanten abgelenkt wurden.
Lissy las den Roman „Der geschenkte Gaul“ von Hildegard Knef.
Diese Schauspielerin hatte Lissy in ihrer Jugend sehr bewundert und sich im Stillen mit ihr verglichen. Nur war diese Frau bedeutend mutiger gewesen als Lissy und hatte den Kampf mit dem Leben, und für das Leben, kompromissloser geführt. Sie war altersgleich und hatte die gleichen, oder ähnliche Erfahrungen gemacht, wie Lissy. Nur dass Lissy keine berühmte Schauspielerin wurde, was nicht heißen soll, dass sie nicht auch Schauspielfähigkeiten ausleben konnte und auch oft brauchte. Sie hatte ja schon in jungen Jahren gesagt: „Eine barmherzige Lüge ist besser als eine hausbackene Wahrheit!“
Die Wochen flogen dahin! Tim und Jorgi gingen nun zum Kommunionunterricht. Der Pfarrer der Gemeinde, ein sehr freundlicher Geistlicher, erlaubte den Müttern am Unterricht teilzunehmen. Lissy hatte keine guten Erinnerungen an den eigenen Kommunionunterricht, aber das war zu der Zeit gewesen, als Lissys Vater im Sterben lag und Anna, ihre Mutter, keine Zeit hatte, Lissy zu begleiten. So war sie schon mit neun Jahren sehr selbständig geworden. Nun aber nahm sie die Gelegenheit wahr. Der Unterricht war sehr locker und kein Vergleich zu Lissys Unterricht durch Fräulein Dornseifer, welche die Kinder bis zum äußersten getrieben hatte, indem diese seitenlange Passagen aus dem Katechismus auswendig lernen mussten und die sie wegen ihrer Sünden, mit ewigen Höllenqualen bedrohte.
Lissy konnte sich von der großen Unterschiedlichkeit der Kinder überzeugen und es gab eine Menge zum Schmunzeln. Der Pfarrer hatte Humor.
Einmal frug er: „Welche Geräte in der Messe sind heilig?“
Die Kinder antworteten: „Der Altar, die Hostie und der Messwein…“
Aufgeregt sagte ein kleiner Junge: „Vor allen Dingen der Teller!“ „ Welcher Teller?“ fragte Pfarrer. „Ja…, der Teller mit dem der Küster durch die Bänke geht und den Eintritt kassiert!“ Darauf sagte der Pfarrer: „Man darf nicht fluchen, fluchen ist eine schwere Sünde!“ Ein kleiner Junge in Seppelhosen sagte ganz aufgeregt: „Mein Papa ist kein Sünder, der hat gesagt:„Himmi, Herrgott, sacra, ist der Depp mir doch vor die Karre gefahren! Das…, Herr Pastor is koa Sünd net, hot der Papa gesagt!“
Die Kinder nahmen den Unterricht ernst, aber als sie zur Beichte mussten, wollte Tim, der das im Stillen blöd fand, sich drücken. Oma Anna war mit zur Kirche gegangen und Tim setzte sich in die Bank vor dem Beichtstuhl. Nach einer Weile stand er auf, um die Kirche zu verlassen. Anna sprach ihm Mut zu und sagte: „Das ist doch nicht so schlimm…, so große Sünden kannst du ja gar nicht begangen haben!“ Er fügte sich mit Widerwillen. Auf dem Zettel, auf dem er seine Sünden notiert hatte, stand: . Den Zettel hatte er wohl vergessen und Lissy fand ihn durch Zufall.
Ob er jemals wieder zur Beichte gegangen war, darüber wurde nicht mehr gesprochen. Im Westerwald in der Dorfkirche konnte jeder, still für sich beichten und die Sünden wurden von dem Aushilfsgeistlichen aus Rossbach vergeben.
Jorgi hatte die Beichte mit Unterstützung von Oma Gertrud bewältigt.
Als er nach Hause kam, fragte er Lissy ironisch, mit seinem unverwechselbaren Charme: „Mams…, bin ich jetzt heilig?“
Da beide Kinder zur Kommunion gingen, wurde es eine große Feier, mit einem Mittagessen bei „Annebill“ (An de Bell).
Leider gab es dann noch Tränen. Der junge Koch hatte einen zauberhaften Nachtisch bereitet. Eine Burg aus Eis, mit Burgmauer und Zinnen, Brunnen und Burg -Turm. Das Kunstwerk wurde herumgezeigt und allseits bewundert und dann kam der Koch mit einem großen Messer, um das Eis nach Wunsch der Gäste zu teilen und zu verteilen.
Jorgi, der sich so sehr über die Burg gefreut hatte, musste nun zusehen, wie dieses Kunstwerk roh auseinandergeschnitten wurde und als dann Oma Gertrud noch rief: „Und ich bekomme den Durm!“ ( sächsisch), war es um ihn geschehen. Er weinte und war tief erregt. Erinnerte ihn doch diese Eis Burg an die Burg Pyrmont, die ihn tiefer beeindruckt hatte, als Lissy dachte.
Lothar tröstete ihn und trocknete seine Tränen. Lissy war erstaunt über Lothars zärtliche, fürsorgliche Art und Lissy sagte: „Ich hab die Burg fotografiert, und einen Teil lasse ich einfrieren, den kannst Du dann morgen mit Deinen Freunden genießen“. Als er “Freunde“ hörte, war alles gut. Nichts konnte Jorgi mehr Freude bereiten, als mit seinen Freunden zusammen zu sein. Das sollte sich in seinem Leben fortsetzen und „Freunde“, sagte er später, “Freunde kann man nie genug haben.“
Kaffee, Kuchen und Abendessen gab es dann zu Hause, aber für Lissy war es ein Stress ohne Gleichen, denn die Hilfe, die sie engagiert hatte, war mit den Aufgaben völlig überfordert und nicht im Stande, ein kaltes Buffet für so viele Personen anzurichten. So war Lissy Gastgeberin und Köchin zugleich und total gestresst, aber für die Kinder war es ein wunderbares Fest.
Nun hatte der Alltag sie wieder und der ganze „Dreh“ fing von vorne an.
Karl-Heinz ging es nach und nach besser, aber dann erfasste ihn ein Drang…, das Leben zu verändern. Seine berufliche Tätigkeit konnte er nicht mehr ausüben.
Er war gerade über fünfzig und hatte noch so viele Pläne für die Telefonbau-Firma gehabt.
Gerade für die Menschen, die nach dem Krieg den Aufbau geleistet hatten, war es schwer, ihr Arbeitsfeld zu verlassen und in den vorzeitigen Ruhestand zu gehen.
Das Jahr 1970 hatte wirtschaftlich ereignisreich begonnen, denn die Sowjetunion schloss große Verträge mit deutschen Firmen ab, so auch mit einer stahlverarbeitenden Weltfirma. Der Zufall wollte es, dass Lothar für einen Mandanten, Auslandsdirektor dieser Firma, die private Steuerklärung erstellte, welche die Jahre 1969 - 1970 betraf, und nun im Jahr 1971 abgerechnet werden musste.
Dieser Mandant legte großen Wert auf Lothars Beratung, denn das Geschäft mit dem totalen Regime, das er in Moskau abzuwickeln hatte, unterlag einer besonderen Besteuerung. Lothar hatte gute Empfehlungen.
Es begann mit einer Einladung für Lothar und Lissy zum Abendessen. Hier trafen sie auch die Ehefrau des Mandanten wieder, die sie zuvor schon im Freundeskreis kennen gelernt hatten.
Die Ehefrau des Direktors der Riesen-Stahl-Firma war eine eher bescheidene Frau, die ganz unter dem Einfluss ihres charmanten und äußerst cleveren Ehemannes stand. Er war einer der ersten Manager, die Lissy kennen lernte, denn Management war für viele Menschen in dieser Zeit noch ein wenig bekannter Begriff.
Sie hatten einen kleinen Sohn, der aber nicht anwesend war.
Der sehr gut aussehende, charmante Manager aus einer belgischen Fabrikanten-familie sprach neben anderen Sprachen auch Russisch.
Etwas ungewöhnlich fand Lissy, dass Herr van… sie nach dem Essen zum Kaffee in eine Fensternische führte und bei einem Cognac, so empfand sie es, ihre Loyalität prüfen wollte.
Lissy hatte schon mehrfach Misstrauen erlebt, denn man war noch nicht so sehr daran gewöhnt, dass Frauen in die Geheimnisse des Geschäftslebens ihrer Ehemänner eingeweiht waren, und besonders dann nicht, wenn es um die Finanzen ging. Schließlich würden ja auch privateste Angelegenheiten bekannt werden, und da kann man nicht vorsichtig genug sein…
Doch schien er von Lissys Integrität überzeugt zu sein und anschließend wurde es eine angenehme, kontrastreiche Abendunterhaltung.
Das von ihm verhandelte Millionen-Geschäft in Russland kam zum Tragen: Erdgas gegen Großröhren in Essen…
Der Manager wurde von einem ledigen, russischen Fahrer mit einem Wolga, einem Gastgeschenk der russischen Regierung, zurück nach Düsseldorf gebracht.
Auf Wunsch des deutschen Direktors ihres Mandanten, erhielt der Fahrer eine Ausreisegenehmigung und durfte in West-Germany bleiben.
So zu sagen als Gastgeschenk.
Ihm wurde eine Arbeitsstelle bei der Stahlfirma zugesagt und selten hatte Lissy einen so überschäumend glücklichen Menschen gesehen. Eigens wegen dieses Geschäftes mit Russland, machte die ganze Abteilung des Managers samt Lothar und Lissy und dem russischen Fahrer einen Ausflug an die Mosel, mit Übernachtung und Frühstück, bei dem der Russe Volksweisen sang.
Der Auslandsdirektor blieb Lothars Mandant.
Des Managers Ehe ging auseinander…
Ein halbes Jahr später heiratete er eine aus Rumänien stammende Gräfin.
Diese Dame benahm sich sehr hochnäsig und Lissy wunderte sich, dass dieser außergewöhnliche Manager und reiche Mann eine solche Frau heiratete.
Sie frug Lissy, ob sie ihr eine Masseurin empfehlen könne, und Lissy empfahl ihr eine Mandantin, die Kunden in höchsten Sportkreisen hatte, und die Lissy auch einer berühmten Schauspielerin empfohlen hatte, die zur dieser Zeit in Düsseldorf gastierte.
Zuerst hatte sich die Rumänin mit der Masseurin um das Honorar gestritten und dann noch verlangt, dass diese auch Putzarbeiten im Haus übernehmen sollte. Daraufhin hatte die Masseurin fluchtartig deren Haus verlassen, ohne tätig geworden zu sein.
Der kleine Junge aus der ersten Ehe kam in ein bedeutendes Internat, denn die Gräfin wollte keine Kinder und schon gar keine aus erster Ehe.
Lissy fand das traurig, aber der Vater des Jungen sagte: „Ich bin auch in einem Internat groß geworden, und es hat mir nicht geschadet! Seine leibliche Mutter ist zu nachgiebig!“
Bei einer anderen Gelegenheit traf Lissy anlässlich eines Empfangs, die Mutter des Jungen, die sich völlig verändert, und einen Großhandel mit Japanischen Perlen übernommen hatte. Das stille Mäuschen hatte sich in eine charmante Geschäftsfrau verwandelt und ihre Geschäfte gingen gut. Sie war erfolgreich, denn Perlen waren groß im Trend.
Nun wurde auch sie Lothars Mandantin.
Sie war von dem Glanz ihres Ehemannes total in den Hintergrund gedrängt worden und konnte sich an seiner Seite nicht entfalten. Doch daran hatte er keine Schuld getragen, denn sie hatte sich selbst klein gemacht. Sie sagte: „Mein Mann hat mich großzügig entschädigt und meinen Sohn sehe ich in allen Ferien. Es geht ihm gut! Sie sehen, ich bin glücklich und einen neuen Partner brauche ich im Augenblick nicht. Vielleicht läuft mir irgendwann der Richtige über den Weg!“
Lissy sagte in Bewunderung: „Die Scheidung hat ihnen gut getan!“
Einige Damen der Partygäste, die das gehört hatten, rümpften über Lissys Ausspruch die Nase, aber Lissy dachte, diese wären sicher gerne an Stelle der Perlenmanagerin gewesen…
Durch diese Mandantin kam Lissy dann auch in den Besitz einer wundervollen, echten Perlenkette, die Lothar ihr schenkte.
Ungefähr ein Jahr später las Lissy in einer Todesanzeige, dass der Direktor einer namhaften Stahlfirma auf tragische Weise, bei einem Autounfall ums Leben gekommen war.
Intern erfuhren sie, dass es ihr Mandant war, der während einer Konferenz, infarktgefährdet zusammen gebrochen war. Im firmeneigenen Krankenwagen sollte er ins Krankenhaus transportiert werden und auf diesem Wege wurde der Krankenwagen von einem Lastwagen gerammt, dessen Fahrer unter Alkoholeinfluss stand. Der Patient und der Fahrer des Krankenwagens wurden tödlich verletzt und eine außergewöhnliche Karriere wurde jäh beendet. Der Lastwagenfahrer überlebte, kaum verletzt.
Der erfolgreiche, schöne Mensch, der vielsprachige, erfolgreiche Manager, war mit achtundvierzig Jahren an den Unfallfolgen gestorben. Lissy wollte es nicht glauben. Stand er doch noch ein paar Tage zuvor, gesund und strahlend neben ihr.
„Es gibt keine Sicherheit“, sagte Lothar.
Er war sehr nachdenklich, als er wieder den dunklen Anzug tragen musste, denn er hatte nun schon so vielen Beerdigungen beiwohnen müssen. Das wurde von den Firmen und sonstigen Mandanten erwartet, aber es war für Lothar immer wieder ein Angang und an diesem Tag sagte er zu Lissy: „Lange wird es bei mir auch nicht mehr dauern, ich habe geträumt, ich wäre gestorben!“
Nach dem Frühstück meinte er Lissy erklären zu müssen, was sie dann alles unternehmen müsse. Lissy frug ihn, wie er darauf käme, dass er mit gerade fünfzig sterben müsse und er meinte: „Ich habe das so ausführlich geträumt!“ Lissy sagte: „Lass die trüben Gedanken. Du bist viel zu jung, um an den Tod zu denken!“ Da wusste sie aber nicht, dass er bei einer Generaluntersuchung, die er hatte durchführen lassen, erfuhr, dass er eine Leberentzündung hatte. Das hatte er ihr zu dem Zeitpunkt nicht gesagt und da er weiter Bier und Wein konsumierte, dachte Lissy, er sei gesund. Der Alkohol hatte doch wohl einen großen Schaden bei ihm verursacht. Konnte es sein, dass er Alkoholiker war, und was und wer war eigentlich Alkoholiker?
Lissy machte sich große Sorgen…
In diesen Jahren achtete man nicht auf den Alkoholkonsum und die Folgen.
Unentwegt wurden Getränke angeboten, doch hatte Lissy ihren Ehemann nie wirklich betrunken gesehen. So dass er nicht mehr sicher auf den Beinen gewesen wäre, oder gelallt hätte, was sie schon bei vielen Bekannten gesehen hatte. Sie hätte aber auch, wenn sie etwas zum Konsum gesagt hätte, keinen Erfolg gehabt…
Auch wusste sie nicht, was er bei seinen Abendterminen machte. Wo, und mit wem er zusammen war. Er wurde, weil er sehr gesellig war, oft eingeladen und seine Mandanten gingen gerne mit ihm aus. Das war ein sehr ungesunder Teil des Unternehmens.
Manchmal wollte Lissy gar nicht glauben, dass sie nun dreiundzwanzig Jahre verheiratet, und die Kinder nun ins Teenageralter kamen. Die Zeit raste dahin und nun wohnten sie schon zwanzig Jahre auf der Allee.
Der Westerwald war seit zehn Jahren ihre zweite Heimat und ein Entspannungsfeld, wie man es sich besser nicht vorstellen konnte. Die Natur, die Pferde und das Familienleben konnten sie hier genießen.
Ihre Sorge um Lothar war zwar nicht unberechtigt, aber dass sie sich selbst einer Operation unterziehen müsste, daran hatte sie nicht gedacht.
Es war eine Frauengeschichte, die der Arzt als ungefährlich bezeichnet hatte, die aber so aus den Fugen geraten war, dass dann doch eine schwere Operation erfolgen musste. Die zeitweiligen Beschwerden hatte Lissy mit der Bemerkung: „Das sind sicher beginnende Wechseljahrs-Erscheinungen“, abgetan.
Gewiss, sie fühlte sich manchmal nicht wohl, aber sie dachte: „Ich mache zu viel, ich bin dauernd im Stress!“ Aber an so etwas hatte sie nicht gedacht… Totaloperation! Kein Krebs… Das war dann beruhigend…
Eine Woche später lag sie im Krankenhaus der Diakonie Kaiserswerth und Herr Professor Müller sagte…: „Sie kommen als Erste dran. Sie haben morgen Geburtstag, wie meine Frau, und sollen nicht lange warten!“
Dieser Arzt hatte eine Ausstrahlung, die man sich von Ärzten wünscht und die man selten erlebt. Er erklärte alles genau und Lissy fühlte sich gut aufgehoben, wenngleich sie auch Angst hatte, vor dieser Operation.
Ihre Sorge um fehlende Hormone nach dieser Operation, zerstreute er mit den Worten: „Sie produzieren wegen ihrer Erkrankung im Augenblick wenig Hormone und die Wechseljahre werden auch die Hormonbildung vermindern.
Ich verordne Ihnen entsprechende Hormone, die sie allerdings dann regelmäßig nehmen müssen. Sie werden sehen…, es wird nichts fehlen.“
In ihr Notizbuch schrieb sie einen Abschiedsgruß an Lothar und ihre Mutter für den Fall, dass sie aus der Narkose nicht mehr erwachen würde, und am Morgen vor der Operation hörte sie im Radio Teile aus einem Violinkonzert, das sie sehr beruhigte.
Die Operation verlief gut, aber als sie erwachte, stand ein Sauerstoffgerät neben ihrem Bett. Sie fühlte sich ausgehöhlt und sterbensmüde. Lothar und Ärzte waren im Zimmer, es hatte wohl doch Komplikationen gegeben. Als Lothar ihr von Anna einen Strauß Nelken auf die Decke legte, sagte sie: „ Danke, nimm die Blumen mit!“ Sie spürte nur den kühlenden Luftstrom, der ihr das Atmen erleichterte. Es dauerte aber nicht lange und die Lebensgeister kamen zurück.
Diese Operation hatte ihr, wie sie nachher erfuhr, das Leben gerettet.
Das Jahr 1970 hatte wirtschaftlich ereignisreich begonnen, denn die Sowjetunion hatte große Verträge mit deutschen Firmen abgeschossen, so auch mit einer stahlverarbeitenden Weltfirma im Ruhrgebiet. Der Zufall wollte es, dass Lothar für einen Mandanten, Auslandsdirektor dieser Firma, die private Steuerklärung erstellte, welche die Jahre 1969 - 1970 betraf, und nun im Jahr 1971 abgerechnet werden musste. Dieser Mandant legte großen Wert auf Lothars Beratung, denn das Geschäft mit dem totalen Regime, das er in Moskau abzuwickeln hatte, unterlag einer besonderen Besteuerung. Lothar hatte gute Empfehlungen. Es begann mit einer Einladung für Lothar und Lissy zum Abendessen. Hier trafen sie auch die Ehefrau des Mandanten wieder, die sie zuvor schon im Freundeskreis kennen gelernt hatten. Die Ehefrau des Direktors der Riesen-Stahl-Firma war eine eher bescheidene Frau, die ganz unter dem Einfluss ihres charmanten und äußerst cleveren Ehemannes stand. Er war einer der ersten Manager, die Lissy kennen lernte, denn Management war für viele Menschen in dieser Zeit noch ein wenig bekannter Begriff.Sie hatten einen kleinen Sohn, der aber nicht anwesend war. Der sehr gut aussehende, charmante Manager aus einer belgischen Fabrikantenfamilie sprach neben anderen Sprachen auch Russisch.Etwas ungewöhnlich fand Lissy, dass Herr van… sie nach dem Essen zum Kaffee in eine Fensternische führte und bei einem Cognac, so empfand sie es, ihre Loyalität prüfen wollte. Lissy hatte schon mehrfach Misstrauen erlebt, denn man war noch nicht so sehr daran gewöhnt, dass Frauen in die Geheimnisse des Geschäftslebens ihrer Ehemänner eingeweiht waren, und besonders dann nicht, wenn es um die Finanzen ging. Schließlich würden ja auch privateste Angelegenheiten bekannt werden, und da kann man nicht vorsichtig genug sein…Doch schien er von Lissys Integrität überzeugt zu sein und anschließend wurde es eine angenehme, kontrastreiche Abendunterhaltung. Das von ihm verhandelte Millionen-Geschäft in Russland kam zum Tragen: Erdgas gegen Großröhren in Essen… Der Manager wurde von einem ledigen, russischen Fahrer mit einem Wolga, einem Gastgeschenk der russischen Regierung, zurück nach Düsseldorf gebracht.Auf Wunsch des deutschen Direktors ihres Mandanten, erhielt der Fahrer eine Ausreisegenehmigung und durfte in West-Germany bleiben. So zu sagen als Gastgeschenk. Ihm wurde eine Arbeitsstelle bei der Stahlfirma zugesagt und selten hatte Lissy einen so überschäumend glücklichen Menschen gesehen. Eigens wegen dieses Geschäftes mit Russland, machte die ganze Abteilung des Managers samt Lothar und Lissy und dem russischen Fahrer einen Ausflug an die Mosel, mit Übernachtung und Frühstück, bei dem der Russe Volksweisen sang. Der Auslandsdirektor blieb Lothars Mandant. Des Managers Ehe ging auseinander… Ein halbes Jahr später heiratete er eine aus Rumänien stammende Gräfin. Diese Dame benahm sich sehr hochnäsig und Lissy wunderte sich, dass dieser außergewöhnliche Manager und reiche Mann eine solche Frau heiratete. Sie frug Lissy, ob sie ihr eine Masseurin empfehlen könne, und Lissy empfahl ihr eine Mandantin, die Kunden in höchsten Sportkreisen hatte, und die Lissy auch einer berühmten Schauspielerin empfohlen hatte, die zur dieser Zeit in Düsseldorf gastierte. Zuerst hatte sich die Rumänin mit der Masseurin um das Honorar gestritten und dann noch verlangt, dass diese auch Putzarbeiten im Haus übernehmen sollte. Daraufhin hatte die Masseurin fluchtartig deren Haus verlassen, ohne tätig geworden zu sein.Der kleine Junge aus der ersten Ehe kam in ein bedeutendes Internat, denn die Gräfin wollte keine Kinder und schon gar keine aus erster Ehe. Lissy fand das traurig, aber der Vater des Jungen sagte: „Ich bin auch in einem Internat groß geworden, und es hat mir nicht geschadet! Seine leibliche Mutter ist zu nachgiebig!“Bei einer anderen Gelegenheit traf Lissy anlässlich eines Empfangs, die Mutter des Jungen, die sich völlig verändert, und einen Großhandel mit japanischen Perlen übernommen hatte. Das stille Mäuschen hatte sich in eine charmante Geschäftsfrau verwandelt und ihre Geschäfte gingen gut. Sie war erfolgreich, denn Perlen waren groß im Trend. Nun wurde auch sie Lothars Mandantin. Sie war von dem Glanz ihres Ehemannes total in den Hintergrund gedrängt worden und konnte sich an seiner Seite nicht entfalten. Doch daran hatte er keine Schuld getragen, denn sie hatte sich selbst klein gemacht. Sie sagte: „Mein Mann hat mich großzügig entschädigt und meinen Sohn sehe ich in allen Ferien. Es geht ihm gut! Sie sehen, ich bin glücklich und einen neuen Partner brauche ich im Augenblick nicht. Vielleicht läuft mir irgendwann der Richtige über den Weg!“ Lissy sagte in Bewunderung: „Die Scheidung hat Ihnen gut getan!“Einige Damen der Partygäste, die das gehört hatten, rümpften über Lissys Ausspruch die Nase, aber Lissy dachte, diese wären sicher gerne an Stelle der Perlenmanagerin gewesen…Durch diese Mandantin kam Lissy dann auch in den Besitz einer wundervollen, echten Perlenkette, die Lothar ihr schenkte.Ungefähr ein Jahr später las Lissy in einer Todesanzeige, dass der Direktor einer namhaften Stahlfirma auf tragische Weise, bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Intern erfuhren sie, dass es ihr Mandant war, der während einer Konferenz, infarktgefährdet zusammen gebrochen war. Im firmeneigenen Krankenwagen sollte er ins Krankenhaus transportiert werden und auf diesem Wege wurde der Krankenwagen von einem Lastwagen gerammt, dessen Fahrer unter Alkoholeinfluss stand. Der Patient und der Fahrer des Krankenwagens wurden tödlich verletzt und eine außergewöhnliche Karriere wurde jäh beendet. Der Lastwagenfahrer überlebte, kaum verletzt. Der erfolgreiche, schöne Mensch, der vielsprachige, erfolgreiche Manager, war mit achtundvierzig Jahren an den Unfallfolgen gestorben. Lissy wollte es nicht glauben. Stand er doch noch ein paar Tage zuvor, gesund und strahlend neben ihr.„Es gibt keine Sicherheit“, sagte Lothar. Er war sehr nachdenklich, als er wieder den dunklen Anzug tragen musste, denn er hatte nun schon so vielen Beerdigungen beiwohnen müssen. Das wurde von den Firmen und sonstigen Mandanten erwartet, aber es war für Lothar immer wieder ein Angang und an diesem Tag sagte er zu Lissy: „Lange wird es bei mir auch nicht mehr dauern, ich habe geträumt, ich wäre gestorben!“Nach dem Frühstück meinte er Lissy erklären zu müssen, was sie dann alles unternehmen müsse. Lissy frug ihn, wie er darauf käme, dass er mit gerade fünfzig sterben müsse und er meinte: „Ich habe das so ausführlich geträumt!“ Lissy sagte: „Lass die trüben Gedanken. Du bist viel zu jung, um an den Tod zu denken!“ Da wusste sie aber nicht, dass er bei einer Generaluntersuchung, die er hatte durchführen lassen, erfuhr, dass er eine Leberentzündung hatte. Das hatte er ihr zu dem Zeitpunkt nicht gesagt und da er weiter Bier und Wein konsumierte, dachte Lissy, er sei gesund. Der Alkohol hatte doch wohl einen großen Schaden bei ihm verursacht. Konnte es sein, dass er Alkoholiker war, und wer war wirklich Alkoholiker? Lissy machte sich große Sorgen…In diesen Jahren achtete man nicht auf den Alkoholkonsum und dessen Folgen.Unentwegt wurden Getränke angeboten, doch hatte Lissy ihren Ehemann nie wirklich betrunken gesehen. So dass er nicht mehr sicher auf den Beinen gewesen wäre, oder gelallt hätte, was sie schon bei vielen Bekannten gesehen hatte. Sie hätte aber auch, wenn sie etwas zum Konsum gesagt hätte, keinen Erfolg gehabt…Auch wusste sie nicht, was er bei seinen Abendterminen machte. Wo, und mit wem er zusammen war. Er wurde, weil er sehr gesellig war, oft eingeladen und seine Mandanten gingen gerne mit ihm aus. Das war ein sehr ungesunder Teil des Unternehmens. Manchmal wollte Lissy gar nicht glauben, dass sie nun dreiundzwanzig Jahre verheiratet war, und die Kinder nun ins Teenageralter kamen. Die Zeit raste dahin und sie wohnten schon zwanzig Jahre auf der Allee.Der Westerwald war seit zehn Jahren ihre zweite Heimat und ein Entspan-nungsfeld, wie man es sich besser nicht vorstellen konnte. Die Natur, die Pferde und das Familienleben konnten sie hier genießen. Ihre Sorge um Lothar war zwar nicht unberechtigt, aber dass sie sich selbst einer Operation unterziehen müsste, daran hatte sie nicht gedacht.Es war eine Frauengeschichte, die der Arzt als ungefährlich bezeichnet hatte, die aber so aus den Fugen geraten war, dass dann doch eine schwere Operation erfolgen musste. Die zeitweiligen Beschwerden hatte Lissy mit der Bemerkung: „Das sind sicher beginnende Wechseljahrs-Erscheinungen“, abgetan. Gewiss, sie fühlte sich manchmal nicht wohl, aber sie dachte: „Ich mache zu viel, ich bin dauernd im Stress!“ Aber an so etwas hatte sie nicht gedacht… Totaloperation! Kein Krebs… Das war dann beruhigend…Eine Woche später lag sie im Krankenhaus der Diakonie Kaiserswerth und Herr Professor Müller sagt: „Sie kommen als Erste dran. Sie haben morgen Geburtstag, wie meine Frau, und sollen nicht lange warten!“ Dieser Arzt hatte eine Ausstrahlung, die man sich von Ärzten wünscht und die man selten erlebt. Er erklärte alles genau und Lissy fühlte sich gut aufgehoben, wenngleich sie auch Angst vor dieser Operation hatte.Ihre Sorge um fehlende Hormone nach dieser Operation, zerstreute er mit den Worten: „Sie produzieren wegen ihrer Erkrankung im Augenblick wenig Hormone und die Wechseljahre werden auch die Hormonbildung vermindern. Ich verordne Ihnen entsprechende Hormone, die sie allerdings dann regelmäßig nehmen müssen. Sie werden sehen…, es wird nichts fehlen.“ In ihr Notizbuch schrieb sie einen Abschiedsgruß an Lothar und ihre Mutter für den Fall, dass sie aus der Narkose nicht mehr erwachen würde, und am Morgen vor der Operation hörte sie im Radio Teile aus einem Violinkonzert, das sie sehr beruhigte. Die Operation verlief gut, aber als sie erwachte, stand ein Sauerstoffgerät neben ihrem Bett. Sie fühlte sich ausgehöhlt und sterbensmüde. Lothar und Ärzte waren im Zimmer, es hatte wohl doch Komplikationen gegeben. Als Lothar ihr von Anna einen Strauß Nelken auf die Decke legte, sagte sie: „ Danke, nimm die Blumen mit!“ Sie spürte nur den kühlenden Luftstrom, der ihr das Atmen erleichterte. Es dauerte aber nicht lange und die Lebensgeister kamen zurück.Diese Operation hatte ihr, wie sie nachher erfuhr, das Leben gerettet.
Wirtschaftlich ging es “Berg-auf“. Viele, der im Krieg zerstörten Wohnhäuser wurden renoviert, aber es würde noch lange dauern, bis alle Schäden beseitigt sein würden. Eine neue Industrie entstand. Es war eine Zeit des Aufschwungs. Mode wurde „groß“ geschrieben. Die Königsallee in Düsseldorf war zur Flaniermeile geworden. Mode- und Schmuck, feines Porzellan, italienische Schuhe, Pelze, ein Kino und das TABARIS, ein Tanz Cafe, machten einander Konkurrenz. Man nannte Düsseldorf die “Modestadt am Rhein“.Auch in der Altstadt gab es mehrere Tanzlokale, aber die Musik hatte an Lautstärke gewonnen und drang bis hinaus auf die Straße. In den Lokalen konnte man sein eigenes Wort nicht verstehen. Den Jugendlichen schien der Krach nichts auszumachen, sie setzten dann ihre Kopfhöher auf Viele Düsseldorfer vermissten die gemütliche Altstadtatmosphäre, aber die Tanzlokale waren gut besucht.Die Nachbarstädte setzten Busse ein, um Altstadtbesucher aus den Städten Duisburg, Essen und aus der näheren Umgebung zu transportieren.Junggesellen-Abschiede wurden alkoholstark gefeiert und laut grölend zogen die jungen Männer durch die Altstadt, aber auch Einheimische mischten die Stimmung auf und manchmal gab es Schlägereien, aus nichtigem Grund. Die Polizei musste ständig „Vor Ort“ sein. Die Altstadt musste jeden Tag vollkommen gereinigt werden. Lothar und Lissy gingen gerne zum Essen in die Brauereigaststätten. Dort herrschte noch eine Altstadtstimmung, wie in früheren Zeiten. Die Kellner, die auch “„Köbes“ genannt wurden, bedienten in blauen Strickjacken und Schürzen und manche sprachen auch Düsseldorfer “Platt“. Das Essen war deftig aber immer aus frischen Zutaten. Die Gäste fühlten sich wohl.Inzwischen waren nicht nur die Geschäfte im Zentrum der Altstadt in Gaststätten oder “Fressbuden“ umgerüstet. Man nannte die Altstadt: „Die Längste Theke der Welt“Die Gaststätten brachten natürlich höhere Mieten ein, als eine Metzgerei oder eine Bäckerei. Verständlich, dass Hausbesitzer ihre Chance wahrnahmen, und ihre Geschäfte in Gaststätten und Schnellimbisse umrüsteten. Die Mieten stiegen in der Altstadt um ein Vielfaches und die Hauseigentümer brauchten sich um ihr Einkommen nicht zu sorgen.Auch Hetty musste wegen einer Erkrankung das Geschäft aufgeben. Sie zog in ihr Haus in Kaiserswerth, denn Wäsche für die stärkere Dame, Babysachen und Kittelschürzen waren hier nicht mehr gefragt. Hetty vermietete das Haus und Lothar handelte den Mietpreis aus. Das Geschäft wurde zu einem Abendlokal. Das hätte eine Weile funktionieren können, wenn nicht bekannt geworden wäre, dass in dem Lokal Rauschgifthandel stattgefunden hatte, wovon Lothar aber erst durch die Tageszeitung erfuhr. Ein neuer Mieter musste gefunden werden. Ein früherer Brauereidirektor, der schon zwei Lokale in der Altstadt unter Vertrag hatte, wollte das “große Geschäft“ machen. Hetty ließ sich leider von einem Verwandten, einem Rechtsanwalt, der auf das Erbe spekulierte überreden, diesem Menschen zu vertrauen. Sie vermietete ihr Haus an den früheren Brauereidirektor, ohne Lothar zu konsultieren, der von diesem Mieter schon von anderer Seite gehört hatte, dass er nicht ganz koscher sei. Nun hatte Lothar keinen Einfluss mehr. Der neue Mieter hatte Hetty einen Vertrag vorgelegt der besagte, dass er die in den oberen Stockwerken liegenden Räume vollkommen renovieren lassen würde, um ein seröses Hotel für Messebesucher einzurichten.Lothar, den Hetty und früher Max, bei allen Verträgen, Steuersachen und dergl. zu Rate zog, wäre gegen diese Art von Vermietung gewesen. Denn Hetty hatte in blindem Vertrauen zu ihrem Neffen, bei dem Vertragsabschluss übersehen, dass die Miete um die Hälfte gekürzt werden würde. Lothar hatte nun keinen Einfluss mehr darauf. Anscheinend hatte der neue Mieter vor, aus diesem traditionsreichen Altstadthaus eine Art “Absteige“ für gut situierte Geschäftsleute und Messebesucher zu machen. Lothar hätte Hetty abgeraten, das Haus an den früheren Brauereidirektor zu vermieten doch ließ sie sich von ihrem Neffen überreden, es doch zu tun. Eine Weile würde es nun so weiter gehen und Hetty bereute, dass sie Lothar nicht um Rat gefragt hatte. Der Freundschaft tat dies keinen Abbruch und Lothar kümmerte sich weiter um Hettys Angelegenheiten, denn ohne ihn, wäre sie völlig hilflos gewesen. Er war seinem Freund Max schuldig, der ihn gebeten hatte, sich um Hetty zu kümmern. Honorar-Rechnungen schrieb Lothar wie eh und je.Er spekulierte nicht auf das Erbe, mit dem Hetty so eifrig spielte. Hetty hatte auch ihrem Neffen und anderen Freunden und Verwandten Hoffnungen auf das Erbe gemacht. Es machte ihr Spaß zu sehen, welche Mühe sich die Verwandten, die sie nie anerkannt hatten, gaben, ihr gefällig zu sein. Sie boten an, Reparaturen an ihrem Haus kostenlos zu machen, ihren Garten umzugraben und Reparaturen auszuführen, und Hetty sah diesem Treiben zu. Hetty war ein Original, mit viel Mutterwitz und Lissy bewunderte sie ebenso wie Gretchen , die Druckereibesitzerin. Beide stammten aus der Altstadt und vor langer Zeit, hatte Max um Gretchen geworben. Da wusste er noch nicht, dass Gretchen lesbisch war. Karneval wurde heftig gefeiert. Der Rosenmontagszug hatte beträchtlich an Länge gewonnen. Die Züge hatten jeweils ein Motto und die Karnevalwagen waren phantasievoll geschmückt. Lissy und Lothar gingen früher auch zu den Zügen, aber als die Kinder noch klein waren, war es eine anstrengende Angelegenheit. So fuhren sie meistens zum Westerwald und sahen die Züge im Fernsehen. Sie besuchten dann die Karnevals- und Tanzveranstaltungen im Dorf und dort durften die Kinder auch auf der Tanzfläche herumtoben. Die Dorfbewohner veranstalteten eine Art Karnevalszug und an Karneval nahm niemand übel, wenn die Männer “über den Durst“ tranken. Die Dorfbewohner machten Spießbratenim Hof vor dem Haus. Jedem, der vorbeikam, wurde Essen angeboten. BERLINLeider war Berlin zur DDR, (Deutsche Demokratische Republik) geworden und die Ostdeutschen waren gefangen. Der amerikanische Präsident rief bei einem Berlinbesuch den Weltberühmten Satz: „Ich bin ein Berliner“, über die Mauer. Die “Gefangenschaft“ der DDR Bürger sollte fünfzig Jahre dauern.Viele Menschen verloren nach Fluchtversuchen ihr Leben oder landeten in den berüchtigten Gefängnissen.Die DDR baute eine große Armee auf und der Westen wurde von Zeit zu Zeit bedroht. Lissy erhielt Briefe von Lothars Verwandten, die jedoch nicht wagten, den Mund über die Zustände aufzutun. Lissy schickte Pakete mit Gütern, die die DDR-Bürger nicht kaufen konnten. Sie hielt regen Briefkontakt mit einer Verwandten aus Lothars Familie. Lothar wollte keinen Kontakt aufnehmen. Er sagte: „Ich setze keinen Fuß mehr in ein sowjetisch besetztes Land!“ Ihn verfolgten immer noch Alpträume aus der Gefangenschaft.Doch ein Vetter aus Chemnitz wurde Minister in der DDR. Menschen, die aus der DDR fliehen wollten, wurden erschossen. Es war ein Chaos ohne Gleichen. Nach einem Aufstand in Ostberlin, bei dem die Demonstranten Freiheit erzwingen wollten, setzten die Russen Panzer ein und verjagten oder erschossen die Demonstranten, die Freiheit und Ausreise forderten. Danach erlahmte auch der Widerstand der Bürger gegen die Regierung. Es fanden sich dann noch geheimnisvolle, unterirdische Fluchtwege, die von Fluchthelfern aufgebaut wurden. Doch auch dies waren gefährliche Unternehmungen. Auch hier verlor mancher Flüchtling sein Leben.Es gäbe unendlich viel über die politischen Ereignisse und Zustände in Berlin-Ost und Berlin-West zu sagen, aber innerhalb dieser Geschichte würde das den Rahmen sprengen. Die Freiheit der DDR-Bürger blieb eingeschränkt.Zu gegebener Zeit wird Lissy ihre Tagebücher zu Rate ziehen und über wichtige Ereignisse berichten.
Willy Brandt wurde als erster sozialdemokratischer Kanzler gewählt.Die außergewöhnliche politische Karriere des Willy Brandt, der aus kleinen Verhältnissen stammend, am 28. Dezember1913, in Lübeck, als Herbert Ernst Karl Frahm geboren wurde, ist unbestritten.(http://www.deutsche-bundeskanzler.de/brandt_willy.shtml)Er floh im Jahre 1933 nach Dänemark und später nach Norwegen, wo er den Namen Willy Brandt annahm. Später studierte er Geschichte in Oslo und lebte fortan im Exil und begann seine Arbeit für die SAP. Als Berichterstatter reiste er nach Spanien und schrieb Berichte zum dortigen Bürgerkrieg.Inzwischen waren deutsche Truppen in Norwegen einmarschiert. Von da an war Willy Brandt in deutscher Gefangenschaft. Nach seiner Freilassung, einige Monate später, floh er nach Stockholm, setzte dort seine journalistische Tätigkeit fort und wurde Ehrenbürger in Norwegen. Ab 1942, bis zum Ende des zweiten Weltkrieges engagierte er sich in der europäischen Sozialdemokratie, und trat wieder in die SPD ein. Im Jahre 1948 erhielt er seine deutsche Staatsbürgerschaft zurück. Willy Brandt bekleidete viele hohe Ämter, wurde, wie schon beschrieben, Bürgermeister der Stadt Berlin-West, und dort wurde Willy Brandt mit Unterstützung der FDP, zum ersten sozial demokratischen Kanzler gewählt. Er wurde ein Opfer der DDR-Spionage und übernahm die persönliche und politische Verantwortung für den bis dahin größten bekannten Spionagefall in der Geschichte der jungen Bundesrepublik.Ein Skandal…Sein persönlicher Referent und dessen Ehefrau hatten jahrelang für die DDR als Spione gearbeitet und vertrauliche Informationen aus dem Kanzleramt verraten.Willy Brand gab seinen Rücktritt mit den Worten bekannt: „Ein Deutscher Bundeskanzler lässt sich nicht erpressen!“So verlor Deutschland einen der begabtesten Politiker für das Amt des Kanzlers.Helmut Schmidt, auch genannt „Schmidt Schnauze“ wurde sein Nachfolger.Helmut Schmidt, ein SPD Politiker, der kein Blatt vor den Mund nahm, und seine Ehefrau Hannelore, gen. Loki, die seit Jugendzeiten an seiner Seite war, unterstütze und kritisierte ihn. Hannelore Schmidt, setzte sich unentwegt für den Pflanzen- und Naturschutz ein.Die umfangreiche Karriere und Lebensgeschichte des Helmut Schmidt zu beschreiben, würde den Rahmen dieser Geschichte sprengen.(http://www.deutsche-bundeskanzler.de/schmidt_helmut.shtml)Vor einem Flug nach Hamburg sahen sie Helmut Schmidt, im dunklen Trench, eine Hamburger Mütze tragend, mit einer Aktenmappe unter dem Arm, auf dem Flugfeld des Düsseldorfer Flughafens.Eine „Super Konstellation“ von New York kommend machte eine Zwischenlandung. Mit einer solchen, vier motorigen Maschine zu fliegen, war ein besonderes Abenteuer, denn bisher kannten Lissy und Lothar nur zweimotorige Maschinen. Da gaben es manchmal heftige Turbulenzen, bei welchen die Maschinen plötzlich absackten und ins Leere zu fallen drohten. Diese viermotorige Maschine lag ziemlich ruhig in der Luft. Diese Super-Maschine hatte verschiedene Klassen, und es gab Sekt und französische Cognacs und Gebäck. Es durfte geraucht werdenHelmut Schmidt saß zwei Sitze vor ihnen, in der dritten Klasse.Damals noch Abgeordneter, war er wegen seiner schrillen Wortgefechte im Bundestag bekannt. Lissy versäumte kaum eine Bundestagssitzung, die im Fernsehen übertagen wurde. Dort ging es manchmal turbulent zu. Man lieferte sich Wortgefechte ohne Rücksicht auf Verluste.Helmut Schmidt übte auch Kritik an Konrad Adenauer, und besonders an Franz Josef Strauß. Er galt als glänzender und profiliertester Redner der jüngeren Generation. In der Atombewaffnungskontroverse 1958 setzte sich Helmut Schmidt entschieden gegen den Einsatz solcher Waffen in der Bundeswehr ein, die aber von Adenauer und Strauß befürwortet wurden.Franz Josef Strauß war ein Begabter und umstrittensten Politiker der Nachkriegszeit. Er bediente sich gerne lateinischer Wortspiele, die nur wenigen Menschen geläufig waren. Ein bulliger Typ von bayrischem “Charme“.Er bekleidete hohe Ämter und erhielt etliche Auszeichnungen im In- und Ausland, jedoch gelang es ihm nicht, Bundeskanzler zu werden. Neben zahlreichen Kungeleien und Geschäften mit der DDR, war er teils angesehen und teils gehasst. Bis zu seinem Ende hatte er seine Finger in undurchsichtigen Geschäften, und blieb eine umstrittene Figur im privaten und politischen Geschäft. Lissy fand ihn äußerst unsympathisch. Ein intelligenter Machtmensch, von seinen Bayern hochgelobt.Neben der Verfolgung der politischen Ereignisse, waren Lothars und Lissys Arbeitstage lang. Lissys größte Freude war, wenn sie mit ihren Söhnen zusammen sein konnte. Die schönsten Tage waren und blieben die Aufenthalte im Westerwald. Diese bedeuteten auch für Lothar große Entspannung.Sie spielten mit den Kindern Monopoly oder Skat, machten lange Spaziergänge oder hatten auch Gäste.Gerne saßen sie auch bei Jupp, dem Bauern aus dem Dorf, ihrem guten Freund, der mit Mutterwitz seine Geschichten erzählte und die Pferde versorgte.
Nun war auch Hermann R. gestorben, der Berater, der Lothar die Selbständigkeit empfohlen, und mit dem er eine Partnerschaft hatte. Ein weißhaariger, gut aussehender Siebzigjähriger. Es tat ihr Leid, dass er, noch keine achtzig, die Welt verlassen musste. In der Anfangsphase der Zusammenarbeit schrieb Lissy auch für ihn, denn er hatte keine Sekretärin. So fuhr Lissy zweimal in der Woche zu ihm, um seine Korrespondenz zu erledigen. Lissy war zu diesem Zeitpunkt 28 Jahre alt und erinnerte sich mit einem Lächeln an die erste Zeit der Selbständigkeit. Er diktierte Lissy einen Brief an das Finanzamt und ging dabei im Zimmer auf- und ab. Plötzlich stand er hinter ihr. Seine Hände verloren sich auf ihrer Schulter und legten sich danach um ihren Nacken. Sie sah ihn wütend an. Sie war in Rage. Sie spürte, dass ihr Gesicht sich rötete und er dachte, sie sei sexuell erregt, und schon spürte Lissy seine Hände auf ihrem Busen. An solche Übergriffe hatte sie nicht gedacht. Heftig schlug sie seine Hände zurück. Sie blieb ruhig, aber wütend sitzen. Es wurde kein Wort gesprochen, aber in ihren Augen musste er Mordlust gesehen haben, denn er verschwand wortlos wieder hinter seinem Schreibtisch. Der Vorfall wurde nie mehr erwähnt und Lissy erzählte es auch nicht Lothar, denn das hätte die geschäftliche Partnerschaft gestört. Hermann aber hatte verstanden.Jetzt, nach der langen Zeit musste sie lächeln, als sie daran dachte.Auch die in den Ämtern arbeitenden Frauen waren vor manchen Übergriffen nicht sicher. Lissy hatte selbst ja auch schon während der Zeit im Telegrafenamt Erfahrungen gesammelt. Für manche Männer, waren Frauen “Freiwild“! Allerdings legten es auch manche Frauen darauf an. Lissy erinnerte sich, dass, wenn sie in den Firmen Buchführungsarbeiten verrichte, dass von weiblichen Angestellten Andeutungen gemacht wurden, dass so mancher Chef seine Finger nicht bei sich behalten könne. So drückten sie sich aus. Ein Klaps auf den Po und Kneifen war noch das kleinste Übel. Der Busen war jedenfalls immer ein Anziehungspunkt. Für manche Männer waren die weiblichen Mitarbeiterinnen, eine Art von “Freiwild“. Lissy war von solchen Übergriffen nicht betroffen, aber sie beobachtete, dass auch in den Ämtern der Stadtverwaltung und in den Finanzämtern einige Männer nicht zimperlich waren. Die Vermutung lag nahe, dass Hände und Augen der Männer ein Eigenleben führten. Die Frauen durften sich nicht beschweren, denn sie fürchteten, einen gut bezahlten Arbeitsplatz zu verlieren, oder versetzt zu werden. Es gab eine Menge Sekretärinnen Witze und niemand fand etwas dabei. Diese Witze wurden auch im Beisein von Frauen erzählt, denen es peinlich war, aber sie durften sich nicht äußern.Wirtschaftlich ging es weiter aufwärts und Lissy war stolz auf Europa. Allerdings eckte sie bei manchem Zeitgenossen an, wenn sie die europäischeGemeinschaft lobte. Doch auch ihrer Meinung nach, wurde die Europäische Gemeinschaft zu schnell erweitert. Doch auf die Meinung von Frauen kam es nicht an. Das machten die “Herren der Schöpfung“ unter sich aus. Ein besonderes Kapitel der Frauengeschichte.Entnommen aus “EMMAs Geschichte“, von Alice Schwarzer.Der Spruch: “Frauen haben keine Ahnung von Politik“ wurde in der “breiten Masse“ immer noch benutzt.Erst Alice Schwarzer hatte nach dem zweiten Weltkrieg den Mut und die Ausdauer, Frauenrechte zu vertreten.Im Jahre 1971, im Einsatz für die Frauenbewegung, hatte Alice Schwarzer drei Bücher veröffentlich und gründete die Zeitschrift “Emma“. Aber erst im Jahre 1975 gelang ihr mit dem Buch “Der kleine Unterschied und seine großen Folgen“, finanzieller Erfolg. Bekannt wurde sie auch durch Streitgespräche mit Esther Villar, die die Frauen von ihren hauswirtschaftlichen Pflichten entbinden wollte. Schwarzer wurde vor allen Dingen von den Redakteuren der illustrierten Zeitungen angegriffen, die jede ihrer neuen Ausgabe mit nackten Frauen titelte.Die Streitgespräche wurden im Fernsehen übertragen. Danach war der Name: “Alice Schwarzer“ bekannt. Als die Zeitschrift “Emma“ plötzlich in den Medien Diskussionswürdig war, war das der Durchbruch… Alice Schwarzer brach das Schweigen über Prostitution, Inzest, Genitalverstümmelung und viele andere frauenfeindliche, herabwürdigende Themen. In den Medien wurde sie von Journalisten und Politikern angegriffen. Man versuchte sie lächerlich zu machen und stellte Karikaturen in die Zeitschriften. Alice Schwarzer ließ sich nicht beirren und die Zeitschrift EMMA wurde ein großer Erfolg. Im Jahre 1969 ein Großereignis, die Mondlandung.Teilweise Entnommen aus “Helles Köpfchen“, de. “Ein großer Schritt für die Menschheit“Schon seit Monaten hatten sie in den Fernsehberichten, die Vorbereitung zur Mondlandung beobachtet. Nun, am 16, Juli 1969 wurde Apollo 11, von Cap Canaveral, Florida, in den Weltraum geschossen. Apollo 11 war auf dem Weg zum Mond. Es dauerte 12 Minuten bis die Apollo 11 die Erdumlaufbahn erreichte und wurde durch eine neue Raketenzündung auf Mond Kurs gebracht. Lothar und Lissy waren mit den Söhnen im Westerwald, und warteten drei Tage, voller Spannung auf die Landung.Jorgi hatte schon einige Zeit vorher ein Modell der Mondfähre gefertigt. Tim beschrieb alle Stationen der Raumfähre. Um von der Mondumlaufbahn auf den Mond zu gelangen, mussten die Astronauten auf die kleinere Mondlandefähre, die den Namen Eagle (Adler) trug, umsteigen.Die Spannung wuchs, als die Fähre gelandet war und die Astronauten Neil Armstrong als erster, und Buzz Aldrin, nach einigen Schwierigkeiten die Mondoberfläche betraten. Der Astronaut Michel Collins musste in dem Mutterschiff, das nicht alleine in der Umlaufbahn des Mondes kreisen durfte, verbleiben. Er konnte die Oberfläche des Mondes nicht betreten.Armstrong und Aldrin stellten eine Kamera, etwa fünfzehn Meter entfernt von der Fähre auf, und hissten die Fahne der vereinigten Staaten von Amerika. Sie sammelten Mondgestein, und führten mehrere Experimente durch. Die beiden Astronauten stellten auch einen Mondspiegel auf, der von der Erde ausgesandte Laserstrahlen zurückreflektierte. Damit war man in der Lage, die Distanz Erde – Mond, genau zu messen.Nach der Rückkehr der Astronauten gab es Verschwörungstheorien. Es wurde behauptet, dass die Mondlandung nie stattgefunden habe. Diese Behauptungen konnten jedoch widerlegt werden.
Schon im Laufe der sechziger Jahre war die Rede von der antiautoritären Erziehung. Doch weil Lissy und Lothar großen Druck auf die Kinder ablehnten, bemerkten sie nicht, dass sich bezüglich der Kindererziehung in den siebziger Jahren vieles verändert hatte. Zwar hatte Lothar seinen beiden Söhnen das Tragen langer Haare verboten, aber ansonsten ließ er ihnen alle möglichen Freiheiten. Die Jungen bzw. auch junge Männer trugen stolz ihre Strubel-Mähnen, abgelatschte Schuhe, Jeans mit Rissen und Löchern und machten auf „arm“. Jorgi hätte gerne mitgemacht, denn er fühlte sich in der Schule als Einzelgänger, der nicht dem allgemeinen Trend folgen durfte. Tim hatte kein Interesse an abgelatschten Schuhen und zerrissenen Hosen. Er war, wie auch Jorgi, vielseitig begabt, sowohl bezüglich des Klavierspiels, wie des Reitens und handwerklicher Arbeiten. Beide lasen gerne und hatten Sinn für Karikaturen. Lothar nannte die Langhaarigen “Höhlenmenschen“.Jorgi hatte Lissy schon früher gefragt, ob er, wenn die anderen Kinder keine langen Haare mehr tragen würden, seine Haare wachsen lassen dürfe. Lissy dachte, dass es wohl noch eine Weile dauern würde, bis dieser Trend vorbei war, und sagte zu, in der Annahme, dass er dann keine Interesse mehr daran haben würde. So war dieses Thema abgeschlossen und Jorgi trug “Glatze“. Immerhin war er nicht, wie er sich ausdrückte, “gesteilt“, und er war etwas “Extras“. Die sexuelle BefreiungSchon in den sechziger Jahren wurde heftig über die sexuelle Befreiung diskutiert. Lissy bemerkte, dass in ihrem Freundeskreis das Thema nur selten berührt wurde. Das Unwissen über Frauensexualitätwurde als peinlich empfunden und welche Frau hätte einen Beitrag zu den Fragen geleistet, die hier und da aufkamen. Da wurde mit Witzen darüber gelästert. Immer wieder wurde die Frage gestellt: „War´s schön?“ Es war aber manchmal gar nicht schön, obwohl die Frauen „Ja!“ sagten, um den Partner nicht zu enttäuschen.Viele Männer wussten auch nicht, dass Frauen einen Orgasmus haben können. Auch zwischen den Frauen wurde das Thema selten diskutiert.Es war, trotz allgemeiner Aufklärungsversuche immer noch ein verschwiegenes Thema. Viele Männer glaubten, nur ein richtiger Kerl zu sein, wenn sie ihre Frauen schwängerten und glaubten, dass der Empfang für die Frauen ein großes sexuelles Erlebnis gewesen sein müsse, denn sonst hätte sie nicht schwanger werden können. Manche waren auch stolz darauf, wenn ihre Frauen Söhne auf die Welt brachten und glaubten, sie hätten mit ihrem Willen einen Sohn gezeugt.Es war eine verlogene Welt. Mit der Pille gab es zwar eine sexuelle Befreiung, jedoch waren die sexuellen Erlebnisse gering.Welche Frau hätte auf die Frage:“War`s schön?“, “Nein!“ gesagt? Manche Frau entzog sich auch der sexuellen Handlung mit dem Argument, Kopf-, oder Bauchschmerzen zu haben.Die Frauen der siebziger Jahre waren zum Teil so verklemmt, wie deren Mütter, die man unaufgeklärt, mit großen Idealen in die Ehe geschickt hatte. Doch auch die Männer, die man als halbe Kinder in den Krieg geschickt hatte, waren ohne Wissen über die weibliche Sexualität. Kaum wussten sie etwas über die eigene.Lissy hatte einen großen Freundeskreis, in dem solche Themen diskutiert werden konnten, aber es waren nur bestimmte Personen, die offen über dieses Thema sprachen.Lissy las den Kinsey Bericht und Oswald Kolle brachte das Thema ins Fernsehen. Manch einem gingen die Augen auf. Viele Männer waren nun total verunsichert, weil sie nicht wussten, wie ihre Partnerinnen empfanden. Da wurde Liebe mit Sexualität verwechselt. Lissy kamen unterschwellig die verrücktesten Sachen zu hören. Doch dieses Thema erschöpfte sich und plötzlich war jeder ein Sexualexperte. Dreihundertfünfundsechzig Frauen verlangten mehr Freiheit und skandierten: „Wir haben abgetrieben!“, und…,“Mein Bauch gehört mir!“ Von da ab, blieb die Sexualfrage auf dem Tisch.Es war erstaunlich, mit welcher Dreistigkeit nun auch im Deutschen Fernsehen primitive Filme gezeigt wurden. Beischlafszenen wurden in Hamburg in Kellerateliers gedreht, Produktionen billigster Art…!Durch einen Hamburger Kaufmann erfuhren sie von diesen Praktiken.Hatte es auch schon immer Pornoproduktionen gegeben, so doch nur in bestimmten Kinos oder in Büchern und sie waren nicht für die breite Öffentlichkeit bestimmt. Es gab sie unter der Theke“, im Schallplattenladen. Diese Filme wurden dann zu Hause heimlich abgespielt. Ein “Geraune“ ging durch die Bundesrepublik und Sex zu Dritt oder unter Ehepaaren war angesagt. Doch waren die Menschen nicht zufriedener. „Mehr, mehr…“, sagte auch der “Kleine Häwelmann“, aber das “Mehr“ machte nicht glücklich. Mehr Betrieb hatten nur die Nachtlokale, die Bordelle und der Straßenstrich. Da gab es ein „Geraune“ unter den Männern, von außergewöhnlichen Sexerlebnissen und außerdem wurde bekannt, dass es die sogenannte „Domina“ gab, die Männern, mit gewollten Quälereien, ein sexuelles Erlebnis bescheren konnte. Doch auch Frauen wollten, um sexuell erleben zu können, geprügelt werden. Das Interesse wandte sich im Fernsehen und Radio wieder anderen Themen zu und Kommissar Trimmel, aus Hamburg, wurde einer der ersten Fernsehkriminalisten. Als eine Kuriosität empfanden Lissy und Lothar den Haarnetz Erlass der Bundeswehr. Die jungen Soldaten wollten sich von ihrer Haarpracht nicht lösen. Sie empfanden es als einen Eingriff in die persönliche Freiheit, sollte man von ihnen verlangen, ihre Haarpracht abzuschneiden. Andererseits mussten sie aber auch Helme tragen. Um die Persönlichkeitsrechte der jungen Soldaten zu gewährleisten, gab es durch Helmut Schmidt, zu der Zeit Verteidigungsminister, den Haarnetz Erlass und die Bundeswehr schaffte Haarnetze an. Die Bezeichnung der Haarpracht, war “Lange Matte“. Danach herrschte über dieses Thema eine Zeit lang Ruhe.
Heiter und beschwingt begannen am 26. August 1972 in München die Olympischen Sommerspiele, (offiziell Spiele der XX Olympiade genannt). „Die ganze Welt zu Gast in Germany!“Es sollte ein „Fest des Friedens“ werden.Alles schien gut zu sein, bis auf die Tatsache, dass die “Rote Armeefraktion“ mit einer mörderischen Attacke die israelische Olympiamannshaft überfiel. Schon seit dem Jahr 1970 waren diese Verbrecher tätig gewesen, und zwei Jahrzehnte lang übten sie mörderischen Terror. Die Anführer Bader, Meinhoff und Enslin traten als Anführer der RAF (Rote Armee Fraktion) auf und ermordeten Politiker und Beamte, Geschäftsleute und Polizisten.(Entnommen “Das Ende der Ohnmacht“ – Politik / Stern de).Um Bader, Meinhoff und andere Terroristen, die inhaftiert waren, freizupressen, ermordete die „Rote Armee Fraktion“ die ganze israelische Olympiamannschaft und im Laufe der nächsten zwanzig Jahre ermordeten diese Terroristen mehr als 30 Menschen gnadenlos.Es war ein Schock für die ganze Welt.Trotz großer Bedenken wurde die Olympiade fortgeführt, aber die überschäumende Freude über das Ereignis, dass Deutschland in einem neuen Licht für Frieden und Freiheit zeigen sollte, war gedämpft.Der Schock saß tief… JudenhassLissy konnte nicht verstehen, dass es immer noch Judenhass gab. Von Menschen, die in ihrem ganzen Leben keinen Juden kennengelernt hatten. Lissy hatte ja nur von ihrer Mutter etwas, über das für sie kurios erscheinende Judenbild gehört und gesehen, aber das war nichts Herabsetzendes.„Die Juden waren nur “anders“ als die Christen“, sagte Anna. Aber viele Deutsche wollten mit traditionsgebundenen, sich anders verhaltenden Menschen, die sich persönlich abschotteten, nichts zu tun haben. Unverbrüchlich fest standen Juden zu ihrer Religion und ihren jüdischen Traditionen und ließen keine Veränderungen zu. Sie ließen nicht gerne Christen in ihre Familie, doch im Laufe der Zeit gab es viele Ehen zwischen Juden und Christen. Immer wieder war in der Nazizeit die Rede von “Halbjuden“ und “Volljuden“ gewesen.Anna hatte schon während der Nazizeit gesagt: “Die Nazis sind verrückt!“, wobei sie sich aber umsah ob jemand zuhörte. So ein Spruch hätte sie ins Gefängnis bringen können. Annas Vater sagte den Juden nach, dass sie besonders gute Geschäftsleute seien und wüssten, wie man aus einem Taler zwei macht, aber Betrüger seien sie nicht. Sie handelten so lange, bis der Preis am Ende stimmte. Das machte ihm großen Spaß und er bedauerte, dass er bei seinen Einkäufen nicht mehr mit dem „Jüdchen“, wie er den Stoffhändler nannte, verhandeln konnte. Er vermisste die jüdisch gefärbte Sprache und die Handbewegungen mit denen der Schneiderwarenhändler seinen Sprachfluss begleitete.Wenn deutsche Bürger in ähnlicher Weise verhandelten wie jüdische Geschäftsleute, dann sagten neidvoll zusehende Deutsche, das seien christliche Juden. Lissy konnte überhaupt nicht verstehen, dass dieser ganze Spuk mit dem Kriegsende und dem Ende der Nazizeit nicht vorbei sein sollte. Anna sagte: „ Es kann doch jeder glauben, was er will. Es gibt keinen katholischen und keinen jüdischen Gott. Wenn man an Gott glaubt, ist er überall!“ Man soll die Leute doch endlich in Ruhe lassen, sie haben genug gelitten, und jeder muss nach seiner Fasson selig werden…!“ Der Spruch: „Das Leben geht weiter!“ hatte sie fest im Griff.Tim bewies sich als Dressurreiter, und erhielt das Reiterabzeichen durch die reiterliche Vereinigung, und Jorgi erhielt das Jugend-Reiterabzeichen. Beide absolvierten die Prüfung auf Sommerwind.„Das muss gefeiert werden“, sagte Lothar und war bitter enttäuscht, dass Tim mit seinen Freundinnen und Freunden den Erfolg feiern wollte und nicht mit ihm.Er hatte vergessen, dass auch er seine Eltern früh verlassen hatte, weil er die Offizierslaufbahn bei den Nazis ergreifen wollte.Lissy sagte: „Lass ihn doch mit seinen Freunden feiern, er ist doch bald sechzehn“!So fuhren sie dann mit Jorgi in eines der guten Speiserestaurants.Und zur Feier des Tages bestellte Lothar Hummer. Hummer hatte auch Jorgi schon gegessen, aber nun hatte er gesehen, dass in einem Bassin vor dem Restaurant lebende Hummer schwammen.Lothar machte die Bestellung und der Kellner brachte ein lebendes Exemplar zur Ansicht. Jorgi erkannte sofort, dass der Hummer aus diesem Bassin kam, denn eine Schere war kleiner als die andere. Er sagte: „Muss der jetzt sterben?“ Der Kellner erkannte die Situation und sagte: „Nein, ich wollte den Hummer nur zeigen. Das ist unser Vorzeigehummer!“ Aber Jorgi sagte später zu Lissy: „Es war doch der Hummer mit dem kurzen Bein, ich habe es sofort gesehen!“ Er wollte Lothar nicht enttäuschen und da er Hummer mochte, ließ er es sich dann doch schmecken.Im Herbst 1973 brach die Ölkrise aus. Die erdölfördernden Länder drosselten die Ölfördermengen und lösten damit Druck auf die westlichen Länder aus. Das so genannte Ölembargo ging in die Geschichte ein.Nun hieß es, Kraftstoff sparen und der „Autofreie Sonntag“ wurde eingeführt. Der Ölpreis stieg in bis dahin ungeahnte Höhen. Da kam der gute “Drahtesel“, das Fahrrad wieder zu Ehren und Lothar, Lissy und die Kinder fuhren zu Karl-Heinz und Poldi, die sie zum Kaffee eingeladen hatten. Es war eine Strecke von etwa fünfzehn Kilometern. Karl-Heinz führte seine Dias vom letzten Urlaub vor, aber Lothar, der schon am Morgen mit dem Fahrrad zum Reitstall gefahren war, nickte während der Vorführung über das Strandleben in Spanien ein. Insgesamt hatte er ca. fünfzig Kilometer an diesem Tag zurückgelegt. Auch Lissy kämpfte mit der Müdigkeit und konnte das Gähnen kaum unterdrücken. Doch schafften sie dann noch die Rückfahrt, wobei Tim keine Müdigkeitserscheinungen zeigte, denn er hatte zum Geburtstag ein Fahrrad mit zehn Gängen bekommen. An einem dieser „Autofreien Sonntage“ gingen sie in der Stadt spazieren und nie war die Luft so rein, wie in diesen Tagen. Sonntägliche Stille, kein Autolärm, keine Abgase und alle Straßen frei. Kinder liefen auf der glatten Autobahn Rollschuh und man konnte auf den Terrassen in der Sonntagsstille das Mittagessen oder den Kaffee genießen.Das einzige Geräusch, das man wahrnahm, waren die Kirchenglocken. Das erinnerte Lissy an ihre Kinderzeit. Wenn sie sonntags zur Messe ging, konnte man die eigenen Schritte auf dem Trottoir hören…, so still war es. “Sonntäglich!“Die autofreie Zeit ging jedoch schnell vorüber. Das Benzin wurde teurer und Lissy fuhr ein paar Tage mit dem Fahrrad zum Einkaufen um Benzin zu sparen. Das wurde aber auf Dauer zu zeitraubend, denn Kinder und Büro mussten versorgt werden. Der Benzinpreis stieg und stieg. Allerorten wurde diskutiert, jedoch gab es kein Entrinnen.Die ölfördernden Länder hatten das Heft in der Hand. Sie diktierten den Preis!
Ein Anruf an einem Sonntagmorgen! Erschreckend schwach die Stimme ihrer Freundin Karin. Sie sagte: „Lissy…, es ist schrecklich, ich liege schon seit zwei Tagen im Heidekrankenhaus, mit einer offenen Beinverletzung!“ „Was ist passiert?“„Ich bin, als ich abends den Müll hinaustragen wollte, gefallen und habe mir schwere Verletzungen zugezogen. Morgen werde ich nach Hamburg in das Tropenkrankenhaus verlegt! Es ist eine Blutvergiftung!“„Wie konnte das passieren…, war Ehrhardt nicht da?“„Er schlief schon. Du weißt ja, der Alkohol…!“Etwas gehetzt und mit heiserer Stimme fügte sie hinzu: „Ich rufe Dich wieder an, wenn ich in Hamburg bin!“Noch bevor Lissy etwas sagen konnte, wurde aufgelegt.Sie versuchte Ehrhardt anzurufen, konnte ihn aber nicht erreichen. Zwei Tage späte, ein Anruf aus dem Tropenkrankenhaus. Mit schwacher Stimme sagte Karin: „Lissy…, ich schaffe es nicht mehr! Ich habe furchtbare Schmerzen…! Ich sterbe…!“ Dann nichts mehr…, Stille…!Ihr Sohn, der bei ihr war, sagte Lissy später, dass Karin einen Tag nach diesem Anruf, unter unsäglichen Schmerzen, an den Folgen eines Wundstarrkrampfes gestorben sei. Lissy konnte es nicht fassen…Karin tot…! Sie konnte keine Erklärung für den Sturz finden, denn das Haus in der Heide war zu ebener Erde gebaut und es gab nur eine Stufe vor der Haustüre. Unvorstellbar, dass sie, wie ihr Sohn später erklärte, offene Wunden und Brüche hatte. Lothar versuchte Erhardt zu erreichen, aber das Telefon war abgeschaltet.Auch zu den Freunden Ehrhardts, die Lissy bei dem letzten Besuch in Hamburg kennengelernt hatte, bekamen sie keinen Kontakt. Dann die lapidare Todesnachricht: „Meine geliebte Frau, Karin, in Folge eines Unfalles gestorben!“ Zum Beerdigungstermin flog Lothar nach Hamburg. Er dachte, dass er Erhardt zur Seite stehen könne, aber Erhardt sprach nicht drei Worte mit ihm. Von der so oft beschworenen Freundschaft war nichts zu spüren gewesen. Lothar konnte sich Ehrhardts Verhalten nicht erklären. Welche Vorkommnisse hatten zu Karins Sturz und Tod beigetragen?Lissy hatte den Verdacht, dass Erhardt unter Alkoholeinfluss, Karin in das leere Schwimmbecken gestoßen hatte.Sie konnte sich die schweren Verletzungen, die Karin davongetragen hatte, nicht erklären. Auch war es ihr unerklärlich, dass Karin nach dem Sturz keine Tetanusimpfung bekam. Hatte Ehrhardt sie nicht sofort ins Krankenhaus gebracht? Was war in der Unfallnacht passiert? Fragen, aber keine Antworten.Lothar sprach nicht darüber. Er nahm Todesfälle hin… Vielleicht hatte er in seinem Leben, zu viele Tote gesehen… Dieses Jahr war ein Jahr der persönlichen Katastrophen, denn Lothars Freund Schorsch aus Rosenheim rief an und sagte erregt: „Elisabeth ist im Krankenhaus, sie musste sich einer Lungenoperation unterziehen! Es geht ihr schlecht…!Könnt ihr kommen?“ Schon am nächsten Tag fuhren sie mit Tim und Jorgi nach Rosenheim, um die kranke Freundin zu besuchen und ihrem Freund, beizustehen. Elisabeth hatte die Operation überstanden, aber sie war sehr schwach. Sie freute sich, dass Jorgi, ihr Patenkind, sie besuchte. Als Katholikin nahm sie die Patenschaft sehr ernst.Die Ärzte sagten, Elisabeth würde es schaffen, doch zur Genesung brauche sie einen Kuraufenthalt von einem Jahr in einem Schwarzwaldsanatorium. Schorsch und Elisabeth waren gläubige Katholiken und fanden Trost in der Religion. Schorsch war auch Laienpriester in seiner Gemeindekirche und durfte die Kommunion austeilen. Außerdem veranstaltete er Kirchenkonzerte.Auf dem Rückweg fuhren sie mit den Kindern zu Lothars Kurhotel im Schwarzwald, wo sie das Wochenende verbringen wollten. Nach den Aufregungen brauchten sie Entspannung. Sie spielten mit den Kindern Skat und Lothars Clownerien lösten die traurige Stimmung. Endlich wurde wieder gelacht. Gegen achtzehn Uhr schwang plötzlich die Türe auf und wer erschien? Ehrhardt, Karins Witwer, Ehrhardt in dunkelblauem Zwirn, mit Seidenkrawatte und Nadel, Goldrandbrille und Siegelring. Wie früher,…der „Hanseatische Kaufmann“.Er kam mit „Gefolge“…Eine seltsame Szene…!Ehrhardts Sohn und eine superblond gefärbte, dickliche Frau, in Karins Leopoarden Mantel, folgten ihm. Lothar und Lissy sahen sich an und Jorgi sagte: „Da ist Onkel Ehrhardt…!“ Ja,…, es war ihr Freund…! Der Ehrhardt, der nach Karins Tod und nach der Beerdigung plötzlich von der Bildfläche verschwunden war…Ein großer Auftritt…! Sie rauschten an ihrem Tisch vorbei, und Ehrhardt schien sie bewusst zu übersehen. Dann machte er, ganz Millionär, eine umfangreiche Bestellung zum Abendessen. Lothar, mit Blick auf die Frau sagte: „Eine totale Geschmacksverirrung und das bei Ehrhardt!“Plötzlich stand Ehrhardt auf und ging hinaus. Lothar folgte ihm und sprach ihn, der zu seinem Wagen wollte, an: „Hallo Ehrhardt, was ist los, wo warst Du, warum übersiehst Du mich?Waren wir nicht befreundet?“ Doch Ehrhardt war wortkarg… Er zeigte wenig Interesse und schwieg geflissentlich. Lothar war verärgert und sagte: „Ich glaube, Ehrhardt ist nicht richtig bei Sinnen! … Bei dem stimmt was nicht!“Am nächsten Tag war Ehrhardt mit seinem Sohn und der Frau schon früh morgens abgereist. Die Begegnung mit Lothar war ihm wohl peinlich gewesen…Sie sollten ihn erst ein paar Wochen später wiedersehen…
Einer Pferdejagd hatten sie bisher zwar mit Begeisterung zugesehen. Selbst jedoch hatten sie noch nie daran teilgenommen, doch eines Tages erhielten sie eine Einladung. Der Jagdherr, ein Geschäftsmann aus Koblenz, und seine junge Frau, die einen Barbetrieb in Koblenz führte, luden zur Herbstjagd ein.Lissy war bei ihren Ausritten der jungen Frau, die eine sehr schöne Stute ritt, mehrfach begegnet. Sie beherrschte ihr etwas nervöses Rassepferd in ausgezeichneter Haltung.Lothar meinte: „Warum nicht? Wer weiß, ob wir noch jemals die Gelegenheit haben. Wir machen mit!“ Jorgi kann den Moritz reiten, du den Sommerwind, ich den Bully und Tim den Wotan“! „Gesagt…, getan!“ Sie sagten zu. Besondere Vorbereitung und Training brauchten ihre Pferde nicht, da sie auf Dressur und Springen geritten, und jeden Tag bewegt wurden. Ausgiebig hatten sie sich mit den Jagdvorschriften beschäftigt und voller Spannung erwarteten sie den Tag, an dem die Jagd stattfinden sollte. Es war eine große Jagdgesellschaft, die der Jagdherr zusammengestellt hatte und voller Spannung erlebten sie die Vorbereitungen. Noch nie waren sie mit einer Meute geritten und nun waren sie umgeben von einer Menge großer und kleiner, aufgeregter Beagle, die es nicht abwarten konnten, los zu jagen. Die Piköre wurden den Reitern vorgestellt und ihnen ist unbedingt Folge zu leisten. Es war ein noch nie dagewesenes, einmaliges Erlebnis, als sie sich auf einer großen Weide mit den anderen Jagdteilnehmern trafen. Inmitten der Pferde und Hunde und den erwartungsvollen Reitern empfand Lissy ein Hochgefühl. Aufmerksam, mit großem Ohrenspiel standen die Pferde… und die Reiter in schwarzer Kleidung mit weißen Hemdkragen Plastron und schwarzer Reitkappe. Die Piköre gut erkennbar, durch ihre roten Reitjacken. Voller Spannung warteten sie auf das Kommando und im Schritt, die Piköre und die Meute voran, begann die Jagd. Sommerwind versuchte durchzugehen. Er wollte “Erster“ sein, aber Lissy konnte ihn beruhigen und leitete ihn ins zweite Feld.In gebührendem Abstand ritten sie, in Begleitung der Beaglemeute, die mit aufgeregtem Gebelle der Jagdgesellschaft vorauseilte, zuerst im Schritt und dann im Galopp über Felder und Waldwege. Hindernisse, die man überspringen konnte, waren aufgebaut. Jorgi ritt mit Moritz um die Hindernisse herum und der kleine Isländer hielt das Tempo mit den großen Pferden. Lothar hatte mit dem Iren keine Probleme. Ein ausgezeichnetes, starkes Jagd- und Springpferd. So kamen sie zum Treffpunkt, wo auch Tim wartete, der nicht mitgeritten war, weil Wotan doch nicht mehr der Jüngste war.Nach der ersten Strecke brauchten Pferde und Reiter eine Ruhepause. Die Pferde wurden gepflegt und gefüttert. Die Jagdteilnehmer tauschten ihre Erlebnisse aus und es wurde heftig diskutiert und gelacht.Für das leibliche Wohl standen Getränke und Erbsensuppe bereit, und nach einer ausreichenden Pause übergab Lissy ihren Sommerwind an Tim, der so den zweiten Teil der Jagd reiten konnte. Er ritt im ersten Feld und nahm alle Hindernisse exzellent. Lissy fuhr zurück zum Ausgangspunkt, wo Jorgi mit dem kleinen Moritz wartete. Er wollte dem Islandpony die Anstrengung der zweiten Strecke ersparen. Zum Schluss der Veranstaltung versammelten sich Pferde und Reiter und nahmen bei Musik die Ehrung entgegen. Es gab keine Stürze und alle kamen wohl behalten zum Ausgangspunkt zurück Diese Jagd war ein einmaliges Erlebnis, jedoch würden sie keine Jagd mehr reiten, denn sie wollten den Pferden, die ja Dressurpferde waren, diese Anstrengung nicht noch einmal zumuten. Ohne Gesundheit, ist alles nichtsLothar war, in den siebenundzwanzig Jahren, da Lissy ihn kannte, nicht einmal krank gewesen. Er hatte sich auch dann nicht geschont, wenn er grippeartige Erkältungskrankheiten hatte.Die Jahre in Krieg und Gefangenschaft hatten ihn gegen körperliche Schwächen hart gemacht. Medikamente lehnte er, wie seine Mutter, ab. Doch nun hatte er heimlich ihren Freund Wilhelm, den Arzt, aufgesucht und dieser hatte ihm nach eingehender Untersuchung erklärt, dass er einen Leberschaden habe, aber Lothar wollte nicht, dass Lissy es erfuhr. So schwieg der Freund als Arzt und seine Ehefrau Marlene, die Ärztin, auch…Lothar musste es schon vorher von seiner Erkrankung gewusst haben, aber er hatte Lissy nach der Untersuchung im Krefelder Krankenhaus gesagt: „Ich bin völlig gesund!“Bier war weiterhin sein Lieblingsgetränk und nun trank er auch Whisky und französischen Cognac. Getränke, die er vorher abgelehnt hatte! Abends war er oft unterwegs zu angeblichen Mandantenbesuchen, aber in Wirklichkeit fuhr er in irgendwelche Clubs, wie Lissy vermutete. Es war so, als wolle er gierig alles einsaugen, was er in der Jugend versäumt hatte. Immer obenauf, mit einem Scherz auf den Lippen.Einmal hatte er gesagt: „Ich werde nie, wie mein Vater leiden!“Andererseits machte Lissy sich Sorgen und in ihr keimte der Verdacht, dass er erpresst wurde. Mehrfach rief der Mensch mit der seltsam meckernden Stimme an…, aber Lothar sagte: „Das ist der pure Neid…!“Niemand sagte ihr, was Sache war. Das ständig leere Bankkonto machte ihr Sorgen.Immer schon war Lothar ein Mensch mit extremen Verhalten gewesen und Lissy hatte sich daran gewöhnt, darüber hinwegzusehen. Sie hasste nichts mehr, als Auseinandersetzungen, die nichts brachten. Wenn er keine Argumente mehr hatte, sagte er: „Ich habe noch einen Termin!“, und verschwand. Andererseits war er ein Mensch mit immer neuen Ideen, aber ernsthafte Gespräche, auch mit den Freunden, lehnte er ab. Die Kinder liebte er sehr, doch fiel es ihm schwer, dem nun sechzehn Jährigen Tim eigene Ideen und Lebensvorstellungen zuzubilligen. Er hatte sich vorgenommen, Tim später in seine gut gehende Praxis einzubinden. Tim sollte studieren und später die großen Firmen übernehmen, aber Tim hatte andere Vorstellungen. Er wollte sich nicht darauf vorbereiten, als Juniorpartner bei dem eigenwilligen Vater zu arbeiten, der dachte, dass er seinem Sohn eine gute Zukunfts-Perspektive gäbe. Lissy bewunderte Tim, der sich dem Vater widersetzte, und Lothar war tief enttäuscht, dass seine Pläne durchkreuzt wurden. Lissy sagte: „Für solche Entscheidungen ist es viel zu früh! Du hast Dich doch nicht selbständig gemacht für die Kinder. Wir haben alles getan, um unsere Lebensverhältnisse zu verbessern und an Kinder haben wir damals nicht gedacht…!“Aber der wenig sinnvolle Spruch: „Das Leben geht weiter“, war die Begleitmusik zu allen Unsinnigkeiten, die das Leben begleiten. Langweilig war es aber nie…! Lissy dachte: „Nichts ist vollkommen und sie dachte an Anna, ihre Mutter, die sagte: „Man muss tapfer sein im Leben!“
Das Weihnachtsfest war in der Familie ein Fest des Friedens. Nie hatte es in den vielen Jahren Disharmonien gegeben, wenn Lothar auch nicht wollte, dass Weihnachtslieder gesungen wurden. Er sagte, die Stimmung habe im Gefangenenlager zu Tränenausbrüchen geführt. Danach hätten sie dann bis zum Umfallen billigen Wodka getrunken. Das seien keine schönen Erinnerungen an Weihnachten. In diesem Jahr hatte Lothar einen riesengroßen Weihnachtsbaum besorgt, der einen Tag zuvor geliefert wurde. Ein Glück…, dass die Altbauwohnung hohe Decken hatte…! Sie hatten zusammen den Baum geschmückt.Baumschmuck wurde vom Speicher geholt und es war, wie in jedem Jahr, ein großer Spaß. Der Tannenduft erinnerte Lissy an die Weihnachtsfeste ihrer Kindheit und brachte sie in eine festliche Stimmung. Lothar holte die Mütter, Anna und Gertrud, die Mütter, denn immer waren sie am heiligen Abend dabei. Zur Freude Aller spielten Tim und Jorgi am Weihnachtsabend vierhändig Weihnachtslieder auf dem Klavier. Sie spielten ein wenig schneller, als die Noten erlaubten und die Spannung war groß. Geheimnisvoll verpackte Sachen waren im Elternschlafzimmer verschwunden. Tim war regelrecht sauer gewesen, als Lissy die Türe vor seiner Nase abschloss, denn er hasste abgeschlossene Türen.Sich nicht frei bewegen zu können, auch bei Menschansammlungen, verursachten bei ihm Platzangst. So hatte er alle Schlüssel zu den Zimmertüren verschwinden lassen. Nur das Bad und das Elternschlafzimmer hatte er verschont.Lothar war stolz auf seine Söhne und Lissy freute sich unbändig, denn sie hatte viel Zeit in das Üben der Weihnachtslieder investiert.Tim spielte noch Tschaikowsky und Mozart, aber dann gab es kein Halten mehr. Die Spannung war zu groß…!Sie Freuten sich sehr über Tonbandgerät und Plattenspieler, doch welche geheimnisvollen Dinge waren in dem abgeschlossenen Zimmer? Lissy und Lothar hatten sich eine besondere Überraschung ausgedacht… Lothar sagte: „Ich glaube der Baum steht etwas schief…, holt mir doch bitte aus dem Schlafzimmer den Fuchsschwanz, ich muss einen großen Zweig vom Baum nehmen, er drückt den Baum nach links!“ „Im Schlafzimmer…, einen Fuchsschwanz? Du meinst wohl den Werkzeugkasten im Werkzeugschrank“, sagte Tim. Nein, ich habe den Fuchsschwanz aus Versehen da liegen gelassen…Endlich sollte das Geheimnis gelüftet werden und als die Beiden die Werkbänke sahen, war die Überraschung perfekt. Lothar und Lissy hatten alles besorgt, was in eine Werkstatt gehört. Angefangen von der Bohrmaschine bis zu Feilen, Zangen, Schrauben und Nägeln, Lötkolben und anderen Geräten. Alles, was Schlosser und Schreiner brauchen. Die Werkbänke holten sie sofort in ihre Zimmer und waren für die nächste Stunde nicht ansprechbar. Am ersten Weihnachtstag fuhren sie gegen zehn Uhr zu Anna, die zum Frühstück eingeladen hatte.Die Krippe war aufgebaut, wie zu Lissys Kinderzeit. Eine wohlige Wärme, und der Duft von Kaffee empfing sie.Lissy dachte an die Kriegszeit, als nur Erwachsene über einundzwanzig, zu Weihnachten ein viertel Pfund Kaffee auf Marken kaufen konnte. „Wie gut haben wir es doch heute“, dachte sie.Jorgi bekam von Anna Springerstiefel. Die hatte er sich sehnlich gewünscht. Anna wusste nicht, dass Springerstiefel in der Rechtsextremen Scene eine Rolle spielten. Tim sagte: „Ich verstehe nicht, dass du dir Springerstiefel wünschst, Das ist etwas für Rechtsextreme!“ Diese Scene aber, schien Jorgi anzuziehen.Lissy hatte nichts von einer rechtsextremen Gruppe gehört, aber es gab sie. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es Menschen gab, die nach diesem schrecklichen Krieg immer noch Naziideen hatten. Auch konnte sie sich nicht vorstellen, dass ihr Sohn Jorgi sich für diese Menschen interessierte. Lothar sagte nichts dazu und auch Tim schwieg. Lissy erfuhr später, dass es auch Gruppen gab, die nicht rechtsextrem waren.Zum Mittagessen fuhren sie zu Oma Gertrud. Sie hatte Kartoffelknödel und Rouladen vorbereitet. Es war traurig, dass der Opa fehlte. Oma Gertrud ging jeden Tag zum Friedhof und wollte auch nicht mit zum Westerwald fahren. Lothar half beim Vorbereiten der Sächsischen Klöße. Sie konnten sie ein köstliches Mahl mit Omas Rouladen genießen. Bis zum Nachmittag blieben sie bei Oma Gertud und abends fuhren sie zum Westerwald, wo zu ihrer Überraschung und Freude, in vierhundert Metern Höhe Schnee lag.Am zweiten Weihnachtstag spannte Jupp sein Fjordpferd, das er von den Hufeisen befreit hatte, vor den Schlitten und dann ging es über die die Felder. Einmal kippte der Schlitten um und alle lagen im Schnee. Das war ein Hallo…Wotan, der verlässliche Isländer blieb ruhig und die Fahrt konnte weitergehen.Abends, nachdem sie das tapfere Fjordpferd gepflegt und gefüttert hatten, saßen sie bei Jupp im Reiterstübchen, wo der Küchenherd bullerte und Jupp ihnen seine Räubergeschichten, aus früheren Zeiten vortrug. Nach allem Stress in der Vorweihnachtszeit, genossen sie die friedliche Atmosphäre und Lothar war sehr entspannt. Sylvester 1973 – 1974Das arbeits- und ereignisreiche Jahr 1973 neigte sich dem Ende zu. Sylvester genossen Lissy und Lothar einen Spaziergang im Schnee. Sie hatten sich vorgenommen, Sylvester mit den Söhnen gemütlich bei einem Skatspiel zu verbringen. Aber daraus wurde nichts, denn gegen zwanzig Uhr erschien plötzlich ihr Zahnarzt, der ein Wochenendhaus in der Nachbarschaft hatte, mit seiner dreißig Jahre jüngeren Frau und seinem zehn Jahre jüngeren Schwiegervater. Einfach so…, ohne Vorwarnung. Nicht genug der Überraschungen, sie führten auch noch einen Freund aus Bayern mit, der mit Gitarre erschien, und Schnaderhüpfers spielte.Sie waren schon ganz gut alkoholangereichert, hatten aber noch eine Menge „Stoff“, in Form von Cognac, Wein und Schnaps dabei. Es wurde dann nichts mit dem gemütlichen Sylvester Abend, aber um Mitternacht waren sie alle ziemlich “durch den Wind“ und in bester Stimmung.Zum Feuerwerk, das einige Nachbarn veranstalteten, gingen sie nach draußen und es wurde hin und her geküsst, man wusste schon gar nicht mehr… wen… aber um ein Uhr war der Spuk vorbei und sie sanken todmüde und beschwipst ins Bett.
Nach dem turbulenten Jahresende 1973-1974, das alkoholgetränkt zu Ende gegangen war, kehrte wieder Arbeitsruhe ein. Jahresabschlüsse standen bevor und die Mandanten wollten Beratung für das neue Jahr.So hatte der Alltag sie wieder.Lothar fuhr Ende Januar wieder zu seiner jährlichen Kur in den Schwarzwald und Lissy übernahm die Büroarbeit, wie jedes Jahr. Es machte ihr immer wieder Freude mit den Mandanten zu sprechen, die sie seit Beginn von Lothars Selbständigkeit, seit mehr als zwanzig Jahren kannte. Die Geschäfts- und Lebensverhältnisse hatten sich enorm verändert. Wenn auch nicht mit Riesengewinnen zu rechnen war, so hatten doch alle geschäftlichen Aufschwung genommen. Hatten sie, wie auch Lissy und Lothar zwanzig Jahre zuvor noch kein Auto zur Verfügung, so machte man jetzt Unterschiede mit PS-Größen.Es stand nun auch mehr und größerer Wohnraum zur Verfügung. Die Wohnschlafzimmer verschwanden nach und nach. In vielen Haushalten gab es Staubsauger, Kühlschränke, Waschmaschinen, Fernsehgeräte, Musiktruhen, und Elektro- oder Gasherde. Es war eine Zeit des Aufschwungs. Lebensmittel gab es in Massen. Vom Eisbein bis zur Filetdelikatesse und in den Gaststätten machten ungarische, jugoslawische, griechische, spanische, französische und chinesische Küchen einander Konkurrenz. Dazwischen Schnellimbisse, Garküchen für Fisch, Pizza und Gebäck. Nicht zu unterschätzen, die einheimische Küche in den Brauereilokalen, die gesteckt voll waren. Da stand man beim „Ürigen“ mit dem Bierglas in der Hand auf der Straße. „Altbier“ war in… Am Wochenende kamen Busse von außerhalb und die Bolkerstraße wogte.Es war ein arbeitsreiches- und ereignisreiches Jahr gewesen und Lothar brauchte Erholung. So war er dann, wie jedes Jahr, zur Kur in den Schwarzwald gefahren. Alles blieb in Lissys Händen bis zu seiner Rückkehr. Sie klärte Verlängerungstermine mit dem Finanzamt und sah alle gestapelte Post durch, um Terminplanungen vorzunehmen. Lothar wusste, er konnte beruhigt in Kur gehen. Es würde nichts versäumt werden, aber Anerkennung gab er Lissy nicht. Lissy machte sich nichts daraus, denn ihr hatte die Arbeit immer Freude gemacht und sie hatte Teil am Aufschwung. Sie sann viel über Lothars Verhalten nach und sie kam zu dem Schluss, dass ihn immer noch ein Rest des Minderwertigkeitskomplexes beherrschte, den er seit der Zeit ihres Kennenlernens, nach der Gefangenschaft hatte, und die er durch seine Auftritte und Geldausgaben kompensieren wollte. Er wollte Anerkennung von allen Seiten und sein beruflicher Erfolg schien ihm nicht genug zu sein. So war er auch anfällig für weibliche Aufmerksamkeit. Er sah gut aus und kaufte, was er nicht umsonst bekam…Aber er war nicht der Einzige, der die Ansicht vertrat, dass Männersexualität und Untreue nicht die eheliche Gemeinschaft störe.Die sexuelle Befreiungstheorie trieb seltsame Blüten. Mehr als einmal versuchten Geschäftsfreunde Rollentausch vorzunehmen und Sexpartys waren “in“… Auf solche Spielchen ließ Lissy sich nicht ein. Wenn sie Interesse gehabt hätte…, so hätte sie in aller Heimlichkeit selbst gewählt. Doch in ihrem Bekanntenkreis gab es keinen Mann, für den sie ihre schwer erkämpfte Position aufgegeben hätte. Es blieb bei Geplänkel und Appetit holen.Der “Rheinische Karneval“ wurde, wie immer in den letzten Jahren groß gefeiert und in diesem Jahr sollte, nach einer Abmachung im Freundeskreis, das Karnevalsspektakel bei Lothar und Lissy stattfinden.Um Lothar zu überraschen, und ihn nach der Kur zu entlasten, bereiteten Lissy und Tim das Büro und die Wohnung auf die Karnevalsfete vor. Lissy übernahm die Bestellungen für das kalte Buffet und Tim, der am Rosenmontag seinen sechzehnten Geburtstag feierte, lud alle seine Freunde aus Schule und Reitstall ein. Kurz vor seiner Rückkehr aus der Kur rief Lothar an und Lissy sprach voller Stolz von ihren Vorbereitungen zur Karnevalsparty. Tim hörte vom anderen Ende der Leitung zu, und wollte von seinen Vorbereitungen erzählen aber Lothars Reaktion auf diese Nachricht war heftig. Lothar war beleidigt, dass sie ihn nicht hinzugezogen hatten. Das war für Tim niederschmetternd, denn er hatte seinen Vater überraschen wollen. Lissy konnte sich Lothars Reaktion nicht erklären, aber so war er eben. Er wollte der “Macher“ sein. Sie war verärgert, aber sie wusste, am nächsten Tag sieht alles wieder anders aus. Und so war es denn auch. Als Lothar nach Hause kam, war er überrascht und voller Lob. Tim äußerte sich nicht zu Lothars Verhalten, aber er war enttäuscht.Das Fest jedoch wurde ein voller Erfolg. Alle…, auch die seriösesten Geschäftsleute kamen in Kostümen, die sie selbst zusammengestellt hatten. Lothar ging als Neanderthaler mit einer Felldecke und einer Perücke. Er schwang einen Riesenknochen und war “Voll in Fahrt“.Hier konnte er sein schauspielerisches Temperament entfalten. Er hatte sein Publikum und war zufrieden.Eines war Lissy etwas zu schrill… Sie sah zu fortgeschrittener Stunde, dass Lothar mit der Frau eines Geschäftsfreundes ziemlich heftig kuschelte. Lothars Hände waren, wo sie nicht sein sollten…Fastnacht wird heftig geküsst, und keiner denkt sich was dabei. In Köln sagt man „gebützt“.Doch das, was Lothar da veranstaltete, ging über das Erlaubte hinaus. Lissy war das peinlich und sie hoffte, dass es im allgemeinen Trubel nicht aufgefallen war.Sie ging hin und stieß ihn heftig an und als er sie ansah, wusste sie er hat zu viel Alkohol im Blut. Die Frau war anscheinend einem Orgasmus nahe, denn sie sah Lissy verwirrt an, stand auf, und wurde nicht mehr gesehen. Ihr Ehemann, ein bekannter Geschäftsmann, hatte sie gar nicht vermisst und fuhr später mit einem Taxi nach Hause. Lissy schwieg… Das Fest war gelungen und am nächsten Tag wusste Lothar von nichts.Sie dachte wieder: „Alkohol…, guter Freund, böser Feind!“Tim und seine Freundinnen und Freunde feierten bis zum Morgen. Lissy tanzte noch mit den japanischen Ärzten, die unermüdlich bis zum frühen Morgen durchhielten und um sechs Uhr früh, sank sie müde, aber vollkommen zufrieden ins Bett, wo Lothar im Erschöpfungsschlaf lag. Er lag still und unschuldig da, wie ein braves Kind. Wie er immer behauptete, schlief er traumlos. Lissy hatte Helfer bestellt, die das Chaos in den Räumen beseitigen würden und als sie gegen Mittag erwachte, waren Büro und Wohnung in einem annehmbaren Zustand. In den Tagen danach, erhielt Lissy Dankschreiben und Blumen. Sie hatten sich alle köstlich amüsiert.Lissy freute sich, nun wieder in altes Fahrwasser zurückzukehren und war jeden Tag für eine Stunde im Reitstall. Der Sport hielt sie und Lothar fit, aber die Arbeit musste am Abend nachgeholt werden.
Jahresabschlüsse und Steuererklärungen für die Mandanten hielten sie in Düsseldorf, denn im Februar würde Lothar seinen jährlichen Kuraufenthalt antreten.Doch hatten sie Sehnsucht nach dem kleinen Haus und den langen Spaziergängen und fuhren an einem Wochenende in den Westerwald. Der Schnee hatte die Landschaft märchenhaft verändert. In der Nähe hatte man eine Ski Bahn und einen Übungshang für Skianfänger gebaut. Es gab sogar eine Liftanlage. Zwar war es nur eine kleine, aber ziemlich steile Abfahrt, doch Tim und Jorgi hatten ihren SpaßGut durchlüftet und froh kamen sie zurück und waren überrascht, als sie sahen, dass ein Luxusauto vor ihrem Häuschen parkte und zu ihrer Überraschung stieg Ehrhardt, der Ehrhardt, den sie zuletzt im Schwarzwald, unter seltsamen Umständen gesehen hatten, aus.Er war allein und keinesfalls verlegen, sondern sichtlich erfreut, sie zu sehen.Zuvor war er bei Jupp gewesen und hatte nach Lothar gefragt.Wie Jupp nachher erzählte, hatte Ehrhardt ihm, der nie Rum trank, zwei Flaschen Stroh Rum geschenkt, die er in der Raststätte gekauft hatte. Das fand Jupp komisch. Lothar war überrascht über Ehrhardts Besuch, von dem er seit der Begegnung im Schwarzwald nichts mehr gehört hatte. Aber Ehrhardt tat, als sei nichts gewesen und auf Lissys Frage wo denn die „blonde Schönheit“ geblieben sei, sagte er: „Die habe ich abgefunden, das war eine Geschmacksverirrung“. Von Carla, seiner verstorbenen Frau kein Wort und auch über seine Kinder sprach er nicht. Lothar drang nicht in ihn, denn das hätte ja doch keinen Zweck gehabt.Dann bestand er darauf, mit ihnen, Tim und Jorgi essen zu gehen.Sie fuhren zu einem eben eröffneten einfachen, kleinen Gasthof, wo Ehrhardt sich in einem Gästebuch eintrug. Der Wirt vermutete als er den Luxuswagen sah, dass Ehrhardt ein außergewöhnlicher prominenter Gast sei, und Lothar ließ ihn in dem Glauben. In Lissys Augen schien Ehrhardt ganz normal zu sein aber Lothar sagte: „Das ist nicht der Ehrhardt von früher! Der ist irgendwie komisch!“ Der Abend verlief freundschaftlich und bei einer guten Flasche Wein verlief der Abend eher freundschaftlich. Am Tag darauf fuhr Ehrhardt ab, mit den Worten, Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder. Kommt doch mal nach Ascona. Ich habe allerlei Pläne. Vielleicht gründe ich eine neue Universität und baue ein elegantes Hotel für prominente Gäste. Das fanden sie seltsam aber sie dachten, das ist ein Scherz, denn es konnte ja unmöglich sein Ernst sein.Doch die Ereignisse, die ein paar Wochen später eintraten, sollte sie eines Besseren belehren. Nun aber lächelten sie nur und dachten, Ehrhardt macht Witze.Ehrhardt rief dann aber noch einmal aus Köln an und sagte, ich habe mich entschlossen, noch einmal in den Schwarzwald zu fahren. Ich melde mich bei Euch. Ich habe Euch noch vieles zu erzählen!“ Zwei Tage später rief er aus der Schweiz an und sagte: „Ich glaube, ich werde verfolgt!“„Ehrhardt, wir besuchen Dich, sagte Lothar und am darauf folgenden Wochenende fuhren sie nach Ascona und nahmen wieder ein Zimmer in dem Hotel am See. Mit einem Taxi fuhren sie zu Ehrhardts Haus, das sie noch nicht gesehen hatten. Es stand in wundervoller Lage an einem Hang, der über Ascona lag.Als sie der Taxifahrerin die Adresse nannten sagte diese in Schwyzer Deutsch: „Das ist der verrückte aus Hamburg! Der hat sich zum Ritter schlagen lassen von diesen Scharlatanen!“ Ganz Ascona lacht darüber.Was war das? Sie konnten sich keinen Reim darauf machen aber Ehrhardt empfing sie ganz natürlich. Er zeigte ihnen das Haus. Er hatte die Möbel aus dem Heidehaus hier aufgestellt und ein schlecht gemalter Akt von einer sogenannten früheren Agentin, die er, wie er sagte beim Geheimdienst im Krieg kennen gelernt hatte, hing an der Wand im Wohnzimmer. Er hatte schon früher von Canaris, dem Geheimdienstchef der Nazis gesprochen, aber das hatten sie nie ganz ernst genommen.Kein Bild von Carla und den Kindern.Sie sagten nichts. Ehrhardt lud sie zum Essen in dem Hotel am See ein und dort begann er die Unterhaltung im Flüsterton. Er sagte: „Sie sind hier, ich weiß es!“Lothar sah Lissy an und schaute sich um. Sie wussten nicht, was sie dazu sagen sollten aber Lothar sagte: „Ehrhardt…, was ist los?“ Leidest Du an Verfolgungswahn oder hast Du krumme Geschäfte gemacht?“Ehrhardt sagte: „Nein…, ich nicht, aber sie haben mich um eine Million betrogen. Sie haben mir gefälschte Gemälde verkauft aber die Frau auf dem Bild hält zu mir.Sie liebt mich und will helfen, mein Geld zurück zu bekommen das sie mir aus der Tasche gezogen haben. Meine Kinder wollen mich entmündigen lassen!“ Ich habe mein Bankkonto sperren lassen. So sprach Ehrhardt, einst ein cooler Hamburger Geschäftsmann, der Wert auf Seriosität legte.Warum hast Du nichts gesagt, als Du uns im Westerwald besucht hast, und wo warst du in den letzten Wochen? Ich habe eine Alkoholentziehungskur gemacht!“ sagte er. „Ich bin jetzt clean!Dann erzählte er im Flüsterton, dass man ihn bedroht habe. Sie schleichen dauernd um mein Haus herum!“Lothar meinte: „Willst Du nicht die Polizei einschalten und sie wegen Betrug verklagen?“„Nein, das kann ich nicht, aber ich werde mich, jetzt wo ich clean bin mit ihnen auseinandersetzen. Sie sind oft in einem Lokal in der Nähe und in den nächsten Tagen, werde ich Maßnahmen ergreifen, um mein Geld zurückzuholen. Ich weiß viel über sie!“„Sei vorsichtig“, sagte Lothar, das sind Betrüger, die vor nichts zurückschrecken.„Lass mich nur machen“, sagte er. „Ich habe mich schon mit meinem Anwalt in Hamburg unterhalten!“ Beim Abendessen, das sie in dem Hotel am See einnahmen flüsterte er plötzlich und sagte: „Sie sind hier. Ich weiß es!“Das klang schon nicht mehr so mutig und Lothar sagte: „Wir müssen wieder nach Düsseldorf, melde dich, wenn Du Hilfe brauchst!“Von Normalität konnte man in der Tat nicht sprechen, denn Ehrhardt war wirklich in höchster Gefahr aber zu dem Zeitpunkt wussten sie noch zu wenig über dessen seltsamen Bekanntenkreis und er wollte nicht mit der Sprache heraus.Lothar bereitete seinen Kuraufenthalt vor und nahm die wichtigsten Termine wahr. Lissy übernahm, wie jedes Jahr die Büroleitung, was aber die Sekretärin übel nahm. Hatte Lothar dieser auch Kompetenzen übertragen?„Was ist nur mit unseren Männern los“, dachte sie.Carla, warum musstest du so früh sterben?Dumme Fragen, die niemand beantworten kann...
Lissy half Lothar beim Packen des Koffers, aber Lothar war irgendwie genervt. Lissy hatte alles für seine Abwesenheit vorbereitet, doch plötzlich erschien er in der Küche und sagte: „Deine Mutter ist sicher froh, wenn ich weg bin!“ Lissy schaute auf und sah, dass er wirklich Streit suchte und das…, kurz vor der Abreise.Wenn er Lissy treffen wollte, und sonst nichts monieren konnte, machte er dumme Bemerkungen über ihre Mutter. Er war unglaublich eifersüchtig, wenn Lissy andere Menschen mochte und Lissy liebte ihre Mutter, mit der sie so schwierige Zeiten durchlebt hatte.An diesem Morgen war Lissy erbost über diese Redensarten, aber sie antwortete nicht, denn einen so nutzlosen Streit wollte sie am Tag seiner Abreise nicht zulassen. Er jedoch lästerte weiter. In Lissy begann etwas zu kochen, das schon lange auf der heißen Platte stand. In ihr kam plötzlich ein Gefühl von Wut auf und ihr Blick fiel auf ein langes Brotmesser, das auf dem Tisch lag. Ihr Blick verweilte einen Augenblick auf diesem Mordinstrument und dann sah sie Lothar in die Augen. In ihren Augen muss Mordlust gewesen sein und in ihrem ganzen Leben hatte sie nicht so ein Gefühl von Wut erlebt, wie an diesem Morgen.Diesem Blick hielt Lothar nicht stand. Er verließ die Küche, und Lissy legte das Brotmesser in die Schublade.An diesem Morgen war Lissy erleichtert, dass er in Kur fuhr und sie begleitete ihn noch bis zur Haustüre, um zu sehen, dass er wirklich abfuhr. Er sagte: „Du kümmerst Dich ja ums Büro, ich weiß, ich kann mich auf Dich verlassen! Sei mir nicht böse…“Lissy war blass und sagte: „Ja, Du kannst beruhigt fahren, wie immer…!“ Kein Kuss, kein Händedruck…! Er versuchte es auch nicht… Lothar hatte überzogen… So schnell war der Schmerz nicht vorüber, denn Lissy war dabei gewesen, die Beherrschung zu verlieren und das verzieh sie sich nicht.Ein neuer Tag brach an und Lissy freute sich auf die Büroarbeit und die Gespräche mit den Mandanten, die sie schon so viele Jahre kannte. Wie jung waren sie alle doch gewesen…Mit einigen Mandanten hatten sie über die Jahre Freundschaft geschlossen. Die Kontakte zwischen Mandanten und Beratern waren eng und persönlich, denn nach dem Krieg waren die Geschäftsleute und Handwerker verunsichert. Kaum einer wusste etwas über die neuen steuerlichen Belange und so hatten sich freundschaftliche Beziehungen entwickelt, die über das Berufliche hinausgingen. Lissy bemerkte, dass die Sekretärin verärgert war, weil Lissy die Telefonate annahm und Terminvereinbarungen traf, aber das hatte sie doch in all‘ den Jahren gemacht, wenn Lothar abwesend war… Die Gehaltshöhe konnte es nicht sein, denn Lothar zahlte über Tarif und das Personal bekam Weihnachts- und Urlaubsgeld in Gehaltshöhe.Hatte Lothar der Sekretärin vor der Abreise Kompetenzen gegeben? Hatte er ihr gesagt, sie möge alles überwachen? War sie nun beleidigt, weil Lissy diesen Part übernahm? Lissy traf die Feststellung, dass das Personal immer zusammenhält, wenn sich Disharmonien zwischen Arbeitgebern und Personal einstellen. In diesem Falle bemerkte Lissy auch Zurückhaltung bei den zu Hause arbeitenden Angestellten und den Buchhalterinnen. Es war eine seltsame Stimmung, die sie bisher nicht kannte. Doch letztendlich hatte sie festgestellt, dass es immer irgendeine Lösung gibt.Man muss nur genug Geduld aufbringen.Sie erinnerte sich gerne an die Zeit des Anfangs der Selbständigkeit, als Lothar noch das Einmaleins der neuen Bundes Republik lernte. Die vier Jahre Kriegsgefangenschaft und Kriegserlebnisse hatten ihm und seinen Freunden vollkommen den Blick auf die neue Republik verstellt. Die daheim gebliebenen Bundesbürger hatten inzwischen das Einmaleins der demokratischen Politik zu lernen versucht und im Ausland behauptete man immer noch, dass die Deutschen Demokratie nicht begreifen könnten. Man sprach scherzend von „Demokratur“ und sagte, die deutsche Bevölkerung sei immer und ewig Dienerschaft für König und Kaiser gewesen, darum hätte Hitler so viel Erfolg gehabt. Nach dem Motto: “Wes Brot ich esse, des Lied ich singe!“Eines Tages erschien eine der Buchhalterinnen, welche die Buchführung für ein größeres Maler- und Anstreicher-Geschäft erstellte. Der Mandant brachte der zu Hause arbeitenden Angestellten persönlich die erforderlichen Unterlagen, und holte sie nach Fertigstellung, mit der Umsatzsteuererklärung bei dieser ab. Dies wurde seit längerer Zeit so gehandhabt, aber in diesem Monat hatte er sich ihr, wie die Angestellte erklärte, unsittlich genähert. Was wirklich vorgefallen war, konnte Lissy nicht erfahren, denn die fünfzigjährige Frau flüsterte mit der Sekretärin. Auch hier schaltete das Personal Lissy aus. Abends sprach Lissy mit Lothar, aber auch er konnte sich keinen Reim darauf machen. Eine seltsame Geschichte, denn der Malermeister und seine Frau, waren unlängst Gäste im Westerwald gewesen, und dort hatte Lissy den Eindruck gewonnen, dass das Ehepaar einen soliden, wenn auch etwas langweiligen Eindruck machte. Die Ehefrau des Malermeisters meinte, man brauche nicht immer ein Glas vor sich stehen zu haben, um fröhlich zu sein und schlug vor, Wanderlieder zu singen, was sie dann auch höflichkeitshalber taten. Es war ein seltsamer Anblick, die Männer zum Abendessen Tee trinken zu sehen.Als Lothar zurückkam, kündigte die Angestellte und Lothar entließ sie mit einer Abfindung, aber auch er erklärte Lissy nicht, was vorgefallen war. Der Malermeister war nicht mehr ihr Mandant und alles verlief im Sande.ErinnerungenJa…, Lissy erinnerte sich gerne an die Zeit des Anfangs, als sie noch mit der Schreibmaschine die Mandanten besuchten und sich über jeden neuen Kunden und dessen Honorarüberweisungen freuten. Nun konnte sie mit manchem Mandanten aus der früheren Zeit sprechen. Alle waren um gut zwanzig Jahre älter geworden. Es gab Scheidungen, Kinder wurden geboren und manche hatten schon Enkelkinder. Sie hatten ihre Kinder schon früher bekommen als Lissy und waren fast Großeltern, als Lissys Jungen noch in der Pubertät waren. Lissy hielten die jungen Menschen, die nun ins Haus kamen, jung. Sie erlebte im Vergleich noch einmal ihre Jugendzeit. Man war in allen Erziehungsfragen fortschrittlicher geworden, aber es war auch nicht einfach, immer das Richtige zu tun.Die Jugendlichen wollten „cool“ sein. Sie tranken schon früh Bier und es wurde viel geraucht. Die Eltern und Freunde machten es vor und die Erwachsenen nahmen das Problem aus Bequemlichkeit nicht ernst.Auch Lothar und Lissy sagten, dass ein Gläschen Bier nicht schaden könne.Schüler über sechzehn durften in einem bestimmten Teil des Schulhofs rauchen.Lothar nahm Alkoholkonsum der Jugendlichen nicht ernst und Lissy hatte sich angewöhnt, abends ein oder zwei Gläser Wein zu trinken und ein paar Zigaretten zu rauchen, wenn Lothar erst spät nach Hause kam. Nach dem Fernsehprogramm, das um null Uhr endete, nachdem Kuhlenkampf (“das Wort zur Mitternacht“) gesprochen hatte, las sie. Sie stellte keine Fragen nach Lothars nächtlichem Aufenthalt, aber er kritisierte, dass sie las. Längst hatte sie sich abgewöhnt, auf solche Reden zu antworten. Und am nächsten Tag war alles vergessen.Es kamen wieder Anrufe und wenn Lissy sich meldete, wurde aufgelegt…
Lothar hatte gerade die „Rheinische Post“ hereingeholt… Auf die Titelseite starrend sagte er: „Nein…, das kann doch nicht wahr sein…!“ Lissy sah das Bild auf der rechten Seite und sagte: „Das ist doch Ehrhardt…!“ “Mord in Ascona!“ stand dort in großen Lettern.Im ersten Moment wollten sie es nicht glauben.Ehrhardt in edlem Zwirn, Goldrandbrille, Krawattennadel, und goldener Uhr, so wie sie ihn kannten. Der Hamburger Kaufmann…Ehrhardt tot… gefunden in einem Graben auf der Straße von Locarno nach Bre.Dort hatte er schon längere Zeit gelegen und da man sämtliche Erkennungszeichen aus einer Kleidung entfernt hatte, war seine Identität nicht festzustellen gewesen. Nun hatte die Sensationspresse freies Spiel.Es war Ehrhardt, den niemand vermisst hatte. Er war sehr allein gewesen mit seinem Alkohol und der Angst. Karin, seine Frau, die ihn immer geschützt hatte, war unter seltsamen Umständen gestorben.Jetzt erst wurde es Lothar klar, dass Ehrhardts seltsames Verhalten und die Angstzustände tiefere Gründe gehabt hatten, aber Ehrhardt hatte nie darüber gesprochen. Er wollte als cooler Hamburger Kaufmann gelten.Die Sensationspresse im In- und Ausland bemächtigte sich des Themas und seine Töchter und der Schwiegersohn machten mit Sensationsberichten in aller Welt Geschäfte.Es gab Bilder von der Villa in Ascona, von der falschen Freundin Gisela Kemperdick, die sich als Gräfin darstellte, und dem falschen Steuerberater Willy Geuer, dem Strippenzieher. Sie hatten sich in seiner Villa eingenistet und wie die Sensationspresse schrieb, hatten sie es sich in seinem Doppelbett bequem gemacht, und Ehrhardt, in das Gästezimmer verbannt… Auch “Bild“ war, wie immer dabei, und alles wurde noch angereichert durch Vermutungen. Auch an den Kiosken in Deutschland, im Ausland und vor allem in der Schweiz, war es die “Große Sensation“. Die Veröffentlichung dieses Dramas verhalf den Kindern und dem Schwiegersohn zu großen Honoraren. Doch was war passiert? Als es Ehrhardt klar geworden war, dass er von seinen falschen Freunden betrogen worden war, suchte er eine Alkoholentzugsklinik auf und blieb dort sechs Wochen…, während Lothar dachte, er sei auf einer längeren Reise.Die Kriminalpolizei stocherte im Dunkel…Auch Ehrhardts Anwalt in Hamburg konnte nichts zur Aufklärung beitragen.Ehrhardt war das Opfer von Verbrechern geworden… Gisela Kemperdick und der sogenannte Steuerberater Willy Geuer nutzten Ehrhardts überhöhtes Geltungsbedürfnis, sich zum „Ritter“ schlagen zu lassen, wenn er bereit sei, eine gewisse Summe zu zahlen und Ehrhardt hatte, wohl unter dem Eindruck seiner Alkoholerkrankung, zugestimmt…Lothar hatte er, bei seinem Besuch in Düsseldorf, von dieser Aktion nichts erzählt.Wie sich später herausstellte, hatten ihm die falschen Freunde Gemälde und andere Kunstgegenstände verkauft, die später bei einem Einbruch, den sie veranlasst hatten, gestohlen wurden. Nun hatten sie das Geld und die Wertgegenstände, die sie wieder veräußern wollten und Ehrhardt hatte eine Million Schweizer Franken, die Gemälde und Wertpapiere verloren. Lothar hatte ihn gewarnt, als er erklärte, dass er sein Geld zurückholen wollte, doch hatte er Lothars Warnung nicht beachtet. Er glaubte, in Selbstüberschätzung, alles allein regeln zu können. Bei seinem Besuch in Düsseldorf hatte er einen stabilen Eindruck gemacht, aber die Zusammenkunft war zu kurz, um die Schwere seiner Erkrankung zu erfassen. Außerdem war er ja die weiten Strecken unfallfrei gefahren, was ihn normal erscheinen ließ. Wie später die Zeitschrift „Stern“ berichtete, litt er schon längere Zeit an Verfolgungswahn und konnte ohne Alkohol nicht leben. Doch ohne Grund waren seine Angstgefühle, wie sich nun herausstellte, nicht…!In Düsseldorf und im Westerwald muss er sich beschützt vorgekommen sein.Hier zeigte er sich nur als ein etwas exaltierter Mann, der er ja eigentlich immer schon war. Doch war er nicht der einzige Mann aus dem Bekanntenkreis, der ein solches Verhalten zeigte. In dieser Zeit lebten viele Männer mit überschätztem Selbstbewusstsein, und Ehrhardt kannten sie nur zusammen mit Karin, die ständig auf ihn achtete und ihn schützte. Karin hatte seine Alkoholabhängigkeit nie zu einem Gesprächsthema gemacht. Aus der Entzugsklinik zurück…, suchte er die ihm bekannte Bar in Ascona auf, wo er die falschen Freunde zur Rede stellen wollte. In völliger Fehleinschätzung bestellte er eine Flasche Wein. Wider besseren Wissens glaubte er, von der Sucht geheilt zu sein. Ein am Nachbartisch sitzender Handelsvertreter beobachtete sie, eine Gruppe Männer und eine Frau. Die falsche Gräfin, Gisela Kemperdick und die falschen Freunde lachten ausgelassen und sangen: “Ein Männlein steht im Walde, ganz still und stumm…!“Einer der Männer setzte sich zu Ehrhardt und forderte ihn auf, an den Tisch der Sänger zu kommen. Der Handelsvertreter hörte, dass Ehrhardt sagte:„ Erst wenn ich mein Geld zurück habe, will ich wieder etwas mit Euch zu tun haben“.Weitere Gespräche konnte er nicht verfolgen, weil er wegen eines Kundenbesuchs das Lokal verließ, aber später konnte er, dieses einen Satzes wegen, zur Aufklärung des Falles beitragen.Die Kriminalpolizei stellte fest, dass Ehrhardt sich hatte überreden lassen, an den Tisch der Betrüger zu gehen und er achtete dabei nicht auf den Alkoholkonsum, der ihn unfähig machte seine Ziele durch zu setzen und das sollte ihm zum Verhängnis werden. Er, der nach dem Krieg, ohne einen Pfennig Anfangskapital, als Vertreter für die Firma Opel arbeitete, scheute keinen Weg und keine Arbeitszeit, um die Verkaufszahlen zu erhöhen. Er erwarb sich Ansehen und schaffte es, auf einem ererbten Grundstück, ein Autogeschäft in der Nähe des Hafens einzurichten.Karin leistete viele Jahre Büroarbeit. Seine Erfolgsquote stieg, als sein bis dahin völlig wertloses Grundstück in den Bebauungsplan für ein Großprojekt der Stadt Hamburg fiel. Als Kaufpreis wurde ihm ein Hochhaus zugesichert. Ein Millionenobjekt…! Nun achtundsechzig Jahre alt, wollte er sein Leben genießen und verkaufte es für drei Millionen. An dem Hang über Ascona ließ er ein Haus mit Swimmingpool erbauen und hier wollte er mit Karin sein Leben verbringen. Die Ereignisse überschlugen sich…Karin war tot! Ehrhardt verfiel dem Alkohol und verlor einen Teil seines Verstandes. Die Betrüger hatten freies Spiel. Ehrhardt hatte diesen verkommenen Scharlatanen nichts entgegen zu setzen als sein eingebildetes, hamburgisches Gebaren des ehrlichen Kaufmanns und verlor sein Vermögen.Unter Alkoholeinfluss versprachen sie ihm ein ungeheures sexuelles Abenteuer. Ein anwesender Maler, der ein Haus in den Bergen über Ascona hatte, lud ihn ein, mit zu fahren. Ehrhardt ließ sich überreden.Sie nahmen weitere alkoholische Getränke zu sich und mit „Hallo“ betraten sie die Hütte des Malers.Die Verbrecher verloren keine Zeit. Als Ehrhardt eine Frage stellen wollte, schlangen sie einen Nylonstrumpf um seinen Hals und erwürgten ihn. Einfach so…!Danach trennten sie alle Erkennungszeichen aus seiner Kleidung.Sie schafften Ehrhardt, den ehrlichen Kaufmann, in einen Lieferwagen und warfen ihn in den Straßengraben, an der Autostraße von Locarno nach Bre.Alles hatten ihm die Verbrecher genommen.Seinen Kindern verblieb nur ein kläglicher Rest. Durch Zeitungsberichte und der Skandalpresse in aller Welt, hatten sie einen finanziellen Ausgleich…Lothar und Lissy hatten keine Kontakte mehr.Letztendlich wurden die Verbrecher gestellt. Es stellte sich heraus, dass der gedungene Mörder, der wegen eines Tötungsdeliktes erst ein Jahr zuvor aus dem Gefängnis entlassen war, Ehrhardt für fünfzigtausend Schweizer Franken umgebracht hatte. Auftraggeber waren die falschen Freunde Wilhelm Geuer und Gisela Kemperdick. Alle erhielten hohe Gefängnisstrafen.Ehrhardt wurde in Locarno eingeäschert.In Lissys und Lothars Erinnerung, blieb er ein guter Freund…
Zum widerholten Male hatte Lissy Anrufe erhalten. Das seltsam meckernde Lachen kannte sie schon, aber es regte sie nicht auf, doch war sie erschrocken, als Tim ihr ebenfalls von solchen Anrufen erzählte. Es machte sie wütend, dass man nun auch die Kinder belästigte.Lothar sagte, er wisse nicht, wer das sein könnte.Einen Verdacht hatte er bestimmt, denn Lissy sah in seinen Augen, dass er sich abschottete. Lothar sagte: „Wir haben von Hetty für morgen eine Einladung zum Essen“.„Ist etwas Besonderes?“, frug Lissy. „Ich weiß nicht“, sagte Lothar. „Vielleicht will sie nur mal ausgehen. Sie ist ja auch ziemlich allein, seitdem Max tot ist. Von der Verwandtschaft will sie nichts mehr wissen, seitdem der Neffe mit dem Brauereidirektor diesen abstrusen Mietvertrag geschlossen hat. Sie hat gebeten, einen Tisch im Breidenbacher Hof zu reservieren.“Lissy konnte ich keinen Reim darauf machen, warum Hetty in diesem teuren Restaurant speisen wollte, aber sie ließ einen Tisch reservieren.Sie wusste, dass Hetty großen Wert auf angemessene Kleidung legte und inspizierte ihren Kleiderschrank. Ja…, der schwarze Hosenanzug und die kostbare weiße Bluse, das war der richtige Anzug…Sie holten Hetty ab und auch sie war elegant gekleidet, und freute sich sichtlich auf den Abend.Lothar trug einen dunkelgrauen Anzug. Er sah sehr gut aus…Sie speisten in Ruhe und nach dem Essen, bei Kaffee und Cognac eröffnete Hetty ein Gespräch, mit dem sie nicht gerechnet hatten.Hetty sprach über ihren Nachlass. Sie hatte Lothar zu ihrem Alleinerben eingesetzt, wobei sie aber festgesetzt hatte, dass einige Legate von Lothar ausgezahlt werden sollten.Marianne, die Haushälterin, sollte Maximilians Elternhaus erben und dort sollte sie auch ein kostenloses Wohnrecht haben. Mieten in diesem Haus sollten ihr zufließen, damit ihr Lebensunterhalt gedeckt sei. Außerdem sollte sie alles Bargeld, das im Safe der Bank lag, zur alleinigen Verfügung haben. Alle Kosten, die im Zusammenhang mit dem Haus anfallen würden, sollte Lothar übernehmen.Ihr Haus in der Altstadt und das Haus außerhalb der Stadt, so hatte es Maximilian mit ihr besprochen, sollte Lothar erben.Lothar hatte mit einer solchen Erbschaft nicht gerechnet. Nie hatte Max mit ihm darüber gesprochen. Seine Freundschaft ging wohl weiter, als Lothar dachte. Hetty sah gesund aus, war aber sehr krank. Der Arzt hatte ihr eine Arznei gegeben, die es ihr ermöglichte, frei und wohlüberlegt, das Gespräch zu führen. Lothar war völlig überrascht, denn mit einer Erbschaft hatte er nicht gerechnet. Er war nicht geldgierig, gab Geld gerne und manchmal leichtfertig aus, aber er spekulierte nicht…! Schon gar nicht, auf das Erbe seiner Freunde. An diesem denkwürdigen Abend tranken sie zusammen einen guten Rheinwein und nach dem Essen verlangte Hetty einen französischen Cognac. „Den haben Max und ich immer getrunken, wenn wir außerhalb gegessen haben“, und zum widerholten Mal sagte sie: „Macht es Euch schön, das Leben ist kurz!“Auf der Rückfahrt waren Beide nachdenklich und schweigsam.Auf der Rheinuferstraße fahrend, bemerkte Lissy in der Ferne Blaulicht und sagte:„Ich glaube, auf der Allee ist Polizeikontrolle! Es ist vielleicht besser rechts abzufahren…!“„Wir haben doch nicht viel getrunken“, sagte Lothar. „Da kann nicht viel passieren…!“Lissy erwiderte: „Ich habe Wein und Cognac getrunken, und du auch…“, aber Lothar ließ sich nicht beirren, und fuhr weiter.Kurz bevor sie vor ihrem Wohnhaus ankamen…, Blaulicht…!Lothar ließ die Scheibe herunter. „Ja, Herr Wachtmeister…?“„Ihren Führerschein bitte…!“„Haben sie Alkohol getrunken…?“ „Ja“…, „zwei Bier…!“, sagte Lothar.Der Polizist sagte: „Ein Alkoholtest bitte“, und hielt ihm das berühmte Tütchen hin.Lissy wurde es langsam mulmig…Lothar sagte: „Ich bin Herzkrank und darf mich nicht anstrengen“…„Dann müssen Sie mitkommen. Ein Arzt wird die Überprüfung vornehmen!“Zu Lissy gewandt: „Fahren sie den Wagen auf den Parkstreifen!“Lissy:“Ich habe Wein und Cognac getrunken, ich fahre nicht!“„Dann soll mein Kollege das tun!“Lothar und Lissy stiegen aus, und Lothar wechselte in das Polizeifahrzeug.Sie sah dem Streifenwagen mit Lothar nach, und ging in ihre Wohnung.„Glück und Unglück innerhalb von drei Stunden“, dachte sie.Eineinhalb Stunden stand sie am Fenster und starrte auf die Allee…Dann kam Lothar. Den Test hatte er gut bestanden, aber er war nahe der Promillegrenze gewesen, und die Polizei hatte den Führerschein einbehalten. Die Polizisten waren wohl verärgert, weil er den Alkoholtest abgelehnt, und ihnen Mehrarbeit aufgehalst hatte.Sie sagten: „Der Führerschein geht an die Staatsanwaltschaft, dort soll man entscheiden!“Lissy dachte: „Die Rache des kleinen Mannes!“Da war guter Rat teuer und Lothar sagte: „Ich habe eine Menge Termine. Kannst du mich fahren?“Lissy sagte: „Ich kann Dich fahren, aber erst will ich noch ein paar Fahrstunden nehmen, damit ich deinen Ansprüchen gerecht werde. Ich möchte mich nicht von dir kritisieren lassen…!“Irgendwie genoss sie es, eine Retourkutsche zu fahren.Lothar sagte: „Ich backe ganz kleine Brötchen, bitte, tu mir bitte den Gefallen…!“ Für eine ganze Woche wurde Lissy Taxifahrerin. Von Lothar kam keine Kritik. Doch als sie am Wochenende zum Westerwald fuhren, kritisierte er: „Kannst du nicht etwas schneller fahren…?“Lissy genoss es, mit einhundertzwanzig Stunden Kilometer Tempo zu fahren, um ihn zu ärgern. Mit ihrem alten Einhundertachtziger fuhr sie schneller. Es war, so zu sagen, die Rache der kleinen Frau…, aber das war es dann auch. So ging es die nächste Woche weiter und sie warteten auf eine Nachricht der Staatsanwaltschaft. Eines Morgens…, Lothar stand unter der Dusche, kam per Einschreiben der Führerschein zurück.Lissy freute sich sehr und schob Lothar den Führerschein durch den Türschlitz und hörte einen Freudenschrei… Endlich war dieser Stress vorbei.Nun konnten sie sich wieder mit der Erbschaftsgeschichte beschäftigen. Hettys Testament lag in dem kleinen Tresor unter Verschluss. Einmal fuhr Hetty mit ihnen zum Westerwald und freute sich, mit ihnen im Reiterstübchen zu sitzen. Sie hatte wieder ihre besondere Medizin eingenommen, um den Tag gut überstehen zu können. Mit Jupp ging sie in den Pferdestall. Sie streichelte die Pferde und er erzählte wieder ein paar seiner Räuber Pistölchen. Hetty kam aus dem Lachen nicht heraus und sagte: „So einen schönen Tag habe ich schon lange nicht mehr erlebt!“Später aßen sie in einem Westerwaldrestaurant und Hetty war glücklich aber auch sehr müde.Als sie nach Hause kamen, fanden sie eine Trauerbotschaft vor. Ihre Freundin Elisabeth aus Rosenheim war verstorben. Ein plötzlicher Herzinfarkt…Lothars Freund Schorsch aus der Gefangenschaft war sehr traurig, und Lothar fuhr am Tag darauf nach Rosenheim zur Beerdigung. Elisabeth war erst achtundvierzig Jahre alt geworden.
Lothar war schon früh zu Elisabeths Beerdigung gefahren und Lissy führte ein Gespräch mit Schorsch, der es nicht fassen konnte, dass Elisabeth so plötzlich gestorben war, während er, nichtsahnend, in der Firma seiner alltäglichen Arbeit nachging. Er wollte nicht begreifen, dass er keinerlei Vorahnung gehabt hatte und er, der ein so gläubiger Katholik war, zweifelte an Gott.Lothars Besuch tat ihm gut. Sie waren zusammen in Gefangenschaft gewesen und Lothar konnte ihn trösten.Doch nach seiner Rückkehr hieß es, wie immer: „Das Leben geht weiter!“ Zeittötende, aber notwendige Wiederholungen von Worten und Handlungen bestimmen den Alltag und doch ist jeder Tag unvergleichlich mit dem Vergangenen. Ihr Interesse für Politik war indes ungebrochen.Helmut Schmidt, Sozialdemokrat, wurde im Jahr 1974 Bundeskanzler. Besondere Verdienste erwarb sich der Bundeskanzler während der Hamburger Hochwasserkatastrophe, als er noch Verteidigungsminister war und ohne Weisung, die Bundeswehr zur Hilfe für die Opfer dieser Katastrophe rief.Eines seiner Zitate war: „Keine Begeisterung sollte größer sein, als die nüchterne Begeisterung zur praktischen Vernunft.“ und…:„Die Demokratie lebt vom Kompromiss. Wer keine Kompromisse machen kann, ist für die Demokratie nicht zu gebrauchen.“ Das Jahr 1974 wurde ein Jahr der Abschiede. Oskar, der Architekt der Wochenendhäuser,war von einer Demenz heimgesucht. Er, der lausbubenhafte Charmeur und unermüdliche Erzähler kurioser Geschichten, hatte Erinnerungslücken. Er stand manchmal mitten in der Nacht auf, und lief durch den an seinem Haus grenzenden Wald. Brigitte…, die damenhafte, zarte Frau suchte ihn, und brachte ihn nach Hause.Er hatte seine Tätigkeit für die Universitätskliniken aufgegeben und widmete sich seinem wundervollen Garten. An einem heißen Sommertag hatte er sich auf den Stufen der kleinen Treppe, die zum Garten führte, ausgeruht und war dort eingeschlafen. Als Brigitte ihn zum Essen rufen wollte, saß er, mit einem Lächeln auf den Lippen, friedlich an der Wand lehnend. Oskar, der Freund und unermüdliche Erzähler, war tot.Lissy und Lothar waren sehr betroffen und traurig…Lothar sagte: „Vielleicht sollte ich mein fünfundzwanzigstes Geschäftsjubiläum feiern.Wer weiß was morgen ist!“ „Die Idee ist gut“, sagte Lissy. „Dann können wir gleichzeitig deinen fünfzigsten Geburtstag feiern…“ „Einverstanden…,“ sagte Lothar, „aber das Arrangement musst du treffen“. „Wenn du mir freie Hand lässt, mache ich das“, sagte Lissy. „Ich verspreche es“, sagte er.Sie buchte einen Empfang für Mandanten, Kollegen und Geschäftsfreunde in einem am Rhein gelegenen Hotel, das sich mit großzügigen Festräumen anbot.Ein kaltes Buffet und gute Getränke, sollten neben Kaffee und Gebäck, die Gäste erfreuen.Zu Lothars fünfzigsten Geburtstag, am gleichen Tag, plante sie ein Fest für Verwandte und Freunde mit einem köstlichen Menü. Drei Musiker sollten mit Klavier, Gitarre und Schlagzeug zum Tanz auffordern. Abendkleidung… im Jahr 1974 ein absolutes Muss, sollte den Damen und Herren Gelegenheit geben, ihre Garderobe vorzuführen und sie in eine festliche Stimmung versetzen.So…, wohl vorbereitet, konnte das Fest gefeiert werden.Lissy hatte Einladungen versandt und alles für das Fest organisiert.. Viele Mandanten sagten zu und am Vormittag fand sich eine große Gesellschaft zusammen. Für Lissy war es sehr interessant, Mandanten kennen zu lernen, mit welchen sie fünfundzwanzig Jahre nur telefonischen Kontakt gehabt hatte, oder für die sie die Buchführung erstellt hatte. Tim und Jorgi waren auch dabei und es war wohl auch das letzte Mal, das Jorgi mit Blazer, weißem Hemd und Krawatte auftrat. Zu dieser Zeit wollten Jugendliche keine konservative Kleidung. Die Zeit der zerrissenen Jeans begann und Jorgi lernte zu dieser Zeit, wie man mit feinen Stichen Flicken auf die Hosen nähte und extra Risse einplante. Lothar gefiel das gar nicht und Jorgi probte den Aufstand.Tim hatte diesbezüglich keine außergewöhnlichen Kleidungsprobleme.Er brauchte keine langen Haare und keine zerrissenen Hosen.Ihm waren diese Kleidungsprobleme eher unwichtig. Er widmete sich dem Computerunterricht, der im Gymnasium, nachmittags, privat von einem Lehrer erteilt wurde. Zu Lothars Geburtstag kam Freund Schorsch aus Rosenheim.Freundin Brigitte war auch der Einladung gefolgt.Beide hatten ihre Lebenspartner verloren…Sie begegneten einander und waren sich in gemeinsamem Leid sofort nahe, aber es schien auch, dass beide aneinander Gefallen fanden.Lissy fiel auf…, dass Brigitte Lothars Freund Schorsch…, Georg nannte.„Aha“, dachte sie, „da brennt was“, und es war wirklich so… Die Beiden verstanden sich von Minute an, aber sie passten auch gut zueinander. Die zarte, fünfzigjährige, konservative Brigitte und der gut aussehende, sechzigjährige, bayrische gepflegte und charmante Geschäftsführer. Das glatte Gegenteil von Brigittes Ehemann Oskar, der mehr der künstlerischen Freiheit zugeneigt war, und mit flotten Sprüchen die Gesellschaft unterhielt. Georg gehörte der konservativen Münchner Gesellschaft an, aber unterhaltsam war auch er. Es gab ein kleines Problem. Brigitte war evangelisch, Georg bayrisch – katholisch.„Das muss man beobachten“, sagte Lothar aber er gönnte es dem Freund, vielleicht noch eine glückliche Zeit vor sich zu haben. Wie Brigitte später sagte, hatten sie eine rege Korrespondenz, von der sie aber nichts erzählten.Harmonisch und interessant war auch die Abendgesellschaft, bei der sich die langjährigen Freunde, Eltern und Geschwister zusammenfanden. Eine köstliche Speisefolge mit dem ersten Spargel verwöhnte Verwandte und Freunde, wobei auch ein guter Tropfen vom Rhein nicht fehlte.Dann wurde getanzt bis Mitternacht. Die Gäste genossen es, im Walzertempo und im Foxtrottüber das Parkett zu schweben. Es war ein gelungenes Fest… An diesem Abend waren auch Gäste dabei, ein Ehepaar das Lissy nicht kannte und Lothar widmete sich der Dame intensiv.Jorgi, mit der Begabung zum siebten Sinn, bemerkte das. Er forderte Lissy zum Tanzen auf.Der Tanz entwickelte sich eher zu Galoppsprüngen aber Jorgi gelang es, in die Nähe des Tanzpaares zu kommen, dessen Tanzpartnerin hingebungsvoll in seinen Armen lag. Sie schien schon reichlich anregende Getränke zu sich genommen zu haben. Plötzlich glitt die Dame aus Lothars Armen zu Boden…Lissy hatte Jorgi in Verdacht, ihr ein Bein gestellt zu haben, aber niemand hatte etwas bemerkt. Lothar half ihr auf die Beine und sie tanzten den Tango weiter, als wäre nichts passiert. Der redegewandte Jorgi hielt noch eine Ansprache zu seines Vaters Geburtstag in welcher er herausstellte, dass sein Vater ein Vorbild für ihn sei, und immer ein guter Vater bleiben würde.So ging der ereignisreiche Tag zu Ende und nach einem Erschöpfungsschlaf holte der Alltag sie wieder ein.Mit intensiver Arbeit ging es durch den Sommer. Die Pferde waren wieder im Westerwald und am Wochenende leisteten sie sich Ausritte.
Das Wetter in diesen Sommertagen war etwas unbeständig aber für die Ausritte mit den Pferden und den langen Wanderungen war es perfekt.Tim und Jorgi waren mit ihren Freunden unterwegs und verbrachten ihre Ferien mit dem auseinander nehmen alter Kraftfahrzeuge, die Lothar von einem Altwagenhändler erstanden hatte. Eines der Fahrzeuge hatte eine rote Nummer und Lothar fuhr mit Tim und Jorgi voraus. Plötzlich ein Stau, und Lissi hatte das Fahrzeug aus den Augen verloren. Was war passiert? Lissy rief die Autobahnpolizei. Die jungen Beamten versuchten den Polizeihubschrauber zu erreichen. Lothar und das alte Auto wurden gesucht, aber es war nicht zu finden. Besonders bemüht waren die jungen Polizisten, weil die hübsche Ricka, Lissys Nichte, im Fond des Wagens saß. Sie telefonierten hin und her und flirteten mit Ricka. Einer von ihnen gab Ricka seine Visitenkarte und sagte: „Ich wohne auch in Düsseldorf. Rufst Du mich an?“ Der alte Ford mit Lothar, Tim und Jorgi war verschwunden und Lissy machte sich Sorgen. Im Westerwald angekommen, waren Lothar, Tim und Jorgi schon da. Lothar war auf dem Parkstreifen am Stau vorbei gefahren und wegen der roten Nummer hatte niemand Einspruch erhoben. Für Tim und Jorgi hatte Lissy blaue Arbeitsanzüge und Arbeitsschuhe besorgt. Ölverschmiert werkelten sie an den Fahrzeugen. Jeden Abend lagen auf den Stufen vor der Haustüre ausgebaute Autoteile, die Lissy dann zum Abfallhof bringen durfte. Tim sagte: „Ich werde vor dem Studium eine Lehre als Automechaniker machen!“ So wie er Noten in seinem Gehirn speicherte, hatte er alle Handgriffe der Elektriker oder Installateure im Kopf. Jorgi befasste sich schon als kleiner Junge mit Elektrik und hatte sich eine Alarmanlage gebaut, die schon etliche Kurzschlüsse ausgelöst hatte, aber nichts konnte ihn von seinen Experimenten abhalten. Nun, in den Ferien, half er einem Freund, dessen Vater eine Konditorei im Dorf betrieb und im Nachbarort einen Backbetrieb gemietet hatte.Jorgi machte “Nachtschicht“ mit Bert, dem Sohn des Bäckers. Um zehn Uhr abends begann die Arbeit, damit um sieben Uhr früh, die frischen Brötchen und das Brot bereit lagen. Die Dorfbewohner behaupteten: „Fabrikbrot ist kein richtiges Brot!““Arbeit lohnt sich!“, sagte Jorgi und packte frische Brötchen und Hefegebäck aus. “Nach der „Schicht“ wie er sagte, zog er sich zum erholsamen Schlaf zurück.Heuernte… Der August wurde heiß. Die Heuernte begann. Johann, Jupps Sohn, konnte sich keinen Mitarbeiter leisten und so half Lothar, in Erinnerung an seine Zeit in der Gefangenschaft, bei der Heuernte. Die Anstrengung in der Sommerhitze war ihm anzusehen und Lissy sagte:„Übernimm Dich nicht!“ „Die Arbeit tut mir gut!“, sagte er. „Besorge du Kaffee und Butterbrote“. Sie ritt mit Sommerwind zur Mühle und besorgte Mühlenbrote mit Schlachtwurst.Irgendwie fühlte sich wie im “Wilden Westen“. “Abenteuerlich!“Tim war auch bei der Arbeit. Er stand oben auf dem Heuboden und nahm die Heuballen entgegen. Johann freute sich, denn er konnte sich keine bezahlte Arbeitskraft leisten. Die Rinderzucht und Milchwirtschaft brachte noch keinen Gewinn.Johanns Frau Lenchen hätte sich einer Operation unterziehen müssen. Sie hatte Schmerzen, doch während der Heuernte hatte sie etliche Arbeiten für den Hof zu leisten. Der Haushalt war zu versorgen und Marita, die dreizehnjährige Tochter konnte nicht helfen, denn sie war zum Schüleraustausch in Frankreich. Franz-Josef, der zwölfjährige Sohn, holte die Kühe von der Weide. Sie mussten an die Melkmaschine angeschlossen, und später nachgemolken werden. Johann legte großen Wert auf Sauberkeit. Die Kühe wurden unter Wasserstrahl abgebürstet und lagerten auf frischem Stroh. Ein Zubrot für den jungen Hof, war Johanns Arbeit für die Molkerei.Mit einem Lastwagen holte er die Milch von den einzelnen Höfen in den umliegenden Orten, um sie bei der Molkerei abzuliefern.Tim interessierte sich für den Lastwagen und diese Unternehmung.Er stellte den Wecker, stand um sechs Uhr auf, nahm eine Portion Gulaschsuppe zu sich, und begleitete Johann zur Molkerei, während Lissy, Lothar und Jorgi im Tiefschlaf lagen.Gegen Mittag kamen sie zurück und Tim sagte:„Ich glaube, ich werde doch nicht Landwirt!“ Total übermüdet sank er ins Bett, und schlief zehn Stunden lang. Damit war die Landwirtschaft vom Tisch. Jorgi war stolz auf “seine Nachtschicht“, jedoch an Wiederholungen nicht interessiert. Es waren wundervolle Spätsommertage. Nach der Ernte ritten sie täglich aus, oder trainierten in der Reitbahn.
Um sechs Uhr in der Frühe kam ein Anruf von Marianne, Hettys treuer Hausangestellten. Sie sagte, Hetty sei gefallen und verwirrt und sie habe große Schmerzen im Leberbereich. Lothar bestellte sogleich einen Krankenwagen, und Lissy begleitete den Krankentransport. Während der Fahrt zum Krankenhaus erlitt die Kranke große Schmerzen durch das Rütteln und Stoßen auf der unebenen Straße. Lissy hielt die Hände der Kranken, die stoßweise atmete und deren Augen sich mit Tränen füllten.Im Marienhospital angekommen, brachte Morphium endlich Schmerzlinderung.Lothar besuchte Hetty, die wieder ansprechbar war, und sich über seinen Besuch sehr freute. Es schien sie sehr zu beruhigen, dass er bei ihr war. War er doch der Freund ihres Mannes gewesen, und für sie fast wie ein Sohn.Lissy holte Marianne, Hettys treue Haushälterin ab, die sich fürsorglich um die Kranke kümmerte.Entzündungshemmende Infusionen sollten Kraft geben, aber Hettys Gesundheitszustand verschlechterte sich von Tag zu Tag.Lothar nahm Kontakt zu den Ärzten auf. Die Kranke war kaum noch ansprechbar, aber wenn sie Lothar hörte, glitt ein Lächeln über ihr Gesicht.Trotz aller Freundschaft nannte Hetty ihn konventionell Herr Behrendt. Marianne, mehr Freundin als Hausangestellte, blieb Tag und Nacht bei ihr. Ihre „Chefin“, wie sie Hetty oft nannte, war ihr von Jugendjahren an von Hettys Mutter anvertraut worden, und fast sechzig Jahre wohnte sie mit der Familie in dem großen Altstadthaus. Doch nun lag ihre geliebte Hetty im Sterben. Es war ein langer, schwerer Todeskampf.Verwandte und Freunde kamen, um Abschied zu nehmen…Die Nonne rief sie einzeln in das Sterbezimmer. Hetty schrie vor Schmerzen und Luftnot, als Lissy das Zimmer betrat. Erschüttert dachte Lissy: „Warum gibt man den Sterbenden keine Morpheme…?“ Ohne Hilfe leisten zu können, musste sie das Zimmer verlassen. Die Nonne holte den nächsten Abschied-Nehmenden herein…Eine halbe Stunde später wurde es still im Sterbezimmer. Marianne, sechzig Jahre an Hettys Seite, war wie versteinert…Lothar legte den Arm um sie und sie weinte, herzzerreißend…Hettys Todeskampf war zu Ende und geschäftig wie eh und je, ging es weiter.Sie hatte angeordnet, dass man ihren Sarg verschließen sollte und gesagt:„Ich will, wenn ich tot bin, nicht angegafft werden!“Auch hatte sie gebeten, die Familienangehörigen von Max, nach der Beerdigung, bei einem Beerdigungskaffee zu verabschieden.Lothar arrangierte alles nach ihren Wünschen. Vier Tage später wurde Hetty, nach einer für sie gelesenen Messe, in dem von Max gekauften Familiengrab beigesetzt. Es war eine große Beerdigung… Verwandte aus der Familie von Max, Hettys frühere Angestellten, Freundinnen aus der Altstadt und manche Kundinnen nahmen teil.Lissy und Lothar hatten alles arrangiert. Die Trauergemeinschaft war groß undEinige dachten, sie seien Hettys Erben und benahmen sich auch so.Lissy begleitete Marianne in Hettys Haus in Kaiserswerth. Sie war todtraurig und Lissy wusste nicht, wie sie trösten konnte.Lothar war sehr nachdenklich, als er zurückkam. Er sagte: „Vielleicht bin ich der Nächste, den du beerdigen musst!“
Sie hatten zum Ferienende die Kirmestage im Westerwald verbracht und im Dorfkrug das Tanzbein geschwungen, als sich Besuch ansagte.Freunde, aus dem Reitstall in Düsseldorf, kamen mit den ihren Pferden, um ein Wochenende im Westerwald zu verbringen und baten Lothar, mit ihnen auszureiten. In den letzten Augusttagen war es unerträglich heiß und schwül geworden und Lissy meinte, es sei besser, nicht zu reiten, aber Lothar, voller Begeisterung sagte:„Wer weiß, wann die Pferde wieder hier sind! Wir können es ja langsam angehenlassen und im Wald ist es kühler…!“So verabredeten sie sich für den nächsten Tag in der Frühe.Lothar scheuchte sie mit dem Jagdhorn, einem Geburtstagsgeschenk von Freunden, aus dem Bett.„Die Leute warten auf uns! Ich habe zugesagt!“, sagte er.Tim und Jorgi freuten sich auf den Ausritt, wenngleich Jorgi dem Pony Moritz nicht den gesamten Weg zumuten, und nur bis zur Mühle reiten wollte.„ Bitte keine langen Galoppaden“, sagte Lissy, die sich Sorgen machte.„Wir müssen die Pferde schonen…!“Jupp hatte schon die Pferde gesattelt und sie machten sich auf den Weg, um die Freunde abzuholen, jedoch hatten diese sich entschlossen, nicht mit zu reiten.„Wir sind gestern erst spät ins Bett gekommen, und es ist uns ist es zu heiß“, sagten sie. Lothar war verärgert und sagte: „Vielleicht hättet Ihr anrufen können…!“Zu Lissy: „Wir müssen den Plan ändern! Ich fahre mit dem Wagen zur Mühle und Jorgi kommt mit Moritz dort hin.“„Gut“, sagte Lissy, „ich reite mit Tim die erste Strecke und Du kommst mit dem Wagen und reitest mit Bully… und Tim mit Sommerwind zurück…!Dann fahre ich nach Hause, hole Deine Mutter ab, und bereite das Mittagessen vor.“So ritten sie davon… Lissy und Tim ließen es langsam angehen, um die Pferde zu schonen, und abgesehen von der langsam aufkommenden Hitze, war es ein wundervoller Ausritt. Auf der Höhe wehte ein leichter, kühlender Wind und Lissy dachte: „Ein schöner Abschluss der Sommerferien…!“Nach etwa einer Stunde auf der Höhe angekommen, wartete Lothar schon auf sie. Er hatte die Kinder aus der Mühle, die darum gebettelt hatten, mitgenommen.Zwei kleine Mädchen, die voller Freude, übermütig über die Wiese liefen. Lissy bemerkte, dass eines der Kinder hinter die Pferde gelaufen war und sagte: „Vorsicht, nicht hinter die Pferde gehen, das ist gefährlich! Setzt Euch wieder ins Auto! Ich bringe Euch nach Hause.“ Lissy und Tim hielten die Pferde am Zügel und gönnten ihnen eine Pause.Lothar, der sich zuvor mit einem Jagdaufseher unterhalten hatte, kam zu Lissy, die Sommerwind an der Trense hielt. Er wollte aufsitzen, aber Lissy sagte erstaunt: „Das ist Sommerwind…, der Bully steht bei Tim!“ Aber Lothar schien nicht zu verstehen.Lissy sah ihn an und dachte: „Etwas stimmt nicht…!“„Wie war es in der Mühle?“, frug sie.„Ich habe ein Glas Sekt getrunken“, sagte er.Dann ging er zu Bully, den Tim an der Trense hielt und saß auf…Tim ritt Sommerwind und Lothar setzte übermütig zu einem Galopp an…So verschwanden sie im Wald…Lissy brachte die Kinder zurück zur Mühle…, holte Lothars Mutter ab, die in einem Hotel wartete, und fuhr mit ihr nach Hause, um das Mittagessen vorzubereiten.Nichts ahnend fuhr sie um dreizehn Uhr ins Dorf, um Lothar und Tim abzuholen.Es war um die Mittagszeit unerträglich heiß geworden.Dort angekommen, waren die Beiden noch nicht zurück und ein kleiner Junge sagte:„Onkel Lothar is runner jefallen“! (Onkel Lothar ist runtergefallen…)Lissy dachte: „Hoffentlich hat er kein Bein gebrochen!“Am Dorfende angekommen, sah sie eine größere Ansammlung von Menschen.Der Unfall musste sich schon eine Zeit vorher ereignet haben und man hatte Lissy nicht benachrichtigt. Ein Arzt aus dem Nachbarort war dort…Lissy sah Lothar auf der Straße liegend. Das Pferd war über ihn hinweggesprungen und Tim hatte es im Dorf eingefangen und in den Stall gebracht. Tim hatte nicht vermutet, dass Lothar schwer verletzt war. Kam es doch immer einmal vor, dass ein Reiter, durch irgendeinen Umstand fiel. Zuerst musste man sich dann um das Pferd kümmern, um weiteren Schaden zu vermeiden.Jorgi war am Ort des Unfalls und hielt mit anderen Personen ein weißes Bettlaken, um die pralle Mittagssonne von Lothar abzuhalten.Lissy würde nie den Ausdruck in seinem Gesicht…, und den entsetzten Blick auf seinem bewunderten Vater, der nun bewegungslos da lag, vergessen…Lissy kniete neben dem Arzt, der Lissy bedeutungsvoll ansah. Sie sah in seinen Augen Hoffnungslosigkeit. Lothar war nicht äußerlich verletzt.Das Pferd hatte wohl mit einem Huf die Reitkappe gestreift, die nun am Straßenrand lag.Lothar hatte sich mit den Leuten, die dabei waren ein Haus zu bauen, unterhalten und war, wie diese beobachteten, an der Seite des Pferdes herunter geglitten.Das Pferd, wahrscheinlich erschrocken über die Bewegung zwischen seinen Hufen, war erschrocken über ihn hinweggesprungen und hatte ihn am Kopf gestreift.Lissy hatte die Hoffnungslosigkeit in den Augen des Arztes gesehen und ging hinter einen parkenden Lastwagen, um sich zu beruhigen. Sie war entsetzt, aber sie weinte nicht. Sie war wie erstarrt und versteinert betrachtete sie die Szene, als sich ein Hubschrauber näherte, den ein Rotkreuzhelfer gerufen hatte. Die Sanitäter legten Lothar auf eine Liege und schleppten ihn über die holperige Wiese zum Rettungshubschrauber. Der Arzt meinte, er dürfe nicht stark bewegt werden. Lissy wollte mitfliegen, aber das war nicht erlaubt.Wortlos verließ sie mit Jorgi und Tim das Dorf und musste Lothars Mutter sagen, dass ihr über alles geliebter Sohn in der Universitätsklinik in Bonn sei.Sie meinte: „Das wird schon wieder. So schlimm kann das ja gar nicht sein. Nicht bei Lothar!“Lissy hatte nicht den Mut, ihr die Wahrheit zu sagen.Am Nachmittag fuhr sie mit Tim, Jorgi und ihrer Schwiegermutter zu der Klinik auf dem Venusberg, in Bonn. Sie durften Lothar nicht besuchen, weil er auf der Isolierstation lag.Nur auf dem Bildschirm war er zu sehen und sah starr, aber unverletzt aus.Tim und Jorgi waren entsetzt und traurig. Ihr sonst so lebhafter Vater, lag still und entrückt da. Lissy fuhr mit ihnen nach Düsseldorf zurück. Sie musste sich nun um den Bürobetrieb kümmern.Täglich rief der behandelnde Arzt an und berichtete, dass Lothars Ohnmacht anhielt.Dann kam der Tag, an dem er sagte, dass Lothars Persönlichkeitszentrum zerstört, und auch das Kleinhirn betroffen sei.Es waren drei Wochen zwischen Hoffen und Bangen. Lissy fuhr mit den Söhnen an einem der Wochenenden zum Westerwald, um sich abzulenken. Sie vermieden es, mit den Leuten, die ihnen begegneten, zu sprechen. Jeder wollte sein Bedauern über Lothars Unfall ausdrücken, aber es war viel Neugierde und Sensationslust zu spüren.Täglich rief der behandelnde Arzt an und sagte: „Es kann sein, dass ihr Mann noch einmal aufwacht, aber das würde ich ihm nicht wünschen, denn sein Persönlichkeitszentrum ist zerstört!“Dann kam der Tag an dem er sagte:„Es wäre gut, wenn Sie sich um die geschäftlichen Belange kümmern würden!“ Lissy erinnerte sich daran, dass Lothar gesagt hatte: „Ich werde nicht wie mein Vater sterben!“ Hatte er zu dem Sturz selbst beigetragen…?Was war die ganze Zeit in ihm vorgegangen…? An einem Tag, Anfang September, abends um elf Uhr, kam die Nachricht, dass Lothar gestorben sei.Obwohl sie mit dem Abschied gerechnet hatten, war es eine niederschmetternde Nachricht. Diese Endgültigkeit.…!Lissy sagte:„Es muss jetzt weiter gehen. Ich bin für Euch da!“ Sie sollten nichts entbehren.Die Jungen, besonders Jorgi, der erst zwölf Jahre alt war, litten sehr, aber sie waren tapfer und standen Lissy zur Seite. Eine völlige Umstellung ihres Lebens stand bevor. Wieder hatte Lissy Annas Worte im Ohr, die sagte: „Man muss tapfer sein im Leben!“
Es waren Tage der Hetze und Aufregung, die Lissy zu bestehen hatte. Tim und Jorgi wurden durch den Schulbesuch abgelenkt, aber Lissy sorgte sich um Jorgi, der merkwürdig verschlossen war.Er frug Lissy, ob er mitgehen müsse, wenn Lothar beerdigt würde und Lissy sah in seinen Augen Entsetzen über die Tatsache, dass sein Vater mit allen Feierlichkeiten in das Grab sollte.Sie umarmte ihn und sagte: „Nein, Du musst nicht mitgehen!“Eine große Architekturfirma, die Lothar vertreten hatte, sandte Lissy einen Wagen mit Fahrer, um Lothars Überführung von Bonn nach Düsseldorf zu organisieren. Lissy nahm das Angebot mit Dankbarkeit an.Noch war es sehr heiß in den ersten Septembertagen und die Klimaanlage in dem komfortablen Fahrzeug ließ sie für einen Moment aufatmen. Tim, der sie begleitete, noch so jung…, war ernst und plötzlich erwachsen geworden.Der sie in der Klinik begleitende Arzt sagte, es sei besser, wenn sie Lothar in Erinnerung behielten, wie vor dem Unfall, an seinem letzten Tag und dem letzten Ausritt ausgesehen habe. Er sagte, sein Aussehen habe sich, durch die vielen Untersuchungen stark verändert. Lissy wollte, dass Tim seinen Vater in einer guten Erinnerung behielt…Sie wusste…, Lothar hätte es nicht anders gewollt. Sie kümmerte sich um die Todesnachrichten, die Druckerei und die Beisetzung.Um Lothars Mutter machte sie sich große Sorgen. Die alte Dame war völlig in ihrer Trauer um den geliebten Sohn versunken.Über Tag war sie immer in Lissys Familie und Lissy brachte sie abends nach Hause.Sie sagte: „Warum Lothar, warum nicht ich? Ich bin alt!“Doch auf diese Fragen gab es keine Antworten…An besondere Trauerkleidung hatte Lissy nicht gedacht. Ein einfaches schwarzes Kleid war am Beerdigungstag angebracht. Kein Hut! Lothar hatte diesen Aufwand immer abgelehnt und sich lustig gemacht, wenn die Trauernden mit Schleiern und Hüten erschienen. „Alles Schau!“, sagte er.Es war immer noch sehr heiß und schwül.Als Lissy mit Tim eintraf, wartete eine Trauergesellschaft von mehr als hundert Personen auf sie.Lissy hatte gebeten, keine Blumenkränze zu senden, sondern bat um eine Spende für Kinder in Not. So waren nur mehrere Angebinde von den großen Firmen, und ein Kranz der Familie in der Friedhofkirche. Es war feierlich. Nicht alle Trauernden fanden Platz. Sie warteten vor der Halle und trugen sich in die Kondolenzliste ein.Der Organist spielte und plötzlich ging der kleinen Orgel die Luft aus.Lissy dachte an Lothar, der erzählt hatte, dass er als Junge die Orgelpedale treten musste. Um den Küster, den er nicht leiden konnte zu ärgern, hatte er manchmal die Pedale nicht getreten und die arme Orgel jammerte.Trotz aller Trauer konnte sie sich eines inneren Lächelns nicht erwehren und dachte: „Das war „Er“, Lothar, zum Abschied! Das hätte zu ihm gepasst…“Der Pfarrer hielt eine eindrucksvolle Rede. Er betonte, dass Lissy und die Kinder eine schwere Zeit vor sich hätten. Lissy fühlte sich wie gerädert vor Müdigkeit und Stress.Dann der Trauerzug zum Grab… Lothars Mutter, die trotz ihrer Beinbeschwerden, zwischen Lothars Cousin und dessen Frau dem Sarg folgte weinte und jammerte: „Mein Jung, mein Jung…!“Welcher Schmerz…! Lissy, neben Tim sagte: “Wir weinen nicht! Weinen können wir zu Hause!“ … und das gab Tim Kraft. Ruhig und ernst stand er neben ihr. Kondoliert wurde nur vom Pfarrer. Es waren zu viele Menschen da und man nahm Rücksicht. Die Beerdigungs-Feierlichkeiten gingen zu Ende und plötzlich, an diesem heißen, schwülen Tag verdunkelte sich der Himmel. Mit einem gewaltigen Donnerschlag, brach ein Gewitter aus. Dicke Tropfen ließen kurz vor dem Wolkenbruch, die Teilnehmer der Beerdigung in Geschwindigkeit den Friedhof verlassen, um in ihre Fahrzeuge zu gelangen. Nur für die Freunde aus dem Westerwald und Familienangehörige boten Anna und Jorgi belegte Brötchen, Kaffee und Cognac an.Die Gäste aus dem Westerwald verabschiedeten sich bald und so konnte Ruhe einkehren.Lissy lenkte sich, die Kinder und Lothars Mutter mit einem Fernsehprogramm ab, denn noch weiter über die Ereignisse zu reden, wäre unsinnig gewesen. So lief das Programm als Geräuschkulisse weiter, und jeder hing den eigenen Gedanken nach.Am Tag darauf verabschiedete sich die Sekretärin zu ihrem Mallorca Urlaub und Lissy war mit den Kindern und Lothars Mutter allein. Für sie war die Abwicklung der Geschäfte kein Problem. War sie doch mit den gesamten Geschäftsabläufen vertraut.Befreundete Kollegen boten sich an, die Praxis zu übernehmen oder geschäftsführend tätig zu werden und auch die Steuerberaterkammer bemühte sich um die gutgehende Praxis. Sehr interessiert war man an den großen Architekturfirmen, die ohne Beratung nicht sein konnten und bald Kontakt zu Lissy aufnahmen.Doch Lissy erbat sich eine Atempause, die ihr auch gewährt wurde.Wichtig waren ihr die Söhne und deren Seelenleben.Und ihnen war es von großer Wichtigkeit, dass sie ihr in dem nunmehr eintretenden Chaos beistehen konnten und Lissy bezog sie in alle ihre Vorhaben ein. Das half ihnen, sich mit der unabänderlichen Tatsache, den Verlust des Vaters, auseinander zu setzen und gab ihnen das Gefühl, der Mutter zu helfen.Jeden Tag hielten sie eine Lagebesprechung ab…Bald jedoch meldete sich eine große Steuerberatungsfirma.Der Geschäftsführer, ein außergewöhnlich guter Fachmann, interessierte sich für die Firma. Er und sein Partner vertraten die japanische Kolonie und eine japanische Bank in Düsseldorf.Sie waren besonders an den großen Firmen interessiert. Die gesamte Firma sollte komplett in dem Firmeneigenen Haus untergebracht werden. Die Sekretärin könnte, so sie das wollte wie bis dahin, nur für die Mandanten der Firma tätig sein. Ein guter Plan…!Sie boten an, dass Tim nach Abschluss seines Studiums, einen leitenden Posten in der Firma einnehmen könne.Doch das zu entscheiden, sei noch zu früh, meinte Lissy. Diese Aussicht sollte keine Belastung in seinem Werdegang sein Die ganzen dramatischen Ereignisse hatten ihre Nerven stark strapaziert, und an einem Tag im September, brach sie mitten auf dem Platz vor der Lottobude, als sie auf Jorgi wartete, erschöpft in Tränen aus.Bei der gegenüber liegenden Apotheke holte sie ein Nervenberuhigungsmittel und sagte: „Jetzt ist Schluss…!Nun muss etwas passieren…!“Bei einem Reisebüro, neben der Apotheke, buchte sie für Ende September, zu den Herbstferien, eine Reise nach Rom.
Ein holländischer Geschäftsmann, der in Hettys Haus eine Wohnung gemietet hatte, musste in die Niederlande zurückkehren, weil seine Aufenthalt Genehmigung abgelaufen war und so konnte Lissy die große Wohnung mit Büro in der Allee aufgeben und die Wohnung in Kaiserswerth beziehen. Die Aufgabe des Büros sollte erst zum Jahresschluss erfolgen. Lissy besuchte alle Mandanten persönlich. Ein Riesenpensum…!Doch konnte sie Vertrauen aufbauen, denn sie kannte die Mandanten durch ihre Mitarbeit, seit Beginn der Steuerberatungspraxis. Lothars Freund Günther, der Jurist, half Lissy bei der Vertragsgestaltung und beriet sie, zusammen mit dem Hausanwalt.Eine große Architekturfirma lud zur Besprechung ein. Lissy allein mit der gesamten Geschäftsführung… Partner der Architektengemeinschaft wollten einem ihnen bekannten Steuerberater das Mandat übertragen. Das hätte zu großem Schaden für Lissys Verkauf der Praxis führen können.Doch die Geschäftsführer entschieden sich für den, von Lissy vorgeschlagenen Wirtschaftsberater. Lissy verkaufte ihren Wagen und behielt Lothars Auto. Auch musste sie viele Möbel und Teppiche abgeben, da diese, der Größe wegen, nicht in die neue Wohnung passten.Anna, ihre Mutter half ihr bei der Haushaltführung und sorgte für die Söhne.Tim und Jorgi halfen mit all‘ ihren Kräften.Lissy besuchte, in den ersten Wochen nach Lothars Tod, täglich das Grab auf dem Nordfriedhof.Jorgi hatte noch seine Meerschweinchen Zucht und er brauchte Futter und Streumaterial, das sie immer in einer Tierhandlung kauften.In dem Geschäft stand eine große Kiste und in dieser Kiste saß ein schwarzer Zwergteckel.Sie sahen den kleinen Hund, der jämmerlich und bettelnd dreinschaute.Der Tierhändler sagte: Es ist ein Rassehund, mit Papieren, von dem Besitzer verlassen. Er will nicht fressen. Aus Mitleid habe ich ihn zu mir genommen. Er ist geimpft und geschippt.Jorgi sagte: „Lassen sie ihn doch mal aus der Kiste raus!“Der kleine Hund freute sich sichtlich, das Tageslicht zu sehen, als er zur Türe lief und Jorgi antwortete: „Mams, kauf´ ihn doch!“„Ja“, sagte Tim. „Wir wollten ja eigentlich einen Bernhardiner, aber ich glaube…, so ein kleiner Hund ist doch besser!“Lissy konnte ihnen den Wunsch nicht abschlagen, obwohl sie wusste, dass es eine große Belastung sein würde. Der Tierhändler sagte: „Sie können den Hund zurückgeben, wenn er krank wird.“Sie kauften den kleinen Hund gegen eine Schutzgebühr und nahmen ihn mit nach Hause.Anna, die zu Hause auf sie wartete, sagte: „Wie kannst du jetzt, unter diesen Umständen einen jungen Hund kaufen? Einen Hund, der noch nicht sauber ist!Das ist ja noch ein Welpe! Der frisst dir alles kaputt…!“Aber Lissy dachte an die Söhne, die abgelenkt waren, und besser mit ihrer Trauer umgehen konnten.Lissy sperrte ihn, während sie Termine wahrnahm, mit etlichen Zeitungen und Futter in der gefliesten Küche ein, und siehe da…, als sie nach Hause kam, hatte er alle Zeitungen zerrissen und das Futter angenommen.Nach Schulschluss nahmen Jorgi und Tim ihn an die Leine, und schon bald wusste das intelligente Hündchen, was zu tun war.Das erste, was die Söhne riefen, wenn sie aus der Schule kamen: „Wo ist Susi?“Bald schon hatte sich Anna mit dem kleinen Hund angefreundet und nahm ihn ab und zu mit nach Hause. Auch Poldi und Karl-Heinz boten Hilfe an.Die Pferde standen noch im Westerwald. Lissy wusste nicht, was sie tun sollte. Tim sagte: „Du wirst doch die Pferde nicht abgeben? Die Pferde können doch nicht dafür, das Paps verunglückt ist…!“„Wir werden sehen“, sagte Lissy. „Die Pferde im Reitstall in Düsseldorf zu halten, ist eine teure Angelegenheit und ich weiß nicht ob ich das bezahlen kann! Vorerst bleiben sie mal bei Jupp und wir können sie reiten, wenn wir im Westerwald sind!“
Inzwischen war die Sekretärin wieder aus dem Urlaub zurück und die Romreise rückte näher. Lissy war total urlaubsreif. Zu viel war in den letzten Wochen auf sie eingestürmt.Die Koffer waren gepackt…Sie flogen mit einer viermotorigen Lufthansamaschine. Für die Jungen ein großes Erlebnis. Die Maschine kreiste über Rom, bevor sie Landeerlaubnis erhielt, und so sahen sie bei strahlendem Sonnenschein, den Petersdom, den Tiber und die ganze Stadt. Flughafen Rom, Leonardo da Vinci…, eine eindrucksvolle, glatte Landung...!Lissy hatte ein Hotel, nahe dem Petersdom gebucht.Nun auf dem Flughafen warteten sie auf den Stadtbus nach Rom. Eine Stunde Wartezeit. So gingen Lissy und Tim auf die Suche nach einem Taxi.Jorgi hatte die Aufgabe, auf das Gepäck zu achten, das aufeinander gestapelt da lag. Im Flugzeug hatte man vor Gepäckdieben gewarnt und der clevere Jorgi legte sich quer über das Gepäck. „Hier geht nichts!“, sagte er!Dann die Taxifahrt zu dem gebuchten Hotel…Rom ist eine alte Stadt und so ging es auch mit dem Hotel, das in der Nähe des Petersdomes lag. Auf dem Foto des Reisebüros sah es allerdings komfortabler aus, als es war. Immerhin hatte man den roten Teppich ausgebreitet, um die Gäste zu empfangen.Lissy hatte ein Einzel- und ein Doppelzimmer bestellt.Ein freundlicher Lift-Boy, der sie anlachte, und dabei einen einzigen Schneidezahn zeigte, führte sie zu einem Aufzug, der sie mit mächtigem Getöse und Geruckel in die Höhe schleuderte. Das Zweibettzimmer hatte kein Bad, Waschgelegenheit draußen auf dem Flur und das Einzelzimmer nur eine Dusche mit einem einzigen, tropfenden Wasserstrahl an der Decke des Badezimmers.Das ging nun gar nicht, und der freundliche Hausdiener begleitete sie in die dritte Etage, aber dort herrschten ähnlich Verhältnisse. Also mit allem Gepäck wieder nach Unten in die Rezeption. Da war guter Rat teuer!Sie besichtigten ein Appartement im fünften Stock, mit einem Riesendoppeltbett (für wahrscheinlich drei Personen), ein Bett im Vorraum, und ein Bad.Aber welcher Luxus…! Das Zimmer nahmen sie…Ein Zimmer, wahrscheinlich aus der Gründerzeit oder früher. Möbel mit Intarsien und wundervollen Holzarbeiten. Wie aus dem Museum…Die Möbel hatten allerdings einige Besonderheiten, denn der Kommodenspiegel löste sich aus dem Rahmen und Jorgi, der einen der dicken Bettpfosten berührte, hatte diesen sofort in der Hand. Das Fenster ging auf die Straße hinaus, konnte aber zum Lüften nicht festgestellt werden. Trotzdem…, es war etwas Besonderes…Jorgi wollte in dem großen Bett schlafen. Tim schlief in dem Dienerbett im Vorraum. Abenteuerlich…, aber ganz den Vorstellungen entsprechend.Sie packten ihre Sachen aus, und der Portiere rief ein Taxi und empfahl ein Restaurant. .Es war ein großes Touristik-Restaurant, aber für Lissy, Tim und Jorgi genau das richtige. Bei freundlicher Bedienung, fühlten sie sich willkommen.Ein Sänger bewegte sich durch den großen Gastraum, und von einer Musikkapelle begleitet, schmetterte er Opernarien und Schlager. Tim und Jorgi fanden es “Klasse!“. Die italienische Küche war sehr gut und nicht “touristisch“.„Hier waren wir nicht zum letzten Mal“, sagte Lissy und sie genossen die entspannende Atmosphäre.Nach diesem Erlebnis warteten sie vor dem Restaurant auf ein Taxi, das der Kellner bestellt hatte.Dem Restaurant gegenüber befand sich ein großes Hotel, vor welchem ein amerikanisches Luxusauto parkte, das sich in Bewegung setzte und vor ihnen anhielt.Ein Fahrer in Livree stieg aus und bot ihnen an, sie ins Hotel zu fahren. „Kostet genau so viel, wie ein Taxi“, sagte er. Nach einigem Zögern und Ehrlichkeitsbezeugungen des Fahrers stiegen sie ein und der Luxuswagen setzte sich geräuschlos in Bewegung. So genossen sie noch einmal die Fahrt durch die römische Nacht, aber Lissy war doch froh, dass sie heil ankamen. „Das mache ich nicht wieder!“, sagte sie.Total übermüdet schliefen sie ein, aber was war das…, morgens um sechs Uhr…?Durch ein donnerndes Geräusch und Gerumpel, Autohupen und kreischende Räder wurden sie aus dem Schlaf gerissen, was besonders Jorgi und Lissy betraf.Tim war in dem fensterlosen Vorzimmer etwas geschützt, doch Jorgi stand erschrocken aufrecht im Bett und Lissy sprang auf…„Ein Bombenangriff…!“, dachte sie…Rom war erwacht…! Fünf Etagen tiefer, rumpelte die Straßenbahn vorbei. Lastwagen erkämpften sich die Vorfahrt und lautes Hupen verlor sich in den Häuserschluchten.Schlussendlich waren sie aber froh, dass kein neuer Krieg ausgebrochen war und zogen die Decken über den Kopf.Das Frühstück nahmen sie bei strahlendem Sonnenschein auf der Dach-Terasse ein. Linksseitig floss der Tiber…, rechts sahen sie das Dach des Petersdomes und unter ihnen das Leben der Miethausbewohner und ihre kleinen Obst- und Blumengärten.Plötzlich jedoch zog sich ein Wolkenschleier über die Sonne und es begann zu regnen.Lissy nahm ihren Reiseführer zu Rat und sagte: „Wenn es regnet, besuchen wir heute die Katakomben. Dann werden wir nicht nass!“ „Typisch Mams“, sagte Tim und kaufte die Eintrittskarten.Gesagt – getan…Sie sollten es nicht bereuen, denn diese unterirdischen Grabstätten sprachen über das Leben und Sterben der verfolgten Christen und erzählten ihre Geschichte.Kilometer weit zogen sich unterirdische Gänge. Tausende von Totenköpfen waren hier aufbewahrt. Die Geschichte der Christen über Jahrhunderte…Zwei Stunden durchwanderten sie diese unterirdischen Gänge.Um dieses Labyrinth zu besichtigen, würde es Jahre dauern.
Auf dem Piazza del Popolo standen jeweils mit einem Reisbegleiter, Busse zu Besichtigungsfahrten und es war ein Glücksfall, dass eine Kunsthistorikerin, die in Deutschland studiert hatte, kleinen Gruppen, oder Einzelpersonen ihre Begleitung anbot. Unter sachkundiger Führung, beeindruckt von der Größe des Petersplatzes und des Domes, hörten Tim und Jorgi der Reisebegleiterin zu, die, ohne sich im Datenjungel zu verzetteln, auf die Petrusstatue aufmerksam machte, und die Geschichte des Domes erklärte. Sie übersetzte ein Zitat aus dem Johannes-Evangelium: „Du bist Petrus, der Fels…, und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen.“ Still standen sie in der Mitte des Domes und schauten hinauf zu der Kuppel, zu der Tim und Jorgi fünfhundertsiebenunddreißig Stufen hinauf stiegen.Der Papst war zu dieser Zeit nicht anwesend. Er befand sich in seiner Privatresidenz Castle Gandolfo.So konnten sie den beeindruckend großen Platz, die wundervollen Säulengänge und die Petrusstatue, ohne sich stauende Menschenmassen, in Ruhe bewundern. Die Dame führte sie auch durch die Sixtinische Kapelle, und sie waren hingerissen von den Werken Michel Angelos.Es hätte viele Tage gebraucht, um die Gemälde und die Wand- und Deckenmalereien im Einzelnen zu betrachten. Ohne Begleitung besichtigten sie am Tag darauf die mächtige Engelsburg. Es war beängstigend still auf der Besichtigungsplattform. Heftiger Wind zerrte an ihren Haaren und die Herbstsonne brannte auf ihren Gesichtern. Beeindruckt von der Größe der Stadt, genossen sie die wundervolle Aussicht auf Rom, die Dächer und Türme der vielen Kirchen, Paläste, Parkanlagen und den Tiber…Hier also hatte sich die wahre Geschichte um Tosca, der Hauptfigur in der dramatischen Oper von Jaccomo Puccini abgespielt…Hier hatte sich Tosca, in unbeschreiblichem Schmerz in die Tiefe gestürzt.Mittels ihrer Rom-Karte bestimmten sie die Standorte der vielen Sehenswürdigkeiten und freuten sich auf die nächsten Tage.Übermütig liefen sie die vielen Treppen hinunter und ihre Stimmen verursachten ein vielfaches Echo in dem großen, leeren Treppenhaus. Von einem einsamen Verkäufer, am Ende der Treppe, kauften sie „Wiener Würstchen“. Er freute sich sichtlich über den Verkauf und die Tauben, die die Nahrung dankbar annahmen, auch… Für den Moment fühlte Lissy sich frei von allen Sorgen und Problemen. Zum Kolosseum begleitete sie wiederum die Reiseleiterin, die in großen Zügen dessen Geschichte erklärte.Vieles hatten sie im Geschichts- und Lateinunterricht gehört, aber hier, an Ort und Stelle, bekam die Geschichte Farbe. Jetzt erst hatten sie eine Vorstellung von der Größe dieser Arena und der Spiele.Die Grausamkeiten, die einst Christen und Gefangene ertragen mussten, kannten keine Grenzen. Man scheute sich nicht, wilde Tiere auf die Menschen loszulassen. Nur so… zum Spaß…„Andererseits?“…, frug sich Lissy…, „Ist es heute anders?“„Heute sind die Mittel anders, aber nicht weniger grausam!“Am Tag darauf bewunderten sie die spanische Treppe, die beidseitig mit wundervollen Blumenarrangements geschmückt war. Sie schritten die Treppe hinunter wie Könige, die dem Volk zuwinkten.Am Ende der Treppe befand sich eine kleine Kapelle, in der auf einem Altar Kerzen brannten. Lissy zündete eine Kerze an und sprach ein Gebet für Lothar, der eigentlich auf dieser Reise immer noch dabei war…An diesem Tag bewunderten sie auch den Trevi-Brunnen, den größten Barockbrunnen in Rom. Neptun, Herr über die Fluten, begleitet von Tritonen, “die Seepferde“ im Zaum halten schmücken die hohe Marmorwand.Der Legende nach, soll es Glück bringen, Münzen über die rechte Schulter in den Brunnen zu werfen, was sie dann auch taten.Sie besuchten auch das Pantheon, das allen Göttern gewidmet ist und die Villa Borghese mit den gepflegten Gärten und den schönen Brunnen.Man hätte Tage gebraucht um die Werke von Bronzino Carawaggio, Leonardo da Vinci, Raffael, Rubens, Titzian und andere berühmte Maler und Bildhauer zu sehen. An einem Tag besuchten sie…, wieder unter Führung der Kunsthistorikerin, die Ausgrabungsstätten von Pompeji. Sie durchwanderten die engen Gassen und sahen, wie die Menschen gelebt hatten, bevor sie der Ausbruch des Vesuvs traf und der Vulkan alles Leben unter sich begrub.Erstaunt standen die jugendlichen Söhne vor den Darstellungen von sexuellen Handlungen und Stellungen in Bildern und Skulpturen.Hier wirkte alles normal und einfach.Als Touristenobjekt wurde ein Penis aus Kupfer, als Türklinke angeboten, den Tim für den Partykeller erstand. Sicher würde manches des Gesehenen in Vergessenheit geraten, doch hatte die Romreise Lissy und ihre Söhne noch enger zusammengeführt. Die Hauptsaison war vorbei und die Herbstsonne tauchte die Häuser in ein zartes, weiches Licht, das altersbedingte Unebenheiten verschwinden ließ. Die kleinen Gaststätten in Tristere luden mit Brot, Käse, Wein und Trauben zu einer Zwischenmahlzeit ein. Tim machte die Bestellung in lateinischer Sprache. Die rundliche Gastwirtin war erfreut und machte ihm ein Kompliment.Jorgi hatte seine Aufgabe, auf Tim und Lissy aufzupassen, nicht vergessen. Er hielt ein Auge auf Fotokamera, Reiseführer und Jacken, denn die Beiden waren in ihren Diskussionen nicht zu bremsen. Jorgi sagte, wie früher seine Oma…“ Ihr vergesst noch mal Euren Kopf…!“An den Straßenlärm, morgens um sechs, hatten sie sich gewöhnt aber bald stand zu ihrem Bedauern, die Heimreise auf dem Programm.Da sie die italienische Sprache nicht beherrschten, fiel Lissy das Verkehrsschild SENSO UNICO auf und sagte: „Seltsam…, das ist die Straße, die durch ganz Rom führt!“Sie amüsierten sich köstlich, als sie darauf kamen, dass das Verkehrsschild „Einbahnstraße“ bedeutete.Rom…, „unvergessen…“, war eine großartige Erfahrung…!
Der Romaufenthalt hatte Lissy und den Söhnen Entspannung gebracht, wenngleich sich auch Berge von Post angesammelt hatten.Lissy verfiel nicht in Panik ob der zu erledigenden Arbeiten und erstellte Listen nach ihrer Wichtigkeit.Mit einem Rundschreiben für ihre Mandanten gab sie Aufklärung über die Nachfolgepraxis. Tim schrieb und kuvertierte dreihundert Briefumschläge.Jorgi sortierte mit der Buchhalterin die Akten im Keller für das Archiv in der neuen Firma.Das Büro konnte in den Räumen der neuen Steuerberater- Praxis weiter geführt werden, sodass die Mandanten keine großen Veränderungen hinnehmen mussten.Lissy blieb weiterhin Ansprechpartnerin und Lothars Sekretärin übernahm die Büroleitung. Lothars Nachfolger…, Steuer- und Vermögensberater, Vierzig Jahre alt, smart und natürlich, gewann schnell Lissys Vertrauen und das der Mandanten.Lothar fehlte überall, aber es musste weiter gehen.Bedrückend war, dass die Firma … (U-Dax), im Parterre, Lissy aus der Wohnung vertreiben wollte. Dies war eine zusätzliche Erschwerung, denn Lothars Praxis sollte ab ersten Januar offiziell der neuen Firma zugeeignet werden.Der Geschäftsführer der Straßenbahn-Baufirma setzte Lissy unter Druck. Sie sollte früher aus der Wohnung auszuziehen, weil in Lissys Wohnung deren Weihnachtsfeier stattfinden sollte.Ihr Mietvertrag war noch nicht abgelaufen und so musste Lissy, wohl oder übeldem arrogant auf den Zehen wippenden Mann der sie erpresste, zustimmen, und vorzeitig auszuziehen, obwohl die neue Wohnung noch nicht bezugsfertig war. Die Hausbesitzerin hatte den Plänen dieses Geschäftsführers zugestimmt und die Kündigung ausgesprochen, weil sie diese mit einer Mieterhöhung verband.Der Mann bedrohte Lissy, indem er sagte: “Wenn ich mit meinen Leuten die Weihnachtsfeier hier nicht veranstalten kann, nehme ich die Wohnung erst in einem halben Jahr. Dann können sie die Mieterhöhung so lange alleine tragen!“Lissy war erbost über die Frechheit dieses Menschen und den Tränen nahe aber sie beherrschte sich.Da er nicht einmal dreihundert D-Mark für Einbauten zu zahlen bereit war, entfernte Tim privat eingebaute Eichenregale, Beleuchtungskörper, Eichenpaneele, Wandbeleuchtungen, Telefonanlagen und Bodenbeläge.Lissy fuhr zu Anna, die sie mit einem Gespräch und Kaffee aufrichtete.Am sechsten Dezember konnte der Umzug stattfinden. Es war Lissys neunundvierzigster Geburtstag. Lissy leitete den Umzug in Düsseldorf und Anna, mit ihren sechsundsiebzig Jahren, richtete alles in Kaiserswerth.Wie ein General leitete sie nach Lissys Anweisungen die Möbelverteilung und briet zwischendurch Kottelets zum Mittagessen.Die Wohnräume waren fast perfekt eingeräumt, aber alle anderen Räume waren vollgestopft mit Möbeln, Haushaltgegenständen und Garderobe.Mit vereinten Kräften hatten sie es geschafft und Weihnachten stand vor der Tür.Lissy war sich nicht sicher, ob die Söhne einen Weihnachtsbaum wollten und dachte an ein großes Tannengebinde mit Kerzen, aber am Tag vor Weihnachten begann Jorgi die Weihnachtssachen auszupacken und die von den Verwandten aus der DDR zugesandten, geschnitzten Engel und Nikolausfiguren, auf den Fensterbänken zu verteilen. Als Lissy vorschlug, noch einen Tannenbaum zu besorgen, stimmten Tim und Jorgi zu. Es wäre denn doch zu traurig gewesen, das immer so Stimmungsvolle Weihnachtsfest ohne Weihnachtsbaum zu feiern, und so fuhren sie noch zum Weihnachtsmarkt, und kauften eine Edeltanne.Es wurde dann doch noch ein stimmungsvoller Weihnachtsabend, an dem die Großmütter dabei waren, und am zweiten Weihnachtstag fuhren sie zum Westerwald. Das erste Mal Weihnachten ohne Lothar… Auf dem Weg zum Haus hielt Lissy kurz vor der Haustüre inne und es wurde ihr noch einmal in aller Härte bewusst, dass Lothar nie mehr dabei sein würde.Das Feuer brannte im offenen Kamin und Freund Jupp erschien, um ihnen ein schönes Fest zu wünschen.Er hatte sich die ganze Zeit um die Pferde gekümmert, die sie nun auch besuchten und sich darüber freuten, wie friedlich sie ihr Heu und den Hafer nahmen.Anna sah, dass Lissy sich nur noch mühsam auf den Beinen hielt und sagte: „Weißt du was? Du legst dich nach dem Essen ins Bett. Du bist total erschöpft…! “Sie gab ihr eine Schlaftablette und Lissy schlief zwölf Stunden…Das Wetter ließ es zu, dass sie ausreiten konnten. Sie saßen auch wieder zusammen im Reiterstübchen, aber nichts war wie früher.Anna sagte: „Du bist noch jung!“„ L e b e!
Hatte Lissy einst mit Lothar zusammen, freiwillig ein neues Leben begonnen, musste sie nun zum zweiten Mal einen Neuanfang wagen.Zwar schöpfte sie nicht aus dem „Nichts“, wie dazumal, aber es war ein neues Leben, mit alleiniger Verantwortung für zwei Söhne.Sie fuhr nun jeden Vormittag in die neue Firma und sprach mit den Mandanten, die offensichtlich froh waren, nicht nach einem neuen Berater Ausschau halten zu müssen.Alles war gut organisiert. Die großen Architekturfirmen wurden zu Mandanten des Wirtschaftsberaters. Für die kleineren Betriebe wurde ein neuer Steuerberater eingesetzt, so…, dass allgemeine Zufriedenheit herrschte.Fräulein Marianne, Hettys frühere Hausangestellte, bat Lissy, sie jeden Montag um acht Uhr morgens zu einem Friedhofsbesuch abzuholen. Sie wollte Hettys Grab versorgen. Es musste so früh sein, weil ab acht Uhr die Altstadt vom Verkehr ausgeschlossen war, und nur Lieferwagen in die Bolkerstraße einfahren konnten. Marianne war unsagbar traurig, und weinte oft, wie eine ihrer Verwandten sagte. Lissy beauftragte ein Mietwagenunternehmen, die Friedhofsfahrten zu übernehmen, denn sie konnte keinen Zusatztermin wahrnehmen.Hettys Testament entsprechend, hatte Lissy alle Kosten und Nebenkosten, Reparaturen, Steuern und allgemeine Kosten für Mariannes Erbe, das Haus in der Gasse, zu zahlen. Das Konto Bolkerstraße, war ebenfalls leer. Lissy sah die Unterlagen durch und stellte fest, dass Doktor Kreuz seinen Mietzahlungsverpflichtungen nicht nachgekommen war. Nach dem Mietvertrag hätte er die Kosten für Strom, Wasser, Versicherungen, so wie für die Renovierungskosten, für das von ihm angemietete, große Haus, zahlen müssen. Widerrechtlich hatte er Hetty diese Kostenrechnungen zugesandt und Hetty hatte widerspruchslos gezahlt. Erst nach Hettys und Lothars Tod kamen die Machenschaften des Doktor Kreuz ans Tageslicht.Nun darauf angesprochen, machte er sofort das Angebot der Nachzahlung, was Lissy hätte nachdenklich machen müssen, denn hätte er nicht vorsätzlich betrogen, wäre er niemals auf Lissys Forderung eingegangen.Der vom Haus- und Grundbesitzerverein erstellte Mietvertrag enthielt den Passus: „Wenn der Mieter mehr als zwei Tage die Miete schuldig bleibt, ist dies ein sofortiger Kündigungsgrund“. Lissy wäre vieles erspart geblieben, wenn sie im Besitz dieser Papiere gewesen wäre.Nun wurde Lissys Einkommensteuer- und die Steuervorauszahlungen fällig und das Bankkonto war leer.Sie bat um einen Ratenzahlungsvertrag beim Finanzamt Nord, aber der Beamte meinte eiskalt, Lissy solle das geerbte Grundstück verkaufen… Damit könne sie dann leicht ihre Einkommensteuer bezahlen. Total verärgert verlegte Lissy ihren Wohnsitz in den Westerwald und zum Finanzamt Neuwied.Da sie auch hier nicht mit einem Ratenzahlungsvertrag rechnen konnte, nahm sie ein Annuitätendarlehen bei der Nationalbank in Duisburg auf, und konnte endlich ihren Verpflichtungen nachkommen. Danach bemühte sie sich um den Anbau im Westerwald, der nun im Rohbau fertig war. Ein ganzes Jahr hatte sie mit der Fertigstellung zu tun, denn die Baufirmen waren nicht an komplizierten Umbauarbeiten interessiert und so musste sie immer warten, bis diese eine Lücke in ihren Bauprogrammen hatten. Im ärmlichen Westerwald tat sich viel. Eine neue, junge Generation baute in Gemeinschaftsarbeit sehr schöne, und größere Einfamilienhäuser, in die auch ihre, bis dahin sehr benachteiligten Eltern einziehen konnten.Benachteiligt blieben die älteren Mitbürger, die keine Arbeit hatten, oder krank waren. Sie mussten von sehr kleinen Unterstützungen, oder von Sozialhilfe leben.Der Wochenendhausbau hatte neuen Schwung in die Arbeitswelt der Handwerker und Arbeiter gebracht. So halfen auch die Arbeitslosen beim Hausumbau.Die einklassigen Dorfschulen wurden abgeschafft und die Kinder besuchten Schulen in der näheren Umgebung. Sie wurden mit Bussen abgeholt.Das nächste Gymnasium war in Linz am Rhein und nur wer ein Fahrzeug hatte, konnte die Kinder zur Schule bringen, was im Winter manchmal unmöglich war, denn auf diesen Strecken wurde kein Schnee geräumt.„Im Dorf“ gab es nur für vier Kinder die Möglichkeit, das Gymnasium zu besuchen.Lissy, Tim und Jorgi renovierten ihr Haus. Jorgi strich die Felder an der Holzbalkendecke, eine komplizierte Arbeit „Über Kopf“ und Lissy tapezierte mit Tim die Schlafzimmer.Sie pflanzten auf der Wiese Obstbäume und Johannisbeersträucher, legten ein kleines Kartoffelfeld an, und pflanzten Kletterrosen und Flieder.Tim zog es dann aber mit Macht nach Düsseldorf, denn Ingrid, seine Freundin,eine sehr hübsche, junge Frau, wartete auf ihn. Ingrid machte eine Ausbildung zur Kinderkrankenschwester und wohnte während der Ausbildung in der Uniklinik.Tim war nach dem Tod seines Vaters, was Lissy besorgt gemacht hatte, ernst und nachdenklich geworden, aber im Zusammensein mit Ingrid war er seinem Alter entsprechend locker und es wurde gelacht und getanzt. Das freute Lissy sehr.Jorgi war froh, nun wieder in seinem Freundeskreis zu sein und immer noch sagte er: „Man kann nicht genug Freunde haben.“
Wie war es möglich, dass sich DDR-Spione seit Jahren im Kanzleramt breit machen konnten? Wie konnte Günther Guillaume das Vertrauen des Bundeskanzlers gewinnen…? Wer etwas wusste, schwieg verbissen. Nach der Aufdeckung dieses Skandals sah sich der von den Bundesbürgern verehrte Bundeskanzler Willy Brandt gezwungen, von seinem Amt zurückzutreten. Aus kleinsten Positionen hatte sich dieser DDR-Spion hochgearbeitet und niemand hatte seine Spionagetätigkeit wahrgenommen.Auch seine Ehefrau war im Bundeskanzleramt tätig. Sie spionierte auf unterer Ebene und arbeitete ihrem Ehemann zu.Die Bundesbürger rieben sich die Augen…Es war ein Skandal, der die Republik erschütterte.Die von Willy Brandt beabsichtigten Friedensbemühungen und Annäherungsversuche zwischen der BRD und der DDR wurden jäh unterbrochen. Auch der Nachfolger im Amt des Bundeskanzlers, Helmut Schmidt, konnte die Fäden, die Willy Brandt zur Annäherung der Bundes- und DDR-Bürger gezogen hatte, nicht weiter verknüpfen. Helmut Schmidt wird ein bedeutender Kanzler der Bundesrepublik Deutschland.Lissy versäumte keine Gelegenheit, Näheres über Politik und Wirtschaft zu erfahren, denn den normalen Bundesbürgern fehlte nach der Naziherrschaft wirkliche Aufklärung über politische Zusammenhänge. Jede Partei kochte ihr Süppchen für sich allein und wahrte eigene Interessen.Vieles wurde in Hinterzimmern diskutiert. Im und um das Bundeskanzleramt herum, trieben sich allerlei undurchsichtige Gestalten und einigen der alten Nazis gelang es in höhere Positionen zu kommen. In Bonner Hinterzimmern wurde mancher Cup ausgeheckt.Wenn die Nazis es verstanden hatten, innerhalb weniger Jahre Deutschland umzukrempeln, so war es für integre Politiker schwierig, in kurzer Zeit Ordnung zu schaffen und wer wollte die eigene Position aufs Spiel setzen?Bei Bundestagdebatten, die Lissy im Fernsehen verfolgte, ging es manchmal hoch her und es wurde viel „Sand gestreut“.Immer noch galt die Parole: „Das Leben geht weiter…!“Lissy konnte sich die Unterkunft und Pflege im Reitstall Taliho nicht mehr leisten und so standen die Pferde nun in einem kleinen Reitstall, wo sie die Pflege der Pferde selbst übernehmen mussten.Für Tim und Jorgi wurde zwischen Schule, Klavierunterricht, Schulaufgaben undReiten nach der Pferdepflege, die Zeit knapp.Hatten die Söhne schon mit drei Jahren im Sattel gesessen, waren sie nunmehr am Motorsport interessiert und mit sechzehn Jahren wünschte Tim sich ein Kleinkraftrad.Seit Jahren ließ er Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke in sein Sparbuch eintragen und nun wollte er sich den Wunsch erfüllen.Diesem Wunsch konnte Lissy nichts entgegen setzen und so begleitete ihn zum Motorradkauf, worum er sie ausdrücklich gebeten hatte.Inzwischen standen die Pferde, wieder im Stall Taliho, denn für die Söhne war der Zeitaufwand inzwischen zu groß. „Schule geht vor“, sagte Lissy. Sie ritt an manchen Tagen zwei Pferde, weil die Söhne nachmittags Unterricht hatten.An den Gedanken, die Pferde abzugeben, konnte Lissy sich nicht gewöhnen.Sommerwind hatte sie nun seit vierzehn Jahren, aber sie musste Entscheidungen treffen.Eine junge Apothekerin, noch Anfängerin, interessierte sich für Bully. Für sie war der Ire gut ausgebildet, ruhig und zuverlässig, das richtige Pferd.Lissy entschied sich… Lothars Vielseitigkeitspferd, abzugeben.Um Sommerwind machte sie sich Sorgen, weil er an leichtem Spat, einer Gelenkerkrankung der Hinterhand litt.Zeitweilig wurde er gegen Kostenbeteiligung von einer jungen Frau, einer Anfängerin geritten, die sehr gut mit dem Pferd umging.Auch deren Ehemann, ein etwas angeberischer, neureicher Typ, Marke „Dynamischer Geschäftsmann“, ritt im Reitstall Taliho. Ihm hätte Lissy ihr Pferd nicht anvertraut, aber an Sommerwind war dieser Mann nicht interessiert. Er besaß ein junges, starkes, strapazierfähiges Jagdpferd. Auf Sylt hatte das Ehepaar ein Ferienhaus und die junge Ehefrau wollte Sommerwind mit dorthin nehmen. Der Gedanke an eine Trennung von diesem Pferd war für Lissy schrecklich. Nach etlichen schlaflosen Nächten entschied sie sich, Sommerwind gegen die geringe Summe von tausend D-Mark einschließlich Dressursattel und allem anderen Zubehör abzugeben.Ihre Steuerberaterin bat Lissy, den großrahmigen Apfelschimmel, den sie auf Lothars Rat gekauft hatte, beim sonntäglichen Musikreiten zu bewegen. Denn nun, nachdem Lothar den Reitunfall hatte, verlor sie den Mut, Reitunterricht zu nehmen und wollte das Pferd, zu dem sie noch keine Beziehung aufgebaut hatte, abgeben. Das Musikreiten war eine gute Gelegenheit, Käufern das Pferd vorzuführen und nach ein paar Wochen fand sich ein Käufer, der das Pferd im Reitstall Taliho unterstellte. „Eine wahrhaft gute Lösung“, dachte Lissy.Alles hätte gut sein können, aber nun hatte die Apothekerin, die Bully gekauft hatte, plötzlich den Einfall, den Kaufpreis für Bully anzuzweifeln. Ein erfolgloser Rechtsanwalt, mit dem sie sich angefreundet hatte redete ihr ein, dass der Preis, den sie für Bully bezahlt hatte zu hoch gewesen sei und sie strengte einen Prozess an.Die Stallbesitzerin und Lissy wurden zum Gericht vorgeladen. Dort wies die Stallbesitzerin, die Lothar das Pferd verkauft hatte die entsprechende Unterlagen vor und es stellte sich heraus, dass Lothar das Pferd für zehntausend D-Markgekauft hatte. Dieser Ärger war nun vom Tisch und der Schmerz um den Verlust der Pferde ließ nach. Lissy widmete sich der Fertigstellung des Umbaus im Westerwald.Inzwischen waren die Baugenehmigungen für den Wochenendhausbau gelockert worden und der Garagenanbau war fertiggestellt. Endlich verfügte das Häuschen über ein großes Bad und eine Dusche.Eines Tages erhielt Lissy den Brief eines großen Reisebüros.Dort wurde mitgeteilt, dass die Reise, die Lothar kurz vor seinem Unfall angezahlt hatte, storniert sei. Lothar hatte kurz vor seinem Unfall, für den Sommer 1975 eine Mittelmeerreise gebucht…
Lothar hatte kurz vor seinem Unfall von einer Überraschung gesprochen, aber nicht gesagt, dass er eine Reise gebucht hatte. Es sollte ein Geschenk zu Lissys fünfzigstem Geburtstag sein.Nach Lothars plötzlichem Tod, hatte Lissy das Reisebüro benachrichtigt und die Reise abgesagt, aber sie hatte nach den Turbolenzen in dieser ereignisreichen Zeit übersehen, dass die Reise angezahlt war. Das Reisebüro hatte den Anzahlungsbetrag gutgeschrieben und die Reise auf eine Warteliste gesetzt.Nun erhielt sie ein Angebot für eine außergewöhnlich preiswerte Traumreise. „Achille Lauro“ sollte während der Schulferien die Anker lichten und ab Genua ins Mittelmeer starten.Lissy dachte: „Wie schön!“ Aber woher nehmen und nicht stehlen und das auch mit einem Sack voll Schulden bei der Nationalbank? Es war ein preislich verlockendes Angebot, weil…, wie die Reederei schrieb…, dies die erste Reise nach einer Generalüberholung sei. Ägypten, Israel und Griechenland sollten Anlegehäfen sein und dieRückreise sollte ab Athen per Eisenbahn erfolgen. Lissy wusste, dass alle Vernunftgründe die Reise abzusagen, letztendlich nicht zum Tragen kommen würden. Sie rang nicht lange mit sich selbst und wohlwissend, dass sie ihrem Reisehunger und der lange zurückgedrängten Abenteuerlust zum Opfer falle würde, buchte sie…, tatkräftig von Tim und Jorgi unterstützt, diese Mittelmeerreise.Lissy holte bei dem Reisebüro die entsprechenden Unterlagen mit Beschreibung dieser drei Wochen dauernden Reise. Der Reiseführer von Polyglott vervollständigte die Reiseliteratur.Für die Osterferien hatten sie allerdings noch ein Versprechen einzulösen. Lissy hatte mit Marga, der Ehefrau von Lothars Vetter, in Karl-Marx-Stadt, einen Besuchstermin nach Ostern vereinbart, und diesen Termin konnte Lissy keinesfalls absagen. Es ging nicht um die Zeit, sondern um die Kosten für diese Reise, denn bei der Vereinbarung für die DDR-Reise hatten sie an die Mittelmeerreise noch nicht gedacht. „ Kommt Zeit, kommt Rat“, sagte Lissy. Lissy und die Söhne waren sehr gespannt auf die DDR, von der es abstruse Erzählungen gab. Alle Ausweispapiere waren besorgt und Geschenke eingekauft. Kaffee und einige andere Luxusgüter hatte Lissy als Paket voraus geschickt.Auch hatte sie Lebensmittel besorgt, deren Einführung in die DDR verboten war. Bei Maaßen, in Düsseldorf, hatte sie vor der Abreise Räucheraal gekauft, und auch alle Zutaten für eine Pizza eingepackt, die Tim bei den Verwandten backen sollte. Zu allem Überfluss hatten sie die Räucheraale noch zum Schluss in die Illustrierte Quick und eine Tageszeitung eingewickelt. Auch Zigaretten hatte Lissy in größeren Mengen besorgt, denn sie hatte gehört, dass die Tabakwaren in der DDR grauenhaft seien. Gut…, dass sie nicht wussten, wie gefährlich es war, solche Lebensmittel und Zeitungen in die DDR einzuführen.So fuhren sie voller Abenteuerlust ab und kamen am Spätnachmittag zur Grenze. Auch wollten sie noch die Lutherstadt besuchen, wussten aber nicht, ob ein Abweichen von der genehmigten Route strafbar war.Da man Lissy erklärt hatte, dass sie in der DDR nur mit geringen Geschwindigkeiten fahren durfte, nahmen sie kurz vor der Grenze Übernachtungszimmer und machten einen Spaziergang den Stacheldrahtzaun entlang, durch ein menschenleeres Waldstück. Dieses Grenzgebiet war unheimlich und sie waren froh, in dem etwas primitiven Hotel übernachten zu können.Ja…, es war unheimlich…! Auch der Grenzübergang mit den raubeinigen Grenzsoldaten entsprach nicht einem normalen Grenz- oder Zollgebiet. Sie fuhren von einer Kontrollstation zur anderen. Immer bemüht, die Beamten nicht zu verärgern. Doch, der sie kontrollierende junge Beamte war auffällig freundlich und interessierte sich für einen Prospekt über Ägypten, in dem Tim gelesen hatte. Eigentlich durften solche Papiere nicht mitgeführt werden, aber Jorgi hatte den Prospekt heimlich mitgenommen.Aufgeschlagen hatte er die Seite, auf der eine wunderschöne Bauchtänzerin zu sehen war, für die sich der Beamte sehr interessierte und er rief einen Kollegen herbei, um ihm dieses Foto zu zeigen. Den Prospekt nahmen sie mit in das Kontrollhäuschen. Tim sagte: „Die haben bestimmt eine Fotokopie von dem Bild gemacht…!“Lissy wollte ihnen den Prospekt schenken aber sie durften ihn nicht annehmen.Der junge Beamte stand neben dem Wagen auf der Straße und Lissy klopfte das Herz vor Aufregung. Sie wartete auf den Moment, in dem er sagen würde, „Öffnen sie den Kofferraum!“ Was dann? Sie führten verbotene Waren mit…Doch dann drehte der Beamte sich um, winkten sie durch und sie nahmen Kurs auf das Zollgebäude, in dem die junge Beamtin zuvor verschwunden war.Tim sagte: „Die haben bestimmt einen “Fisternöll!“ Lissy frug, „Was ist das denn?“ „Das ist Düsseldorfer Platt“, sagte Tim, und lachte, wobei Jorgi verständnisinnig grinste. Doch dann winkte der Zollbeamte sie durch undsie durften weiter fahren, ohne den Kofferraum zu öffnen.Zurückblickend sahen sie, dass der junge Zollbeamte wieder in dem Kontrollgebäude verschwunden war. „Ist ja klar…“, sagte Tim, „die Kollegin ist schon drin und der Chef nicht da.“ „Was Du nicht alles weißt“, sagte Lissy.Aber sie atmete durch und dachte: „Jetzt ist es vorbei!“Doch nach fünfhundert Metern sahen sie eine Zollstation, bei der noch einmal ihre Papiere überprüft wurden. „Oh Gott“, sagte Lissy…, nimmt das denn gar kein Ende?“ Doch alles ging gut und sie konnte aufatmen.Im fünfzig Kilometertempo fuhr sie weiter und das war gut so… Ein Fahrzeug vor ihnen war mit achtzig Stunden Kilometern gefahren und plötzlich sprangen zwei Zollbeamte hinter einem Gebüsch hervor, die das Fahrzeug anhielten.Auch Lissy wurde auf die Umleitung befohlen.Das andere Fahrzeug wurde kontrolliert und der Fahrer musste eine Geldstrafe von fünfzig Mark leisten. Der vor ihnen fahrende Westdeutsche kannte die Verhältnisse und hatte an der DDR-Zollstation Geld umgetauscht. Er bezahlte in DDR-Geld die Strafe, worauf der Beamte die Scheine anstarrte und enttäuscht sagte: „Das ist ja unser Geld!“„Ja“…, sagte der Mann und grinste, „fünfzig Mark!“ Sie durften weiter fahren und Lissy hielt sich genau an die vorgeschriebene Geschwindigkeit. Später hielt sie noch bei einer DDR-Raststätte, um etwas zu essen. Ein primitiver, langgestreckter Raum mit langen Tischen, für je zehn Personen auf beiden Seiten ohne Tischwäsche und jeden Komfort. Eine “Abfütterungskantine“ mit unfreundlichem Personal. Die „Gäste“ wagten nicht aufzumucken. Lissy, Tim und Jorgi bekamen je einen Platz an verschiedenen Tischen zugewiesen. So schlimm hatte sich Lissy die Verhältnisse in der DDR bei den Schwestern und Brüdern nicht vorgestellt, aber sie war zurückhaltend und wurde von den DDR-Bürgern nicht angesprochen. Lissy zahlte in D-Mark und sie verließen in Windes-Eile das “gastliche Haus.“Mit vorgeschriebener Geschwindigkeit fuhr Lissy weiter. Ziemlich müde kamen sie zu der Abfahrt Karl-Marx-Stadt und dort sprangen zwei Jungen auf die Straße.Die Söhne von Marga und Lothars Cousin Walter. Sie hatten den ganzen Nachmittag an der Autobahnabfahrt auf sie gewartet.Sie freuten sich sehr…
Nein…, so hatten sie sich die DDR nicht vorgestellt… Was ist Freiheit? Einen kleinen Einblick hatten sie ja schon in der Raststätte gewonnen. Die Wohnverhältnisse waren einfach und bescheiden, aber Marga und Lothars Cousin Walter hatten durch das Wohnen in dem villenartigen Wohnkomplex große Vorteile. Die Söhne hatten ein Zimmer und Marga und Walter ein großes Schlafzimmer. Es gab eine mittelgroße Küche und ein Wohnzimmer. Sie kochten auf einem Küchenherd mit Brikett, aber sie hatten auch einen Gasherd ohne Backofen. Die ehemalige Sechszimmerwohnung, ursprünglich von Professoren der Blindenanstalt bewohnt, war aufgeteilt worden. Mit einem jungen, kinderlosen Ehepaar mussten sie sich diese Sechszimmerwohnung teilen, denn ihnen stand nur eine bestimmte Quadratmeterzahl Wohnfläche zu. Es gab noch ein kleines Zimmer, das ehemalige Bad, das jedoch ohne Badeinrichtung und Toilette war, so dass es für die beiden Familien nur eine einzige Toilette auf dem Flur, außerhalb der Wohnung, gab. Um zur Toilette zu gelangen, mussten die jungen Mitbewohner jedes Mal den Flur, der durch die Wohnung der Verwandten führte, durchqueren. Marga sagte ironisch, „Hier wird alles zugeteilt!“, und Walter meinte: „Die Bonzen wohnen besser!“ Jedenfalls wurde gut getrunken. Alkohol in Form von Wodka gab es in ausreichender Menge. Das einheimische Bier schmeckte furchtbar. Wein und das wirklich gute Bier wurden in die USA exportiert. Zigaretten und Zigarren waren von schlechter Qualität. Die Verwandten rauchten nicht. Lissy fand es unverständlich, dass man den eigenen Bürgern, die wirklich erstklassigen Produkte entzog und ihnen den Konsum dieser Billigware zumutete. Hungern musste man in der DDR nicht, aber man war von jedem Luxus ausgeschlossen. Sie hatten sich große Mühe gegeben, es dem Besuch aus dem Westen angenehm zu machen und Lissy dankte Marga und Walter für die fürsorgliche Aufnahme. Walter hatte über längere Zeit Getränke gehortet, die er durch Kunden im Friseurgeschäft “unter der Theke“ erstanden hatte. Das erinnerte Lissy an die Vorwährungszeit in der Bundesrepublik und sie bedauerte die Gastgeber, die nach zwanzig Jahren DDR immer noch unter diesen Verhältnissen leben mussten. Sie litten nicht an Hunger, doch an einem Mangel von Luxusgütern, so man denn eine Tasse echten Bohnenkaffee zum Frühstück, als Luxus betrachtet. Einheimisches Obst gab es nur zu entsprechenden Jahreszeiten und hauptsächlich in Berlin oder Leipzig, um ausländischen Besuchern vorzuführen, dass es keinen Mangel gab. Orangen nur zu Weihnachten und Bananen überhaupt nicht. In langen Schlangen musste man “anstehen“, um frisches Obst zu kaufen, und immer nur eine Sorte, die zugeteilt wurde. Es gab keine Auswahl. Man musste nehmen, was es eben gab. Doch alles sei erträglich, sagten sie, wenn sie nicht in der Unfreiheit leben müssten, Gehen zu können, wohin auch immer sie wollten. Freunde und Verwandte in anderen Ländern und der Bundes-Republik besuchen, den Führerschein machen, ein Auto oder Motorrad zusammensparen und einfach losfahren. Träume, die sich nicht erfüllen ließen, außer man wäre ein Parteibonze, wie Walter es ausdrückte. Nun aber, bei ihrem Besuch, ging es recht fröhlich zu. Sie fuhren mit den Verwandten nach Dresden, um diese Stadt zu besuchen, die in den letzten Kriegstagen durch Bombenangriffe der Alliierten und den Russen, bis auf wenige Ausnahmen, total zerstört worden war. Eigentlich hätten sie Karl-Marx-Stadt nicht verlassen dürfen, weil sie für Dresden keine Genehmigung hatten. Lissy achtete genau auf Geschwindigkeitsbegrenzungen, damit man sie nicht kontrollieren würde. Marga war nicht mitgefahren, weil sie wegen Besuchs aus dem Westen keine Befreiung vom Unterricht bekommen hatte, aber sie hätten auch mit sieben Personen keinen Platz in dem Mercedes gehabt. So saßen die vier Jungen auf dem Rücksitz und Walter, mit ziemlicher Leibesfülle, neben Lissy. Angenehm war, dass er genau über die Straßenverhältnisse in Dresden informiert war, denn die Straßen waren stark beschädigt. Walter erklärte ihnen, dass das Kopfsteinpflaster nach Schweden verkauft sei. So konnte Lissy sich erklären, warum sie auf dem Weg von der Autobahn in die Innenstadt, durch metergroße Wasserpfützen fahren musste. Walter war gut über die Straßenverhältnisse informiert und sein „Do nuff…“, kannte Lissy schon vom Tag zuvor. Es war etwas schwierig diesen Anweisungen zu folgen, weil Walter meistens erst zwei Meter vor der Abbiegemöglichkeit die Anweisung gab. Aber es gab unterwegs viel zu lachen. Sie kamen gut in Dresden an und dort war Walter ein ausgezeichneter Führer. Die Stadt zeigte noch große Schäden, hervorgerufen durch die von den Alliierten durchgeführten Bombenangriffe. Überall aufgerissene Straßen, die nicht befahrbar waren. Die Oper noch in einem schrecklichen Zustand und die Umgebung der Nicolai - Kirche abgesperrt. Man war sich noch nicht einig, ob die zerstörte Kirche, von sicher gestellten Trümmern umgeben, als Mahnmal stehen bleiben sollte. Walter sagte, es seien Überlegungen im Gange, dass die Kirche nach Originalplänen wieder aufgebaut werden sollte. Beeindruckend war die Ausstellung der Kunstgegenstände aus dem Besitz des Sachsenkönigs August des Starken. Sie nahmen sich vor, Dresden während des Aufenthaltes noch einmal zu besuchen und sich entsprechend vorzubereiten um sich alles genauer anzusehen. In Westdeutschland war es schwierig sich genauer über die Verhältnisse in der DDR zu informieren. Zerstörte Städte hatte man selbst, und die Einschränkungen in der DDR luden nicht dazu ein, sich besonders für die Geschichte zu interessieren. Walter hasste die DDR-Bonzen, wie er sagte. Er war nicht in der Partei und die Söhne waren entsprechend beeinflusst. Die Erlebnisse wurden allerdings nur im Flüsterton besprochen, denn…, wie Marga sagte: „Hier haben die Wände Ohren“. Traurig war, dass die Jungen nicht die höhere Schule besuchen durften, weil sie nicht Mitglied in der FDJ waren. Am Russisch Unterricht nahmen sie nicht teil, weil sie voller Wut auf die russische Besatzung waren. Marga und ihre Mutter hatten durch die russische Besatzung ungeheures Leid erfahren. Die russischen Soldaten besetzten beim Einmarsch deren Wohnung, schmissen sie aus ihren Betten und sie mussten auf dem Fußboden schlafen. Das erzähle Marga, die zu diesem Zeitpunkt noch ein Kind war Lissy, als sie alleine waren. Walter und seine Mutter durften über die schrecklichen Erfahrungen, die Marga gemacht hatte, nichts wissen. So hatte sie die vielen vergangenen Jahre, niemals mit einem Menschen über diese Ereignisse und Erfahrungen, sprechen können. Margas Vater, von der Mutter getrennt lebend, wohnte in seinem Gartenhäuschen. Marga kümmerte sich rührend um ihn, der alle Anzeichen einer Demenz zeigte, und nicht aus seinem Gartenhäuschen ausziehen wollte. Sie hatte um ihn zu besuchen, weite Wege zu bewältigen, denn die Straßenbahn fuhr nicht bis in dies Gartengelände. Sie erzählte, dass sie bei einem Besuch vor Weihnachten, dies kleine Häuschen mit einem Rohrbruch vorfand und dass der Keller, bei Eiseskälte unter Wasser stand. Der Vater wollte auf keinen Fall dort weg und so half sie ihm, den Keller eimerweise trockenzulegen. Dabei zog sie sich ein schwere Erkältung zu und hatte das Weihnachtsfest mit Fieber im Bett zubringen müssen.
In Dresden besuchten sie Tante Fanny, die einst mit dem Bruder von Lothars Mutter verheiratet war. Lothar hatte erzählt, dass der Ehemann von Tante Fanny, Selbstmord begangen habe und niemand habe herausfinden können, warum. Man vermutete Depressionen und konnte sich nicht vorstellen, warum er sich tötete, denn er war geschäftlich erfolgreich und familiär war auch nicht bekannt, dass er depressiv gewesen sei. Lothars Mutter hatte erzählt, dass ihr Bruder geschäftlich sehr erfolgreich gewesen sei und schon in den dreißiger Jahren einen weißen Mercedes gefahren habe. Vor seinem Selbstmord habe er allen Familienangehörigen einen Abschiedsbrief geschrieben. Diese Briefe hatten die Verwandten vernichtet. Ihr Inhalt blieb ein ewiges Geheimnis. Tante Fannis Sohn Siegfried, der mit seiner Familie illegal aus der DDR ausgewandert war und nun mit seiner Familie in Düsseldorf lebte, hatte Lissy gebeten, seine Mutter, die in einem soeben fertiggestellten Altersheim wohnte, zu besuchen. Siegfried war Fotograf und hatte in Dresden ein Geschäft betrieben. Mit Ehefrau und zwei Kindern war er aus der DDR geflohen und dabei, sich in der Bundesrepublik eine neue Existenz zu schaffen. Ein paar Wochen, während Lothar und Lissy im Westerwald die Schulferien verbrachten, wohnte die Familie in deren Düsseldorfer Wohnung. Seine Ehefrau entstammte einer wohlhabenden Familie, die landwirtschaftliche Güter, in dem nun von Polen besetzten Gebiet und in Ost Deutschland besaß und aus der DDR geflohen war. Allen Besitz hatten sie aufgeben müssen, wurden aber zu einem Teil in Westdeutschland entschädigt. Diese Besuche waren für die Lissys und Walters Söhne ziemlich langweilig, aber sie ertrugen es mit Würde, wie Lissy sagte. Es wurde viel gewitzelt und gelacht. Mittlerweile war es spät geworden. Lothar wollte in einem Lokal, von dem er sagte, es sei eines der besten in Dresden etwas zu Mittag essen. Die Enttäuschung war groß, als sie eine halbe Stunde vor Ladenschluss nichts mehr bestellen konnten, denn sie hatten sich mit anderen Bürgern vor dem Lokal anstellen müssen, was Lissy erniedrigend fand. Hier bemerkten sie, dass die DDR-Bürger mit ihren Ansprüchen sehr zurückhaltend waren und ja…, vielleicht auch Angst vor den Kellner und Angestellten der Gaststätten hatten. Kritik, das hatte Lissy ja schon in dem Fresslokal an der Autobahn erfahren, war auf keinen Fall erwünscht. Man hatte schön den Mund zu halten. Als Walter sagte, dass sie doch dem Besuch aus dem Westen etwas bieten wolle, sagte der sogenannte Geschäftsführer gnädig, er wolle mal sehen, ob sich noch was machen ließe. Das wurde Lissy dann doch zu bunt und sie sagte: „Hier bleibe ich keine Minute mehr!“ Sie brachen auf, und aßen die fürsorglich von Walter eingepackten Butterbrote. Marga hatte inzwischen ihren Unterricht beendet und freute sich, als Alle wohl behalten wieder zurück waren und sie schmiedeten Pläne für den nächsten Tag. Walter holte seine Wanderkarten und Landschaftsbeschreibungen. Er wollte mit ihnen in das Elbsandsteingebirge, von dem Lothars Mutter schon immer geschwärmt hatte. Zum Abendessen waren auch die Freundinnen von Rudi und Eric dabei. Rudis Freundin war eine fanatische DDR-Verteidigerin, was wiederum Tim und Georgi auf den Plan rief, und zu heftigen Diskussionen führte. Eric, ihr Freund, mischte sich nicht in das Streitgespräch und Lissy beendete die Diskussion, indem sie mit einem Gespräch über die Schule das Thema wechselte. . Es war eine gesprächsfreudige Runde, die über Politik, Lebensverhältnisse, Religion, Schule, Partei, Sex, Freundschaft, Mode und Musik diskutierte. Endlich hatten sie einmal Gelegenheit, mit Leuten aus dem Westen zu reden und Lissy bemerkte die große Unterschiedlichkeit der Ansichten. Ihr wurde bewusst, dass die Menschen in der DDR, auch die älteren, noch nie Freiheit, im Sinne von politischer Freiheit, kennen gelernt hatten. Freiheit, wie man sie nun, nach Ende des Krieges, in Westdeutschland genießen durfte. Lissy konnte sich überhaupt keine Vorstellungen davon machen, welchen Repressalien DDR Bürger ausgesetzt waren, wenn ihnen die Flucht in den Westen nicht gelang. Sie wurden erschossen oder landeten in DDR-Gefängnissen. Man sprach…, wenn überhaupt…, nur hinter vorgehaltener Hand über die Verhältnisse in diesen Anstalten und über die Methoden, mit denen man die Menschen zu Geständnissen zwang. Ihr fiel auf, dass im Verlaufe der Diskussion, die Teilnehmer der Gesprächsrunde unter Einfluss von Alkohol, immer sächsischer sprachen, so dass sie am Ende überhaupt nichts mehr verstand. Marga, die schon wegen ihres Berufes als Lehrerin, nur hochdeutsch sprach, zwinkerte Lissy zu und bemühte sich, ins “Reine“ zu übersetzen. Um zu anderen Themen zu kommen holte, Walter seinen Plattenspieler und legte auf. Er hatte allerdings nur Schlager der Zeit und lehnte Jazz und Rock ab. Auch wollte er Wanderlieder singen, was die Jugendlichen ablehnten. Lissy verglich die Gesprächsthemen mit denen, die in ihrer Jugend als fortschrittlich angesehen wurden. Bei den Jugendlichen in den Fünfzigern, waren das nur “Alte Kamellen“, wenngleich sie auch gerne nach “Schleichmusik“…, wie sie erotisch anregende Melodien nannten, tanzten. Da machten sie keinen Unterschied zu den Vorlieben ihrer Eltern und auch die „Capri-Sonne“ tauchte wieder auf. Zum Schluss machten sie noch Pläne für den kommenden Tag. Walter schlug vor, zur Festung Königstein zu fahren. Es war ein sehr unterhaltsamer Abend und Lissy sank nach diesen heftigen Diskussionen ermüdet ins Bett.
Bei Sonnenschein brachen sie auf und Walter ließ es sich nicht nehmen, für die “Reisenden“ eine Menge Proviant, einschließlich verschiedener Getränke einzupacken. So waren sie für den ganzen Tag versorgt und nicht auf die unfreundlichen Kellner angewiesen. Für die vier Jungen war es etwas eng aber sie waren schlank und sportlich und hatten ihren Spaß. Lissy hörte wieder Walters „Do nuff!“ und folgte seinen kompetenten Anweisungen. So erreichten sie früh Dresden und besuchten die Ausstellung, in welcher die Schätze August des Starken untergebracht waren. Nun nahmen sie sich Zeit alles genauer zu betrachten, als bei ihrem Besuch am ersten Tag. Unglaublich, welche Schätze und Kostbarkeiten dieser König angesammelt hatte! Das Volk verehrte ihn, und gönnte ihm seine Schätze und Mätressen… Schöne Frauen, die er, wenn er sie satt hatte, in die Verbannung schickte. Das Volk…, die breite Masse, nahm ihm, der übrigens nach späteren Maßstäben ausgesprochen hässlich war, nichts übel. Er war der “King“…, basta! Selbst Lothars Mutter sprach in voller Verehrung über ihn, obwohl sie sonst ziemlich hausbackenen Idealen nachtrauerte, aber das “Tschingderassabum“ hatte ihr gefallen. Seine Schlösser und Kunstsammlungen, waren außergewöhnlich… Da es plötzlich zu regnen begann, kürzten sie den Besuch in Dresden ab und nahmen Kurs auf das Elbsandsteingebirge, in der Hoffnung, dass sich bis dahin die Regenfront verziehen würde. Auf einem Rastplatz machten sie eine “Futter Pause“ und verzehrten Lothars Salamibrotmahlzeit. Als “Diätkost“ konnte man diese reichhaltige Mahlzeit nicht einordnen, aber es schmeckte hervorragend. Später erfuhr Lissy, dass die Salami auch nach Westdeutschland exportiert wurde, was jedoch in Nordrhein-Westfalen nicht bekannt war. Sie hatten also schon immer “DDR-Wurst“ gegessen und gedacht, es seien westdeutsche Produkte. Alles, was in der DDR hergestellt wurde, wurde in Westdeutschland als minderwertig bezeichnet. Minderwertig, allerdings, waren außer diesen Wurstwaren die Produkte, die man für DDR-Bürger herstellte, denn Kaffee und andere Luxusgüter konnte man nur in bestimmten Läden, zu horrenden Preisen kaufen. Luxusprodukte wurden zu besonders niedrigen Preisen nach Westdeutschland verkauft. In Westdeutschland aber wurde die Qualität der DDR Produkte herunter gespielt, um größere Gewinne zu machen. Billig einkaufen, teuer verkaufen. Alles wurde auf Kosten der “kleinen Leute“ in der DDR, zum großen Geschäft in Westdeutschland. Bald also würden sie die Festung Königstein erleben, die am linken Ufer der Elbe, auf dem Tafelberg erbaut ist. Walter hielt auch hier wieder seine geschichtlichen Daten bereit und erklärte während der Fahrt die Geschichte dieser außergewöhnlichen, riesengroßen Anlage, über die sie bis dahin nichts gehört hatten. Auch in den Schulen wurde nicht viel über ostdeutsche Geschichte gesprochen, obwohl es doch deutsche Geschichte ist. Es war so…, dass man glauben konnte, dass die DDR mit Westdeutschland nichts zu tun hätte. Auch die DDR-Schüler zeigten kein besonderes Interesse, denn man konnte ja nicht einfach in die Bundes Republik einreisen, um sich ein “Bild“ zu machen. Da wegen der Repressalien DDR-Bürger scharenweise das Land verlassen hatten, hatte man die “Daheimgebliebenen“ einfach eingemauert. Lissy überfuhr eine weiße Trennungslinie, um in eine Waldstraße einzubiegen, die zu der Festung Königstein führte. Sie hatte die Abfahrt übersehen und dachte, wenn das einer gesehen hätte…, was dann? Doch es ging gut und sie waren auf dem richtigen Weg. Die Jungen waren übermütig und die beiden Jugendlichen aus der DDR winkten entgegenkommenden Radfahrern und Fußgängern zu…, die wahrscheinlich dachten, dass der Mercedes, DDR-Bonzen beförderte. Plötzlich sah Lissy ein Polizeifahrzeug mit auf- und ab blinkenden Lampen. Lissy durchfuhr ein eisiger Schreck, denn sie dachte, man würde das Überfahren der Trennungslinie ahnden. Sie fuhr also im vorgeschriebenen Tempo. Ein Abfahren war nicht möglich, also immer im vorgeschrieben Tempo weiter, den blinkenden Polizeiwagen hinter sich. Da…, plötzlich ein Haltepunkt, und Lissy fuhr zur Seite, um das Polizeifahrzeug vorbei zu lassen. Im Vorbeifahren bedankten sich die Polizisten mit Handzeichen und fuhren zu Lissys Erleichterung vorbei, hinter sich noch zwei Polizeifahrzeuge mit aufgeblendeten Lichtern und dann…, ja…, dann zwei Busse mit Schülern, die die Festung Königstein besuchen sollten. Lissy fiel “ein Stein vom Herzen“. Die Jugendlichen auf dem Rücksitz, hatten von Ihrer Sorge nichts bemerkt und machten weiter ihre Faxen. Sie waren alle in ausgelassener Stimmung. Sie genossen die Aussicht auf die gegenüber liegenden Berge. Eine außergewöhnliche Landschaft…! Es gab keine Möglichkeit, irgendwo einen Sitzplatz zu finden, um in Ruhe Lothars Erklärungen zu lauschen, denn seine Literatur über diese Bergwelt war hervorragend. Die Burg war nur in geringem Maße zu besichtigen, denn nur bestimmte Räumlichkeiten waren freigegeben. Doch war es interessant, das Riesengebäude zu umrunden und die auf großen Tafeln dargestellten militärischen Einrichtungen und Geräte aus vergangenen Zeiten zu besichtigen. In den gegenüber liegenden Berghöhen sah man Bergsteiger, die Seilschaften bildeten, und dem Gipfel entgegen kletterten. Es gab keine Restauration und sie waren froh, dass Lothar so reichhaltige Kost, auch Kuchen eingepackt hatte. Die Stimmung war gut, aber die Jugendlichen hatten eigentlich keine Lust mehr auf Besichtigungen. So machten sie sich bald auf den Heimweg. Wieder bei Marga eingetroffen, erzählten sie von ihren Abenteuern und später spielten sie Karten.
Am Tag darauf hatte Walter Geburtstag. Er wurde fünfundvierzig… „Das muss gefeiert werden“, sagte Marga und hatte allerlei vorbereitetet. Nach dem Abendessen setzte sie sich zu Lissy ans Bett, um ein wenig zu reden. Marga hatte bisher von ihrem Leben nicht viel gehabt, denn die Ehe mit Walter sei nicht einfach gewesen, sagte sie. Auch hatte sich Walters Mutter, die jüngere Schwester von Lissys Schwiegermutter, ständig in die ehelichen Verhältnisse eingemischt. Besonders missfiel Marga, dass Walter so einen großen Körperumfang hatte und wenn sie es auch nicht sagte, so schien sie im intimen und sexuellen Bereich Probleme zu haben… Besonders Walters Schweißausbrüche schienen ihr zu missfallen. Walter hatte in Lissys Augen seltsame Ambitionen, denn er besaß einen Kleiderschrank, zu dem Marga keinen Zugriff hatte. Lissy wunderte sich, dass Marga frische Wäsche nicht in den Schrank, sondern auf Walters Bett legte. Ironisch sagte Marga: „Zu seinem Kleiderschrank habe ich keinen Zugang, dort bewahrt er bestimmte Lebensmittel, Getränke und andere geheimnisvolle Dinge auf. Auch Bücher!“ Auch in einer Truhe, die im ehelichen Schlafzimmer stand, lagen versiegelte Bücher. So die ganze Karl May-Sammlung. Auch hier hatte niemand Zutritt. Lissy hatte von diesen Absonderlichkeiten nichts bemerkt und Walter war unglaublich stolz darauf, dass Lissy ihn freundschaftlich umarmte. Ihr gegenüber benahm er sich ganz normal, aber er wurde schweigsam als sie nach der Truhe frug. So ließ sie ihn in Ruhe, denn schließlich ging es sie ja auch nichts an. An seinem Geburtstag hatte Walter Dienst. Im Friseur Handwerk arbeiteten die Friseure in Tag und Nachtschichten. Er hatte Dienst bis neunzehn Uhr und Marga hatte das festliche Abendessen mit Walters Einverständnis auf zwanziguhrfünfzehn festgelegt. Marga hatte allerlei Köstlichkeiten vorbereitet, den Tisch wundervoll mit ihrem besten Geschirr gedeckt und die schönen alten Weingläser poliert. Es war sehr festlich. Um zwanzig Uhr waren alle, auch das junge Ehepaar, das mit ihnen die Wohnung teilte, versammelt. Angesichts der leckeren Sachen, die Marga bereitgestellt hatte, machte sich gesunder Appetit breit. Walter war nicht da. Was sollte passiert sein? Alle machten sich Sorgen und um zwanziguhrzwanzig sagte Marga: „Ich glaube, Walter nimmt es nicht übel, wenn wir schon Anfangen.“ „Ja“…, sagten die Söhne, „Wir haben auch wirklich Hunger. Das nimmt der Papa bestimmt nicht übel!“ Es wurde zwanzig Uhr dreißig und da war Walter… Er war ausgesprochen wütend, dass sie nicht gewartet hatten und musste sich noch frisch machen und umziehen. Lissy sagte…: „Walter…, bitte sei nicht böse, wir hatten Hunger, aber jetzt machen wir eine Pause. Dann stoßen wir erst mal auf Deinen Geburtstag an!“ Marga war ausgesprochen sauer, aber sie sagte nichts. Es war ihr peinlich, dass Walter die Besucher so provozierte und sie hatte sich doch solche Mühe gemacht. Warum er so spät gekommen war, wurde nicht bekannt. Ein Umtrunk mit den Kollegen oder was? Dann kam Walter und nahm auf dem geschmückten Stuhl Platz, aber seine Mine stand auf Sturm. Lissy versuchte das zu überspielen aber es wollte nicht gelingen. Walter war einfach sauer und schimpfte weiter. Lissy fand sein Verhalten Marga und den Kindern gegenüber ungehörig, und Marga sagte: „Walter…, Walter…, kannst Du nicht etwas Rücksicht auf unseren Besuch nehmen? Er aber maulte weiter und nun entspann sich ein Streitgespräch zwischen dem Ehepaar. Die beiden Söhne sahen peinlich berührt zu und Tim und Gorgi saßen mit verschlossenen Minen auf ihren Stühlen. Hatten sie doch nie Streitgespräche zwischen Lissy und ihrem Vater anhören müssen, denn Auseinandersetzungen vor den Söhnen hatte Lissy immer vermieden. Lissy versuchte es mit Themen, die ablenken sollten aber das Streitgespräch zwischen Walter und Marga entwickelte sich zu einem wortreichen Krach und letztendlich hatte auch Marga vergessen, dass sie nicht alleine waren. Eine Weile hörte Lissy diesem Wortgefecht aus allen möglichen Beschuldigungen zu, und als es ihr zu bunt wurde sagte sie: „Vielleicht ist es besser, wenn wir abreisen!“ Aus „tiefsten Gewässern“ tauchten sie wieder auf und es war ihnen sichtlich peinlich, dass sie sich so hatten gehen lassen. Nach etlichen Schlucken Wein und einem Schnäpschen ging Walters Geburtstag in guter Stimmung zu Ende, aber Lissy dachte: „Es muss eine große Anstrengung für die Verwandten gewesen sein, alles für ihren Besuch vorzubereiten und artete zum Schluss in Stress aus.“ Doch nun war alles wieder gut und Lissy bereitete sich in Gedanken auf die Heimreise vor. Es waren dann noch Vorbereitungen für die Abreise zu treffen. Sie mussten sich abmelden und alle Bescheinigungen einsammeln, damit sie die DDR verlassen durften. Mit Marga ging sie noch einmal in die Stadt, aber es gab nichts zu kaufen, was Lissy für ihr Umtauschgeld hätte mitnehmen können. In einem Haushaltwaren Geschäft kaufte Lissy Salz- und Pfefferstreuer zur Erinnerung. Sie sah einiges an Haushaltgeräten und auch Gardinenstoffe in ziemlicher Auswahl. In einem HO-Laden erstand sie noch einige Sachen und im Lebensmittelladen kaufte sie sechs Salamiwürste, die ja von sehr guter Qualität waren, um sie zu Hause zu verschenken. Zum Schluss hatte sie dann doch alles Geld ausgegeben, denn mit DDR-Geld konnte man in der BRD nichts anfangen. So war dann der Tag ihrer Abreise gekommen. Lissy dankte den Menschen, die so viel für sie getan hatten und für die ihr Besuch eine Herausforderung gewesen war denn sie wollten es ihnen unter allen Umständen angenehm gestalten… Dafür war Lissy sehr dankbar… Rudi und Eric, die beiden Söhne fuhren noch mit bis zur Autobahn. Dort…, wo sie Lissy, Tim und Jorgi in Empfang genommen hatten und Lissy sah…, wie traurig sie waren, dass sie nicht mitfahren konnten, in die Freiheit… Lissy hätte sie am liebsten ins Auto gepackt und mitgenommen, aber das ging ja nun nicht… Das war dann doch ein trauriger Abschied. Beim DDR-Zoll angekommen sah der Beamte die vielen Dauerwürste und sagte: „So viel dürfen sie nicht mitnehmen, höchstens eine Dauerwurst!“ „Ja“…, sagte Lissy…, „was kann man denn für dreihundert Euro Umtauschgeld mitnehmen?“ Er winkte sie raus und dann wollten zwei Beamte, dass Tim die Rücksitze ausbauten um nachzusehen, ob sich Personen versteckt hielten. Tim sagte: “Ich weiß nicht wie das geht!“ Er wusste es zwar sehr genau, aber die Zollbeamten konnten ihn ja nicht zwingen, also bauten sie selbst die Sitze aus, um dann keine Flüchtlinge zu finden. Dann versuchten sie, die Sitze wieder einzubauen, was ihnen jedoch nicht gelang. Tim stieg aus und sah grinsend zu, wie sie sich abmühten. Hinter ihnen bildete sich eine Schlange von ausreisenden Westdeutschen, die dachten, man hätte etwas Aufregendes gefunden. Tim und Jorgi amüsierten sich. Nach etlichen Versuchen die Sitze wieder einzubauen winkten sie Lissy heraus, und riefen per Telefon einen Monteur herbei, der dann sie Sitze wieder einbaute. Die Dauerwürste hatten sie inzwischen vergessen und dann winkten sie Lissy heraus. Westdeutschland hatte sie wieder… Auf der Rückreise fuhr Lissy nach Rosenheim, um Gorgis Patenonkel Schorsch und seine Frau Elisabeth zu besuchen. Dort wurden sie liebevoll aufgenommen. Es gab eine wunderbare bayerische Brotzeit und Schorsch öffnete eine gute Flasche Wein. Sie erzählten von ihren DDR-Abenteuern. Sie waren froh, wieder in der BRD zu sein und bedauerten Lothars Verwandte, die sich diesem Regime unterwerfen mussten. Wieder zu Hause angekommen, freuten sie sich, in Freiheit leben zu können.
Nun, da alles in einigermaßen normalen Bahnen verlief, war es an der Zeit, im neuen Haus Ordnung zu schaffen.Die Heizung musste erneuert werden, denn die Öl-Heizung war von den Vorbesitzern unvorschriftsmäßig an der hinteren Außenwand des Hauses, bis in die zweite Etage verlegt worden. Lissy ließ die Heizung von Öl auf Gas umstellen. Tim hatte in einem der kleinen Zimmer unterm Dach sein Bett aufgestellt und war dabei, mit viel Geschick die Dachwohnung zu renovieren. Lissy ließ noch eine Telefonnebenstelle einbauen und so war Tim, sechzehn Jahre alt, sein eigener Herr. Er hatte es verdient!Ohne ein Wort des Unmutes hatte er Lissy bei dem Umzug und den Umbauarbeiten geholfen. Nichts war ihm zu viel. Aber auch Jorgi war unermüdlich mit seinen Hilfsaktionen. Vor allen Dingen half er die Kellerräume zu entrümpeln, schleppte Möbelstücke und machte Besorgungen für Lissy. Für einen Dreizehnjährigen, mitten in der Pubertät, eine große Leistung. Nie ein dummes Wort oder Missmut… Ohne die Söhne hätte Lissy nicht gewusst, wie sie alles schaffen sollte.Es war kein Mutter - Kind Verhältnis das sie verband, sondern eine wirklich große Freundschaft und sie hatten viel Spaß miteinander.Lissy arbeitete dann noch halbe Tage bei einer Steuerberaterfirma.Sie wollte sich beweisen, dass sie noch eigenes Geld verdienen konnte und es machte auch Freude, im früheren Metier zu arbeiten.Allerdings ließ die Lust nach einem halben Jahr nach, weil sie einen Kurs in Bauernmalerei, die gerade “ in“ war, absolvieren wollte.Ricka, ihre sechzehnjährige, junge Nichte wollte sich anschließen und so trafen sie sich in der Volkshochschule. Dort fand sich eine Klasse aus männlichen und weiblichen Teilnehmern zusammen. Jeder bekam einen Klumpen Modellierlehm…Was Lissy nicht wusste, ein Freund hatte sie in die Klasse eines Kunstprofessors eingeschrieben, der eine Klasse für bildende Kunst leitete.Hier sollten die Schüler den Körperteil eines Menschen modellieren.Kopf, Bein, Schulter oder Arm, nach eigener Idee und zu diesem Zweck trat plötzlich ein hübscher, dunkelhaariger, vollkommen nackter junger Mann hinter der im Raum stehenden Tafel hervor.Für Lissy kein besonderes Ereignis, obgleich sie dies noch nicht in einer solchen Umgebung gesehen hatte und eigentlich gekommen war, um Tiere oder Töpfchen zu modellieren, aber die junge Nichte war sehr überrascht als der junge Mann an den Tischen splitternackt vorbei ging.Zu dieser Zeit, in den fünfziger Jahren, war es nicht üblich, dass Männer, außer bei FFK-Fans, sich mit entblößtem Geschlechtsteil zeigten. Hier aber, ging es ja um die Kunst, wie Lissy ironisch bemerkte und Ricka sagte: „Immerhin war das sehr Aufklärend für mich, denn ich habe bisher noch keinen nackten Mann gesehen, außer im Museum.Sie wechselten dann den Unterrichtssaal und beschäftigten sich mit Tonarbeiten. Das freie Modellieren von Katzen, Enten, Gänsen und anderem Kleinvieh machte Lissy viel Spaß und besuchte noch einen Privatkurs, der von einer jungen Frau aus Bayern geleitet wurde. Lissy stürzte sich in die Arbeit und begann Möbel zu bemalen, was zu dieser Zeit völlig “IN“ war. Aus einem Zeitungsangebot kaufte sie für hundert D-Mark einen gebrauchten Eichenschrank. Die junge Frau, die diesen Schrank verkaufte, trennte sich nicht leicht von diesem Schrank, der ein Erinnerungs-Stück ihrer Großeltern war, die den Schrank in einem Flüchtlingstreck aus Ostpreußen, gerettet hatten.Lissy versprach ihr, sie einzuladen wenn der Schrank fertig sei. Diesen Schrank beizte Lissy auf der Wiese hinter dem Haus vollkommen ab und Jorgi unterlegte ihn mit einer Grundfarbe in hellem Gelb, das mit einer grün-braun Mischung überstrichen wurde. Durch Patina entstand ein „Uralt-Effekt. Es war eine “Mordsarbeit.“ Sie kaufte einen gebrauchten VW-Bus in dem sie bei ihren Westerwaldbesuchen jeweils einen Teil des Schrankes transportierte und begann mit der Bemalung. Die Arbeit machte ihr große Freude.Nach und nach, nahm sie Kontakte zu ihren Freundinnen und Freunden aus früheren Zeiten auf. Sowohl im Westerwald, als auch in Düsseldorf arrangierte sie manches Fest. Dann kamen die Paten aus Düsseldorf und Rosenheim und genossen das Landleben und oft kamen auch frühere Mandanten und Freunde aus Düsseldorf. An einer neuen Partnerschaft hatte Lissy kein Interesse, wenngleich es auch schön gewesen wäre, einen guten Freund zu haben. Doch die Männer, die sie kennen lernte, wollten sie gleich mit Haut und Haar und Ehering. Außerdem wollten sie, dass Lissy zu ihnen zog. Eine solche Bindung wollte Lissy nicht mehr. Sie sagte: „Fünfundzwanzig Jahre Ehe sind genug…!“Oft kamen auch Einladungen früherer Freunde. Lissy fühlte sich meist allein unter den Ehepaaren, denen Lothar mit seinen witzigen Einfällen und den Geschichten, die er so vortrefflich erzählen konnte, fehlte. Vor Allem vermissten ihn die weiblichen Teilnehmerinnen. Er hatte nie mit Komplimenten gespart und er tanzte gut, und gerne. Nun aber achteten die Freundinnen sehr darauf, dass ihre Ehemänner sich Lissy nicht zu sehr widmeten. Da war denn doch Eifersucht im Spiel, weil Lissi nun frei- und ungebunden war und nun das mit den Freunden tat, was Lothar bei den weiblichen Teilnehmern der Feste so beliebt gemacht hatte… Flirten was das Zeug hielt… Ein wirkliches Interesse an den Ehemännern ihrer Freundinnen hatte sie nicht. Sie genoss die Freiheit, die sie so lange vermisst hatte und konnte ihren Interessen nachgehen, ohne irgendeinem Menschen Rechenschaft geben zu müssen.Besondere Freude machten ihr täglichen, langen Spaziergänge mit dem kleinen Dackel, Susi…Wenn Lissy nun auch keinem Beruf mehr nachging, so arbeitete sie doch viel in ihrer Wohnung und im Garten. Sie renovierte, tapezierte und strich Türen, Fensterrahmen und das andere Holzwerk. Die handwerklichen und auch die Gartenarbeiten gefielen ihr sehr.In einer Zeitungsannonce las sie: „Stabiles Architektenbüro, Holzdielenboden, in drei Monaten, gegen Abbau und Abholung, kostenlos abzugeben.“ Sie dachte, das wäre eine gute Idee, denn sie interessierte sich auch für Keramikarbeiten und dafür brauchte man mehr Platz. Auch befürchtete sie Schaden an ihrem Parkett.Sie nahm Kontakt mit dem Architekturbüro auf und sicherte sich das Objekt mit einem Vertrag, für das Jahresende.Tim nahm noch immer Klavierunterricht und spielte nun neben komplizierten klassischen Kompositionen, auch Oswald Petersen. Freunde, denen er vorspielen wollte, hatten kein Interesse an Klassik. Lissy stellte sich die Frage, ob es gut war, Tim so lange Klavierunterricht nehmen zu lassen, aber er hatte sich nie dagegen gewehrt und ging gerne zum Unterricht. Durch die Jahre hatten sie viel Zeit investiert. Eigentlich…, zu viel Zeit, da Tim kein Interesse daran hatte, einen Beruf daraus zu machen aber auch nicht mit großer Begeisterung für sich selbst spielte. Für Lissy, wenn sie ihn darum bat, spielte er gerne.Er betrieb das Klavierspiel wie einen Sport, der ihn immer wieder zu größeren Leistungen antrieb. Doch war es nach Lissys Ansicht nicht das Richtige für seine seelischen Bedürfnisse. In der Schule hatte er keine Schwierigkeiten und auch nicht den Ehrgeiz Klassenbester zu werden Da blieb ihm viel Zeit für seine anderen Hobbys, wie Motorradfahren, alte Autos auseinander nehmen und Lesen. Wenn Lissy ihn nach den Hausaufgaben frug behauptete er:„Was ich im Unterricht nicht speichere, kann ich zu Hause nicht nachholen!“„Was sagt man da zu einem Siebzehnjährigen, als alleinerziehende Mutter?“Seine Zeugnisse waren durchschnittlich gut. Latein hatte ihm nie Schwierigkeiten bereitet und er hatte hier fast immer die Note eins. Nur im letzten Halbjahr des Lateinunterrichts zog er den Ausbau des Partykellers vor und versäumte den Lucull, was dann zu einer schlechten Note führte. Als er achtzehn wurde sagte er: „Ich möchte nun keinen Klavierunterricht mehr nehmen, ich interessiere mich mehr für Wirtschaft und Technik.
Seit Kinderzeiten sehnte sich Lissy nach fremden Welten, wenngleich sie ihre Heimat liebte, aber die Fremde übte von jeher eine Anziehungskraft aus.Das fing schon an, als sie an der “Gaswasserquelle“ ihre Geschichten erträumte.Zwar hatte sie viel gelesen…, aber gesehen hatte sie noch nicht viel, wenngleich sie dankbar zurückblickte, wenn sie an die Reisen mit Lothar dachte, als sie noch jung und erlebnishungrig waren. Nach dem erfolgreichen Existenzaufbau, der Lothar, ebenso wie Lissy über einen langen Zeitraum voll in Anspruch genommen hatte, erschien ihr diese Zeit, wie eine ferne Vergangenheit und doch auch ganz nah.Sie war glücklich und dankbar, dass es ihr vergönnt war, mit Tim und Jorgi zusammen zu leben und erlebte zum zweiten Mal, voll bewusst…, Kinder und Jugendzeiten. Sie verwirklichte nun ihre Träume, die ihr in der Ehe verwehrt waren, weil Lothar durch das Leiden in der Gefangenschaft keine abenteuerlichen Interessen hatte, was Lissy verstand und bedauerte. Es war auch gut so… Doch nun durfte sie von fernen Welten träumen, wenngleich sie sich auch zurück hielt. Für alles selbst verantwortlich…, konnte sie frei und ungebunden Entscheidungen treffen, aber sie übte Zurückhaltung, sowohl in ihrer Lebensführung, als auch bezüglich der Kosten. Auch ihre Söhne forderte sie zur Zurückhaltung in Geldausgaben auf.„Geld allein, macht nicht glücklich“, sagte sie.Lissys enges Verhältnis zu Anna zu. Anna…, mit ihrer fortwährenden Freundlichkeit und Liebe, gab Lissy immer wieder Kraft gab. Leider verursachte ein Bandscheibenschaden Lisa große Schmerzen. Sie versuchte in einer Kur Linderung zu erhalten, aber die Schmerzen wollten nicht weichen.Sie suchte einen Nervenarzt auf, aber auch dieser konnte ihr nicht helfen.Sie wurde von Alpträumen heimgesucht und dachte manchmal, sie fiele mitten aus dem Schlaf in ein schwarzes Loch. Tagsüber versuchte sie, sich ihrer Söhne wegen, wie früher zu verhalten, um sie nicht zu erschrecken. Sie sprach nicht viel über ihre Schmerzen.Jorgi steckte in einer tiefen Jugendkrise. Lissy vermutete, dass er, wie eine Reihe seiner Mitschüler Marihuana rauchte. Er stritt es ab. In den Jugendkreisen wurde viel Alkohol konsumiert. Es gab Streitgespräche, aber Lissy konnte nicht beweisen, daß Jorgi rauchte. Um sich abzulenken, widmete sich wieder der Malerei und den Keramikarbeiten, und den Arbeiten im Westerwald, wo sie auch mit Freund Jupp und seinem Pferd Moritz Kutsche fahren konnte. Jupp, mit seinen witzigen Einfällen, brachte sie und die Kinder oft zum Lachen. Leider sahen sie sich nicht mehr so häufig wie früher, aber Lissy dachte oft an ihn.Er, und seine Frau Maria waren in Lissys Leben ein Haltepunkt gewesen.Immer für sie und die Kinder da. Jupp kümmerte sich auch um das „Häuschen“.„Ich brauche mich nicht zu schämen, ich hab die Siebzig erreicht“, sagte er.Doch ein paar Monate später war ihr Freund und treuer Begleiter schwer erkrankt. Aber er hatte es Lissy bisher verschwiegen. Bei einem ihrer Westerwaldbesuche, Lissy saß mit den Söhnen gerade beim Frühstück, stand er vor ihrer Tür. Jupp war in Zivil, wie er diese Kleidung nannte, denn Lissy kannte ihn eigentlich nur in Reithosen.Er war bedrückt und blass und versuchte ein Lächeln.Jupp, der sonst gerne seinen Westerwalddialekt verwendete, sprach einwandfreies Hochdeutsch.Er sagte: „Ich will mich verabschieden!Ich habe eine kleine Operation und gehe ins Krankenhaus, aber bald bin ich wieder da!“Dann sprach er noch über Lissys Söhne und über seine Kinder und Enkelkinder, und dankte Lissy für ihr Interesse, mit dem sie seinen Gesprächen und Lebenserinnerungen gefolgt war. Lissy war sehr beeindruckt, aber auch besorgt.Es war das letzte Mal, daß Lissy diesen wirklich einzigen Freund, den sie in ihrem Leben gehabt hatte, sah.Dieser Abschied schmerzte sehr. Waren es doch viele Jahre, die sie miteinander verbunden hatten.Sie dachte daran, dass er einmal gesagt hatte, dass sie der einzige Mensch sei, dem er alles sagen könne. Dazu gehörte die Geschichte mit dem streunenden Hund, den er mit nach Hause gebracht hatte und den er auf Androhung seines Vaters mit einem dicken Stock erschlagen musste, um von seinem Vater nicht mit eben diesem schrecklichen Knüppel geprügelt zu werden. „Schlach em Kapott…!“ schrie er, „sonst:…“ Er zeigte den Prügel, und Jupp wusste, der Vater würde zuschlagen. Zu diesem Zeitpunkt war das „Jüppchen“, wie die Mutter ihn nannte, elf Jahre alt. Noch nie, in seinem sechzigjährigen Leben, hatte er mit einem Menschen über dieses Geschehnis gesprochen. Von Jupp erfuhr sie auch, dass viele Männer ihre Frauen schlugen. Die Brutalität in diesen ärmlichen Verhältnissen war sprichwörtlich, doch niemand schritt dagegen ein. Einmal…, als sie von einem Ausritt zurückkamen, sahen sie einen Mann im Lehnstuhl, der vor seiner Haustüre saß, und Jupp sagte:„Gut, dass der einen Schlaganfall hatte!“ Als Lissy frug warum, sagte er: „Seine Frau bekam mehr Prügel als zu essen und seine Kinder auch.“ „Und Ihr Männer habt nichts gemacht…?“, frug Lissy. „Jeder kehre vor seiner eigenen Tür!“, sagte er. “Auch Er!“Darüber hatten sie dann ein Streitgespräch, das eine lange Aussprache zur Folge hatte. Er sagte: “Du hast Recht, aber Du kannst Dir nicht vorstellen, wiees hier zuging. Hier war alles verschwippt und verschwägert und man gönnte einander nicht das Schwarze unter dem Nagel. Die Armut ist ein schlechter Ratgeber.“Versöhnt nach diesem Gespräch, verabschiedeten sie sich.Jupp musste sich einer Operation unterziehen. Eines Tages rief sein Sohn an und sagte, dass sein Vater nicht mehr lange leben würde. Er hatte eine schwere Krebserkrankung. Lissy schrieb ihm einen langen Brief und dankte ihm für seine fürsorgliche Art, wie er mit den Kindern, mit ihr und den Pferden umgegangen war. Seine Frau Maria sagte, dass er sich sehr gefreut habe.Er starb bald darauf…Lissy fuhr zur Kur, um von ihren Rückenschmerzen befreit zu werden, aber die Wirbelsäule machte nicht mit. Es gab zwar Linderung, aber letztendlich war es doch sehr schmerzhaft. Durch eine Frau aus dem Dorf erfuhr sie von einem Chiropraktiker. Er hieß Kropp, und war bei der Landbevölkerung bekannt, aber auch bei Patienten, die aus dem Ausland kamen. Er war kein Arzt und behandelte nur Rückenleiden. Seine Frau kassierte zwanzig D-Mark und gab Lissy eine Quittung. Zuerst prüfte er ihren Blutdruck. Danach machte er eine Augendiagnostik und tastete ihren Nacken und die Wirbelsäule ab. Er sagte: „Hier haben sie auch Probleme, aber ich denke, das ist nicht so schlimm…! Legen sie sich auf die Liege…!“Es war ein schmales Bett mit unterschiedlichen Auflagen und Verstellmöglichkeiten für den Rückenbereich.Keine sonstige Untersuchung…Auf dem Bauch liegend, tastete er ihre Wirbelsäule ab und übte an verschiedenen Punkten Druck aus. An einer bestimmten Stelle wurde der Druck stark und Lissy spürte Erleichterung und Schmerzfreiheit. Die ganze Prozedur dauerte insgesamt eine halbe Stunde.Vorsichtig half er ihr auf und sagte: “Bewegen sie sich nicht zu heftig und drehen sie sich beim Rückwärts fahren nicht zu stark um. Alle Bewegungen bitte vorsichtig!“ Lissy wollte es nicht glauben… Mehr als ein Jahr hatte sie sich mit den Schmerzen abfinden müssen und nun…! Phantastisch…, diese Schmerzfreiheit…
Nun, wieder voller Unternehmungsgeist, freute sich Lissy auf die von der Rheinischen Post angebotenen Busreise nach Schottland. Auf der Rückreise sollte sie auch einen Teil Südenglands und London sehen.Noch nie war sie in England gewesen, und war gespannt auf das KönigreichEine freundliche, gut unterrichtete, junge Frau begleitete die Reise. Lissy hatte ihren Polyglott und Literatur über Schottland mitgenommen und war vollauf damit beschäftigt, während der Fahrt, die leidvollen Erfahrungen der schottischen Königin zu verfolgen. Zwar hatte sie schon viel über die schottische und englische Geschichte gelesen, aber hier, an Ort und Stelle der vielen Ereignisse, der Künstler und Schriftsteller, der Heerführer und Politiker war es aufregend und anregend gleichermaßen. Irgendwie lag es auch an der schottischen und der englischen Luft, bildete Lissy sich ein…, wenngleich einige Teilnehmer der Reise sagten, der ganze geschichtliche Quatsch würde sie nicht interessieren. Lissy sagte: „Gerade die Geschichte macht diese Reise interessant!“ Von den Busreisen erfahrenen, älteren Ehepaaren zwischen sechzig und siebzig, wurden die allein reisenden Frauen besonders gemustert.Die Ehefrauen gingen keinen Schritt allein und hingen ihren Männern, „Ihrem Besitz“, dauernd am Arm. Die Ehemänner trugen in einem Beutel Ersatzschuhe, Jacken und Mäntel für sie, in den fünfziger Jahren keine Besonderheit. Nun wusste Lissi, warum Lothar es abgelehnt hatte, sich Reisegruppen anzuschließen. Er hatte gesagt: „Ich habe keine Lust auf Massenbetrieb, mir reicht die lange Gefangenschaft und der Krieg.“ Als sie sich der Grenze zwischen Schottland und England näherten, empfing sie trotz strömenden Regens ein Dudelsackspieler mit schottischer Musik.Beim nächsten Halt wurde die Reisegesellschaft wieder mit Musik empfangen. Es war eine Hochzeitsschmiede. Auch eine interessante Variante menschlicher Vereinigungen. Nach Weiterfahrt hatte sich die Wetterlage gebessert und man sah bis zum Horizont Wiesen, auf denen Schafe weideten. Es war eine besondere Rasse. Mit ihren schwarzen Köpfen und Gesichtern waren sie schön anzusehen.Auch Ochsen und Stiere weideten hier. Lissy freundete sich mit der allein reisenden Dame an, die auf der Nachbarbank Platz genommen hatte. Diese erzählte ihr, dass sie an einer rheumatischen Erkrankung litt. Lissy konnte die Lage dieser netten Frau gut verstehen und nahm Rücksicht. „Man kann auch etwas langsamer gehen“ sagte sie.Sie freute sich, eine Reisepartnerin zu haben, die keinen Wert darauf legte, dauernd zu reden. So konnte Lissy diese Reise genießen, indem sie in ihrem Polyglott las und die traurige Geschichte der Königin Maria Stuart, so wie die Geschichte der Königin Elisabeth I von England, verfolgte. Nun…, auf dieser Reise wurde die Geschichte dieser beiden Königinnen und die Geschichte Schottlands, zu einer neuen Erfahrung, denn ist es doch ein großer Unterschied, ob man auf der Schulbank, oder im Theater die Geschichte verfolgt, oder selbst am Ort der Geschehnisse ist. Auch die Geschehnisse um Bony Charly und Culloden Buttlefield, über die Lissy während der Nazizeit in Deutschland nichts erfahren hatte, war von höchstem Interesse, zumal die Reiseteilnehmer in einer Filmvorführung an den Kämpfen und dem Leben der äußerst erbärmlichen Lebensumständen der Menschen im damaligen Schottland teilnehmen konnten. Zur Übernachtung und Abendessen kehrten die Reiseteilnehmer in Landgasthöfen ein. Lissy, und ihre Busnachbarin genossen nach dem Abendessen an der Bar die Gesellschaft von netten schottischen Bürgern , die sie zu einem Bier einluden, was wiederum das Kopfschütteln der mitreisenden, älteren Damen hervorrief, deren Ehemänner jedoch neidvoll zusahen, denn Bier gab es nur an der Bar. Lissy war erstaunt, dass die Biergläser ohne Schaum, randvoll gefüllt wurden, was von den Barbesuchern aufmerksam und kritisch verfolgt wurde. Die Männer an der Bar sangen ihnen eine schottische Weise und diskutierten darüber, dass Schottland selbständig werden müsse, wozu Lissy sich jedoch vorsichtshalber eines Kommentars enthielt. Hier konnte man nicht voraussehen, dass im Jahr 2006 immer noch darüber abgestimmt werden sollte, dass Schottland die Selbständigkeit erringen könnte. Einer der schottischen Barbesucher meinte…, dass Lissy ein klassisches Englisch spräche, aber er könne sie verstehen. Man lachte über alles… Es war eine gute, entspannende Stunde… Am nächsten Tag, ging es nach dem Frühstück weiter, wenn auch die gebratenen Nieren und andere gehaltvolle, fetthaltige Spezialitäten nicht ganz nach Lissys Geschmack waren. Jedoch gab es auch ein kontinentales Frühstück, ganz nach Wunsch.Wieder ging es vorbei an riesengroßen Schafweiden und durch eine hügelige Landschaft.Sie erhielten Quartier in dem uralten Teil der Unterstadt Edingbourgh, wo mehr als zweihundert Jahre alte Hotels auf der Kings Road, auf sie warteten. Es waren wirkliche Uraltbauten, aber vielleicht waren andere Unterkünfte für das Reiseunternehmen nicht bezahlbar.Dort vermisste Lissy Sauberkeit. Die Bettwäsche war oberflächlich betrachtet in Ordnung und ein Riesenstapel Handtücher veranlasste Lissy, sich eine Handtücher bestehende Bahn zur Toilette zu legen, wo sich auch ein Handwaschbecken befand.„Nur für zwei Nächte“, tröstete sie sich. Irgendwie lässt sich das machen, aber etwas unheimlich war es doch, in diesem Uraltgemäuer. Die Waschgelegenheit am nächsten Morgen, zwei Flure weiter, warabenteuerlich…, für mehr als zehn Gäste, aber nicht zu umgehen. „Augen zu…, und durch“, dachte Lissy, „Edinbourgh ist eine uralte Stadt…“Sorgfältig packte sie alles in ihren Koffer, bevor sie sich wieder der Reisegruppe anschloss.. Das unheimliche, alte Gemäuer in Edinbourgh wurde später bei Lissy zu Stoff für eine Kriminalgeschichte. Dann war die obere Stadt…, und vor allen Dingen, die hoch gelegene Festung zu besichtigen, wo Maria Stuart eine lange Zeit verbringen musste und in welcher ihr Liebhaber aus Frankreich, vor ihren Augen ermordet wurde.Sie lief mit ihrer Begleiterin in Richtung der Burg und konnte sie gerade noch rechtzeitig auffangen, denn diese hatte übersehen, dass die Bordsteine mindestens einen halben Meter hoch lagen, und sie drohte zu fallen. Ein schlimmer Sturz hätte sie an der weiteren Teilnahme der Reise hindern können. Diese Unfallgefahr hatte sie Beide sehr erschreckt und die kehrten in eine Bar ein, wo Männer und Frauen sich in getrennten Räumen aufhalten mussten. Eine Besonderheit in Schottland… Immerhin konnten sie dort etwas trinken und ihren Schrecken überwinden.Die spätere Besichtigung der Burg und die Erklärungen der deutschsprechenden Schottin waren sehr interessant und ließ sie Einblick in die Ereignisreiche geschichtliche Vergangenheit der Stadt nehmen.Am darauf folgenden Tag besichtigten sie die außergewöhnliche Nationalgalerie, und Sie bewunderten das Sir Walter Scott Monument, St. Gils Cathedral, und andere interessante Kirchenbauten. Auch sahen sie die Statue von Greyfriars Bobby, einem Mischlingshund. Er war der einzige Hund, der Ehrenbürger einer Stadt war. Laut Denkmalinschrift folgte er im Jahre 1872 seinem Herrn in die Ewigkeit. „Auf zum Loch Ness“, sagte die Reiseleiterin, doch auch bei aufmerksamer Beobachtung war das Ungeheuer von Loch Ness nicht zu sehen, aber immerhin hatte der Andenkenverkäufer ein Einnahme zu verzeichnen, denn “Nessi“ , wenigstens als Foto, wollten alle mit nach Hause nehmen.Es folgten weitere eindrucksvolle Reiseziele, phantastische Schlösser, die niemals, auch in den Kriegen nicht zerstört wurden. Außergewöhnliche Sammlungen von Gemälden, edlem Porzellan, und anderen, ungeheuren Reichtum verratende Kostbarkeiten, die die schottischen Adeligen angesammelt hatten. Schlussendlich besuchten sie noch das Fort Willem, St.Ives, Huntington und das interessante Oban, Argilishire. Hier erfuhren sie auch, dass fast ganz Schottland einigen, wenigen schottischen Adeligen gehörte.Auf der Rückreise durch Südengland genossen sie bei schönem Wetter die englischen Bäder und landeten zum Schluss in London, um dort die Nationalgalerie zu besuchen und eine Wachablösung am Zaun von Schloss Windsor zu beobachten.
„Endlich!“, sagte Tim, Endlich kann ich den Führerschein machen…“ Er hatte das Abitur bestanden, und wollte nun eine Lehre als Kfz-Mechaniker absolvieren. Er sagte: „Bevor ich ein Studium beginne, möchte ich etwas Handwerkliches machen.“ Um die Lehrstelle in einer Fiat Werkstatt hatte er sich schon bemüht und bat Lissy, ihn zu begleiten, um den Meister, der die Werkstatt leitete, kennen zu lernen. Von seinem Ersparten kaufte er einen kleinen Fiat, der schon etliche Jahre alt war, und baute ihn als Rally Auto um. Lissy übte mit seiner Unterstützung Rutschwenden und Bremsmanöver, was ihr viel Spaß bereitete und unterstützte ihn bei der Beschaffung von besonderem Werkzeug und Ersatzteilen. Die nächste Aktion war der Ausbau des Partykellers, dem Tim seine Lateinarbeit geopfert hatte. Zu den Partys lud Lissy auch die Hausbewohner ein. Sie feierten in Lissys Wohnung, auf der Terasse, oder im Garten. Alle waren gesund und erlebnishungrig und die Älteren hatten viel nachzuholen, denn der Krieg und die Nachkriegszeit mit Geschäftsaufbau und Beruf hatten ihnen zum Feiern nicht viel Zeit gegeben. In den Jahren des Aufbaus hatten sie viel privates Vergnügen versäumt. Tim und Jorgi schlossen sich der ersten Rot-Kreuzgruppe, die im neuen Wohnort gegründet, und von einem Arzt geleitet wurde, an. Auch einige Freunde und Freundinnen interessierten sich für die Arbeit beim Roten Kreuz und erstaunlich war auch, was die Jugendlichen zwischen sechzehn und neunzehn Jahren leisteten. Sie erhielten die Erlaubnis, auf einem früheren Bauernhof die riesengroße Scheune auszubauen und es verging kaum ein Samstag oder auch Sonntag, an dem die Jugendlichen nicht damit beschäftigt gewesen wären, das Zug-Heim, den Autoparkplatz und die Autowerkstatt auszubauen. Von Regen und Wind, Schmutz und lautstarken Geräten, wie Pressluft-Hammer und Bohrmaschinen ließen sie sich nicht beeindrucken. Der Fußboden musste tiefer gelegt, und große Tore eingebaut werden. Durch einen Arzt erhielten sie medizinischen Unterricht für alle lebensrettenden Maßnahmen und legten Prüfungen in vielen medizinischen Bereichen ab. Interessant für sie war, dass sie sowohl im Opernhaus als auch bei Großveranstaltungen wie Kirmes, Karneval und Sportveranstaltungen Dienste leisten mussten und mit Stolz trugen sie Rotkreuz-Uniformen, obwohl sie eigentlich Uniformen ablehnten. Tims Aufgabe war, alle notwendigen Werkzeuge und Materialien, Fenster und Türen zu beschaffen. Ein Bürger spendete eine Einbauküche und die Autowerkstatt erhielt eine Hebebühne. Tim legte alle elektrischen Leitungen, die später von einem Installationsmeister abgenommen werden mussten. Ein Rotkreuz-Helfer legte Wasserleitungen und baute die Küche ein. Niemand machte ihnen Vorschriften und siehe da, sie kamen bis auf einige fachliche Hilfestellungen alleine zurecht. An dem Projekt Rot-Kreuz¬¬¬-Garage, Zug¬-Heim, Werkstatt, Küche, Toiletten und Duschen arbeiteten sie unermüdlich ein ganzes Jahr. Doch auch das Feiern kam nicht zu kurz. Sie machten Übungen und fuhren zum Westerwald, wo sie ihre Zelte aufschlugen und beim Lagerfeuer ihre Kottelets brieten. Niemand machte ihnen Vorschriften und so genossen sie vollkommene Freiheit. Doch nun rückte die Zeit für das Abenteuer Griechenland näher. Der alte VW-Bus war startbereit. Jorgis große Schulferien und Tims Urlaub waren programmiert. Sieben Wochen Zeit… Lissy beschaffte Lesestoff und Kartenmaterial für Griechenland und für die zu durchfahrenden Länder, jeweils Landeswährungen. Sie machte sich keine großen Sorgen. Für sie war die geplante Reise ein großes Abenteuer. Das Wochenendhäuschen bot sie in der Rheinischen Post als Ferienhaus an und der evangelische Pfarrer für die Rhein Schifffahrt in Duisburg, buchte es für eine geringe Miete und der Verpflichtung, die große Wiese zu mähen und das Schwimmbad und die Sauna zu pflegen. Über alles konnte die Familie frei verfügen und deren Kinder genossen die große Freiheit… Am Tag vor der Übergabe und der Abreise mähten sie noch die Wiese, wobei Jorgi seine Mutter als Kinderschinderin bezeichnete. Sie hatten großen Spaß miteinander. Vor der Abreise kauften sie noch bei Katharina im Dorf, für die nächsten Tage Lebensmittel ein, die sie in der kleinen Bordküche verstauten, und dann ging es los… Abenteuer pur! Die Geislinger Steige hinter sich lassend, fuhren sie den im Campingführer angegebenen Platz an, der sich leider als unfertig erwies, aber das entmutigte sie nicht. Jorgi sagte: „Das ist das erste Abenteuer!“ Sie bauten ihre Zelte auf… „Heute gehen wir essen“, sagte Lissy. „Gekocht wird in den nächsten Tagen!“ Sie fanden einen Gasthof, in dem es frische Forellen gab und Jorgi fragte die junge, hübsche Bedienung: „Haben sie Forelle blau?“ Worauf diese antwortete: „Eben war sie noch nüchtern!“ Da war selbst der um flotte Sprüche nicht verlegene Jorgi, platt… Das junge Mädchen blieb ernst. Sie hatte es so ernst gemeint, wie sie es gesagt hatte. So ging der erste Tag ihrer abenteuerlichen Reise vorüber und sie schliefen auf den vor dem Abendessen aufgeblasenen Luftmatratzen tief und traumlos. Bei “Schönwetterglück“ genossen sie den in ihrer “Bordküche“ zubereiteten Kaffee und Tim briet Spiegeleier. So hatten sie den unfertigen, noch primitiven Zeltplatz bald vergessen und Lissy genoss das “große Abenteuer“, denn einen Zelturlaub hatte sie in ihren fünfzig Lebensjahren noch nicht erlebt. Eine ungeahntes Freiheits- und Abenteuergefühl beseelte sie. Die Freude, mit ihren Söhnen eine solche freie Zeit vor sich zu haben, erfüllte sie mit Dankbarkeit. Jorgi kümmerte sich um das Gepäck und sorgte dafür, dass Lissy und Tim nichts vergaßen. Er hatte auch die Kartenoberaufsicht und bestimmte den Kurs. Auf der A3 weiter fahrend, nahmen sie die Autobahn Salzburg und hatten das Glück, ab Rosenheim bei strahlendem Sonnenschein, die wundvolle Bergkulisse zu erleben. Der alte VW-Bus tat treu seine Pflicht und Tim genoss seine erste große Fahrt als Autofahrer. Er fuhr so souverän, als hätte er sein ganzes Leben nichts anderes getan. Die erste Rast machten sie in dem wundervollen Salzburg.
Sie hatten davon geträumt… Griechenland…Besonders Tim, der sich schon während der Schulzeit für die griechische Geschichte interessierte, freute sich auf die Reise, die ja erst zu diesem Zeitpunkt möglich war, weil er erst mit Achtzehn den Führerschein machen konnte.Für die von jeher abenteuerlich veranlagte Lissy, war es die Erfüllung eines lang gehegten Traumes.Jorgi wäre gerne mit einem Altersgenossen gefahren, aber die Verantwortung war Lissy zu groß und ohne Jorgi,hätte Lissy die Reise nicht unternommen. Letztendlich aber, freute er sich doch auf die Reise, wenn er auch kein Schlauchboot mitnehmen konnte. Zumindest musste sie sich allerdings damit einverstanden erklären, dass Jorgi seine geliebten Kloqs tragen durfte. Diese ungesunden Schuhe, die den schlaksig, großen, fünfzehnjährigen Jungen noch etwas größer erscheinen ließen, konnte sie ihm nicht ausreden.Sie hatten die Zelte zur Probe auf der großen Wiese aufgebaut. Alles klar, sagte Tim. Zelte, Schaumstoff - Schlafmatten, Koffer, Werkzeuge, Öl- und Wasserkanister, fanden unter der Abdeckplane, und die Bordtoilette und Trinkwasserkanister, hinter den Vordersitzen ihren Platz. Die Wiese im Westerwald musste noch gemäht werden, bevor die Ferienäste kamen, die das kleine Haus nebst Schwimmbecken und Sauna gemietet hatten und dann traf auch schon der Pfarrer für die Rhein Schifffahrt aus Duisburg, mit seiner Familie zur Übergabe ein.Bei Katharina im kleinen Dorfladen, kauften sie noch Lebensmittel und schon ging es auf die Autobahn in Richtung Frankfurt.Tim hatte mit schwarzer Farbe BULLY - VIA Griechenland, auf die Seitentüre gemalt und das große Abenteuer konnte beginnen.Für Lissy war es die Erfüllung eines lang gehegten Traumes und für die Söhne ein großes Abenteuer.Die erste Rast machten sie hinter der Geislinger Steige auf einem noch nicht ausgebauten Campingplatz, zwischen hohem Gras und Gestrüpp, aber nichts konnte sie in ihrer Abenteuerlust bremsen. Hier wird nicht gekocht, sagte Lissy… Sie fanden ein Restaurant in dem frische Forellen angeboten wurden. Eine junge, hübsche Frau bediente, und der um Einfälle nicht verlegene Jorgi frug sie, ob sie Forelle blau hätten, die er besonders gerne aß, worauf diese ernsthaft antwortete, gestern war sie noch nüchtern. Darauf schwieg Jorgi. Hatte sie, oder hatte Jorgi sich veralbert gefühlt? Die erste Nacht im Zelt schliefen sie gut, wenn es auch kein vergnügliches Frühstücken auf dem ungepflegten Platz war. Ihrer guten Stimmung tat das keinen Abbruch, und weiter ging es auf der Autobahn in Richtung München - Salzburg, entlang der wundervollen Bergwelt gen Süden.Das kommunistische Albanien vermeidend, von dem es haarsträubende Erzählungen gab, wählten sie die Abfahrt für das kommunistische Jugoslawien, die auch von den türkischen Gastarbeitern für ihre Ferienreisen benutzt wurde. Es war eine unglaubliche Strapaze auf dieser jeweils einspurigen Bahn, auf deren Seiten links und rechts, ausgebannte und zerbeulte Autowracks lagen. zu fahren. Vorbei an Riesengroßen Feldern mit Sonnenblumen und Weizen, zog sich diese Autostraße kilometerweit durch das Land. Hier beobachtete Lissy türkische Familien auf Urlaubsfahrten in die Heimat, die zu fünft in einem Kleinwagen saßen und auf dem Dach Unmengen von Gepäck beförderten.Türkische Frauen, die in Deutschland unentwegt in langen Stoffhosen und mit dicken Pullovern, Kopftüchern und verhüllenden Mänteln gesehen wurden, entledigten sich an einer Raststätte dieser dunklen Kleidung. Sie trugen nun bunte Gewänder und Kopftücher aus hellen Stoffen. Kichernd und schwatzend wuschen sie sich die Füße. Die Freude, in die Heimat zu fahren, war ihnen anzusehen und die sonst so scheuen Frauen erwiderten Lissys Lächeln.Rechts und links der einspurigen Bahn, kleine, katenartige Häuser, mit teilweise zerbrochenen Fensterscheiben und ein paar schmutzige Rasthöfe, die man kaum als Raststätte bezeichnen konnte. Total verschmutzte Toiletten befanden sich in hundert Kilometern Abstand. Wegen einer drohenden Panne machten sie Pause bei einem eingezäunten Rastplatz, dem eine Reparaturwerkstatt angegliedert war. Ein Monteur, der begeistert erzählte, dass er in Deutschland als Gastarbeiter gewesen sei, besorgte ein Ersatzteil, so dass sie weiter fahren konnten und hier nicht übernachten mussten.Bei mörderischer Hitze, und ohne Unfall bewältigten sie die lange Fahrt… Am Ende dieser unfallträchtigen Strecke befand sich ein sehr sauberer, in Terrassen angelegter grasbewachsener Campingplatz, mit sauberen Duschen und kühlenden Getränken, Froh der mörderischen Autobahn entkommen zu sein, bauten sie hier ihre Zelte auf. Noch um Mitternacht herrschte eine fast unerträgliche Schwüle. Aber es wurde gefeiert, bis in die Nacht. Gegen fünf Uhr in der Frühe brach plötzlich mit großem Getöse ein Gewitter über sie herein. Tim und Jorgi lagen in tiefem Schlaf und nichts konnte sie aufwecken. Auch nicht der Wolkenbruch, der sich unter Donnerschlägen, plötzlich über die kleinen Zelte ergoss.Einige der Zeltbewohner flüchteten in die Gasstätte aber Tim und Jorgi schliefen…Nach einer Stunde war der Spuk vorbei und Lissy dachte noch eine Zeit schlafen zu können. Als sie jedoch bemerkte, dass die Luftmatratze im Wasser schwamm, war für sie kein Verweilen mehr in diesem Zelt. Sie floh in die Duschräume, die ihr zu diesem Zeitpunkt alleine gehörten. Dann weckte sie Tim und Jorgi, die unter Protest die Zelte verließen, aber nach dem Frühstück wieder der abenteuerlichen Reise zugeneigt waren. Nun näherten sich einer kommunistischen Kleinstadt. Es war die letzte Station vor Griechenland und sie waren erstaunt, ob des bizarren, riesigen, steinernen Siegestores, das alleine, ohne Stadtmauer im Gelände stand. In der bitterarmen, herunter gekommenen, kommunistischen Stadt, konnten sie eine ihrer Luftmatratzen , die undicht geworden war, reparieren lassen und die Leute freuten sich ob der D-Mark, mit der sie die Reparatur bezahlten.So näherten sie sich der griechischen Grenze, die hier völlig durchlässig war, und von nur zwei Zollbeamten kontrolliert wurde.Sie hatten seit Verlassen ihrer Heimatstadt Düsseldorf eine beträchtliche Strecke zurückgelegt und Lissy hielt an, um der griechischen Erde zu huldigen, doch angesichts der hier völlig öden Landschaft, ein paar Kartoffelfelder breiteten sich vor ihnen aus, und in der Ferne sahen sie ein Waldgebiet, fuhren sie, etwas enttäuscht, weiter.Eine große Hinweistafel auf Tessaloniki und eine fünfspurige Autobahn führte sie entlang dem Meeresufer zu der geschichtsträchtigen Stadt.Außergewöhnlich empfanden sie die sich außerhalb des Stadtgebietes Werkstätten.So reihten sich Schneider, Schuster, Metzger, Steinmetz, u.a. Handwerksbetriebe, Textilgeschäfte und Lebensmittelläden, Imbissbuden und Geschenkartikelläden aneinander.Auch konnte man Briefe an Behörden und Ämter schreiben lassen. Eine neue Welt Doch weiter ging es, ans Meer, das aus der Ferne lockte.Bei strahlendem Sonnenschein und mittäglicher Hitze erreichten sie den Strand, nachdem sie einen im Sand versunkenen Meerwasser Priel großen Ausmaßes, umrundet hatten.Hier packten sie ihre Zelte aus, die nun in starkem Wind heftig flatterten und trockneten.Zwei Tage wollten sie hier ausruhen und Tim wollte den Bully-Bus warten.In der Nähe gab es einen großen Gemüse, Obst und Lebensmittelmarkt unter freiem Himmel. Lissy und Tim machten sich auf, um sich für die nächsten Tage mit Lebensmitteln einzudecken und Jorgi blieb bei den Zelten, die er nach dem Trocknen aufbaute. Diese Einzelzelte waren sehr gut, denn so hatte Jeder einen Ruheplatz, an dem er allein sein konnte.Nach ihrer Rückkehr, am gleichen Nachmittag, lernten sie ein griechisches Ehepaar aus Tessaloniki, das mit drei Kindern, zwei Jungen von zehn Jahren, Zwillingen, und einer wunderschönen sechzehnjährigen Tochter kennen. Diese interessierten sich sehr für die Urlauber aus Deutschland und es stellte sich heraus, dass sie, als sie noch keine Kinder hatten, als Gastarbeiter in Deutschland gearbeitet hatten. Der junge Mann bei Mercedes und seine Frau als Putzhilfe… Die jetzt sechzehnjährige Tochter Maria war in Deutschland geboren und als sie wieder in Griechenland waren, gaben sie Maria in eine deutsche Schule in Tessaloniki. Lissy lud sie zum Kaffee ein, und bei munterem Geplauder hatten sie einen schönen Nahmittag miteinander. Als sie am Abend nach Hause fuhren, luden sie zum Eis in ihrer Wohnung in Tessaloniki ein. Lissy versprach sie zu besuchen, wenn sie nach Athen fahren würden, was sie dann auch einen Tag später taten. Die Griechen, wie Lissy sie später nannte, hatten mit dem Geld, das sie in Deutschland erarbeitet hatten, in Saloniki ein Textilgeschäft eröffnet, und waren stolz auf die schöne Eigentumswohnung, die sie vom Erlös ihrer Deutschlandarbeit gekauft hatten. Sie versprachen sie zu besuchen, wenn sie in den Ferien wieder in Deutschland wären.Lissy und die Söhne fuhren nach Athen um das Berühmte Museum zu besuchen, und die Ausgrabungen von und um Tut ench Amon zu sehen. Erst hier, was ihnen auf der Fahrt an der Küste entlang nicht aufgefallen war bemerkten sie, wie groß diese Stadt war. Lissy, die nicht sicher war, ob sie im Stadtkern für den Bulli einen Parkplatz zu finden würde, beschloss den VW-Bus in der Vorstadt zu parken und mit dem Taxi zum Museum zu fahren. Sie bog in eine Seitenstraße ein und fand den Parkplatz vor einem Haus, in dem eine deutsche Firma ihren Standplatz hatte. Ein Zufall…Lissy sprach in dieser Fima vor und erbat sich deren Telefonnummer um später die Straße per Taxi wieder zu finden und nun, frei von Parklatzsorgen nahmen sie ein Taxi, um die Interessante Metropole zu besuchen. Sie fuhren mindestens dreißig Minuten bis zum Museum und zahlten hohe Taxigebühren. Die griechischen Freunde hatten Lissy gewarnt… Fahrbare Wohnungen waren bei Dieben gefragt, denn die große Arbeitslosigkeit hatte viele Menschen wohnungslos gemacht und es wurde über Diebstähle berichtet.Lissy und ihre Söhne waren von den vielen Sehenswürdigkeiten der Stadt und dem interessanten, außergewöhnlichen Museum, begeistert.In einem, dem Museum angeschlossenen Kaffee-Restaurant erfragten und bestellten sie ein Taxi, dessen Fahrer die außerhalb liegende Straße nicht kannte, doch fanden sie nach dem Anruf bei der Polizei ihren Bully unversehrt wieder und waren froh, ihre kleine Zeltstadt unversehrt wiederzufinden.Ihre deutsche Urlaubsfahne flatterte im Wind… Es war ein wundervoller, interessanter Ausflug sagte Lissy. Wir werden den Tag nie vergessen, aber morgen geht es weiter.
Am nächsten Tag brachen sie ihre Zelte ab. Es war in den frühen Morgenstunden schon heiß, aber der Fahrtwind machte die Temperatur erträglich. Sie hörten Radio und Nachrichten von deutschen Sendern.
So fern von zu Hause und doch so schön, zu wissen, dass es da ist und man zurück kann, so man will.
So machten sie zwischendurch eine Pause, um im Meer zu baden, wenn es eine Möglichkeit gab und hielten Ausschau nach dem nächsten Platz, der zum Zelten geeignet schien.
Auf einem, an einem Sandstrand liegenden, kommerziellen Badeplatz, konnten sie an einem Imbissstand telefonieren.
Lissy sprach mit Anna, die sich zwar freute dass sie angerufen wurde, aber wohl in Gedanken, mit irgendwelchen Reparaturarbeiten, bei denen sie sich über schlechte Handwerker ärgerte, beschäftigt war…
Das dämpfte Lissys Begeisterung beträchtlich und machte sie nachdenklich. Anna konnte sich ja nicht vorstellen, dass Lissy mehr als tausend Kilometer entfernt war. Am Telefon war sie so nah, als hätte sie neben
Lissy gestanden, und Lissy war froh, dass es der Mutter gut ging.
In Düsseldorf hatte Lissy in einem Urlaubsbericht von einem wundervollen Sandstrand gelesen, der sich in einer Bucht bei Myrto, hinter einer Anhöhe befinden sollte.
Eine Ausnahme, denn normalerweise gibt es in Griechenland fast nur Steinstrände.
Die Bucht musste bekannt sein, denn mehrere Hinweistafeln wiesen den Weg.
Sie waren erstaunt und begeistert. Unter ihnen das blau schimmernde Meer und eine Felsenbucht, wie im Märchen. Weißer Sandstrand zog sich breit, von einem Ende zum anderen.
Die Autoren dieses Zeitungsartikels hatten nicht gelogen.
Der schmale Sandweg, hinunter zu der Bucht, erschien Lissy zu gefährlich. „ Da ist kein Mensch“, sagte sie, „ also ist es wahrscheinlich nicht sicher!“ Aber Tim verstand es
ihre Bedenken zu zerstreuen und sie setzten sich vorsichtig in Bewegung.
Tim fuhr langsam und sicher die lange, schmale Piste hinunter, zu der kilometerlangen, von bizarren, hohen, zackigen Felsen, umrahmten Bucht, die völlig menschenleer vor ihnen lag, und Jorgi sagte, „Das ist das Paradies.“
Paradiesisch fanden es auch Lissy und Tim, wenngleich sich der angebliche Sandstrand als ein Steinstand mit unglaublich großen, schneeweißen Kieseln erwies.
Da hatten die Reporter wahrscheinlich die Bucht auch nur von oben gesehen.
Sie bauten das Vorzelt und das Toilettenzelt auf.
Jorgi, dem Tim beipflichtete, sagte, „wir brauchen kein Zelt, wir schlafen mit den Matratzen auf dem Strand.“
Lissy blieb mit ihrer Matratze im Vorzelt.
So paradiesisch hatte sie sich ihre Reise nicht vorstellen können, sagte sie.
„Hier bleiben wir!“
Drei Tage genossen sie die Einsamkeit und Alleinherrschaft über dieses Paradies, bis zum Wochenende. Sie kauften frisches Wasser, Getränke und einige Lebensmittel in Myrto. Nur ein streunender Hund, der sich über Futter freute und mit dem sich Jorgi besonders anfreundete, leistete ihnen Gesellschaft, sonst war der Strand menschenleer. „Hier bleiben wir“, sagte Lissy. Tim und Jorgi waren ebenfalls begeistert und schwammen mit ihren Tauchermasken und Schwimmflossen hinaus, wogegen die vorsichtige Lissy lieber in den Felsenbuchten blieb. Doch am darauffolgenden Samstag, sie lagen morgens um fünf in tiefem Schlaf, wachte Lissy durch Motorengeräusch und Stimmengewirr auf. Erschrocken lugte sie aus dem Vorzelt auf den Strand und sah, dass ein Auto zentimeternah an ihrem Wohnwagen vorüber fuhr und links vor ihnen nahe dem Meer einparkte. Nun reihte sich auf der schmalen Autopiste bergab Fahrzeug an Fahrzeug, in einer langen Schlange, die nach und nach den Strand füllte. In geschäftigem Treiben wurden Zelte aufgebaut. Neben Tim und Jorgi, die noch fest in ihren Schlafsäcken schliefen, parkten unmittelbar in Nähe ihrer Köpfe, Kleinfahrzeuge und Motorräder. Lissy weckte sie und sie sahen erstaunt auf die vielen Menschen und Fahrzeuge. „Wahrscheinlich ist das der Privatstand für Anlieger,“ sagte Lissy. „Deren Paradies… Aber am Montag sind die wieder weg, dann haben wir den Strand wieder für uns allein.“ Als sie dann aber bemerkte, dass die Strandbesucher die bizarren Felsenhöhlen als Toiletten benutzten, ahnte sie Böses, das dann auch eintrat.
Nur einen Tag später, am Sonntag, als von ferne Kirchenglocken ertönten, sah Lissy mächtige Fliegenschwärme umherfliegen, die sich überall niederließen und eine Art Mücken und Gewitterwürmchen.
„Das geht nicht,“ sage sie.
„Die paradiesischen Tage, die wir hier erlebt haben und diese wundervolle Bucht, sollen unvergessen in unserer Erinnerung bleiben.Wir reisen ab und werden nun nach Meteora fahren!“
Sie fuhren aus der Vikos-Schlucht zurück nach Joannina, um dann in die Bergwelt des Pindos-Gebirges einzutauchen.
„Gut, dass wir jetzt gefahren sind. Griechenland ist in vielen Gegenden menschenleer, aber das wird sich sicher in den nächsten Jahren, wenn der Tourismus einsetzt ändern,“ sagte Tim.
Die schlecht zu befahrene Straße wand sich hinauf auf 1160 Höhe zum Katara-Pass. Auf der Höhe machten sie eine Kaffeepause und genossen die grandiose Landschaft. Beeindruckt von der bizarren Landschaft um Meteora fanden sie die Einfahrt zu den Klosteranlagen. Imbissstände und Andenken-Buden störten ein wenig den klösterlichen Frieden, aber vielleicht kamen ja die Einnahmen den Mönchen zugute.
Die klösterlichen Gebäude mit der dreihundert Meter hohen Felsenkulisse lagen grau und kaum erkennbar, eng geschmiegt, hoch über dem felsigen Gelände.
Im Polyglott lasen sie, dass man das Kloster nur in einigen Teilen besichtigen könne, was jedoch nur möglich war, wenn man eine Art Ski Lift benutzte, der einmal am Tag herabgelassen wurde.
Es gab keinen sonstigen Zugang zu dem Kloster, das abweisend und streng in das felsige Gelände hinein gebaut war, als diesen Lift, den die Mönche auch für Lebensmitteltransporte benutzten.
Lissy, die unter der Tageshitze von über vierzig Grad litt, sagte: „Ich brauche eine Abkühlung!“
Sie suchten sich einen freien Platz auf der hier tatsächlich grünen Wiesenfläche, und benutzten die sauberen Duschanlagen. Mit der fürsorglich mitgebrachten Wäscheleine zäunten sie einen Platz für ihre Luftmatratzen ein, so dass sie in dem lebhaften Durcheinander von Zelten, Kraftfahrzeugen, Motorrädern und anderen Gefährten, eine kleine Privatsphäre genießen konnten.
Der Sonnenuntergang tauchte die ganze Bergkulisse, mit der geheimnisvoll und drohend wirkenden Klosteranlage in ein sonderbares Licht. Ein solches Rot und Gold hatte Lissy noch nie gesehen, obwohl sie als Sonnenanbeterin, schon viele Sonnenuntergänge beobachtet hatte.
Während des ganzen Abends hing ihr Blick an diesem geheimnisvollen Gebäude, das so abweisend und geheimnisvoll zwischen den dunklen Felsen lag.
„Welche Schicksale mögen sich hier vollzogen haben?“, dachte sie.
Unvergessen, die Nacht unter dem Sternenhimmel.
Es waren die unterschiedlichsten Eindrücke, die man erhielt, nahm man die Umgebung wahr.
So war es erstaunlich, dass ein “Enten Autoclub“, den weiten Weg von Frankreich nach Griechenland durchgestanden hatte. So standen an der Außenkante des Platzes zehn Enten, exakt ausgerichtet nebeneinander, und die jungen Urlauber saßen für ein Foto vor ihren “Entchen“.
Eine Ente stand allerdings alleine da. Ein winziges Zelt war auf dem Dach aufgebaut, in dem zwei junge Leute hausten, die das kleine Fahrzeug in rhythmische Bewegung brachten, während ein Schäferhund brav auf den Sitzen schlief.
Kurios! Ein höchst elegant, schwarz gekleideter, etwa vierzigjähriger Herr hatte fast drei Stunden in Oscar Wilde Manier, in unnachahmlicher Haltung auf einem Liegestuhl Platz genommen. Zu seinen Füßen lagerte majestätisch ein Schäferhund, der ebenso unbeteiligt in die Gegend blickte wie er.
So hätte er auch im “Riz“ sitzen können.
Der Abend auf diesem Platz war einer der unvergesslichen Eindrücke dieser Reise und der Sonnenuntergang, nochmals erwähnt…, phantastisch.
Am nächsten Tag wollten sie das Kloster besichtigen, aber angesichts der Menschenmassen, die ebenfalls den Zugang zum Kloster suchten, verzichteten sie auf diese Besichtigung.
Es war ein so wundervoller Abend gewesen, dass sie sich den Auftrieb ersparen, und weiterziehen wollten, zumal sie wohl auch nur wenig über das Leben der Mönche erfahren würden.
So packten sie wieder und fuhren los, um den Touristenströmen zu entgehen, die nun den Platz vor dem Kloster füllten.
Auf der Suche nach einer Badebucht, fanden sie einen Camping Platz am Meer, wo sie ihre Zelte aufbauten und Badefreuden genießen konnten.
Der Wellengang war hier hoch und Lissy war froh, dass Jorgi kein Schlauchboot mitgenommen hatte. Hier verspürten sie den Genuss des Strandurlaubs mit in Griechenland unüblichem weißem Sand.
Leider verspürte Jorgi eine Übelkeit und hatte Magenschmerzen. Das beunruhigte Lissy sehr und sie fuhr mit ihm in die nächste Stadt, um einen Arzt aufzusuchen.
Lissy machte sich große Sorgen, denn man sah Jorgi an, dass es ihm schlecht ging.
Nach etlichen Fragen fanden sie endlich einen Arzt, der jedoch nicht zu Hause war, doch durften sie in dem Praxisraum, der durch Ventilatoren gekühlt wurde, warten.
Vielleicht hatte Jorgi zu viel Hitze bekommen, denn er atmete auf…
Als der Arzt, ein sehr freundlicher, junger Mann zurückkam, jedoch weder Deutsch noch Englisch verstand, begann ein vergnügliches Gespräch mit Gestik und Zeichensprache, die Jorgi so amüsierte, so dass eine Besserung seines Zustandes eintrat.
Sie kamen nicht dahinter, was der Arzt meinte, als er mehrmals mit der Handkante auf den Tisch schlug, so als sollte Jorgi geköpft werden und konnten sich ein Lachen nicht verbeißen. Während dieses Gesprächs wurde, wie Lissi bemerkte, Jorgi wieder gesund, denn er hatte einen siebten Sinn für Komik.
Der Arzt sagte, so viel verstand Lissy, er habe keine Medikamente für diese Krankheit.
Lissy führte ihn zum VW-Bus, in dem sie, die von Wim, dem Freund aus Düsseldorf, mitgegebenen Medikamente für alle Fälle aufbewahrte.
Erfreut sagte der Doktore, That´s good…, that´s good, and that´s good, for You and every body!”
Er warf die Medikamente mit unnachahmlicher Geste zur Seite, froh etwas gefunden zu haben, das Jorgi helfen konnte. Stolz auch, auf seinen englischen Wortschatz.
Jorgi war fast gesund und Lissy froh, dass er keine schlimme Erkrankung hatte.
Sie frug den Arzt nach dem Honorar und er machte eine Geste, die “Nichts“ bedeutete. Das wollte Lissy jedoch nicht gelten lassen und drängte ihn, sein Honorar zu nennen. Er sagte „Fünfzig D-Mark“, die Lissy ihm, in großer Freude dass Jorgi gesund war gab, obwohl sie wusste, dass es in Griechenland ein sehr hohes Honorar war und er offensichtlich nicht den Kurs kannte.
Der junge Mann sah den Schein an und freute sich sehr. Es musste zu dieser Zeit ein besonders gutes Honorar gewesen sein.
Nun sang Jorgi wieder: „ The house of the rising Sun“, wollte aber nicht mit Lissy und Tim zum Essen an den Nachbarstrand gehen, wo frisch gefangener Fisch gegrillt wurde.
Das Essen am Strand war vorzüglich und sie ließen sich den Fisch und den Retzina schmecken.
Als sie zurückkamen, sang Jorgi noch einmal zur Begrüßung das Lied von der aufgehenden Sonne und alles war wieder gut.
Am darauffolgenden Tag konnten sie ihre Reise zu neuen Abenteuern fortsetzen.
Peleponnes… Geheimnisvoll klingender Landesteil…
Bewundernswert: Die spannende, bizarre Landschaft, unterhalb des über 2500m hohen Pindos Gebirges, in Macedonien.
Später näherten sich der Grenze zu Sparta, wo sie auf einem Campingplatz ihre Zelte aufbauten.
Sie besuchten die Ausgrabungsstätten und wanderten bis zum höchsten Punkt dieser archaischen Landschaft.
Um auszuruhen, fuhren sie in den fast unbewohnten Landesteil und ans Meer.
Es war fast unerträglich heiß und so übernachteten Tim und Jorgi am Strand und Lissy schlief als sogenannter Wachhund ohne Zelt vor dem Campingbus auf einer Luftmatratze, ohne Angst vor Räubern.
Sie hatten unterwegs keinen Menschen gesehen.
Die Griechen wanderten auch hier in den Sommermonaten aus, oder hielten sich in ihren schattigen Gärten, oder angenehmeren Wohnräumen auf.
Doch beim morgendlichen Frühstück sichteten sie eine Schafherde, der ein Hirte folgte. Er näherte sich ihnen freundlich und respektvoll grüßend, aber auch neugierig, weil sich wohl selten Touristen hierher verirrten. Derweilen standen die Schafe, wie auch der Schäferhund um den kleinen Campingtisch herum und beobachteten die Touristen. Tim bot dem Hirten eine Zigarette an, die er gleich anzündete.
Sie wussten nun, dass dies ein Freundschaftsritual in Griechenland war und boten keine Zweite an. Man sah wieder, dass man ich auch ohne Worte verständigen konnte.
Nach dieser Begegnung machten sie sich auf nach Olympia.
Oberhalb der Stadien fanden sie Campingplätze, wo einst die Eröffnungsfeiern der Olympischen Spiele stattgefunden hatten.
Hier reihten sich Campingfahrzeug an Campingfahrzeug und Zelt an Zelt, aber man hatte nicht das Gefühl bei einer Massen Zusammenkunft zu sein, denn das große Sportfeld schluckte die Besucher und ließ es leer escheinen.
Die Temperatur stieg auf fünfundvierzig Grad Celsius und mehr. Man hätte auf dem Autoblech Spiegeleier braten können.
Sie bauten die Campingliegen, Tisch und Stühle, mit Blick auf das Olympische Feld, und die vorbeipilgernden Touristen auf.
Abenteuerliche, aber auch kurios wirkende Gestalten, die sich in wissenschaftlichen Streitgesprächen ergingen, bewegten sich, wild diskutierend an ihnen vorbei.
Sie fanden einen passenden Platz auf dem gebührenfreien Campingplatz.
Hier lernten sie den Nachbarn, einen verbindlichen, freundlichen Amerikaner, von ungefähr fünfzig Jahren kennen, der sich und seine Kinder vorstellte.
Sie waren ohne Mutter unterwegs und Lissy vermied es, danach zu fragen.
Ihn interessierte die allein reisende Mutter mit den zwei Söhnen, und er freute sich sehr über die Unterhaltung, denn, so sagte er, in Amerika gäbe es nicht viele Frauen, die sich einer solchen Campingtour anschlössen…
Gespräche mit dem Amerikaner, über Gott und die Welt, erfreuten Lissy, Tim und Jorgi sehr.
Der Mitreisende, ein etwa sechzehn Jahre alte Sohn des Amerikaners, wohl stark in der Pubertät, litt unter Gesichtspickeln und war anscheinend ein wenig eifersüchtig, denn er beteiligte sich nicht an der Unterhaltung.
Er sagte, er wolle im Schlafsack schlafen, ohne Luftmatze und ohne Zelt. Großes Abenteuer, so zu sagen…
Dem Vater war es nicht recht, aber weil er sah, dass Lissy mit ihren Söhnen im Freien schlief, erlaubte er es, und sein Sohn verzog sich in seinen Schlafsack, den er über dem Kopf zusammenzog, wie bei einer Mumie.
Ach ja…, es war ein so genannter Mumienschlafsack, wie er sagte.
Das kleine Mädchen schlief in den Armen des Vaters ein.
Wenn man allein mit Kindern reist, vermisst man doch auch sehr die Unterhaltung mit Erwachsenen.
So saßen sie noch friedlich beisammen und genossen die allmählich aufkommende kühlere Luft, als plötzlich ein eifriges Kommen und Gehen, den Abendfrieden störte.
Sie beobachteten merkwürdige Tätigkeiten einer Männergruppe unterhalb ihres Platzes. Hier wurde unterdrückt, empört geflucht und dumpf geraunt. Es waren Griechen, die da sprachen. Sie rannten im Mondschein hin- und her und brachten fertig aufgebaute Zelte und ein großes Mannschaftszelt mit.
Dann setzten sie sich um ein Lagerfeuer, das sie kurz zuvor entzündet hatten und diskutierten weiter.
Tim sagte, er glaube, es seien Schwule, die da reden. Wahrscheinlich hat man sie an dem anderen Platz vergrault. Hier konnten sie sich wohlfühlen, denn niemand regte sich auf.
Lissy wusste nicht, ob Schwule, wie in Deutschland, auch hier verfolgt wurden. In der Antike habe es das doch auch gegeben, sagte sie, worauf der Amerikaner sagte, es ist in Amerika strafbar.
Nun aber kehrte Ruhe ein und sie begaben sich müde nach diesem anstrengenden Tag auf ihre Campingbetten, sprich Matratzen.
Immer wieder mit Blick auf den Sternenhimmel.
Plötzlich…, sie waren kurz vor dem Einschlafen, ein Gewühle und unterdrücktes Schimpfen aus dem Schlafsack des jungen Amerikaners.
Was war passiert…, dass der Junge so wild schrie.
„Ains!, : Ains!, Everywhere Ains!“ rief er und wand sich aus dem Schlafsack.
Wirklich…, er hatte in einem Ameisennest gelegen und nun waren sie überall. Er riss sich den Schlafanzug vom Leib und schüttelte ihn aus Leibeskräften.
Unter Schimpfworten, die Lissy nicht verstand, sprang er, wie einst das Rumpelstilzchen, herum.
Alle waren wach…
Einer sagte: „Ob vielleicht hier eine Revolution ausgebrochen ist?“
Jedenfalls dauerte es eine Weile, bis Ruhe eingekehrt war…
Am nächsten Morgen, nachdem sie sich in einer der vielen Duschen erfrischt hatten, freuten sie sich auf das Frühstück bei vierzig Grad unter dem Sonnenschirm.
Freundlich grüßten die Amerikaner, die in ihrem eleganten Vorzelt frühstückten und der amerikanische Familienvater war erstaunt, dass Tim nach dem Frühstück begann, den mit Teer bespritzten Bus zu reinigen.
Er war erstaunt ob dieser Handlung…
„Warum waschen sie den Bus?“ frug er und Tim erklärte sein Missgeschick von der der geteerten Straße.
Der Amerikaner war höchst erstaunt, denn er hatte wahrhaftig gedacht, sie hätten wegen der Fliegen und Mücken, den Bus mit Teer gestrichen, und lachte herzlich.
Aber er konnte sich über seine Fehleinschätzung nicht beruhigen.
Nach dem Frühstück besuchten sie die großen- und vielfältigen Anlagen der olympischen Felder. Äußerst erstaunt waren sie auch hier wegen der seltsamen und fremdartigen Besucher.
Sie nahmen einen großen Sonnenschirm mit, denn die Gefahr einen Sonnenstich zu erleiden war groß, zumal die Mittagszeit heranrückte.
Viel zu sehen, von den früheren Anlagen war hier nicht.
Aber allein die Tatsache, auf diesem historischen Gelände zu stehen, ließ sie in der Fantasie große Geschichte erleben.
Sie übernachteten noch einmal im Olympiagelände und hatten noch einen schönen Abend mit den Amerikanern. Danach ging es wieder zum Aufbruch zu neuen Abenteuern.
Tim sagte: S p a r t a,
„ das hatten wir im Unterricht!“
Das Reisefieber hatte sie wieder. Sie hatten schon die Grabbeilagen, die man bei Ausgrabungen sichergestellt hatte, in dem Museum in Athen gesehen und fanden nun die leeren Gräber.
Tim sagte, mit Grabesstimme: „Der Hauch der Geschichte umweht uns!“
„Wenn man auf solchem Gelände steht, stürmen tausend Gedanken auf uns ein,“ sagte Lissy.“ Was mag sich hier alles zugetragen haben?“
„Steht alles in meinen Büchern“, sagte Tim lakonisch. „Zu allen Zeiten Kriege
mit Not und Tod.“
„Und wir haben aus Alledem nichts gelernt,“ sagte Lissy.
Sie besuchten noch einige historische Orte und suchten dann einen Platz zur Übernachtung. Es gab außer einem unfertigen Platz keine Campingmöglichkeit, sodass sie mit dem noch wilden Gelände zufrieden sein mussten. Gut, dass die Toilettenanlage schon fertig war.
Tim sagte, „Wir müssen eine Werkstatt finden. Ich brauche einen neuen Wasserkühler, wir verlieren Wasser!“ und er fuhr mit Jorgi los. Unverrichteter Dinge kamen sie zurück mit der Nachricht; „Wasserkühler sind nicht vorrätig und müssen im Original in Deutschland bestellt werden!“
Tim sagte: „Wozu lerne ich Automechaniker? Ich werde das Loch morgen Früh, wenn es kühler ist, zulöten!“
Sie nutzten den Nachmittag zu einigen Besichtigungen. Trotz der unfertigen Platzanlage schlief Lissy gut bis vier Uhr morgens, als Tim sie weckte, mit den Worten: „Lehrling los…, aufstehen, Du musst mir die Lampe halten. „Wir müssen einen verlöten!“
Das war mühselig für Lissy, die erst um ein Uhr nachts eingeschlafen war.
Es hatte nicht abgekühlt und das Thermometer zeigte achtundzwanzig Grad Celsius. „Hilft Alles nichts, sagte sie, wir wollen ja weiter!“
Tim lötete wie ein Weltmeister und eine Stunde später konnten sie abfahren, was sie dann auch gegen Jorgis Dementi taten. Es gab wieder was zu Lachen.
Lissy sagte: „Wir frühstücken irgendwo auf einem besonders schönen Platz!“ Sie hatte auf der Karte die Überfahrt nach Kefalinea gesehen. „Es heißt auch Kefalonia“, sagte Jorgi, der sich mit der Karte beschäftigt hatte. „Das ist gut,“ sagteTim, „aber es sind noch etliche Kilometer bis zur Überfahrt und die dauert circa drei Stunden.“
Zwei Stunden später, gegen acht Uhr hielten sie auf einer Anhöhe, unter Bäumen, wo ein erfrischender Wind wehte und dort vermischte dieser sich mit dem Duft des frisch gebrühten Kaffees.
Lissy sage: „Da geht einem das Herz auf!“
Tim antwortete: „Mutter mit ihren Sprüchen!“
Aber auch die beiden waren sehr glücklich in dieser Ferienstimmung, nach all dem Stress, den sie in den letzten Monaten erleben mussten.
Auf nach Kefanlinea, sagte Lissy: „Kefalonia…“, sagte berichtigend Jorgi und zum Glück erreichten sie das Schiff kurz vor der Abfahrt, gespannt, wie es sein würde auf dieser großen Insel, und ob sie ans offene Meer kämen.
„Spannung hoch drei“, sagte Jorgi.
Eigentlich war durch den Artikel in der Rheinischen Post der Wunsch entstanden, nach Griechenland zu fahren, denn dort wurde die Insel Kafalonia in schönsten Farben beschrieben.
Nun waren sie mit ihrem hochbepackten Reisebus auf der Fähre und gespannt, wie es sein würde. Noch nie war Lissy überhaupt auf einer Insel gewesen.
Die Fahrt wurde gut überstanden, das Meer war ruhig und inzwischen waren sie überzeugt, dass in ihren Ferien unentwegt die Sonne scheinen würde.
Sie genossen die Schifffahrt und den sie begleitenden Seewind. Doch bei der Ausfahrt stellten sie fest, dass ihr Bully den Dienst versagte. Er ließ sich nicht einen Meter vorwärts bewegen. Die Begleiter der Schiffsbesatzung schoben ihn über den Laufsteg, denn er hielt den ganzen Verkehr auf.
Sie hatten vergessen, den Kühlschrank von der Batterie zu nehmen. Nun war die Batterie leer, aber sie hatten Glück. Der Weg auf die Insel führte über einen kleinen Berg und so konnte der VW-Bus aufladen und musste nur dauernd in Bewegung bleiben. Sie fuhren die höher gelegene Küstenstraße entlang und genossen den Seewind bei offenen Fenstern.
Bei einem Weg, hinunter zum Ufer hielten sie an, denn es gab einen asphaltierten Weg hinab zum Meer.
„Ein Glück, dass wir diese Straße gewählt haben“, sagte Lissy. Denn vor ihnen lag eine wundervolle Bucht. „So etwas Phantastisches habe ich noch nie gesehen,“ sagte sie ,„ und romantisch ist gar kein Ausdruck!“
„Hier bleiben wir,“ sagte Jorgi.
„Vielleicht ist es privat“, sagte Tim,“ aber wir können es ja versuchen.“
Gesagt…, getan.
Sie bauten im Abstand von zwanzig Metern ihre Zelte auf, immer bemüht, nichts zu beschädigen. In unmittelbarer Nähe standen Obstbäume von Pflaumen, Äpfeln und Feigen. Trauben wuchsen an Spalieren.
Nichts davon rührten sie an.
Es war paradiesisch…
Vor dem offenen Meer hatten sich Buchten gebildet, die die Brandung abhielten und von Seeigeln bevölkert waren.
Im offenen Meer traute Lissy sich nicht zu schwimmen. Tim und Jorgi fischten die Seeigel heraus und beförderten sie in eine der anderen Buchten. So hatte Lissy ihre eigene Badebucht, in der man noch Stehen konnte.
Sie konnten es nicht fassen und Lissy war glücklich…, so ganz und gar…
Sie erholte sich von den Strapazen der letzten Jahre und hatte einen Teil ihrer jungen Jahre zurückgeholt.
Es war so, als habe sie mit Beginn der fünfziger Jahre ein neues Leben begonnen. Also zwei Leben…
Tim und Jorgi alberten übermütig mit ihr herum und freuten sich mit ihr, denn so gelöst hatten sie sie schon lange nicht mehr gesehen.
So besuchten sie die nahe gelegene kleine Stadt, um Mineralwasser, Wein, und auch Fleisch einzukaufen.
Interessant war, wie die Geschäftsleute ihre Waren vor der Hitze schützten, denn nichts war im Geschäft zu sehen.
Der Metzgermeister in weißem Kittel und weißer Kopfbedeckung frug nach ihren Wünschen und holte das gewünschte Stück Fleisch aus dem Kühlraum. um es auf der Ladentheke zu zerteilen.
Er schnitt wundervolle Steaks und Kottelets und posierte vor Lissy mit freundlichster Mine.
Wirklich, er konnte keinen Blick von ihr lassen und Lissy fand diesen in seiner Begeisterung so offenen Mann außergewöhnlich.
Hatte sie doch sonst für den Metzgerberuf wenig übrig, denn wenn sie auch gerne ein gutes Steak aß, wollte sie nicht wissen, wie das Tier zu Tode kam, und wer es zu Tode brachte. Sie war diesbezüglich genauso selbstbetrügerisch, wie die meisten Menschen.
Ihr fiel auf, wie sauber und verlockend die Speisen angeboten wurden.
Tim und Jorgi hatten das schlagartig einsetzende Interesse dieses Mannes, bei den ersten Worten. die Lissy an ihn richtete bemerkt, und Lissy freute sich der offensichtlichen Bewunderung, mit welcher der Geschäftsmann sie ansah.
Welche Frau hätte sich nicht gefreut?
Er versuchte, sie in ein Gespräch zu verwickeln.
Doch die Sprachschwierigkeiten führten lediglich zu einem freundlichen „Arevidertschi,“ das Lissy ihm zurief und er mit seinem „Auf Wiedersehen!“
Er hätte sie am liebsten umarmt und sie hätte es sich gefallen lassen, das wusste sie.
Tim und Jorgi hatten an dem Nachmittag nichts anderes im Sinn, als sie mit dem Metzgermeister von der Insel aufzuziehen.
Lissy sagte: „Das war wirklich ein netter Kerl. Der mochte mich!
Ich fand ihn Super“, und Super war zu der Zeit noch ein Schlagwort.
Lissy war beglückt, der offen sichtlichen Bewunderung wegen, die dieser Mann ihr entgegen gebracht hatte, und unter dem Eindruck, eine attraktive Frau zu sein, war sie in einer wundervollen Stimmung.
Gerne stimmte sie zu, eine Höhle zu besuchen, in deren Mittelpunkt ein phantastisches Lichtspiel zu bewundern war.
In dem kleinen Dorf, nahe ihrem Zeltplatz gedachten sie noch Einkäufe zu tätigen.
Sie betraten den kleinen Laden, in dem alle möglichen Lebensmittel zu haben waren und in dem es eine Telefonzelle gab.
Sofort nahm Lissy die Gelegenheit wahr, um Anna, ihre Mutter anzurufen. Sie freute sich sehr über den Anruf und Lissy erfuhr, dass es ihr gut ging. Oma Gertrud war nicht zu Hause…, so rief Lissy eine ihrer Nachbarinnen an, um Grüße auszurichten.
Dann ging es an den Einkauf.
In einem Nebenraum des Geschäftes standen drei Fässer mit verschiedenen Sorten Retzina.
Die Geschäftsinhaberin, eine quirlige, circa sechzigjährige kleine, Frau, mit grauem Haar, das im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden war, tätigte einen Anruf, der einen Herrn der zur See gefahren war und etwas Englisch sprach, in Windes Eile herbeirief. Sie witterte ein gutes Geschäft…
Nicht allzu viele Urlauber kauften hier ein.
Diese fuhren meistens in die nächste kleine Stadt, in welcher eben auch der nette Metzgermeister wohnte.
Nun aber eine neue Erfahrung für Lissy und Söhne.
Lissy kaufte Retzina.
Die quirlige Geschäftsfrau, der ein paar Schneidezähne fehlten, setzte sich auf einen Hocker und zapfte Wein, nachdem sie eine Kostprobe bekommen hatten.
Ein feiner, gut gekleideter Herr, sie wussten nicht, ob es der Vater oder der Ehemann dieser resoluten Geschäftsfrau war, beobachtete das Geschehen, um den Einkauf dieser drei German People mit freundlichem Interesse..
Mittlerweile hatten sich auch ein einige Dorfbewohner und ein paar Kinder eingefunden, welche die drei Deutschen interessiert beobachteten.
Dann bedeutete die Geschäftsfrau mit Zeichensprache und Gestik, dass sie Wild im Tiefkühlfach habe und ob Lissy dies kaufen möchte. Als Lissy das bejahte, befahl sie dem feinen, alten Herrn, das Wild zu holen. Interessiert beobachteten die Dorfbewohner das Geschehen und auch Lissy war überrascht, als sie das eingefrorene Riesenteil Hirsch sah. Es war eine ganze Keule mit Fuß.
Lissy sagte, dass sie so an circa drei Kilo mit Knochen gedacht habe und die Geschäftsfrau ging sofort darauf ein. Der alte Herr musste eine Säge holen und sie befahl ihm, ein Stück abzusägen, was diesem aber nicht gelang. Es war zu anstrengend.
Souverän nahm Tim ihm die Säge aus der Hand und es gelang ihm, das eingefrorene Teil herauszusägen, immer unter Anteilnahme der Dorfbewohner.
Danach kaufte Lissy noch verschiedene andere Lebensmittel und Obst.
Die geschäftstüchtige Kauffrau hatte inzwischen für die Urlauber einen Teller mit leckeren Käsehäppchen zurechtgemacht. Lissy stand ihr gegenüber und bedankte sich für die freundliche Bedienung.
Da…, plötzlich griff die mutige Geschäftsfrau blitzschnell nach Lissys Schneidezähnen um zu prüfen, ob sie echt waren. Lissy hatte Glück, denn zudiesem Zeitpunkt waren sie es noch, aber Lissy war doch peinlich berührt ob dieser Attacke.
Unschuldig wies die Frau auf ihre Zähne, weil ihr drei fehlten. Es wurde viel gelacht und zum Schluss schenkte sie ihnen noch Trinkwasser aus der Zisterne und Käsehäppchen für die Heimfahrt.
Sechs Tage waren sie auf dieser paradiesischen Insel und dem wundervollen Zeltplatz, aber Lissy konnte die immer höher werdenden Temperaturen nicht mehr ertragen. Tim wäre gerne noch länger geblieben, aber auch Jorgi litt unter der mehr als vierzig Grad Hitze. So fuhren sie zur nächsten Polizeidienststelle, um zu erfragen, wann das nächste Bot zurück zum Festland ablege. In der Polizeistation war es angenehm kühl, denn drei Ventilatoren kühlten den kleinen Raum auf fünfundzwanzig Grad.
Sie konnten, nachdem ihre Pässe gestempelt waren abreisen, doch zwei Tage wollten sie sich noch gönnen und an diesem Abend sollte das Ziegenfleisch gebraten werden…
Es war ein wundervoller Abend. Sie hatten den Essplatz unmittelbar am Meer und man mag es verzeihen, Musik und... ELOES
Tim briet Ziegenfleisch. Lissy bereitete Salate. Dazu gekühltes Mineralwasser und Retzina. Was will man mehr?
„So…“, sagte Tim, „das Fleisch muss gar sein…“
„Ja, es war gar, aber welche Überraschung…, es konnte nicht seinem Bestimmungszweck zugeführt werden, denn es war zäh, wie Leder.
„Das muss ein alter Bock gewesen sein,“ sagte Tim und schleuderte, das sich seinen Zähnen widersetzende Fleisch ins Meer. So konnten sich die Fische daran erfreuen.
„gut, dass wir nicht mehr von dem Bockfleisch gekauft haben“. sagte Tim.
Lange hatten sie nicht so herzlich gelacht, wie an diesem Tag, als sie versuchten dem alten Bock Geschmack abzugewinnen.
Es war ihr letzter Tag an diesem wundervollen Platz über dem Meer.
Lissy sagte:
„Egal was kommt, diese Tage hier am Meer, werden wir nie vergessen!
So schön habe ich mir die Reise nicht vorstellen können.
Welches Glück…!“
Am Tag darauf bauten sie ihre Zelte ab, packten alles ein und fuhren zur Anlegestelle für die Rückfahrt zum Festland.
Die Fahrt verlief gut.
Beim Ausschecken erfuhren sie, dass sich eine Fähre, die unmittelbar neben ihrem Schiff lag, zur Überfahrt bereit machte und wohl gegen elf Uhr abends ablegen würde. Entgegen ihrer eigentlichen Absicht meinte Lissy, dass sie ja auch jetzt abreisen könnten, denn sie müssten sonst noch einen Platz für die Übernachtung suchen.
Dann ging das Rennen los, denn sie brauchten noch Ausreisepapiere und Genehmigungen für die Überfahrt nach Italien. Es wurde eine schreckliche Hetzerei. Alles im Laufschritt…!
Am Schlimmsten war das Einscheckn,, als ein paar Arbeiter sie, wie die Kaninchen, mit avanti, avanti in den Bau scheuchten. Lissy war wütend und total überfordert ob dieser Hetzerei.
Sie durften nichts mehr ausladen. Nachher stellten sie fest, dass es eine einzige Unverschämtheit dieser Hafenarbeiter gewesen war, die sich an den armen Passagieren für ihren geringen Lohn rächen wollten.
Lissy war außer Atem, konnte aber später noch ihre Utensilien für die Übernachtung holen, als das Schiff abgelegt hatte.
Durch diese Umstände verpassten sie das Abendessen und kamen zu spät, aber der Kapitän hatte Verständnis und sie durften mit der Mannschaft essen.
Danach hielten sie sich auf dem ersten Deck auf, wo die meisten Passagiere waren.
Auch auf Deck, unter dem freien Himmel lagerten Leute, zu denen sich Jorgi gerne gesellt hätte, so wie ihn abenteuerliche Gestalten von jeher anzogen.
Eine Zeit verbrachten sie dort, um dann später ihre Kabine aufzusuchen, in welcher aber eine schlechte Luft den Atem nahm. Sie lag über dem Maschinenraum.
Die Fähre war ein schrecklicher Seelenverkäufer, denn sie hatten festgestellt, dass die Metallkästen, in den Schwimmwesten lagern sollten, mit dicken Schlössern verschlossen waren. Ein Passagier sagte: „In den Kästen ist nichts drin, wenn wir untergehen, versaufen wir alle mit Mann und Maus. Ich weiß das!“
Das waren keine schönen Aussichten und Lissy war froh, als sie am nächsten Tag in Brindisi anlegten.
Dreißig Jahre später sollten sie in der Zeitung lesen, dass jene Fähre unterging und viele Menschen den Tod fanden.
Nun also „Bella Italia“, am unteren Ende des Stiefels…
Ein kleines, unscheinbares Hafenstädtchen, in dem sie versuchten ein Hotelzimmer zu mieten, was aber mangels Lire nicht zur Verfügung stand, bis sie unter Hinterlegung ihres Reisepasses zwei Zimmer in einem unfertigen Hotel mieten konnten. Die Banken waren über das Wochenende geschlossen.
Zelten war nicht möglich, weil es regnete und lange nicht so warm war, wie in Griechenland.
Eine große Umstellung nach diesen paradiesischen Wochen.
Am Abend gingen sie in ein Restaurant, das direkt am Ufer lag und wohl nur von Einheimischen besucht wurde.Man bediente sie zuvorkommend und freundlich, nachdem sie D-Mark und Dollarnoten vorgewiesen hatten. Sicher hatten sie schlechte Erfahrungen mit Touristen gemacht.
Sie fühlten sich wohl bei dem freundlichen Wirt, der ihnen ein gutes; einheimisches Gericht aus Meeresfrüchten und Fisch servierte. Es war köstlich und zählte in Deutschland zu Luxusessen.
Es dauerte nicht lange, als ein circa vierzigjähriger Mann das Lokal betrat, sich an die Theke stellte und ein Bier bestellte.Nach ein paar Minuten eröffnete er das Gespräch.
„Seids“ Deutsche, frug er und babbelte in reinem Hessisch. Er sagte, er hätte neunzehnhundertfünfzig seine Frau geheiratet als er als Gastarbeiter in Deutschland war. Er hätte zwei Kinder. Einen Jungen und ein Mädchen.)
Sie saßen eine ganze Weile zusammen, erzählten und hatten viel zu lachen.
Am nächsten Tag setzten sie sich mit ihrem braven Bully, der langsam unter Altersschwäche litt in Bewegung, und fuhren den ganzen langen Stiefel, vorbei an Catollica und den anderen Seebädern bis in die Dolomiten, wo sie ihren Freund Flavio besuchen wollten.
In Italien war Hochsaison und Flavio hatte ein großes Hotel, mit vier Etagen und hundert Zimmern gebaut. Er hatte kein Zimmer frei, besorgte aber ein Dreibettzimmer für Lissy, Tim und Jorgi. Er lud sie zum Abendessen ein und freute sich sehr, als er Lissy begrüßte.
Flavio, der als Lothar noch lebte, in Düsseldorf eine Ausbildung als Koch machte…
Er war ihnen immer noch dankbar für Lothars Hilfe bei der Anstellung in Düsseldorf, als Tim noch ein Baby war.
Lissy wollte, dass Tim und Jorgi die Dolomiten kennen lernten. So fuhren sie zu den drei Zinnen, und schwebten mit dem zweiteiligen Lift hinauf.
Es war ein schöner Tag und sie sahen die Marmulata, den höchsten Berg in den Dolomiten, schneebedeckt, bei bestem Licht.
Am Tag darauf ging es los in Richtung Heimat. Flavio hatte Lissy noch Wein in den Bus gepackt, der aber dem Zoll nicht aufgefallen war und so fuhren durch Österreich, wo Lissy, am Wörthersee zum Friseur ging.
Tim und Jorgi ließen ein paar Reparaturen an dem strapazierten VW-Bus, der heftig keuchte, vornehmen.
So fuhren sie dann durch Österreich in Richtung Heimat, wo sie nach sieben Wochen in Düsseldorf ankamen.
Lissy freute sich, ihre Mutter und ihre Freundin Poldi wieder zu sehen.
Wie schön, wenn man wieder zu Hause sein kann…
Tim und Jorgi erwarteten schon Freunde und Tim besuchte noch am gleichen Tag seine Freundin Petra, die er so lange nicht gesehen hatte.
Tim beendete seine Kfz-Lehre nach eineinhalb Jahren als Kfz-Mechaniker.
Er hatte sich nun entschieden, ein Studium zum Diplom- Wirtschaftsingenieur aufzunehmen und fuhr nach Darmstadt, um sich einzuschreiben.
Dort wohnte er ein paar Tage bei einer studentischen Vereinigung.
Er konnte sich jedoch nicht entschließen, dort zu bleiben, weil er einer schlagenden Verbindung hätte beitreten müssen, die mit reichlich Alkohol, die Tage verbrachten.
Das war nun gar nicht in seinem Sinne und so bat er Lissy, ihn bei der Wohnungssuche in Darmstadt zu begleiten, weil er meinte, das würde bei privat Vermietenden einen besseren Eindruck hinterlassen. Diese wollten lieber Studentinnen, weil diese solider seien, sagten sie.
Die Wohnungen und Zimmer waren sehr teuer. Ein Zimmer mit Badbenutzung kostete monatlich dreihundert bis vierhundert Euro. Küche und Bad mussten mit vier Studenten geteilt werden.
Außerdem wurden die Zimmer erst später frei. Was war zu tun?
Zum Schluss gab es noch ein Angebot zwischen Darmstadt und Frankfurt, auf einem großen Campingplatz. Dort bot der Platzinhaber einen sehr großen Wohnwagen, der seinem Sohn als Wohnung gedient hatte, an.
Der Campingwagen hatte ein Schlafzimmer und zwei andere Schlafgelegenheiten, Wohnraum, Küche, Dusche, Propangasheizung und Strom. Außerdem gab es fast gegenüber, eine Duschanlage, Toiletten und Schwimmbad für die Allgemeinheit.
Dieses Gefährt kostete zehntausend Euro.
Der Wohnwagen war wie neu, denn er war noch nie auf der Straße gefahren worden. Nach Überlegung, was für die Studienzeitdauer ein Zimmer gekostet hätte, kauften sie den Wohnwagen.
Das Problem war gelöst.
Tim kam an jedem Wochenende nach Hause und konnte so seinen Verpflichtungen für das Rote Kreuz nachkommen und vor allen Dingen seine Freundin sehen.
Jorgi sagte: „Das könnte ich nicht! Ohne meine Freunde, ganz alleine…,Nein!“ Jorgi war von einer seltsamen Unruhe befallen. War es die Pubertät, oder fühlte er sich nicht wohl? Lissy machte sich Sorgen.
Inzwischen hatte er auch eine Freundin. Conny. Ein nettes, natürliches Mädchen. Jorgi brachte alle seine Freundinnen nach Hause. Er mochte nicht, wenn die Mädels sich schminkten und duldete keinen Lippenstift.
Er selbst war von ganz besonderer Einfachheit. Sowohl in seiner Kleidung, als in seinem Zimmer.
Keinen Anzug, nur Jeans und dunkle Pullover.
Seine blonden Haare lang, mit einem Pony.
Lissys Annahme, dass er wohl mit zunehmendem Alter von der Mode der langen Haare absehen würde, war nicht aufgegangen.
Viel schlimmer war, dass er nicht das Medizinstudium ergreifen konnte und so schlug er sich mit irgendwelchen Arbeiten durch. Anscheinend wollte er alle Stufen des „Armseins“ durchleben.
Lissy sah ihn nicht oft und wenn, dann erschien er ihr nervös und irgendwie traurig.
Die längste Zeit der Trennung war ein halbes Jahr und Lissy sorgte sich sehr, aber sie ließ ihn in Ruhe.
Nun widmete sie sich wieder ihrem Hobby der Bauernmalerei und stellte den nun fertigen Bauernschank nebst einer passenden Kommode aus.
Ein Hotelier aus dem Sauerland wollte einige Zimmer in diesem Stil einrichten und bat um Preisvorstellungen.
Zu einem anderen Zeitpunkt hätte Lissy einem solchen Auftrag gerne zugestimmt aber hierzu hätte ihre Zeit nicht ausgereicht, obwohl es eine lukrative Angelegenheit hätte werden können. Außerdem wäre ihr Atelier nicht groß genug gewesen, um den Auftrag zu erfüllen.
Mit großem Interesse arbeitete sie in ihrer Werkstatt. Es war eine schöne Zeit, denn den Arbeiten mit Ton und Malerei, gab sie sich mit Begeisterung hin.
Eigentlich war sie immer schon ein Nachtmensch gewesen. So saß sie manchmal bis zwei Uhr in der Nacht und arbeitete mit Begeisterung. Sie hörte Musik, oder sah zwischendurch Fernsehsendungen oder Nachrichten, denn Politik gehörte nach wie vor zu ihren größten Interessen.
In einem Blumengeschäft stellte sie ihre Keramiken aus und verkaufte einige Teile wie große Gänse, Enten, Katzen Hasen und andere individuell gebrannte Gegenstände. Keine Massenware. So konnte sie entsprechende Preise verlangen.
Politik und Weltgeschehen waren für Sie von größtem Interesse und auch die Theatervorstellungen in Bonn interessierten sie sehr, wenngleich die Fahrten mit dieser Fahrgemeinschaft zeitraubend waren.
Immer noch, hatte sie ein Theaterabonnement in Düsseldorf.
Außer bei den Zusammenkünften in der örtlichen Gymnastikgruppe hatte sie keine besonderen Freundschaften, vermisste aber auch nichts. Schon als Kind war sie gerne allein gewesen.
Gesprächspartner waren ihre Tiere, der Gärtner, der sich um die Hecke und die Wiese kümmerte, und ihre jeweilige Putzhilfe oder Leute aus der Nachbarschaft.
Lissy dachte an Konrad Adenauer, der gesagt hatte :„ Freundschaften muss man in der Jugend schließe. Sie freute sich sehr, wenn Tim am Wochenende nach Hause kam und am Sonntag ein paar Stunden bei ihr war.
Dann tranken sie zusammen ein Glas Wein und unterhielten sich angeregt.
Manchmal kam dann zu Lissys großer Freude, auch Jorgi dazu.
Jorgi hatte noch immer keine Berufspläne und inzwischen eine andere Wohnung in Düsseldorf.
Ein Einkommen hatte er nur durch Gelegenheitsarbeiten, doch dann kam endlich der Tag des Umschwungs.
Jorgi konnte sich an einem Wettbewerb für das Medizinstudium beteiligen und zu Lissys großer Freude bekam er den Zuschlag für die Universität in Düsseldorf.
Endlich konnte er das erstrebte Medizinstudium beginnen.
Für Lissy und seine Freunde blieb er Jorgi, aber offiziell nannte er sich nun Georg, nach seinem Patenonkel in Rosenheim.
Lissy stellte nun ihr Leben um. Sie war nun ohne ihre geliebten Kinder, was ja ein ganz natürlicher Vorgang war. Doch nie hätte sie gedacht, dass die Trennung so schmerzhaft sein würde.
Sie stürzte sich in die Arbeit und hatte einen engeren Kontakt zu ihrem indischen Freund. Er besuchte sie sonntags und sie machten große Spaziergänge oder fuhren zum Westerwald, wo er gerne indische Gerichte kochte.
Er hatte in Indien Mathematik studiert und seine Kenntnisse brachten ihm eine Stellung, auf dem noch jungen Computerfachgebiet in England ein. Dort lernte er seine Ehefrau, die bei der Lufthansa in London arbeitete kennen, und heiratete sie in London. Als sie ein Kind erwartete, wollte sie zurück nach Deutschland und er stimmte zu, obwohl er nur wenig deutsche Sprachkenntnisse hatte. Sein Computerfachwissen brachte ihm eine hoch dotierte Stellung bei einer großen Fima im Ruhrgebiet ein.
Doch die Ehe scheiterte und nun fühlte er sich sehr einsam, denn auch zu seiner Tochter, die gerade verheiratet war und ein Kind erwartete, hatte er nur wenig Kontakt.
Er gehörte zu der Religionsgruppe der Sick, trug aber nicht den eigentlich vorgeschrieben Turban und auch nicht den Bart. Im Inneren aber blieb er ein Inder mit allen Konsequenzen.
Für Lissy war es eine spannende Begegnung, denn er war sehr unterhaltsam und doch zurückhaltend.
Er hätte sie gerne geheiratet, aber Lissy war zu der Erkenntnis gekommen, dass die Freiheit in der sie lebte, für sie die bessere Lebensform war.
Für Lissy war die Freundschaft mit Tarjit eine außergewöhnlich Erfahrung auf allen Gebieten menschlichen Zusammenlebens. Tim und Jorgi fanden ihn interessant. Er war von feiner, zurückhaltender Art, was Lissy gut gefiel und er schien Lissy gern zu haben. Sie fand ihn liebenswert und interessant.Er begleitete sie zum Westerwald und sie machten große Spaziergänge, trotz schlechten Wetters, auch bei eisiger Kälte.Gerne kochte er indische Gerichte und sie tranken ein Glas Wein, den er mäßig genoss, denn eigentlich ist es den Angehörigen der Sickh Religion verboten, alkoholische Getränke zu sich zu nehmen. Er rauchte nicht, nahm es aber nicht übel, wenn Lissy eine Zigarette anzündete.Da er gerne aus dem Computergeschäft ausgestiegen wäre, dachte Lissy daran, mit ihm zusammen eine Reisegesellschaft für Indien-Luxusreisen zu gründen. Doch wollte sie zuerst indische Verhältnisse kennenlernen und so entschlossen sie sich, im Herbst nach Neu Delhi zu fliegen und dort Kontakte mit entsprechenden Firmen aufzunehmen, wobei ihr indischer Freund alle Verhandlungen führen sollte.Schon einmal hatte Lissy, damals zusammen mit Lothar, eine Firma gegründet und es war eine gute Idee gewesen, warum sollte es jetzt nicht möglich sein…Lissy fühlte sich fit und gesund und steckte voller Ideen. Tarjite, der sich eigentlich gerne in philosophischen Betrachtungen erging, ließ sich zu einem Versuch überreden.So flogen sie im Spätsommer nach Neu Delhi, um seine Verwandten, zwei Schwestern und einen Bruder, zu besuchen und Erkundigungen über eine Firmengründung an Ort und Stelle einzuziehen.Über die Erfahrungen in Indien hätte Lissy Seiten füllen können. Es war ein höchst interessantes Unternehmen. Hatte ihr indischer Freund sich in Deutschland schon sehr zurückhaltend, aber doch europäisch verhalten, wurde er, sobald sie angekommen waren, zum perfekten Inder. Er lebte noch in Verhaltensweisen früherer Zeiten, als Männer und Frauen in der Öffentlichkeit totale Zurückhaltung übten, und Frauen nur in Begleitung eines männlichen Familienmitgliedes auf die Straße durften.Hatte Lissy bei der Begrüßung seines Schwagers, diesem ein Küsschen auf die Wange gedrückt, sah dieser sich um, ob das wohl jemand gesehen hätte. Zwar freute er sich, doch war ihm diese Vertraulichkeit peinlich…Die Frauen jedoch übten sich in Zärtlichkeit anderen Frauen gegenüber. „Na ja, kein Problem,“ dachte Lissy und lernte andere Freundschaftsgesten.Es war eine total fremde Welt, in die sie nun eintauchte. Seine Verwandten waren höfliche und freundliche Menschen. Allerdings waren die Kinder seiner Schwester sehr westlich. Sie gingen zur Schule und trugen Schuluniformen in weiß mit einer Art Marinemützen, wie das vor dem Krieg auch in Deutschland üblich war. Die junge Nichte von sechzehn Jahren sagte: „Wenn ich achtzehn bin, heiratete ich einen reichen Mann und schaffe mir zwei Kinder an!“, was der Mutter peinlich war, aber die Tochter nicht rührte. Sie sagte: „Wir leben in den fünfziger Jahren!“Sie boten Lissy ihr eigenes Schlafzimmer an, um selbst in ihrem Gästezimmer zu schlafen, was Lissy aber nur für zwei Tage annahm. Dann begann sie, angefangen von einem einfachen Hotelzimmer, bis zum Luxushotel, Hotelzimmer zu prüfen, indem sie dort wohnte. Das war eine interessante Sache.Tarjite nahm Verbindung zu Reisegesellschaften auf . Arrangements hatten sie schon aufgestellt und Erkundigungen bei Fluggesellschaften durchgeführt. Sie fuhren von einem Unternehmen zum anderen und es waren höchst interessante Gespräche, die sie mit den Vertretern einer großen Reisegesellschaft führten.Lissy ließ sich nicht einschüchtern. Die Inder waren gerissene, geschäftstüchtige Kaufleute, aber Lissy hatte durch ihre frühere Arbeit, damals mit Lothar, viel gelernt.Sie unternahmen eine Zugfahrt nach Agra und von dort zum Tadsch Mahal und hatten Glück, diese wundervolle Anlage allein, ohne Touristenströme besichtigen zu können.Es war ein eigenartiges Gefühl, diese Anlage zu betreten. Wer den Satz vom Hauch der Geschichte geprägt hatte, musste wohl ebenso begeistert gewesen sein wie die späteren Besucher. Lissy hatte ausgiebig Literatur zu diesem beeindruckenden Denkmal mitgenommen und war begeistert wie selten. Sie brauchten einen ganzen Tag und hätten gerne noch länger dort verweilen wollen, doch sie mussten zurück. Gar keine Frage…, diese wundervolle Anlage würde in ihr Reiseprogramm einfließen und vieles Andere mehr.Auf der Rückfahrt mit ihrem Fahrradtaxi sahen sie kuriose Verkehrsangelegenheiten, zerstörte Dörfer, Abfall- und Schutthaufen allerorten und einen Verkehrs-Schutzmann auf einer Verkehrsinsel mit spärlichem Verkehr, wenn man denn Fahrradtaxis und Eselskarren in den Verkehr einbezog.Überall, zwischen den verfallenen Häusern und schmutzigen Gaststätten, Stände mit den für das Divallifest zum Verkauf stehenden Süßigkeiten.Die Hotels und Gaststätten waren total verwohnt und verdreckt. Die Toiletten verschmutzt und überall Verfall.Dort warteten sie auf den Zug, der sauber war. Die Bahnhöfe waren sehr gepflegt. Fahrgäste, auch Reisende aus Deutschland, die kein Hotelzimmer hatten, und trampende Jugendliche aus aller Welt, lagen auf dem Boden.Dazwischen so genannte “heilige Männer“, die zum Skelett abgemagert waren, und um etwas Geld bettelten. Sie befanden sich in dauernder Meditation und waren allem weltlichen entrückt. Lissy entsetzte sich ob dieses Anblicks. Als sie nach Delhi zurückkamen, trafen sie auf das außerordentlich geschmückte New Delhi. Die Denkmäler erglänzten unter tausend elektrischen Lampenketten, die sich wie ein Himmel über die breiten Verkehrsstraßen spannten.Fahrradtaxis, Dreiräder und Fahrräder trugen Öllampen. Heilige Kühe lagen mitten im Autoverkehr auf der Straße und fraßen von Touristen weggeworfene Pappteller. Die vorbei eilenden Kraftfahrzeuge und Fahrräder machten einen Bogen um diese armen Tiere, die doch heilig waren.Einige Frauen und Kinder von niedriger Kaste, saßen im Kreis, mit bettelnden Gesten auf der Straße. Lissy hatte sich auf der Bank Geld für Bettler auszahlen lassen, das Tarjite aufbewahrte und kaum hatte sie einen Schein in Händen, hatte ihn eine der Frauen blitzgeschwind an sich gerissen. Bei ihrer Wanderung verfolgten sie Kinder aus der Gruppe mit bettelnden Gesten, bis zu einer bestimmten Stelle, weil dort ihr Bettlerbereich endete. Hier war alles genau unter den Bettlern eingeteilt und kein Schritt weiter wurde geduldet. Unangenehm war, dass Bettlerinnen Lissy mit seltsamen Gesten und gewissem Druck einen Finger auf Arm oder Rücken drückten, um auf sich aufmerksam zu machen, was Lissy ekelhaft fand.Es gab sehr gute Textilgeschäfte und Schmuckgeschäfte, vor denen jeweils ein Soldat mit einem Gewehr stand, der das Geschäft bewachte. In einem dieser Geschäfte kaufte Lissy Saari für sich, und die Freundinnen ihrer Söhne. Es gab wundervolle, kostbare Seide, die vor Lissy von schönen, jungen Männern ausgebreitet wurde. Nichts war ihnen zu viel. Man sah ihnen an, dass es Ihnen großes Vergnügen bereitete, mit schwungvollen Gesten die Stoffe vorzuführen.Überall dieses Nebeneinander von Reichtum und bitterster Armut, wobei die wirklich Reichen und Mächtigen an diesem Lichterfest, auf der Straße nicht teilnahmen.Lissy war erschöpft, als sie in ihrem Drei-Sterne Hotel angekommen war, das in Delhi schon in einem guten Bezirk lag. Doch hier war nur die Lobby, in welcher ein Portier und eine schöne junge Frau im Sari die Gäste bediente, gut, denn schon beim Treppenaufgang fing der Verfall an… Schmutz überall! Das Zimmer ungepflegt! Ein laut summender Ventilator, der nicht abzustellen und mit lautem Gebrumm, schlafstörend war. Der einzige Vorteil..“ keine Fliegen“. Erschreckend die Dusche über der Wanne, deren Duschkopf zwischen losen Drähten hing. Lissy wunderte sich, dass hier noch kein Gast zu Tode gekommen war. Doch die Gäste hatten wahrscheinlich, genau wie Lissy, die Dusche nicht benutzt. Die Wanne wurde von einem Putzjungen mit einem Buschel Grünzeug geputzt. So etwas hatte Lissy noch nie gesehen.„Diese Hotelkategorie kommt schon einmal nicht in Frage“, dachte sie. „Also ab morgen, eine höhere...“Als Inder war es für ihren indischen Freund einfacher, mit den Hotelmanagern zu verhandeln und man sah, dass ihm diese Tätigkeit Freude bereitete. Für Lissy war es ausgesprochenes Neuland, aber umwerfend spannend und sehr anstrengend, denn es war streckenweise noch sehr heiß und die nicht klimatisierten Taxen kräfteraubend.
Es ist verlorene Zeit, noch weitere Hotels der unteren Klassen auszuprobieren, sagte Lissy, nachdem sie weitere Hotels besichtigt hatten. Und es müssen wirklich Luxusunterkünfte sein.So mietete sich Lissy in einem dieser Luxushotels ein.Hier hatte alles westlichen Standard. Angefangen von der Klimaanlage bis zum Schreibtisch, dem Fernsehgerät und dem phantastischen Bett, Zimmerservice, Telefon und Fernseher inbegriffen. Verschiedene Restaurants, in denen man landesüblich essen konnte. Dies war auch für Lissy Neuland, denn sie und ihre Söhne lebten in Einfachheit.Was Lissy missfiel, waren die Klimaanlagen in den Speiserestaurants, die an Winterkälte denken ließen, vor der Lissy das italienische Restaurant fluchtartig verließ, was ihrem indischen Freund peinlich war. Er nahm irgendwelche Unannehmlichkeiten mit Gelassenheit hin.„Lieber amerikanisch“, sagte Lissy und das war auch gut so. Hier aßen sie vorzüglich, bei wirklich angenehmen Temperaturen.In diesem Hotel zog Lissy Erkundigungen für Reisegesellschaften ein, und hier konnte ihr Freund wieder tätig werden. Sehr geschickt nahm er Kontakte mit Hotelmanagern auf und alles wurde auf dem hoteleigenen Schreibtisch dokumentiert. Tarjite wohnte in dieser Zeit bei seiner Schwester, die sich sehr freute, dass ihr Bruder bei ihr sein konnte.Für Lissy waren ihre Gespräche, die in hohem Discant geführt wurden, sehr anstrengend, aber sie freute sich, dass ihr Freund sich im Kreise seiner Familie so wohl fühlte.Zu diesem Zeitpunkt, im Jahr 1970. gab es noch keine Computer, aber Tarjite hatte eine gut leserliche, exacte Schrift. Er schrieb in Deutsch und Englisch, und als Mathematiker, fiel ihm das Spiel mit Zahlen leicht.Die Kaufmännisch Seite bearbeitete Lissy. Sie waren ein gutes Team.Es war anstrengend, den Tag mit Zahlenspielen zu füllen, doch Tarjite war von außerordentlicher Ausdauer. Er sagte, das sei seine indische Mentalität.Er kannte, die von Lissy ausgesuchte Route gut, denn er hatte die Tour vor Jahren des Öfteren gemacht.So buchten sie einen Autovermieter, der als Chauffeur arbeitete, denn selbst fahren, durften sie ohne Zusatzführerschein nicht… Für Lissy war diese fremde Welt sehr spannend aber auch sehr ermüdend, doch sie schaffte es, das Tempo mitzuhalten. Tarjit jedoch, war nun in seinem Element.Ohne die freundschaftliche Verbindung zu ihm, hätte Lissy die Verhandlungen nicht führen können, aber ohne ihn wäre sie auch nicht auf die Idee gekommen, eine Reisegesellschaft für Indien gründen zu wollen.Es war klar, dass es noch einer Menge Formalitäten bedurfte, um diese Pläne durchzuführen, doch andererseits auch nicht schwierig, wenn man die Mühe nicht scheute, alles bürokratisch korrekt abzuwickeln, was in Indien zu einem Geduldsspiel wurde. Schon in einer kleineren Bank, zweihundert D-Mark per Barscheck einzulösen, dauerte zwei Stunden, für einen zehn Zentimeter hohen Stapel Banknoten, der zweimal durchgezählt werden musste.Bürokratie wurde in Indien penibel gehandhabt. Da brauchte man Geduld…Lissy war nach diesen anstrengenden Touren und Verhandlungen ermüdet und wollte erst einmal wieder Luft schöpfen und alles überdenken, denn konkrete Vereinbarungen hatten sie noch nicht getroffen. Es bedurfte noch der Reklame für ihre Idee.Sie machte sich auf die Reise nach Deutschland, und ihr Freund blieb, wie jedes Jahr, mehrere Wochen in Indien. Er kümmerte sich um Flugverbindungen innerhalb Indiens und hielt Kontakt zu den indischen Reiseveranstaltern.Sie blieben in ständigem telefonischem Kontakt. Zu dieser Zeit war in München eine Messe für Indienreisen. Lissy ließ tausend Reklamedrucke fertigen, die dort verteilt wurden.Einige Anzeigen für solche Reisen erschienen in Zeitungen und auch hier kamen interessierte Anfragen. Ihre Preisgestaltung war einwandfrei und trotz der Luxusgestaltung, für sie sehr lukrativ, weil sie ja ohne Bürokräfte arbeiteten, und keine Büromiete zu zahlen hatten. Die Reiseleitung würde Tarjit übernehmen und Lissy würde ebenfalls, zur Betreuung der Reiseteilnehmer an den Reisen teilnehmen. Tim stand Lissy bei, indem er Flugtermine orderte, die bis zu einem bestimmten Zeitpunkt abgesagt werden konnten, wenn sich Schwierigkeiten ergeben würden.So flog Lissy wieder nach Delhi, um weitere Arrangements zu treffen.Alles sah gut aus, aber dann traf sie die Nachricht, dass es große Probleme zwischen Indien und Pakistan gäbe und dass ausgerechnet, in dem von Lissy zu buchendem Gebiet Schüsse fielen.Das sah nicht gut aus.Man musste die Pläne vorerst aufschieben, denn Lissy hatte zwar Reiseversicherungen in ihr Programm einbezogen aber sie war sich sicher, dass sie auf keinen Fall Risiken für ihre Reiseteilnehmer oder für sich eingehen wollte.Abwarten hieß es nun. Die Flugbuchungen hatten noch etwas Zeit Auch, und vor Allem ihr Freund Tarjite wollte große Risiken nicht eingehen, und ohne ihn würde der schöne Plan nicht funktionieren, wenngleich die Reisevorbereitungen abgeschlossen waren.Sie unternahmen nun eine große Reise durch Nordindien und Lissys Begeisterung ob dieser großen Kultur und den Naturwundern war nicht zu beschreiben. Lissy nahm Kontakt zu einem großen Reisebüro in Bonn, das schon vorher sehr interessiert gewesen war, und eine Partnerschaft angeboten hatte auf, und verkaufte ihr Arrangement zu einem annehmbaren Preis.Sie hatte nichts verdient und nichts verloren, aber viel gewonnen. Eine fremde Kultur, der man mit Begeisterung und Bewunderung begegnet. Freundliche und interessante Menschen, Liebe und Gastfreundlichkeit, in der man jedoch immer eine Fremde bleibt. Die Querelen zwischen Indien und Pakistan würden noch viele Jahre dauern, und viele Menschen den Tod finden.Tarjite und seiner Familie in Dankbarkeit… , schrieb Lissy in das Gästebuch seiner Schwester.
Als Jorgi die Überschrift dieses Kapitels las, sage er: „Mutter, Du hast einen Fehler gemacht“. Es heißt „Am heimlichen Herd!“ Solche Wortspielereien machten ihnen schon immer viel Spaß und Jorgi meinte, Lissy solle doch alles aufschreiben.Gesagt…, getan…So führte sie die „Geschichte der kleinen Leute“ weiter.Nun aber kam auch ihre Idee, eine Keramikwerkstatt einzurichten zum Tragen.Sie baute ihre große Garage zu einer Werkstatt um und kaufte zwei Brennöfen, meldete ein Gewerbe an und fertigte Keramiktiere, wie Enten Gänse, Vögel, Krippenfiguren, Schalen, Vasen Schüsseln, Aschenbecher, Blumenreliefs, Türschilder und dergleichen mehr an. Sie befand sich in einem Schaffensrausch, dem sie manche Nacht opferte und sie verkaufte sehr gut.Zwei Jahre führte sie diese Arbeiten weiter fort, bis die Industrie sich dieses Geschäftes annahm, dem viele, kleine Keramikwerkstätten zum Opfer fielen. Neben der Freude an der Arbeit, blieben ihr die Brennöfen und das Zusatzmaterial als Verdienst.Den kleinen, individuellen Werkstätten im Westerwald ging es ebenso, wie den Lebensmittelläden, „Tante Emma-Läden“ genannt, die nach und nach aus den ländlichen Gegenden verschwanden, weil sie gegen die großen Einkaufszentren nicht ankommen konnten.Es gab auch nur noch eine Bäckerei im Nachbardorf, das neben Brot auch Kuchen, Torten auf Bestellung anbot.Diese Produkte wurden nun in Supermärkten, frisch und als Tiefkühlware verkauft. Schon lange vorbei waren die Zeiten, als morgens die Brötchen vor der Haustüre lagen. Ohne die kleinen Lebensmittelläden und ohne die Metzgereien, Bäckereien und Gaststätten, war das Leben aus den Dörfern verschwunden. Kein Tanz in den Mai, wie früher bei Simon im Saal. Simon, der, wie der Pferdefreund Jupp, verstorben war. Das Dorf war nicht mehr das Dorf von Früher, seitdem diese beiden Originale aus der Dorfgemeinschaft verschwunden waren.Viele Fremde siedelten sich an und die Einheimischen feierten nicht mehr die Feste von einst. Alle waren jetzt motorisiert und verständlicherweise, verbrachten sie ihre Freizeit in der Ferne.Die Jugendlichen von einst waren erwachsen geworden und bauten sehr schöne Einfamilienhäuser. Modern und mit allem Komfort. Viele, der vor dem Krieg gebauten kleinen Häuser, die über den Krieg weg und danach unverputzt geblieben waren, wurden nun fertiggestellt. Die Verbandgemeinde nahm an der Aktion: “Unser Dorf soll schöner werden“ teil. Das Dorf war schöner geworden, aber dörfliches Leben war nun Vergangenheit. Lissy belegte einen Französisch-Kurs bei einer französischen Sprachschule in Düsseldorf, weil sie dem Ruf des örtlichen Heimatvereins folgte und Parisreisen begleiten durfte. Immer schon hatte sie sich für die französische Kultur begeistert und nun wurde ihr die Möglichkeit gegeben, tätig zu werden.Ein Historiker aus der Nachbarstadt Ratingen, der über außergewöhnliche Kenntnisse der Geschichte von Paris und Wien verfügte, weil er dort studiert hatte, machte Lissy auf Ausflüge aufmerksam, die er arrangierte. Eine Woche Studienreisen Paris und Wien… Lissy war begeistert und fuhr kurzentschlossen mit.Durch ihn bekam sie die Gelegenheit, einen Teil der Reisegruppe zu begleiten. Zweimal im Jahr, konnte sie nun ihrem Reisehunger nachgehen. Es waren phantastische Gelegenheiten mit netten und interessierten Bürgern diese Städte zu besuchen. Paris wurde aber auch für sie zu einem privaten Vergnügen. Im Laufe der Zeit besuchte sie Paris wohl zehnmal. Einmal auch begleitete sie ihre Nichte Ricka zu Studienzwecken.Glücklich jedoch war Lissy in hohem Maße, wenn Tim und Jorgy sie besuchten. Es war immer ein Fest. Lissy war glücklich, dass ihre Söhne nach Abschluss der Studien qualifizierte Berufe ausüben konnten.Tim und Jorgi waren nach wie vor vom Leben im Wald begeistert. Hier hatten sie über einen langen Zeitraum ihre Kindheit und Jugend verbracht. Wenn sie zu Besuch kamen, konnten sie ihre alten Zimmer benutzen und das taten sie zu Lissys Freude oft und gern. Sie brachten ihre Freundinnen und Freunde mit und Tim feierte Hochzeit mit der unvergleichlichen Iris und vielen Freundinnen und Freunden, auf der Wiese vor dem Haus.Es war alles so einfach… so schön…
Lissy widmete sich nun wieder intensiver dem täglichen, politischen Geschehen und mit großem Interesse der Politik. Es war eine heiße Zeit. Die Kanzlerschaft des außergewöhnliche Bundeskanzlers Helmut Schmidt währte von 1974 bis 1982. Siehe Bundeskanzler Helmut Schmidt, Lebenswerk, im Internetblock.. Sein Nachfolger als Bundeskanzler wurde Helmut Kohl für die CDU, dessen Amtszeit von 1982 bis bis zum Jahr 1998 währte.Helmut Kohl konnte die Vereinigung der DDR mit der Bundesrepublik Deutschland verkünden und wurde damit Kanzler der Einheit.Es war eine der interessantesten Zeiten, die die Bundes Republik erleben durfte. (S. Internet)Nach dem Zusammenbruch der DDR verbrachte Lissy viele Stunden vor dem Fernsehgerät. Ralph, der altersgleiche Sohn zu Lissys Söhnen, war über Ungarn in die Bundesrepublik ausgereist. Das galt zuerst in der DDR noch als Republikflucht. Es dauerte jedoch nicht lange, bis sie Checkpoint Charly für die Ausreisewilligen DDR-Bürger öffnete. Die Grenzpolizisten mussten zusehen, wie die DDR-Bürger fluchtartig die Deutsche Demokratische Republik, die es bald nicht mehr geben würde, verließen. Es waren ergreifende Szenen, als sich Bundes- und DDR-Bürger in die Arme fielen, als sich die Grenztore öffneten und Grenzpolizisten fassungslos zusehen mussten, wie die DDR-Bürger die DDR verließen.Lissy verfolgte mehrere Wochen die Verhandlungen im Fernsehen. Es waren hochspannende Szenen, wo sich Bundesbürger und DDR Bürger, Kommunisten, Faschisten begegneten. Die DDR-Bürger waren äußerst redegewandt. Mal für, mal gegen die DDR-Führung und das System.Für DDR-Bürger war die Umstellung auf Bundes Regierungs-Demokratie sehr schwierig, denn sie hatten niemals mit demokratischer Politik und Regeln gelebt.Viele Bundesbürger belächelten die Rückständigkeit der DDR-Bürger, denen niemals die Möglichkeit gegeben wurde, selbst zu entscheiden. Sie hatten sich fügen müssen und fünfzig Jahre kein Mitspracherecht gehabt. Viele landeten in berüchtigten Gefängnissen, selbst für kleinste Rede-Vergehen.Der Aufstand in Berlin wurde blutig niedergeschlagen. Russen unterstützten die DDR-Bevollmächtigten und so wurde Berlin zu einem Beispiel für Freiheitsberaubung und Zerschlagung von politischem Eigenwillen. Deren Politiker, wie Könige regierten und lebten in Wandlitz in einem abgesperrten Areal, mit westlichen Komfort, wovon ihre Bürger nur träumen konnten. Normale DDR Bürger hatten sich dem sozialistischen System zu fügen.Die “kleinen Leute“ in der DDR hatten nichts zu melden, wenn sie nicht in das Horn der DDR-Bonzen bliesen. Nur dann, wenn sie in der Partei waren und sich den DDR-Bonzen vertraut machten, konnten sie sich Pöstchen verschafften.Intellektuelle und Künstler waren nicht alle Helden und versuchten mit Eintritt in die Partei bessere Stellungen zu bekommen.Sie durften den Mund nicht aufmachen und konnten, selbst wenn sie alles dransetzten, die DDR nicht verlassen.Niemals hatten die Bürger Freiheit kennengelernt. Zuerst gab es den König und den Kaiser, Bismarck, die dritte Republik und Krieg. Danach Adolf Hitler und Krieg, und danach die BRD so wie die DDR mit kommunistischerer, (russischer) Besatzung und “Demokratur“.Manche DDR-Bürger machten es sich leichter mit der “Demokratur“ und bekamen schneller ein Auto oder hatten sonstige Vergünstigungen. Eine einzige „Vetternwirtschaft“. War man öffentlich gegen die Macher in der DDR, landete man im Gefängnis. Eine schöne Demokratie…Dass sich manche Bundesbürger über die DDR-Bürger lustig machten, fand Lissy undemokratisch und es schien Lissy, als hätten viele Bundesbürger nichts dazu gelernt.Unterschwellig gab es noch viele Nazi Verherrlicher. Doch wohlweißlich schwiegen sie in dieser Zeit. Da wollte Keiner dabei gewesen sein.Rückblickend hatten sie das Glück gehabt, dass die Amerikaner ihnen, trotz des furchtbaren Kriegsgeschehens unter der Regie von Adolf Hitler, bei welchem so viele Menschen ums Leben gekommen waren, einem Friedensplan geboten hatten. So konnten sie, Trotz dieser vielen, entsetzlichen Ereignisse, mit Hilfe der Alliierten, die junge Demokratie gründen … Das von der Naziherrschaft in aller Welt verursachte Elend zu beschreiben, ist unmöglich. Die Siegermächte hatten das “Deutsche Volk“ vier Jahre hungern lassen, ließen jedoch ein wirtschaftliches Aufwärtskommen bei der Gründung der jungen Bundesrepublik, unter der Regie von Konrad Adenauer, dem ersten Deutschen Bundeskanzler, zu. Es war ein Aufschwung, der nur der Großzügigkeit der Siegermächte zuzuschreiben war und mancher “kleine Hansel“ sprach leider schon wieder von “Groß-Deutschland“. „Es gibt immer wieder Dumme, die nicht zu belehren sind“, sagte Anna, die „nah am Volk“, sonst eigentlich immer schwieg. Nun aber hörte sie gerade von den Dümmsten solche Sprüche. Es waren dieselben, die einmal Adolf Hitler nachgelaufen waren und ihn in den Sattel gehoben hatten.Anna sagte: „Die „braune Pest“ ist nicht auszurotten.Sie behielt Recht. Viele Jahre später. Anna war schon lange verstorben, erinnerte sich Lissy dieser Worte, denn es gab Nazis in aller Welt, die wieder Unruhe stifteten.Neben den Christlich Sozialen, CDU und den Sozialdemokraten SPD gab es die “Grünen“, denen Lissy ihre Stimme gab. Zwar vermittelten diese, langhaarig und außergewöhnlich salopp gekleidet, während ihrer Sitzungen den Strickstrumpf in der Hand, ein etwas seltsames Bild. Ihr Horizont jedoch, schien hoch zu sein…Was sie sagten, konnte Lissy nachvollziehen. Allerdings war ihre Wahl in der ersten Zeit Lissys Trotzhaltung zuzurechnen. Ihr Ehemann Lothar wollte ihr vorschreiben, die SPD zu wählen.Zwar fand Lissy die SPD besser als alle anderen Parteien, wollte sich aber von Lothar keine Entscheidung aufzwingen lassen.Lissy fand es grotesk, dass viele Frauen so wählten, wie ihre Ehemänner es anordneten.Lissy konnte auch nicht verstehen, dass viele Menschen nicht zur Wahl gingen. Hatten sie doch Jahre lang kein Wahlrecht gehabt. Nun hatten sie Rechte und nahmen sie nicht wahr. „Unvorstellbar, diese Ignoranz!“, sagte sie.
Theodore, seines Zeichens Französischlehrer und Buchautor über die Geschichte seines Heimatlandes Nordrhein-Westfalen, bot den Bürgern seiner Heimatstadt die Teilnahme am Besuch der Stadt Paris an. Lissy erfuhr von seinen Reisebegleitungen durch eine Geschäftsfrau, die in hohen Tönen diese Reisen pries. So versuchte Lissy, einen Mitfahrplatz im Reisezug zu buchen, was auch gelang, denn letzter Minute hatte sie noch eine einfache Unterkunft im gleichen ordern können, und so reiste sie voller Erwartung mit einer Gruppe von fünfundzwanzig Personen, welche schon teilweise zu Kennern dieser überaus geschichtsträchtigen Stadt geworden waren, gen Frankreich. Da alle Plätze bereits vergeben waren, hatte Lissy das Glück, im Abteil des Reiseleiters und seines Cousins, und eines in letzter Minute buchenden Polizeibeamten, einen Platz zu bekommen. So kam sie in den Genuss einer mit bon Mots gewürzten Unterhaltung, in einem etwas antiquierten Stiel, den sie aber genoss, und sie fühlte sich wie Reisende Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, in Begleitung von wohlwollenden Intellektuellen.Immer schon hatte Lissy sich für französische Literatur interessiert und war von der Sprache fasziniert, wenngleich ihre Französischkenntnisse über Schulfranzösisch nicht hinausgingen. Theodore, ein Mann in den höheren Siebzigern und sein Cousin gleichen Alters, war mit von der Partie. Die beiden Herren, charmant und geschichtsbeflissen unterhielten im Zugabteil ihre Reiseteilnehmer kenntnisreich, sowohl über Kunst, Literatur und Theater wie auch vor allen Dingen über die Geschichte der Stadt Paris. Nie zuvor, und nie danach hatte Lissy Menschen gefunden, die mit solcher Begeisterung und Kenntnis, das Reiseziel Paris erklären konnten. Theodore, der in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, also schätzungsweise in den Jahren 1925 bis 1930 einige Semester in Paris, und ein paar Jahre in Wien studiert hatte, verstand es, seine Reiseteilnehmer auf eine wundervolle Art, charmant und mit Humor, auf die Reise vorzubereiten. Es war eine Sprache, die Lissy literarisch anmutete.Wien, erfuhr Lissy, stand in diesem Jahr auch auf der Liste der Reiseziele, und vorsorglich hatte sie sich schon einen Platz gesichert, denn eine Reisebegleitung mit solchem Sachverstand, hatte sie noch nie erfahren. Lissy gefiel der Enthusiasmus mit dem Theodore, trotz höheren Alters, kenntnisreich seinen Erinnerungen nachhing. Er hatte Französisch und Geschichte studiert und der Belle Epoque galt, neben allen anderen geschichtlichen Zeiten, sein großes Interesse.Während ihrer Ehe mit Lothar hatte Lissy sich seiner Eifersüchteleien wegen in Zurückhaltung geübt, doch nun konnte sie ihrer frankophilen Reiselust freien Lauf lassen.Für die Reisegruppe war, wie jedes Jahr, ein Familienhotel gebucht und am ersten Abend begleiteten Theodore, und sein Cousin Richard, ein pensionierter Jugendrichter, die Reiseteilnehmer zum Abendessen.Es wurde von der französischen Küche gesprochen, doch so kenntnisreich Theodore über die Geschichte der Stadt Paris sprach, so wenig Kenntnis hatte er von den Restaurants der Touristikbranche. Seine Truppe, so sie sich ihm angeschlossen hatte, führte er in ein französisches Restaurant, das sich jedoch zu seiner Enttäuschung als Schnellrestaurant entpuppte. Theo war bitter enttäuscht, doch die Reiseteilnehmer beruhigten ihn und Lissy war es für den Moment ohnehin gleichgültig. Sie war endlich in guter Gesellschaft in Paris.Als sie sich nach dem Essen von der Gruppe trennte, schlenderte sie entlang der Seine und fühlte sich wirklich glücklich. Ein wundervolles Gefühl. Die fremden Laute…, Verkaufsangebote für antiquarische Bücher und Zeitschriften der Händler, die ihre Verkauf Stände entlang der Seine aufgebaut hatten.Die seidenweiche Luft an diesem Tag, und die unvergleichliche Atmosphäre auf der Champs Elisee machten wirklich glücklich. Noch Jahre danach, konnte sie dieses Gefühl zurückrufen.Am nächsten Tag begann die Führung und mit außergewöhnlichem Sachverstand führte Theodor die Reisegruppe, innerhalb der Reisezeit zu den interessanten Stätten. Kirchen, Friedhöfe, Museen, Gedenkstätten, Gärten und Parkanlagen, besondere Stadtteile, und berühmte Restaurants. Immer auch, umrahmte er seine Erklärungen, charmant von seinem Cousin unterstützt, mit geschichtlichen Ereignissen. Langeweile konnte so nicht aufkommen. Erstaunlich war, dass die beiden Herren die Stadt Paris zu Fuß und ohne Taxi bewältigten. So wurde die Gruppe mit Bravur durch den Verkehr geschleust.Manchmal lief Theodore durch den brausenden Verkehr und stand auf einer Verkehrsinsel still, um eine geschichtliche Erklärung zu geben. Auf einer so kleinen Insel hatten natürlich die Reiseteilnehmer keinen Platz und Autofahrer mussten Rücksicht nehmen. Mit bestimmten Zeichen nahmen diese Kenntnis von seinem Tun, was ihn jedoch überhaupt nicht interessierte. Auch bestimmte Bewegungen des Fingers zur Schläfe, konnten ihm nichts anhaben. Er war kein Autofahrer und sich der Gefährlichkeit seines Tuns nicht bewusst… Langeweile konnte so nicht aufkommen. Zuerst erklärte dieser außergewöhnliche Fremdenführer Theodore die Insel, den Stadtkern von Paris, von welchem alles ausgegangen war. Er sprach über Notre Dame und Sacre Ceur, einschließlich des Gerichtsgebäudes, der Architektur und geschichtlichen Bedeutung wegen. Den Teilnehmern ließ er Zeit, in Ruhe seinen Erklärungen zu folgen.Tief beeindruckt stand Lissy in der Kirche Sacre Ceur, der Kirche der Könige, Von hier aus konnte der König in die Kathedrale Notre Dame gelangen, ohne vom Volk gesehen zu werden. Sie war hingerissen von der Architektur der Kathedrale und den wundervollen Fenstern, hier, wie in der Kirche Sacre Ceur. Diese Fenster, die im Licht der Mittagssonne in einem berauschenden Farbenspiel erstrahlten. Unter Theodores Erklärungen umrundeten sie die Kathedrale und standen nun auf dem großen Platz vor der Kathedrale, neben der Statue Karls des Großen, als sich ein paar hübsche Kinder, mit dunklen Augen näherten. Sie führten einen Stadtplan mit sich, den sie vor Lissy entfaltet hatten und fragten Lissy um Rat, indem sie mit ihren kleinen Händen auf der Karte hin und her fuhren.Gerade, als Lissy etwas erklären wollte, löste sich plötzlich ein älterer Mann aus der Menge, der Lissy zurief: „Madam, Madam, votre Sack…!“ Er meinte ihre Handtasche.Lissy blickte auf und sah, dass der kleinste der Jungen, der sie mit unschuldigen, schönen, großen, schwarzen Augen ansah, versuchte den Knebelverschluss ihrer Handtasche zu öffnen. Gerade rechtzeitig, lösten sich zwei Herren, Polizisten in Zivil, aus den Zuschauern und verfolgten die kleinen Zigeunerjungen, die das Hasenpanier ergriffen hatten. Lissy war gerade noch einmal davon gekommen. Das hätte der Verlust ihrer Reisekasse bedeuten können… Von da an traf sie besondere Vorkehrungen, um ihr Reisekapital zu schützen.Alle Wertgegenstände nah am Körper, im so genannten Brustbeutel, oder in verschließbaren Kleidertaschen.Nur einmal hatte sie vergessen eine Anstecknadel von ihrer Kostum Jacke zu nehmen und schon hatte man ihr die Nadel, bei einem kleinen Zusammenstoß auf der Straße, mit „excuse Madam!“ weggenommen.Nach Paris, in andere Metropolen und überhaupt auf Reisen keine Wertgegenstände mitnehmen, war von da an die Parole. Doch bei jeder Reisegruppe, die sie später betreute, wurde eine Person bestohlen.In der Kantine des Gerichtsgebäudes konnten sie zu Mittag essen. Es gab nur zwei Gerichte und diese waren einfach und preiswert. Theodore kannte dieses Restaurant und es war interessant, die Richter in ihren schwarzen Roben und den weißen Frisuren, mit den Tabletts in der Schlange stehen zu sehen. Da waren die Herren Richter, nah am Volk.An diesem Tag, Theodore und Richard, ihre Reiseleiter hatten sich zur Mittagsruhe zurückgezogen, machte Lissy mit einigen Reiseteilnehmern einen Spaziergang entlang der Seine zum Eiffelturm, den man natürlich erklimmen muss oder mit dem Lift bewältigt. Schön bei strahlendem Sonnenschein, der Blick auf Paris. Zurück mit dem Motorboot, zur Insel.Lissy hatte einen Reiseführer, der sich die „Biografie einer Weltstadt“ nannte und einen Stadtführer zur Hand, dem sie sich schon während der Fahrt intensiv gewidmet hatte, und der ihr nun gute Dienste leistete.Sie war begeistert und tief beeindruckt. Hier lief alles zusammen, was sich in den vielen Jahrhunderten zugetragen hatte und es war ein Glück, dass die Stadt niemals zerstört wurde. So atmete sie in jedem Quartier, und durch Jahrhunderte, Geschichte.Müde und erschöpft ob der vielen Eindrücke, die sie an diesem Tag gewonnen hatte, und nach dem Touristenessen in einem Schnellrestaurant, wo Lissy ein Qroque Monsieur, in Form eines Spiegeleies auf Toast genossen hatte, sank Lissy in ihrem Zimmer des kleinen Familienhotels in tiefen Schlaf, um am nächsten Morgen, früh um sieben Uhr geweckt zu werden, weil Theodore und Richard im Café auf sie warteten.Auf einer Verkehrsinsel stehend, mitten im brausenden Morgenverkehr, erklärte Theodore den Plan für den zweiten Tag und stellte fest, dass ein Paar fehlte. So wurde Lissy beauftragt, die fehlenden Personen aufzufordern auf die Verkehrsinsel zu kommen um am täglichen Rundgang teilzunehmen, was sie dann auch tat, und die verloren gegangenen Schäfchen wieder der Gruppe zuführte. Theodore, seines Zeichens Französischlehrer und Buchautor über die Geschichte seines Heimatlandes Nordrhein-Westfalen, bot den Bürgern seiner Heimatstadt die Teilnahme am Besuch der Stadt Paris an. Lissy erfuhr von seinen Reisebegleitungen durch eine Geschäftsfrau, die in hohen Tönen diese Reisen pries. So versuchte Lissy, einen Mitfahrplatz im Reisezug zu buchen, was auch gelang, denn letzter Minute hatte sie noch eine einfache Unterkunft im gleichen ordern können, und so reiste sie voller Erwartung mit einer Gruppe von fünfundzwanzig Personen, welche schon teilweise zu Kennern dieser überaus geschichtsträchtigen Stadt geworden waren, gen Frankreich. Da alle Plätze bereits vergeben waren, hatte Lissy das Glück, im Abteil des Reiseleiters und seines Cousins, und eines in letzter Minute buchenden Polizeibeamten, einen Platz zu bekommen. So kam sie in den Genuss einer mit bon Mots gewürzten Unterhaltung, in einem etwas antiquierten Stiel, den sie aber genoss, und sie fühlte sich wie Reisende Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, in Begleitung von wohlwollenden Intellektuellen.Immer schon hatte Lissy sich für französische Literatur interessiert und war von der Sprache fasziniert, wenngleich ihre Französischkenntnisse über Schulfranzösisch nicht hinausgingen. Theodore, ein Mann in den höheren Siebzigern und sein Cousin gleichen Alters, war mit von der Partie. Die beiden Herren, charmant und geschichtsbeflissen unterhielten im Zugabteil ihre Reiseteilnehmer kenntnisreich, sowohl über Kunst, Literatur und Theater wie auch vor allen Dingen über die Geschichte der Stadt Paris. Nie zuvor, und nie danach hatte Lissy Menschen gefunden, die mit solcher Begeisterung und Kenntnis, das Reiseziel Paris erklären konnten. Theodore, der in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, also schätzungsweise in den Jahren 1925 bis 1930 einige Semester in Paris, und ein paar Jahre in Wien studiert hatte, verstand es, seine Reiseteilnehmer auf eine wundervolle Art, charmant und mit Humor, auf die Reise vorzubereiten. Es war eine Sprache, die Lissy literarisch anmutete.Wien, erfuhr Lissy, stand in diesem Jahr auch auf der Liste der Reiseziele, und vorsorglich hatte sie sich schon einen Platz gesichert, denn eine Reisebegleitung mit solchem Sachverstand, hatte sie noch nie erfahren. Lissy gefiel der Enthusiasmus mit dem Theodore, trotz höheren Alters, kenntnisreich seinen Erinnerungen nachhing. Er hatte Französisch und Geschichte studiert und der Belle Epoque galt, neben allen anderen geschichtlichen Zeiten, sein großes Interesse.Während ihrer Ehe mit Lothar hatte Lissy sich seiner Eifersüchteleien wegen in Zurückhaltung geübt, doch nun konnte sie ihrer frankophilen Reiselust freien Lauf lassen.Für die Reisegruppe war, wie jedes Jahr, ein Familienhotel gebucht und am ersten Abend begleiteten Theodore, und sein Cousin Richard, ein pensionierter Jugendrichter, die Reiseteilnehmer zum Abendessen.Es wurde von der französischen Küche gesprochen, doch so kenntnisreich Theodore über die Geschichte der Stadt Paris sprach, so wenig Kenntnis hatte er von den Restaurants der Touristikbranche. Seine Truppe, so sie sich ihm angeschlossen hatte, führte er in ein französisches Restaurant, das sich jedoch zu seiner Enttäuschung als Schnellrestaurant entpuppte. Theo war bitter enttäuscht, doch die Reiseteilnehmer beruhigten ihn und Lissy war es für den Moment ohnehin gleichgültig. Sie war endlich in guter Gesellschaft in Paris.Als sie sich nach dem Essen von der Gruppe trennte, schlenderte sie entlang der Seine und fühlte sich wirklich glücklich. Ein wundervolles Gefühl. Die fremden Laute…, Verkaufsangebote für antiquarische Bücher und Zeitschriften der Händler, die ihre Verkauf Stände entlang der Seine aufgebaut hatten.Die seidenweiche Luft an diesem Tag, und die unvergleichliche Atmosphäre auf der Champs Elisee machten wirklich glücklich. Noch Jahre danach, konnte sie dieses Gefühl zurückrufen.Am nächsten Tag begann die Führung und mit außergewöhnlichem Sachverstand führte Theodor die Reisegruppe, innerhalb der Reisezeit zu den interessanten Stätten. Kirchen, Friedhöfe, Museen, Gedenkstätten, Gärten und Parkanlagen, besondere Stadtteile, und berühmte Restaurants. Immer auch, umrahmte er seine Erklärungen, charmant von seinem Cousin unterstützt, mit geschichtlichen Ereignissen. Langeweile konnte so nicht aufkommen. Erstaunlich war, dass die beiden Herren die Stadt Paris zu Fuß und ohne Taxi bewältigten. So wurde die Gruppe mit Bravur durch den Verkehr geschleust.Manchmal lief Theodore durch den brausenden Verkehr und stand auf einer Verkehrsinsel still, um eine geschichtliche Erklärung zu geben. Auf einer so kleinen Insel hatten natürlich die Reiseteilnehmer keinen Platz und Autofahrer mussten Rücksicht nehmen. Mit bestimmten Zeichen nahmen diese Kenntnis von seinem Tun, was ihn jedoch überhaupt nicht interessierte. Auch bestimmte Bewegungen des Fingers zur Schläfe, konnten ihm nichts anhaben. Er war kein Autofahrer und sich der Gefährlichkeit seines Tuns nicht bewusst… Langeweile konnte so nicht aufkommen. Zuerst erklärte dieser außergewöhnliche Fremdenführer Theodore die Insel, den Stadtkern von Paris, von welchem alles ausgegangen war. Er sprach über Notre Dame und Sacre Ceur, einschließlich des Gerichtsgebäudes, der Architektur und geschichtlichen Bedeutung wegen. Den Teilnehmern ließ er Zeit, in Ruhe seinen Erklärungen zu folgen.Tief beeindruckt stand Lissy in der Kirche Sacre Ceur, der Kirche der Könige, Von hier aus konnte der König in die Kathedrale Notre Dame gelangen, ohne vom Volk gesehen zu werden. Sie war hingerissen von der Architektur der Kathedrale und den wundervollen Fenstern, hier, wie in der Kirche Sacre Ceur. Diese Fenster, die im Licht der Mittagssonne in einem berauschenden Farbenspiel erstrahlten. Unter Theodores Erklärungen umrundeten sie die Kathedrale und standen nun auf dem großen Platz vor der Kathedrale, neben der Statue Karls des Großen, als sich ein paar hübsche Kinder, mit dunklen Augen näherten. Sie führten einen Stadtplan mit sich, den sie vor Lissy entfaltet hatten und fragten Lissy um Rat, indem sie mit ihren kleinen Händen auf der Karte hin und her fuhren.Gerade, als Lissy etwas erklären wollte, löste sich plötzlich ein älterer Mann aus der Menge, der Lissy zurief: „Madam, Madam, votre Sack…!“ Er meinte ihre Handtasche.Lissy blickte auf und sah, dass der kleinste der Jungen, der sie mit unschuldigen, schönen, großen, schwarzen Augen ansah, versuchte den Knebelverschluss ihrer Handtasche zu öffnen. Gerade rechtzeitig, lösten sich zwei Herren, Polizisten in Zivil, aus den Zuschauern und verfolgten die kleinen Zigeunerjungen, die das Hasenpanier ergriffen hatten. Lissy war gerade noch einmal davon gekommen. Das hätte der Verlust ihrer Reisekasse bedeuten können… Von da an traf sie besondere Vorkehrungen, um ihr Reisekapital zu schützen.Alle Wertgegenstände nah am Körper, im so genannten Brustbeutel, oder in verschließbaren Kleidertaschen.Nur einmal hatte sie vergessen eine Anstecknadel von ihrer Kostum Jacke zu nehmen und schon hatte man ihr die Nadel, bei einem kleinen Zusammenstoß auf der Straße, mit „excuse Madam!“ weggenommen.Nach Paris, in andere Metropolen und überhaupt auf Reisen keine Wertgegenstände mitnehmen, war von da an die Parole. Doch bei jeder Reisegruppe, die sie später betreute, wurde eine Person bestohlen.In der Kantine des Gerichtsgebäudes konnten sie zu Mittag essen. Es gab nur zwei Gerichte und diese waren einfach und preiswert. Theodore kannte dieses Restaurant und es war interessant, die Richter in ihren schwarzen Roben und den weißen Frisuren, mit den Tabletts in der Schlange stehen zu sehen. Da waren die Herren Richter, nah am Volk.An diesem Tag, Theodore und Richard, ihre Reiseleiter hatten sich zur Mittagsruhe zurückgezogen, machte Lissy mit einigen Reiseteilnehmern einen Spaziergang entlang der Seine zum Eiffelturm, den man natürlich erklimmen muss oder mit dem Lift bewältigt. Schön bei strahlendem Sonnenschein, der Blick auf Paris. Zurück mit dem Motorboot, zur Insel.Lissy hatte einen Reiseführer, der sich die „Biografie einer Weltstadt“ nannte und einen Stadtführer zur Hand, dem sie sich schon während der Fahrt intensiv gewidmet hatte, und der ihr nun gute Dienste leistete.Sie war begeistert und tief beeindruckt. Hier lief alles zusammen, was sich in den vielen Jahrhunderten zugetragen hatte und es war ein Glück, dass die Stadt niemals zerstört wurde. So atmete sie in jedem Quartier, und durch Jahrhunderte, Geschichte.Müde und erschöpft ob der vielen Eindrücke, die sie an diesem Tag gewonnen hatte, und nach dem Touristenessen in einem Schnellrestaurant, wo Lissy ein Qroque Monsieur, in Form eines Spiegeleies auf Toast genossen hatte, sank Lissy in ihrem Zimmer des kleinen Familienhotels in tiefen Schlaf, um am nächsten Morgen, früh um sieben Uhr geweckt zu werden, weil Theodore und Richard im Café auf sie warteten.Auf einer Verkehrsinsel stehend, mitten im brausenden Morgenverkehr, erklärte Theodore den Plan für den zweiten Tag und stellte fest, dass ein Paar fehlte. So wurde Lissy beauftragt, die fehlenden Personen aufzufordern auf die Verkehrsinsel zu kommen um am täglichen Rundgang teilzunehmen, was sie dann auch tat, und die verloren gegangenen Schäfchen wieder der Gruppe zuführte.
Ursula von Kardorff, die Lissy später das Glück hatte kennen zu lernen, schrieb den Reiseführer „Richtig reisen“, und diesem Reiseführer verdankte sie, dass Paris zu einem großen Erlebnis für sie wurde.Alles was Theodor bei seinen vielen Parisaufenthalten und in jungen Jahren im Studium erlebt hatte nachzuvollziehen, wäre für Lissy unmöglich gewesen, ohne diese Erklärungen. Und so verabschiedete sie sich am ersten Tag ihrer alleinigen Reiseleitung für zwanzig Personen von Theodor, der mit seiner “Fortgeschrittenen-Gruppe“ nach Versailles wollte, und begab sich mit ihre Schützlingen auf den Weg.Der erste Spaziergang: „ Das Herz der Stadt!“ Das Warenhaus Sameritaine bot die erste Gelegenheit, Paris von oben zu betrachten. Mit einem altertümlichen Lift ging es in den obersten Stock und da hatte man Paris vor sich, mit allen Türmen und Plätzen. Ausgiebig betrachteten sie, die in Stein eingelassenen Erklärungen der wichtigsten Punkte und verglichen sie, mit den in ihren Reisebeschreibungen beschriebenen Stadtteilen, Kirchen, historischen Gebäuden und den sich vor ihnen ausbreitenden Straßen, Plätzen und Aleen. Es war ein erhebender Augenblick, Paris aus dieser Höhe zu betrachten. Sie machten ihre Bestimmungen der Stadtteile bis zum Stadtrand. „Da“…, sagte Lissy, „muss Mont Martre sein, mit der Kirche und dem alten Friedhof, auf welchem Heinrich Heine beerdigt ist.. .“Danach, das Sameritaine-Gebäude verlassend, liefen sie über die älteste Brücke von Paris, die über die Saine führt und sich kurioserweise Pont Neuf (Neue Brücke) nennt.Das Denkmal, des, seiner vielen Damengeschichten wegen, Vert Galan genannten Königs, Heinrich IV links liegenlassend sieht man unweit, den Eingang zum ersten Gefängnis von Paris, in welchem viele Verbrecher saßen so wie auch der Mörder des Heinrich IV und die Giftmischerin Brinvilliers. Hier lebt die Geschichte der Revolution, wo die Verurteilten ihren .letzten Gang gingen und 2600 Männer und Frauen das Schaffot besteigen mussten. Die schöne, junge Königin Marie-Antoniette, Tochter der berühmten Königin Maria Theresia, in Österreich verbrachte Ihre letzten Lebenstage in diesem entsetzlichen Gemäuer…Sie teilte das Schicksal vieler der adeligen Damen, die unter die Räder der Revolution geraten waren. Am Ende mussten sie, die gestern noch in den Gärten von Versailles gespielt hatten, ihren Kopf unter die Guilliotine legen, wie auch die schöne Königin, Marie-Antoinette, Königin von Frankreich. Sie starb diesen unwürdigen Tod wie viele Adelige, nach ihrem Ehemann König Ludwig XVI, der nach einem Schauprozess hingerichtet wurde. Kein Pardon! Es war eine Stätte des Grauens, zu welcher sensationslüsterne Weiber mit dem Strickstrumpf in der Hand, das grausame Spiel genossen und jubelten, wenn die Köpfe in den Sack rollten. Hier steht auch die erste öffentliche Uhr in Paris, die seit dem Jahr 1370 niemals aufgehört hat, zu schlagen, Ein Abstecher brachte Sie zur Passerelle Saint-Louis auf die Ile Saint Louis, in welcher edle Häuser aus dem achtzehnten Jahrhundert zu bewundern sind. In diesen Straßen und Plätzen wohnten viele berühmte Maler und Schriftsteller, wie der unstete Boudelaire.Ein Muss war die Rue de Rosiers, die Schlagader des Judenviertels vom Marais, und weiter die Straße des Feigenbaums.Ein Denkmal für entführte jüdische Mädchen, die später in Konzentrationslagern ums Leben gekommen waren, hat hier seinen Platz.Es gibt keinen Ort in Europa, in welchem die Nationalsozialisten die Menschen nicht zu Opfern gemacht hätten. Die Reiseteilnehmer waren, ob solcher grausamer Erinnerungen betroffen, aber die Schandtaten sind in Ewigkeit nicht auszuradieren.Das Schlimme ist, dass auch in anderen europäischen Ländern, aber auch in Amerika, Judenverfolgung durch aufgehetzte Menschen, immer noch stattfindet.„Warum hört das niemals auf“, klagte Lissy. Weiter durch das Juden Virtel gehend, sahen sie hier viele, schöne Lebensmittelläden und Bäckereien und auch Metzgereien, in welchen koscheres Fleisch angeboten wurde. „Die jüdische Küche ist eine sehr feine Küche“, sagte Lissy, die einige Male die Ehre hatte, bei jüdischen Familien eingeladen zu sein. Und weiter ging es zum Stadtpalais, Hotel des Sens, erbaut für die Erzbischöfe und später der Sitz der liebeslustigen, dicken Königin Margot, Gemahlin Heinrich IV.Zur Erholung tranken sie in der Bar am Boulevard Malherbes Nr. 5, La Factorerie, einen echten Daiquiri, (Rum gemischt mit Zitrone). Die kleine Erholungspause tat sichtlich wohl.Lissy sagte; „Das weckt die Lebensgeister, und…, wir müssen ja nicht Auto fahren! „Doch ein wenig können wir nach dieser Stärkung noch wandern“. Und so fuhren sie mit der Metro zum Rive-Gauche, (dem linken Ufer) und besuchten die Boukinisten, die dort ihre Waren, Zeitschiften und alte Bücher zum Verkauf anboten. Das war für die Reiseteilnehmer höchst interessant und sie sahen sich die Auslagen an.Da sie nichts kauften, machten sich die Boukinisten über sie lustig. Ein Sammler alter Bücher heißt Boukineur, wer nur-blättert heißt follillemerde (Scheißrumkramer) ein guter Verkäufer, heißt Coq (Hahn). Allerdings sind es doch fast immer Massenartikel, die verkauft werden. Früher boten die Händler ihre Waren auf der Brücke an, auf welcher auch in früheren Zeiten, einseitig mehrere Stockwerke hohe Häuser standen, in welchen im Parterre Geschäfte angesiedelt waren.So auch das Geschäft des Parfummachers, in welchem der junge Alchemist Jean Babtiste Grenuelle Parfum herstellte und hierzu die Haut junger Mädchen verwendete. Ein Mörder also, der das “Parfum des Lebens“ herstellte.Der Roman, “Das Parfum“, von Patrik Süßkind wurde weltberühmt…, verfilmt, und tausendfach verkauft.Es war später Nachmittag und die Reiseteilnehmer waren voll des Lobes für Lissys Führung, aber nun wollten sie in aller Ruhe einen Cafe trinken, oder zurück ins Hotel, um sich für das Abendessenvorzubereiten.Zwei Reiseteilnehmer wollten ins Cabaret…, ins Moulin Rouge.Lissy spürte auch eine gewisse Müdigkeit und nahm ein Taxi ins Hotel, wo sie sich einer ausgiebigen Dusche erfreute und ruhte.„Es war schön, mit den interessierten Leuten einen kleinen Teil der Stadt zu erleben“, dachte sie.Theodor und Richard waren mit ihren Reiseteilnehmern von ihrem Ausflug nach Marsaille zurück. Nach einer Ruhepause trafen sie wieder zueinander und verabredeten sich zum Abendessen. Unter munteren Wortspielereien machten sie zusammen einen kleinen Rundgang, “im Viertel“, das Lissy noch nicht kannte und suchten danach das neue Restaurant, das gegenüber ihrer Hotelpension lag, auf. Man bot Essen, ähnlich deutscher Küche, und ein französisches Menü mit mehreren Gängen an. Es war gut und frisch und zum Schluss gab es eine große Käseauswahl. Der trockene Weißwein mundete vorzüglich…„Es war ein schöner Tag“, sagte Lissy. „Bei strahlendem Sonnenschein und mit interessierten Leuten. Was will man mehr?“
Erwartungsvoll trafen sich am nächsten die Reiseteilnehmer mit Lissy, Theodor und Richard beim Frühstück in der kleinen Pension. Hier besprachen sie die Route für den Tag und es sollte sehr interessant werden.
Die Reiseteilnehmer fühlten sich inzwischen schon dem Gedränge in der Metro gewachsen, aber es war doch nicht zu vermeiden, dass einem Herrn die Geldbörse, die er gewohnheitsmäßig in der Hosentasche mit sich führte, gestohlen wurde. Mit ausdruckslosen Minen standen die Fahrtteilnehmer um ihn herum und er flüsterte: „mein Portemonaie ist weg!“ Da hatten alle Warnungen nichts genutzt und er musste es hinnehmen. Gut, dass seine Ehefrau einen Teil der Reisekasse mit sich führte, so war der Schaden nicht so groß.
Der Besuch im Louvre war für die Reisteilnehmer, welche zum ersten Mal in Paris waren, von großer Bedeutung. Schon der Treppenaufgang aus weißem Marmor mit der Statue „Venus von Samotrake“ versetzte die Reiseteilnehmer in Bewunderung und sie betraten den ersten Raum, ob der Größe und Ausstattung, erwartungsvoll.
Lissy wählte die große Galerie, in der man die Meister der Klassik, welche in Rom lebten wie Poussin, der heroische Landschaften, wie Orpheus und Euridike schuf, und Claude Lorrain, welcher dagegen dunstig goldenes Licht der untergehenden Sonne für das Werk „ Landung der Cleopatra auf Tarsos“, bevorzugte.
In dem ersten großen Saal, in welchem die Malkunst der großen Künstler der Vergangenheit, quer durch die Jahrhunderte zu bewundern sind, sahen sie die großen Werke des Michel Angelo, wie die berühmte Mona Liesa und Maria Selb Dritt.
Einer der Reiseteilnehmer, der vor einem der Gemälde, einem Akt, besonders lange in Bewunderung stand, frug: „ Warum ist der rechte Arm dieser Frau viel länger als der Linke?“ Worauf Theodore, der den Louvre wohl zum zwanzigsten Mal besuchte, antwortete: „So ein schöner Arm, kann gar nicht lang genug sein!“
Sie sahen an diesem Tag Werke von Tizian, Da Vinci und vielen anderen Malern, aus verschiedenen Perioden und In den Gängen der Nebenräume sahen sie spanische und französische Malkunst. Die Werke bedeutender Meister waren hier ausgestellt.
Einige der Reiseteilnehmer waren überaus begeistert und sagten, dass sie in den nächsten Tagen, dem Louvre einen weiteren Besuch abstatten wollten.
Nach einer kleinen Pause in den Louvre Gärten überquerten sie die Rue de Seine, um zur Kirche Seint-Germain-des-Pres zu gelangen, und Sie sahen das Cafe-des-deux-Margots, dem Treffpunkt der intelektuellen Elite der damaligen Zeit, und in der Nähe das Cafe de Flore, das Stammcafe von Sartre und Simone de Bovoire, wo sie im zweiten Weltkrieg ihre Bücher schrieben.
In der Nähe sahen sie ein Denkmal für Diderot und stoßen bald auf die berühmte Kirche Saint Sulpice. In dieser Kirche heiratete Heinrich Heine im Jahre 1840 seine Mathilde Crescentia Mirat, die er schon sechs Jahre kannte, und ihm auch während der Zeit seines Matratzenlagers die Treue hielt.
Auch Hemingway und seine Frau Pauline, so wie viele deutsche Schriftsteller, trafen sich in diesen Treffpunkten mit ihren vor den Nazis geflohenen Freunden.
Kunstmaler, Literaten und Schauspieler hatten hier eine neue Heimat gefunden.
Sie warfen einen Blick in das eiskalte Pantheon, in welchem Voltaire, Mirabeau und Russeau beerdigt wurden, aus dem jedoch Voltaire wieder von hier verbannt wurde, weil er als religionslos galt.
Rechts, an der Sorbonne vorbei, gelangten sie zum Studenten-Boulevard Seint-Michel.
Nun aber hatten sie sich eine Mittagspause verdient, denn seit sieben Uhr in der Frühe waren sie auf den Beinen. Sie nahmen in einem der vielen Straßencafes Platz und ließen den Publikumsverkehr an sich vorüber ziehen. Nach einer ausgiebigen Ruhepause mit frisch gebackenen kleinen Kuchen, gefüllt mit Früchten oder Frikassee, Käse oder Schinken, fühlten sie sich im Stande, zum Mont Martre aufzubrechen.
Begeistert von dem Anblick der Kirche auf dem Hügel, erstiegen sie die hohen weißen Marmortreppen, wo ihnen von dunkelhäutigen, jungen Männern Waren, auch Strohhüte angeboten wurde. Sie waren nicht aufdringlich und boten ihre Waren zu niedrigen Preisen an. Einige Besucher kauften einen solchen Strohhut.
Auf einer der weißen Bänke ruhten sie einen Moment aus, um einen Blick über die Türme der Kirchen und Regierungsgebäude der Stadt Paris zu werfen, und ihren Standort zu bestimmen.
Plötzlich jedoch entstand eine Unruhe unter den dunkelhäutigen Verkäufern und in Windeseile hatten sie ihre Waren eingepackt und waren verschwunden. Gleich darauf erschienen Polizisten, welche jedoch das Nachsehen hatten und keine Protokolle verhängen konnten. Später erfuhr Lissy, dass diese jungen Afrikaner ohne Aufenthaltsgenehmigung, im Dienste von farbigen Geschäftemachern mit dem Verkauf der Waren, für ein illegales Schlaflager und ein paar Sous, arbeiten mussten.
Leider hatte Lissy auf einer der Bänke ihre Sonnenbrille abgelegt, die jedoch, nachdem sie sich umgedreht hatte, sofort verschwunden war.
Sie erstiegen dann die Treppen, hinauf zur Kirche und genossen noch einmal den Anblick der Stadt Paris.
Der “Hügel“ bot eine Menge interessanter Begebenheiten.
Picasso hatte schon, sofern er Geld hatte, seiner üppigen Geliebten Fernande, im altmodischen Laden, Le Cochon rose, im rosa Schwein, Delikatessen gekauft. Hier lebten auch Apollinaire und Marie Laurencin, Braque und der Dichter Max Jacob.
Sie gingen zum Place du Tertre, auf welchem an die zweihundert Maler versuchten, ihre Werke zu verkaufen.
In einem der Gartencafes nahmen sie Platz und besonders erfreut waren die männlichen Teilnehmer des Ausflugs, als sie halb Liter Gläser, kaltes Bier, erstehen konnten. Auch Lissy ließ es sich nicht nehmen, dieses gute Getränk, bei Sonnenschein, zu genießen.
So gestärkt, nach dieser Pause, gingen sie hinunter zum Friedhof Mont Martre, auf welchem Heinrich Heine beerdigt ist. An seinem Grab legten sie einen Blumenkranz nieder, den sie in der Gärtnerei erstanden hatten und legten eine Minute der Stille ein, um seiner zu gedenken. Einer der Reiseteilnehmer hatte eine Kranzschleife mit einer Widmung des Heimatvereins mitgebracht, um das Grab des aus Lissis Heimatstadt Düsseldorf stammenden deutschen Dichters zu schmücken.
Die Gedenkschrift auf seinem Grabstein lautet: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, so bin ich um den Schlaf gebracht.
Die Reiseteilnehmer waren beeindruckt von diesem alten Friedhof, auf welchem viele Künstler und Literaten, aber auch Politiker beerdigt wurden.
Auf den von der Sonne erwärmten, marmornen Grabsteinen schliefen Katzen. Weiße, schwarze und bunte aller Größen. Es war ein Bild des Friedens.
Sie wollten jedoch noch einmal den „Hügel“ besuchen um die vielen, in den fünfziger Jahren noch erhaltenen, traditionellen Besonderheiten, wie den kleinen Weingarten, und das winzige Haus, La Maison Rose, oder das Kabaret Lapin Agile zu sehen.
Sie erfuhren auch, dass der Name Mont Martre auf den heiligen Denisius zurückzuführen ist. Der Martyrer soll um seines Glaubens Willen enthauptet worden, und mit dem Kopf im Arm bis zur Vorstadt St. Denis gegangen sein. Aus diesem Grunde soll der Name Mont Martyr, Märtirer Berg entstanden sein.
Unterhalb dieser Kirche, entstand in der Abtei von Mont Martre, der Jesuitenorden, der von Loyola 1534, gegründet wurde.
Nun, voll der Eindrücke, fuhren die Reiseteilnehmer mit der nun, am späten Nachmittag, total überladenen Metro, zurück zum Hotel, wo sie mit Theodore und Richard, eine Verabredung zum Abendessen trafen.
Heute haben wir uns das Gläschen Wein und ein gutes Abendessen verdient, sagten sie.
Paris war für die Reiseteilnehmer ein faszinierendes Erlebnis. Schon fürchteten sie, dass die Zeit nicht ausreichen würde, um alles, was sie in ihren Reiseprospekten lasen, verwirklichen zu können und Lissy sagte, dass dies wohl auch nicht möglich sein würde.
An diesem Tag jedoch, übernahm Theodor, der sich Lissys Gruppe angeschlossen hatte, die Begleitung, weil ihn das geschichtliche Paris besonders interessierte und er die größeren Kenntnisse hatte. Für Lissy war dies von großem Vorteil, gab es doch vieles, das für sie von großem Interesse war.
Paris, das die Römer auf den Namen Lutetia getauft hatten, feierte im Jahre 1951 seinen 2000 Geburtstag. Der Ursprungsort ist die befestigte Insel La Cite mit der ersten, der Galloromanischen Mauer am linken Ufer. Hier hatte sich zu der Zeit ein Wissenszentrum mit Gelehrten und 20000 Scholaren ausgebreitet.
Theodore sprach noch kurz über die englische Besatzungszeit, unter der die Stadt Paris von 1408 bis 1437 litt und die auch durch Jeanne d‘arc nicht befreiet werden konnte.
Auch schilderte er die schreckliche Bartolomäusnacht und sprach über den “Guten König“ Heinrich IV, der jedoch 1610 von Ravillac ermordet wurde. Das Leben war nicht viel Wert.
Richelieu gründete 1635 die Academie Francaise und baute sich sein Schloss, später das sogenannte Palais Royal, das Lissy mit den Reiseteilnehmern besichtigte. Sehr interessant der Innenhof, in welchem zu gewissen Zeiten Damen mit Krinolinen und Männer mit Allongeperücken auftraten, aber auch Prostituierte gefallsüchtig flanierten.
Der Sonnenkönig war mit seinen Edelleuten nach Versailles gezogen, doch im schlimmen „Cour des Miracles“, dem Hallenhof, trieb sich Gesindel herum. Diebe und Mörder machten sich breit. Bei den Hallen, dem Verbrecherhof, wurden 5000 Diebe, Dirnen, Bettler und Kriminelle mit einem Schlag verhaftet.
Ludwig IV errichtete für die durch die vielen Kriege und Auseinandersetzungen blessierten Soldaten das Hotel des Invalides mit dem Dom. Im Hof dieses Gebäudes erklärte Lissy den Reiseteilnehmern die Geschichte des Invalidendomes. Dieses Gebäude ist die zweitgrößte Attraktion in Paris, nach dem Eiffelturm.
Hier ist auch ein Museum über Napoleons Zeit eingerichtet, in welchem sein Schimmel präpariert, in Lebensgröße dargestellt ist.
Napoleons Sarg befindet sich in der großen, offenen, tiefen Gruft welche von oben einzusehen ist.
Die Reiseteilnehmer waren beeindruckt von dem riesigen Innenhof, in welchem auch heute noch, Ehrungen für Kriegsteilnehmer vorgenommen werden.
Nicht weit von hier ist das Museum Auguste Rodin, der ehemalige Palast des Marschalls Biron, mit dem Atelier Rodins. Immer und immer wieder nahm Lissy die Kunst dieses Bildhauers gefangen, dessen Werk „Der Denker“, vor dem Eingang des Museums, zu bewundern ist. Ein wundervoller Skulpturenpark, in dem angeschlossenen Garten, lädt hinter dem Museum zur Entspannung ein.
Beeindruckt war Lissy auch von den wundervollen Arbeiten seiner Geliebten Camille Claudel, der Bildhauerin, deren Werk “Frauen am Brunnen“ und andere Arbeiten von beeindruckender Schönheit sind.
Man sagt, dass Sie unsäglich darunter gelitten habe, dass Rodin sie habe fallen lassen und sie aus diesem Grunde dem Alkohol verfiel und ihren Verstand verlor, jedoch gibt es auch die andere Version, die besagt, dass die begabte Bildhauerin einer Krankheit zum Opfer fiel.
Sie, die dreißig Jahre jünger war als Rodin, soll in geistiger Umnachtung, Alkoholsucht und Esslust ihre äußere Ansehnlichkeit verloren, und weder durch ihre Mutter noch den Bruder Verständnis und Liebe erhalten haben. Nach Ausbruch ihrer Erkrankung hatte sie, die wundervolle Werke geschaffen hatte, nicht mehr gearbeitet.
Das Viertel, der Faubourg St. Germain, noch immer das Viertel der Reichen und Adeligen beeindruckt mit den in den fünziger Jahren, teilweise restaurierten Palästen. Hier pflegte man noch eine Art von Widerstand gegen die die Pariser Zentrale.
Während man dort, jeden 21. Januar, den Jahrestag der Hinrichtung Ludwig des XVI feierte, erloschen in den Adelspalästen sämtliche Lampen. Am 14. Juli, wenn sich die Teilnehmer der Aufmärsche ihrem Siegesrausch hingaben, ließ man in den Palästen von St. Germain, nun „Hotels“ genannt, die Jalousien herunter.
Das Prokop, in der Rue L’Ancienne Commedi, 1686 gegründet, war wieder zu einem Treffpunkt der Literaten geworden. Diderot, Voltaire, Baumarchais und in der Revolution Danton, waren Gäste dieses Etablessements gewesen.
Nachdem die Reise Teilnehmer auch in diese Restaurants, die nunmehr allerdings mehr dem Tourismus gehobenen Stils dienten, einen Blick geworfen, eine Kleinigkeit gegessen und ein Glas “Roten“ getrunken hatten, machten sie sich auf, zu neuen Taten.
Sie schlenderten durch den Park und ließen sich auf den Bänken nieder, um den Publikumsverkehr an sich vorüber ziehen zu lassen. Ein riesengroßer Brunnen sandte eine Kaskade Wasser über einen Teich, an dessen Ufer Kinder ihre Boote schwimmen ließen.
Ein altes Kirmeskarussel drehte sich mit Pferdchen und Kutschen im Kreis, und einige Kinder ließen sich mit Musik in eine Märchenwelt versetzen.
Sie hatten nun schon einige Tage in der Stadt Paris verbracht und die Reise neigte sich dem Ende zu. Die Reiseteilnehmer waren voll der Eindrücke. Lissy sagte, Sie sollten aufschreiben, was sie in den nächsten Tagen zu sehen wünschten. Man würde dann das Los entscheiden lassen. Vielleicht sollte man das Mulin Rouge aufsuchen oder in ein Kabarett gehen. Vielleicht auch einen Spaziergang am Seineufer machen
An diesem Abend jedoch, wollten die Teilnehmer, jeder für sich, zum Abendessen gehen. Sie suchten das Abenteuer… und Lissy war gespannt, was sie am nächsten Tag berichten würden.
Lissy jedoch machte sich auf, um für sich, Theodor und dessen Vetter Richard Karten für die Oper zu erstehen, was ihr auch trotz des späten Zeitraums gelang. Studenten verdienten sich ein Zubrot, indem sie zu einem frühen Zeitraum Karten besorgten, die sie später an Theaterbesucher zu einem höheren Preis, verkauften.
So kamen sie in den Genuss der Oper Cosi van Tutte von Mozart in deutscher Sprache. Gleichzeitig sahen sie den Direktor des Opernhauses, der mit Gästen, welche in Abendgarderobe gekleidet waren, anwesend war.
Lissy, Theodor und Richard waren, wenn auch nicht in Abendgarderobe, so doch für diesen Abend, ebenfalls entsprechend gekleidet.
Lissy wunderte sich, dass es selbst in diesem traditionellen Opernhaus, keine Kleider Vorschriften mehr gab. So waren Jeans, kurze Hosen. Sandalen und Miniröcke über dicken Popos, wie auch Abendgardelobe, nebeneinander zu sehen.
Als Lissy siebzehn Jahre alt war, hatten Herren, obwohl es im Krieg war, in Abendgarderobe zu erscheinen. Bestenfalls war Uniform erlaubt, aber das Lohnte sich nur, wenn man einen höheren Rangt bekleidete.
Zigaretten rauchte man in langen, silbernen Spitzen und zündete diese, aber auch Zigarren, stilvoll mit Fidibussen oder edlen Feuerzeugen an. Ein beliebtes Geschenk für Herren waren silberne Zigarettenetuis.
Dies alles, während die Soldaten in Russland und Frankreich qualvoll starben, oder verwundet wurden. Aber Soldaten, die in Urlaub waren, freuten sich in eleganter Kleidung zu erscheinen. Offiziere trugen dann ihre Ausgehuniformen, wobei mancher sogar mit Schleppsäbel erschienen, was ja eigentlich nicht stilvoll war.
Theodore erzählte, dass er und sein Vetter Richard während ihres Studiums in Wien, als Comparsen gearbeitet hätten, um sich so ein Zubrot zu verschaffen, damit sie einmal im Monat in einem eleganten Cafe, oder Restaurant, eine kleine Mahlzeit genießen konnten.
„Dabei sein ist alles“, sagten sie.
Am vorletzten Tag der Parisreise besuchten sie auf Theodores Vorschlag das Museum Carnevalet, das Pariser historische Stadtmuseum, ein Muss für Paris Kenner.
Das wundervolle Marais-Palais mit zierlichen Innenhöfen. Objekte aus der französischen Revolution, wie auch die Möbel der königlichen Familie wurden hier aufbewahrt, während sie auf ihren Tod auf dem Schafott warteten. Eine schreckliche Vorstellung…
Zum Schluss besuchten sie den Aussichtspunkt Tour Mont-Parnass, das 210m hohe, zweitgrößte Gebäude in Paris.
Hier hatte man eine großartige Übersicht in allen Himmelrichtungen, über die wundervolle, aufregende Stadt.
Sie waren nun kurz vor der Jahrhundertwende. Was war alles in den neunziger Jahren, des zwanzigsten Jahrhunderts geschehen? Es war eine dramatische Zeit!
Helmut Kohl, ein außergewöhnlicher Politiker, der von 1982 – 1998 Bundeskanzler war, gelang es, die Einheit zwischen Ost- und Westdeutschland herzustellen.
“Die Ära Kohl“
In einem Fernsehinterview machte Helmut Kohl sich bekannt, bevor er den Kampf um die Kanzlerschaft begann. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte man von seiner familiären Situation nur wenig erfahren. Die junge und schöne Ehefrau, politisch interessiert und durch ein Studium für die Rolle der Grand Dame der Republik bestens ausgestattet, wurde von Helmut Kohl allerdings in sehr zurückhaltender Weise vorgestellt. Es hatte den Anschein, als wolle er als Ehemann allen Glanz für sich alleine genießen.
Man sah seine Ehefrau nur in Verbindung mit den beiden Söhnen, welche zu diesem Zeitpunkt noch im Kindesalter waren, und nur im heimischen Garten oder auf einem Spaziergang ließ Helmut Kohl Fotos zu.
Helmut Kohl, sozusagen ein Machtmensch, hielt die Fäden in der Hand. Er nutzte die Gunst der Stunde, denn die Zeit war reif, für die wohl aufregendste, politische Handlung unter seiner Kanzlerschaft:
Die Vereinigung der BRD (Bundesrepublik Deutschland) mit der DDR (Deutsche Demokratische Republik).
Der Slogan „Unsere Brüder und Schwestern“ war „In“… und wurde von allen Politikern oft und gern genutzt und „Unsere Brüder und Schwestern“, hatten mit ihrer friedlichen Demonstration und mit Hilfe des Politikers Gorbatschow letztendlich die Vereinigung der DDR mit der BRD bewirkt. Helmut Kohl war es vergönnt, die Stunde auszunutzen, was ihm auch trefflich gelang.
Die DDR – Diktatur war gestürzt…! Wer hätte das je gedacht?
Es war eine außergewöhnliche, dramatische Zeit…
Die DDR-Bürger hatten die Stunde genutzt. Sie hatten den Aufstand geprobt und sie gewannen, ohne Waffen…
Wo hatte es das je gegeben?
Lissy verfolgte über Wochen die politischen Ereignisse und letztendlich sah man im Fernsehen, wie die DDR-Bürger die „Mauer“ und die Grenzstationen stürmten.
Für manche DDR-Bürger war die Umstellung in den Lebensweisen und Ansichten schwierig, denn sie hatten über Generationen hinweg keine Freiheit kennengelernt.
Die Nazizeit konnte nicht darüber hinweg täuschen, dass auch die Bundesbürger, bis zur Einheit der BRD, niemals wirkliche Freiheit kennengelernt hatten.
In Westdeutschland waren es Adel, Hochadel, hohes Militär, der Geldadel und Politiker, welche das Geschick der Bürger geleitet hatten. Und Demokratie musste auch in der BRD erst erlernt werden.
Lissy war sehr glücklich, dass die Einheit vollzogen werden konnte.
„Endlich frei von der Sowjetdiktatur! Hoffentlich bleibt es so!“, sagte sie. Und sie verfolgte, wie gehabt, aufmerksam die weiteren Geschehnisse in der nun größeren Bundesrepublik.
Durch einen Spendenskandal um Bundeskanzler Helmut Kohl wurde die junge Demokratie aufgeschreckt.
Wie war es möglich, dass ein deutscher Bundeskanzler in eine so herabwürdigende Sache verstrickt sein konnte? Zwei Millionen Spendengelder hatte Helmut Kohl für Spenden von einem anonymen Geldgeber angenommen und auf Geheimkonten angelegt.
Diese Aktion hatte seinem Ansehen sehr geschadet. Er hatte sich selbst in eine Zwickmühle gebracht, denn er hatte einem Geldgeber das Versprechen gegeben, Anonymität zu wahren. Es war ein großer Skandal, doch konnte all dies nicht verhindern, dass er einer der am längsten amtierenden Bundeskanzler wurde. Seine Kanzlerschaft dauerte bis zum Anfang des Jahre 2000.
Im Jahr 2000 wurde Gerhard Schröder Bundeskanzler. Er, ein außergewöhnlich intelligenter Mann, aus kleinsten Verhältnissen stammend, hatte es dank seiner Flexibilität, seiner Intelligenz und nicht zuletzt seines guten Aussehens wegen geschafft, in relativ jungen Jahren, Bundeskanzler zu werden.
Mehrfach verheiratet und geschieden, nun aber mit Doris Köpf, einer jungen Politikerin, Mutter eines Kleinkindes, machte er den Eindruck eines glücklichen Mannes, der seine junge Frau in seine politischen Aktivitäten einbezog.
Seiner Offenheit wegen, aus kleinsten Verhältnissen stammend und dies nicht verschweigend, hatte er den Zuspruch vieler Bürger und Bürgerinnen. Er erklärte, dass seine Mutter ihn im Studium als Putzfrau unterstützt habe und scheute sich nicht, diese tapfere Frau, Witwe eines Kriegsvermissten, in der Öffentlichkeit zu beglückwünschen und zu umarmen, als sie ihren neunzigsten Geburtstag feierte.
Gerhard Schröder hatte selbst keine Kinder, adoptierte jedoch später zwei russische Kleinkinder, die seine Frau Doris liebevoll, neben ihrer eigenen Tochter, die sie mit in die Ehe gebracht hatte, aufzog.
Neben ihrem guten Aussehen machte ihr freundliches Wesen und ihre Intelligenz sie zu einer angenehmen Grand Dame.
Gerhard Schröders Freundschaft mit Wladimir Putin, dem russischen Präsidenten, brachte ihm keine Freunde in der politischen Gesellschaft Deutschlands. Er jedoch sagte, dass er die Politik aus dem Spiel ließe und befreundet sein könne, mit wem er wolle.
Gerhard Schröder besuchte den russischen Präsidenten und ließ sich mit ihm während eines Freundschaftsbesuches fotografieren, obwohl man sagte, dass ihm und Deutschland diese Freundschaft schade, aber er ließ sich durch solche Sprüche nicht beeinflussen.
In den neunziger Jahren wurde Johannes Rau, SPD, aus Düsseldorf stammend, deutscher Bundespräsident. Johannes Rau war sehr beliebt. Ein sehr natürlich wirkender Mensch, bekennender Katholik, der mit seiner Ehefrau und den Kindern im Nordpark spazieren ging und sich um Gerede nicht kümmerte.
Bill Clinton beendete seine Präsidentenkarriere, und George W. Bush wurde Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika.
Im Jahr 2000 wurde der FC Bayern München, Deutscher Meister.
Michael Schumacher wurde als Deutscher Formel 1 Sieger.
Die Nation war stolz auf alle diese Erfolge. Ein Glück, dass man alles am Fernsehgerät verfolgen konnte. Wenn man auch nicht selbst zu den Veranstaltungen fahren konnte…, Man war dabei…
Lissy machte einige Auslandreisen, immer auch mit Zelt und entsprechenden Utensilien versorgt, falls kein entsprechendes Hotelzimmer zu bekommen war. So war sie frei wie ein Vogel, wie sie es sich immer gewünscht hatte.
Besonders angenehm war dies in der Camargue oder im Langedogue.
Wenn Lissy wieder zu Hause war, hatte sie Anregungen für ihre Keramikarbeiten und auch für Aquarellmalerei und freute sich, wenn Tim und Jorgi sie besuchten. Dann gab es viel zu erzählen, und manches Fläschchen Wein wurde „geköpft“….
Sie waren sich immer nahe, denn viele Telefonate gingen hin und her, wenngleich Lissy selten bei den Söhnen anrief. Sie wusste, dass Söhne nicht jeden Tag konfrontiert werden wollten und überließ es ihnen. Sie freute sich, dass Tim und Jorgi jedes Jahr das Weihnachtsfest, sowie auch Ostern oder Pfingsten mit ihr verbrachten. Dies waren Sternstunden für sie.
Lissy vermisste Freundschaften, aber da sie nicht mehr in Düsseldorf wohnte, kam es seltener zu Besuchen. Es ist ein Unterschied, ob man zusammen in einer Stadt wohnt, oder zweihundert Kilometer und mehr zu zurückzulegen sind, denn Tim hatte fast 500 Kilometer zu bewältigen.
Immer noch hielt Lissy die kleinen Schlafzimmer, mit den vielen Büchern aus der Kinder- und Jugendzeit bereit und oft fand sie ein aufgeschlagenes Buch, in dem sie vor dem Einschlafen gelesen hatten. Das rührte sie sehr, denn das sagte ihr, dass sie ihre Jugendzeit als schön empfunden hatten und hier in Lissys Waldhaus Entspannung fanden. Was kann man erwachsenen Männern mehr mitgeben, als diese Erinnerungen…?
Theaterbesuche machte Lissy in Koblenz, was jedoch nur mit einem besonderen Zeitaufwand zu bewältigen war, weil die Theaterbesucher aus den verschiedensten Orten zusammengeholt werden mussten. Ein Theaterbesuch erforderte meistens sechs Stunden und mehr. Glatteis im Winter war möglich. In ihrer Heimatstadt Düsseldorf hatte sie, selbst in den Kriegsjahren, jeden Monat Schauspiel oder Oper erlebt. Nun aber, in der Natur lebend, fern aller kulturellen Einrichtungen fand sie gute Beiträge, aber auch Unterhaltsames im Fernsehen, während sie ihre Keramiken fertigte. Oft hörte sie Musik. Nie in ihrem Leben, hatte Lissy Langeweile empfunden. Entspannung fand sie in ihrer Bücherwelt.
Nun ja…, es wurde nicht gesegelt, aber das Schiff Europa brachte Lissy zu den weit entferntesten Stränden. Lissy schenkte sich diese Reise, vielleicht ihre letzte, große Reise, zum Geburtstag. Einmal noch eine große Schiffreise um die halbe Welt… Darauf freute sich Lissy sehr. Im Herbst sollte sie die Europa die Reise antreten.
Einige Wochen Krankenhausaufenthalt, nach einer schweren Operation, hatte Lissy durchgestanden, und war nun auf dem Wege der Besserung. Danach hatte sie über einen gewissen Zeitraum eine Depression gefangen gehalten.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie solche Zustände für sich nicht für möglich gehalten, doch nun war sie eines Besseren belehrt worden und konnte Freundinnen, welche klagten, aber auch Männer, die meist nicht klagten, besser verstehen.
War es die Trennung von ihren Söhnen, der Verlust der geliebten Mutter, oder die durch die Krankheit verursachte Schwäche? Sie fand keine Erklärung für diesen Zustand, denn es ging ihr gut. Kein Ärger, kein Frust, doch eine unerklärliche Traurigkeit machte sich breit. Nach der Veränderung ihrer Lebensverhältnisse und Lothars Tod war sie ähnlichen Stimmungen unterworfen gewesen.
Nun aber ging es wieder bergauf. Sie genoss ihren Alltag und die täglichen Anrufe ihrer Söhne, deren Hilfe sie während der schweren Erkrankung gewiss sein konnte.
Jorgy, nunGeorge unterstützte sie als Arzt und gab ihr Halt und Tim verwöhnte sie mit Anrufen und Blumen. So war sie trotz der Erkrankung glücklich, wenn sie ihre Stimmen hörte, und freute sich über ihre häufigen Besuche,
Nach langem Krankenhausaufenthalt wieder zu Hause, kümmerte sie sich um den Verkauf ihrer Keramiken und begann mit neuen Kreationen. Der Alltag hatte sie wieder!
Es war der 11. September 2001, als Lissy wie immer um 8 Uhr 50 das Fernsehgerät einschaltete, um Nachrichten zu hören. Sie genoss es, morgens im Bett, die erste Tasse Kaffee zu trinken. Nicht immer war ihr dies Vergnügen vergönnt gewesen, aber nun im Rentenalter, allein lebend, konnte sie über ihre Zeit verfügen.
Sie war ein Nachtmensch und ihre Keramiken oder Bilder waren auch früher oft erst in den Abendstunden oder in der Nacht entstanden.
Alleinlebend und niemandem verpflichtet, konnte sie ihre Zeit einteilen wie sie wollte. Also lebte sie in absoluter Freiheit… Ein wunderbarer Zustand.
Morgens sah sie zuerst deutsche Nachrichten und auch die Berichte aus New York. Es war ein gutes Gefühl, teilhaben zu können am Geschehen in der Welt, und der Metropole New York galt ihr besonderes Interesse. Diesen Genuss ließ sie sich nicht entgehen!
Doch an diesem Morgen war alles anders.
Kaum hatte sie den Sender eingeschaltet, sah sie, wie ein Flugzeug in einen der Zwillingstürme des World Trade Centers einschlug.
Just in die Türme, vor denen sie und Tim gestanden hatten, als sie zusammen in New York waren. Der erste Gedanke war, dass dies ein Film sei. Ein grausiges Geschehen, das sie noch lange beschäftigen würde. Die Rauchsäulen stiegen in den Himmel und dann dachte sie, es hätte etwas mit einer Atombombe zu tun.
Schwarzer und grauer Rauch stieg auf, und Flammen schlugen aus einem der Türme. Grauenhaft war der Anblick, der sich aus den Fenstern stürzenden Menschen. Doch nicht genug der furchtbaren Bilder. Ein weiteres Flugzeug flog heran und stürzte sich in den zweiten Zwillingsturm, und die in Feuer und Rauchsäulen herabfallenden Betonteile ergossen sich wie flüssiges Metall in die Tiefe.
Mitten darin, auch hier, Flugzeugteile und menschliche Gestalten.
Die Zwillingstürme waren ein Anziehungspunkt für New York Besucher, und so filmten diese die interessanten Türme während des Anschlags und sahen, wie sich dieses Unheil vollzog. Sie sagten später, dass sie es in dem Moment nicht hätten nachvollziehen können, was dort geschah.
Als man es begriff, standen die Türme in hellen Flammen und rotglühende Asche sprühte in alle Richtungen. Es waren normale Verkehrsflugzeuge, die mit ihrer tödlichen Fracht auf die Türme stürzten und Passagiere erlebten ihren Tod in den Flammen der Explosion.
Schreiende Menschen stürzten sich aus den Fenstern der Türme oder wurden hinausgeschleudert.
„Nicht genug des grausamen Spiels“!, sagte der Redakteur mit brechender Stimme. Er habe gehört, dass ein weiteres Flugzeug sich dem Pentagon nähere, um dort Bomben abzuwerfen.
Weil ein viertes Flugzeug abstürzte, wurde der Plan, das Weiße Haus zu vernichten, unterbunden.
Ein solcher Terrorakt war einmalig in der Weltgeschichte. Unfassbar…!
Kurze Zeit später erhielt Lissy mehrere Anrufe von Tim, Jorgi und Freunden, die mit ihr über dieses schreckliche Geschehen reden wollten.
Jahrzehnte später, als sie dieses furchtbare Ereignis in diesem, ihrem zweiten Buch, „Das Leben der kleinen Leute“ beschrieb, war ihr das entsetzliche Geschehen, bei dem fast dreitausend Menschen den Tod fanden, wieder sehr nahe.
Die armen Menschen, die dieses Schicksal erleiden mussten und die Angehörigen, die ihre Kinder, Partner und Freunde, auf diese entsetzliche Weise verloren…
Wie schön war der Tag, und wie erhebend war der Anblick der Gebäude gewesen, als Tim und Lissy, nach der Besichtigung der Freiheitsstatue, die hoch aufragenden Türme, in denen sie mit dem Fahrstuhl bis zum Top gefahren waren, bewundern konnten.
Nun waren sie noch Schutt und Asche.
George Bush, der damalige amerikanische Präsident, Initiator seines Racheaktes, hatte es den Verbrechern heimzahlen wollen, aber sein blutiger Rachefeldzug in Afghanistan, forderte Opfer über Opfer auf beiden Seiten. Nichts wurde im Endeffekt erreicht! Wieder waren es zahlreiche Zivilisten, Männer, Frauen und Kinder und Soldaten aller möglichen Nationalitäten, die ihr Leben ließen.
Und immer wieder fanden Bombenattentate statt und die blutigen Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Gruppierungen fanden kein Ende. Nun war Jeder eines Jeden Feind und Blut floss auf allen Seiten. Das Morden wollte kein Ende nehmen.
Jahre später jedoch, würden sich neue Türme zum Himmel erheben.
George Bush hatte den Wahnsinnskrieg in Afghanistan nicht erfolgreich zu Ende geführt.
Er fürchtete sein Amt als Präsident der vereinigten Staaten niederlegen zu müssen, hätte er den mit solchem Aufwand begonnenen Vergeltungskampf sieglos beendet.
So dümpelte das Kriegsgeschehen in Afghanistan dahin. Weitere Kriegsbeteiligte Soldaten auf allen Seiten und Opfer in der Zivilbevölkerung waren das Ergebnis dieser zögerlichen Haltung des amerikanischen Präsidenten George Bush
Das entstandene Chaos überließ er seinem Nachfolger Barack Obama.
Der Neue, zum ersten Mal war es ein farbiger Präsident, Barack Obama, Hoffnungsträger für ein modernes Amerika, sollte an die Macht kommen.
Er hatte eine Menge Freunde, aber auch eine Menge Feinde und seine Hautfarbe sollte ihm nicht zum Vorteil gereichen. Er nahm sich viel zur Verbesserung der Lage seiner ärmeren Landsleute vor, aber das war nicht im Sinne der Konservativen. Den Krieg in Afghanistan, den George Bush dem neuen Präsidenten hinterlassen hatte, musste dieser nun beenden, sollte nicht noch mehr Blut fließen und noch mehr Zerstörung angerichtet werden.
Hatte er zu früh, den blutigen Kampf beendet? Das Morden nahm kein Ende. Afghanistan blieb ein Hexenkessel. Tausende amerikanische Soldaten, Millionen Afghanen, Soldaten und deren Befreundete, verloren ihr Leben.
Die Zerstörung der Türme in New York, dieses unsägliche Verbrechen, konnte nicht gerächt werden.
Wieder waren es die Soldaten und die unschuldigen Bürger, die die Zeche bezahlten.
Tag der Veröffentlichung: 09.04.2012
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