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Das Mädchen mit dem Stern


Es war ein sonniger Tag als ich das Telegrafenamt verließ und ich atmete auf! Hunderte Telegramme waren durch meine Hände gegangen!
Im Jahre1943 meist traurige Nachrichten, die da ausgetauscht wurden, wenn auch hier und da Glückwunschtelegramme darunter waren.
In der Nacht waren Bomberverbände über Düsseldorf hinweg geflogen, aber der Angriff galt an diesem Tag nicht der Stadt Düsseldorf.

Mit einem “Heil Hitler!” hatte ich mich von meiner Oberaufsicht verabschiedet, worauf sie großen Wert legte. Wie ich das hasste…

Doch nun war ich froh, nach Hause fahren zu können, denn unser Haus war bis zu der Zeit bewohnbar geblieben, wenn wir auch die Fenster mit Brettern zugenagelt hatten, weil durch den Luftdruck, einer in der Nähe gefallenen Luftmine, die Glasscheiben zerbrochen waren.

Ich stieg in die Linie 17, die vom Adolf-Hitler-Platz, direkt bis zu meiner Haltestelle - Hansaallee - Stahlwerk Krieger - führte, und diese Haltestelle sollte für mich in Zukunft ein Ort der besonderen Erinnerung werden.

Ich stieg, wie immer, auf den hinteren Perron, weil ich hier, am Ende des Wagens, einen Blick auf die verschwindende Stadt hatte und träumte davon, irgendwann mit einem Zug in eine Welt ohne Krieg und Zerstörung, ohne Bunkerleben und Großalarm, wie von Geisterhand gelenkt, verschwinden könne, um ein ganz anderes Leben zu führen.

Jung genug, mit siebzehn Jahren, war ich durch Träume geschützt und auch das “Heil Hitler” des Schaffners konnte mir nichts anhaben, als ich auf die Stange, die sich in der Mitte des Perrons befand, zutrat, und meine Hand neben die eines jungen Mädchens legte, das sich ebenso wie ich, einen Halt in dem rumpelnden Kasten gesucht hatte.

Vor meinen Augen langes blondes Haar, das sich in weichen Wellen auf die Schultern des Mädchens legte, das mir den Rücken zuwandte.
So sieht es bei mir auch aus, dachte ich, denn auch ich hatte langes, blondes Haar, das von meinen Sportfreunden sehr bewundert wurde. Mit ihnen traf ich mich fast jeden Abend, entweder auf dem Sportplatz oder in der Turnhalle, und mit Siebzehn fühlt man sich, selbst in “solchen Zeiten”, als etwas ganz Besonderes und voll von jugendlicher Kraft, auch wenn die Welt ihr hässlichstes Gesicht zeigt.

Träumereien waren es, die mich und meine Mutter hoffnungsvoll am Leben hielten. Trotz allen Elendes, dem Bombenterror und der Lebensmittelknappheit. Mit Humor und Satiere versuchten wir den Krieg zu überstehen, wenn es auch eine Art von “Galgenhumor” war.

So stieg ich nun, froh einen Tag frei zu haben, voller Optimismus, in die Straßenbahn. Mir fiel auf, dass einige Fahrteilnehmer eng gepresst an den Wänden des Perrons standen und auf ihre Füße, oder nach Draußen starrten.

Ich schwang, spielerisch und lächelnd, jedoch misstrauisch von einigen der Mitfahrenden beobachtet, etwas um die Stange herum, um das Mädchen von vorne zu sehen, doch dann sah ich es…!
Mein Lächeln erstarrte und machte einem aufmerksamen Blick Platz, als ich dieses “Ding” sah…

Das schöne blonde Mädchen trug an der hellblauen Jacke einen großen, hässlichen, gelben Stern. Schwarz umrandet! In der Mitte stand - “JUDE” Einen solchen Stern hatte ich noch nie an einem Menschen gesehen, denn ich hatte noch nie einen Juden oder eine Jüdin kennen gelernt. Ich wusste, dass es den “Judenstern” gab und welche Auswirkungen es hatte, wenn man mit diesem schrecklichen Symbol gezeichnet war. Hinter der “hohlen Hand” wurde erzählt, dass die Juden nach Polen ausgesiedelt würden, weil sie unarisch seien und unsere “Rasse” verunreinigen würden.

Das Mädchen weinte still und ich hatte noch nie ein so trauriges und hoffnungsloses Gesicht gesehen. Sie hatte mein ganzes Mitgefühl.
In dem Augenblick hätte ich am liebsten diese blöden, sturen Leute, die da an den Wänden des Perrons standen, beschimpft. Hier half mir die Erziehung, denn meine Mutter hatte mir beigebracht, dass vorschnelles Reden und Handeln immer zu Misserfolgen führen würde. Es sei denn, man könne Schlimmes durch Warnung verhindern.

Doch war ich fassungslos und wütend über diese mitleidlosen Menschen, von denen ich einige kannte. Sie taten bei den sonntäglichen Kirchenbesuchen besonders fromm und scheinheilig, diese Feiglinge, diese “Volksgenossen!”

Aber die Liebe bleibt, dachte ich sarkastisch… “Frei nach Paulus…!”

Diese schöne, junge Frau fühlte sich wie ein Aussätzige, vor der man sich ekelte.

Als die Figuren an den Wänden wahrnahmen, dass ich mit diesem jungen Mädchen Mitgefühl zeigte, sahen sie mich mit Verachtung, aber auch ängstlich an, weil sie sahen, dass ich ihre Hand berührte, um sie zu trösten.

Einer sagte: “Jugendlicher Leichtsinn…!”
Meine Jugend erlaubte mir, ihn mit einer Art Hass anzusehen, weil er in meinen Augen ein dummer Nazi war, aber ich wusste auch, dass ich mich mit Niemandem anlegen durfte. Man wusste ja nie, mit wem man es zu tun bekam.

Dann die Haltestelle “Stahlwerk - Krieger”.
Wir stiegen beide aus. Das Mädchen und ich! Ich wusste nicht, wie sie hieß, hatte sie nie gesehen und ich stellte mich auch nicht vor, aber wir gingen zusammen, wie Schwestern.

Ich sagte:” Warum bist du noch hier?” Sie antwortete: “Es ist zu spät! Mein Vater hat nicht geglaubt, dass es so weit kommt!”

Empört fragte ich: “Könnt ihr denn nicht abhauen?”
“Es ist zu spät!, sagte sie leise und hoffnungslos, “Wir kommen hier nicht mehr raus…!”

Dann sagte sie: “Danke, dass du mit mir gesprochen hast, aber nun geh’, sonst bist du auch noch dran, dann holen sie dich auch noch!”

Ich blieb noch stehen und sah sie an…

Sie sagte: “Nun geh doch und… danke!”

Welche Größe, dachte ich später, wenn ich mich an diese Begegnung erinnerte.

Sie drehte sich um und lief auf die andere Straßenseite.
Ich habe sie nie mehr gesehen.

Nachdenklich und traurig ging ich nach Hause zu meiner Mutter und erzählte ihr von diesem Erlebnis, und meine Empörung fand keine Grenzen.

Sie sagte: “Mir kannst du das alles sagen und ich denke wie du, aber halt’ den Mund, wenn du mit anderen Leuten sprichst! Du kannst dem Mädchen nicht helfen, abgesehen davon, dass du nicht einmal weißt, wer sie ist!”

Wir hätten auch keine Möglichkeit gehabt, sie zu verstecken, denn unser Platz war begrenzt. Der Luftschutzkeller war der einzige Raum, in dem unsere Mieter und wir uns bei Fliegeralarm aufhalten konnten.

“Hoffentlich schaffen sie doch noch die Flucht oder haben Freunde, die ihnen helfen können!”, sagte ich. Danach waren wir still und nachdenklich.

Meine Freude an diesem schönen Sommertag war dahin !

Nie mehr habe ich von diesem Mädchen gehört, aber immer, wenn ich die Haltestelle verließ, dachte ich an sie und heute, ich wohne nicht mehr dort, denke ich immer wieder an sie, die schöne junge Frau, die, würde sie noch leben, heute zweiundachtzig Jahre alt wäre. Doch wahrscheinlich musste sie ein schlimmes Schicksal erleiden. Immer wieder und heute noch stelle ich die Frage:
“ WARUM ? “

In einer schwülen Sommernacht


Nach diesem heißen Tag im August ging ich in den Garten, um die Kühle des Abends zu genießen, denn die Tageshitze hatte mir doch sehr zugesetzt, wenn ich das auch erst bemerkte, als ich mich auf der Gartenbank, hinter den hohen Blütensträuchern niederließ. Hier sah mich niemand, aber ich hatte Einblick in die Straße mit den schönen, stillen Vorgärten. Das Licht der Lampen breitete sich warm auf dem Rasen aus und meine gefiederten Freunde schliefen in den Bäumen, doch der schwüle, laue Wind kündete ein Gewitter an.


Die Einheimischen sagten früher:

“Wenn et von do kömmt, dann kömmt es deck!” Dann kann et
auch harele! Mer hadden et schon so, dat IIIis (Eis) so deck wie Hönnereier runner jekumme es!”

(Wenn es von da kommt, kommt es dick, dann kann es auch hageln! Wir hatten es auch schon, das Eis, so dick wie Hühnereier, herunter gekommen ist!”)

Plötzlich wurde ich aufgeschreckt in dieser Idylle, denn mit ziemlicher Geschwindigkeit fuhr ein kleiner, dunkler Wagen auf mein Grundstück zu und bremste mit quietschenden Reifen, unmittelbar vor meinem Gartenzaun.

Neugierig, aber regungslos, auch etwas erschrocken saß ich auf meiner Bank und sah unter dem gelblichen Licht der Straßenleuchte, dass drei Personen in dem Fahrzeug saßen.

Am Lenkrad saß eine blonde Frau mir zugewandt, und neben ihr anscheinend ein Mann. Eine Person saß auf dem Rücksitz hinter der Frau. Sie schienen zu streiten, denn sie gestikulierten heftig und ruderten mit den Armen aber ich konnte nichts verstehen, bis der Mann auf dem Rücksitz die Türe öffnete und ausstieg. Der neben der Fahrerin sitzende Mann beugte sich zu der Frau und zog ihren Kopf zu sich. Er schien sie küssen zu wollen, aber sie wehrte ihn ab. Ich konnte das alles sehen, aber sie sahen mich nicht, denn ich war durch die Sträucher gut geschützt. “Was hatte das zu bedeuten, mitten in der Nacht?”

Der hinter der Fahrerin sitzende Mann stieß die Autotüre auf und nun hörte ich, dass die Frau erregt, mit heller Stimme rief: “Was weißt du schon!” Der Mann, der soeben ausgestiegen war, lehnte sich an meinen etwas verrotteten Gartenzaun. Er schien ein ziemliches Schwergewicht zu sein, denn der Zaun gab nach, und brach nach innen ein, aber der Mann konnte sich an einem der Pfosten halten und fluchte leise vor sich hin.

“Was ist denn jetzt schon wieder?”, rief die Frau.

Plötzlich tauchte ein langer, dünner Mann, er hatte neben der Fahrerin gesessen, hinter dem Fahrzeug auf und lief um den Wagen herum. Ich saß wie gebannt hinter den Büschen.
Sie konnten mich nicht sehen, doch von Oben konnte ich alles genau beobachten, und war kaum mehr als drei Meter von ihnen entfernt.

Der Beifahrer rief wütend: “Wo ist das Zeug?”

Der dicke Mann, der fast über den Zaun gefallen wäre, sagte:
“Musst Du noch lauter schreien? In dem Haus da… brennt noch Licht! Die kennt uns, das weißt Du!”

Der Dünne nun leiser: “Ach was, die Alte ist längst im Bett, die lässt immer das Licht an. Gib mir erst das Geld, dann sag’ ich Dir, wo die Ware ist. Du legst mich nicht mehr rein. Das ist das letzte Mal, dass ich mit Dir Geschäfte mache!”

Die Frau ließ den Motor an und das Fahrzeug setzte sich langsam in Bewegung. Da sprang der Dicke vor den Wagen und stützte seine Hände auf die Motorhaube, so, als wolle er das Fahrzeug damit anhalten und wild gestikulierend rief er: ”Ha, jetzt willst Du abhauen…! Überfahr mich doch, du blöde Kuh, dann bist du mich endlich los!”

Der Lange folgte ihm und hob den Arm. Ich dachte, er hätte eine Pistole in der Hand, aber es war eine große Taschenlampe, mit der er den Mann, der sich auf der Motorhaube abstützte anleuchtete, auf ihn zu lief, und ihn mit der Taschenlampe auf den Kopf schlug. Der Mann fiel zu Boden und der, der ihn geschlagen hatte, stand einen Augenblick still und erschrocken da und zog ihn dann auf den Rasenstreifen vor dem niedrigen Zaun.

Ich saß wie erstarrt und wagte kaum zu atmen. Ich hatte Angst und auch das Bedürfnis wegzulaufen, aber klar war auch, dass ich nichts machen konnte. Das Wetterleuchten kam näher. Ich meinte auch schon ein entferntes Grollen zu vernehmen.

“Das Gewitter!”

Nun wollte ich unbedingt ins Haus. Schon zweimal war der Blitz eingeschlagen und hatte große Schäden verursacht, aber ich konnte nicht weg, denn nun stellte die Frau den Motor ab und fragte leise: ”Was ist?” und der Dünne sagte etwas zu ihr, wonach die Frau ausstieg. Dann beugte sich die Frau über den am Boden liegenden Mann und sagte:

“Warum hast du ihn geschlagen, ich glaube er ist tot! Er blutet an der Schläfe, was hast Du mit ihm gemacht…?”
”Ach was, der ist nur weggetreten!” sagte er.
“Aber er blutet!”, rief sie aufgeregt.

Der Lange öffnete den Kofferraum und sagte: “Komm, wir legen ihn für den Moment hier rein und fahren nach Hause, dann können wir ihn verbinden! Leg’ ihm die Tasche unter den Kopf! Schnell, bevor uns jemand sieht! Das wird schon wieder!
Er kann hier nicht liegen bleiben. Pack mal mit an… Du nimmst die Beine! Mach’ schon, der ist gleich wieder da! Es ist ja nicht weit!” Sie hoben ihn in den Kofferraum und der Lange warf den Deckel zu. Sie stiegen ein, die Frau ließ den Motor an, und plötzlich waren sie fort. Ich sah noch die Rücklichter an der nahen Kreuzung und dachte: “Was war das denn?“

Plötzlich hörte ich ein Motorgeräusch und sah die aufgeblendeten Scheinwerfer. Sie kamen zurück! Der Mann stieg aus und bückte sich. Ich dachte ängstlich: “Sie haben mich doch gesehen!”, aber dann sagte er: “Da ist sie!”, und hob etwas auf. Es war die Taschenlampe. Mir klopfte das Herz bis zum Halse, und für einen Moment war mir übel.

Eilig stiegen sie wieder ein, und fuhren auf die Hauptstraße in Richtung Autobahn. Die Kennzeichen hatte ich nicht sehen können, weil ich nur die Sicht auf die Fahrerseite hatte und bewegen konnte ich mich auch nicht. Ich kannte den Mann nicht, der mich “Die Alte” genannt hatte, aber er schien mich zu kennen. Ich lief ins Haus, rief die nächste Polizeistation an und schilderte diesen Vorfall. Die zuständigen Beamten kamen sofort, um Beweismaterial zu sammeln, aber inzwischen war das Gewitter über uns hereingebrochen und hatte die Straße in ein Geröllfeld verwandelt. Blitze zuckten über den Himmel und ein ungeheures Donnern und Blitzen machte die Recherchen nutzlos. Die Beamten nahmen alles auf und sagten: Wir kommen morgen wieder, um die Protokolle aufzunehmen. Schließen Sie gut ab!” Dann waren sie weg!

Die laue Sommernacht war vorüber und als ich die Türe verriegelte, vier Uhr früh, trommelte der Regen immer noch auf das Dach und angenehme Kühle umfing mich.

Ein paar Tage später erzählten mir die Leute…, eine ältere Frau
sei in der Nacht, als das Gewitter war, überfallen worden.
“Man ist überhaupt nicht mehr sicher, vor dem Gesindel“, sagten sie. “Haben Sie nichts gehört und haben Sie keine Angst dort, so alleine?
Sie haben doch gar keine direkten Nachbarn! Wir könnten das nicht!”

“Ach”, sagte ich: “Eine geladene Pistole liegt immer in meiner Nähe, und wenn mir Einer zu nahe kommt, schieße ich, ohne Vorwarnung!”
“Das kling aber verrückt” sagte eine Frau. Und ich sagte: “Lieber verrückt als tot…!”
“Haben Sie denn einen Waffenschein?”, fragte einer ungläubig.
“Natürlich, sagte ich amüsiert, denn den Schein kann ich vorweisen, habe aber keine Pistole mehr, denn die hatten mir Einbrecher vor ein paar Jahren mitsamt dem Tresor in Düsseldorf gestohlen. Doch das brauchte ich ja nicht zu erzählen. Ich verriet nichts über die nächtlichen Vorkommnisse, denn das hatte ich den Polizeibeamten, auch zu meiner eigenen Sicherheit, versprochen.

Die Polizei recherchierte weiter und später erfuhr ich, dass es sich um kleine Rauschgifthändler gehandelt haben sollte, die der Polizei ins Netz gingen. Doch hinter diesen kleinen Dealern stünde eine große Organisation von Händlern im Ausland. Das sei aber Sache der Drogenspezialisten und einer Sonderkommission. Die beiden Dealer seien festgenommen. Sie sagten, ich hätte mich richtig verhalten. Die dritte Person, der Mann, den sie in den Kofferraum gelegt hatten, wurde nicht erwähnt.

Die Frau und der dünne Mann hatten ausgesagt, sie seien nur zu zweit gewesen und die Polizei, um mich zu schützen, sagte nicht, woher sie die Informationen über drei Personen hatte. Sie suchten weiter nach dem Verletzten, was sich als schwierig erwies, denn das Unwetter hatte auch Bäume zum Umstürzen gebracht und Spuren verwischt. Diese Vorfälle beschäftigten mich sehr, aber ich behielt alles für mich.

Nach einigen Tagen besuchte ich mit Bekannten eine nahe gelegene Gaststätte und hörte, dass an einem Nachbartisch ein Mann sagte: “Dem haben sie die Bude ausgeräumt und einen Batzen Hasch und Kokain gefunden, den seine Alte dort deponiert hatte!”

“Das glaubst du doch selber nicht”, sagte der Andere. “Die Gerda macht so was nicht!“ Den Hubert hab’ ich schon lange nicht mehr gesehen. Wo mag der wohl abgeblieben sein? Vielleicht in einer Entziehungskur?”, sagte er hämisch. “Gerda hat schon immer gesagt, er soll nicht so viel saufen aber seitdem der auf Montage ist, ist der völlig durch den Wind!”

“Ach“, sagte ein anderer, “die säuft doch selbst, oder sie nimmt irgendeinen Scheiß. Sie ist doch in letzter Zeit immer von der Bahn…! Ich hab’ sie kürzlich gesehen und sie sah ganz komisch aus. Der Paul und die Gerda, mit denen stimmt doch was nicht…!“

Paul und Hubert… ?

Jetzt ging mir ein Licht auf und ich wusste, wer das war. Die Beiden waren oft bei uns gewesen, als meine Söhne noch Kinder waren. Da kamen die Jugendlichen aus der Umgebung, in den Ferien und am Wochenende zu uns, um zu spielen und ich dachte an den Mann, den sie Hubert genannt hatten. Ich vermutete, dass es einer dieser Spielgefährten meiner Söhne sein musste und dann war es da, das Bild. Irgendwie waren die Beiden mir bekannt vorgekommen aber ein Zeitabstand von dreißig bis vierzig Jahren…? Da haben wir uns alle verändert, und dann noch in der Dunkelheit, unter der Laterne…!?

Ein paar Tage später ein Artikel in der Tageszeitung, der mich neugierig machte:

Die Polizei bittet um Ihre Mitarbeit !

Am 24. September fanden Wanderer zwischen Altenahr und Alt - Wied, in einem Waldstück eine männliche Leiche mit einer Hirnverletzung, stark verwest und ohne Papiere. Der Mann muss von kräftiger Gestalt gewesen sein. Er hatte eine Stirnglatze, blau-graue Augen und war ca. 1.75 - 180 cm. groß und ca. 50 Jahre alt. Zweckdienliche Angaben an die Kriminalpolizei Koblenz oder jede andere Polizeidienststelle.

“Also doch“, sagte ich und rief Herrn Klaroth, den Ermittlungsbeamten von der Kripo an. Ich erzählte von dem Kneipenbesuch und den Gesprächen der Männer, die von “Gerda” gesprochen hatten und von ihrem Freund, der verschwunden sein sollte und ich erfuhr, dass der Leichnam obduziert worden war. Nach polizeilichen Ermittlungen stellte sich heraus, dass Hubert Meizner an Diabetes gelitten hatte, und in dem Kofferraum an einem Zuckerschock gestorben war.

An jenem Augustabend, nach dem schweren Gewitter, waren die Beiden mit Hubert im Kofferraum auf die Autobahn, Richtung Neuwied gefahren, um Hubert zu nach Hause zu bringen und ihn dort zu verbinden. Doch Hubert war, als sie nach ihm sahen, tot! Gerda machte Paul Vorwürfe und sie schrie: “Du hast ihn umgebracht!” Aber Paul konnte sich nicht vorstellen, dass der Schlag mit der Lampe, Hubert getötet hatte. “Nein!”, schrie er, “Das hab’ ich nicht getan, so fest habe ich gar nicht zugeschlagen!” Sie gerieten in Streit und in Panik. Sie wussten überhaupt nicht, was sie machen sollten und fuhren auf eine Anhöhe im Wald über Altenahr. Gerda weinte und Paul war hoch erregt. Er hatte Angst vor Polizei, Gericht und Gefängnis und er wollte nicht glauben, dass er Paul umgebracht hätte, wie Gerda ihm immer wieder vorhielt. Es wurde schon dämmerig als sie sich, völlig entnervt und erschöpft entschlossen, Hubert dort oben zu begraben.

Als sie Hubert aus dem Kofferraum hoben, bekam Gerda einen Hysterieanfall und begann zu schreien. Paul meinte, dass Wanderer sie hören könnten und hielt ihr den Mund zu aber sie hörte nicht auf zu schreien. Er geriet nun völlig aus der Fassung und schlug zu. Sie sank zu Boden. Nun war es still…!

Eine Stille die schrie! Paul sah Gerda dort liegen und plötzlich begann er zu weinen. Es schüttelte ihn und er fühlte sich wie ein kleines Kind. Kein Trost! Nichts! Ein Gefühl des absoluten Alleinseins überkam ihn. Er hatte keine schöne Kindheit, einen alkoholsüchtigen Vater und eine stille Mutter gehabt und dachte, dass er cool sei, aber das war alles nur aufgesetzt und nun war er auch noch zum Verbrecher geworden…! “Zum Mörder…!”
Lange hatte er nicht mehr geweint. Er wusste eigentlich gar nicht mehr, wie das war, als er noch ein Kind war. Er warf sich auf den Boden und grub mit seinen Händen im Laub. Aller Mut hatte ihn verlassen! “Was hab’ ich nur gemacht…? Nun habe ich auch noch Gerda…!”
Doch Gerda war inzwischen wieder zu sich gekommen und hörte ihn weinen. Sie waren beide außer Fassung und sahen Hubert an, der so still da lag…! Zwei erwachsene Kinder, voller Schuldgefühle. Sie zitterten, es war schrecklich! Nie mehr konnte es sein wie vorher…!

Sie legten Hubert in eine Mulde, deckten ihn mit Laub zu, und legten ein Paar Zweige über ihn. Schweigend gingen zu ihrem Wagen, den sie seitlich im Wald abgestellt hatten und fuhren jeder zu sich nach Hause. Schon am nächsten Tag hatten sie das Schweigen nicht mehr ertragen und sie zeigten sich selbst an.

Ich erfuhr von Herrn Kommissar Klaroth von diesen Ereignissen und dachte an die Zeit, als wir noch alle so hoffnungsvoll und jung waren und die Kinder noch lachen, und sich freuen konnten. Aber mit den Jahren hatten wir uns aus den Augen verloren und aus den Kindern waren Erwachsene geworden, die ich nicht einmal mehr erkannt hatte. Was war passiert…? Welche Ereignisse hatten Paul und Hubert in die Rauschgiftszene gebracht? Was hatte sie so beeinflusst, dass der Alkohol ihr Leben so veränderte? Und diese Frau?
Ich begann in meinen Fotoalben zu blättern und fand die Bilder von meinen Kindern und den Jungen und Mädchen, die uns in den Ferien besucht, und die zusammen gespielt hatten.

Und da waren Sie, die Männer, welche an dem Abend im August, als das schlimme Gewitter über uns hereinbrach, vor meinem Gartenzaun den verhängnisvollen Streit austrugen.
An jenem Abend, wie ich nun wusste, dass Hubert, der damals schon rundliche Hubert, mit dem pfiffigen Gesicht, und Paul, der Größere, die jeden Tag in den Ferien aufkreuzten, um mit meinen Söhnen durch den Wald zu laufen, und mit dem Traktor zu fahren…

Die Drogen, die Hubert versteckt hatte wurde gefunden und Paul hatte sich zu verantworten. Was aus dem Rauschgiftgeschäft wurde, erfuhr ich nicht, denn die verantwortlichen Beamten hatte Schweigepflicht wegen der Rauschgiftbande, die im holländischen Raum agierte.

In der regionalen Zeitung las ich in einer Todesanzeige, dass Hubert seine Ruhestätte in seinem Heimatdorf gefunden hatte. Gerda und Paul hatten sich vor Gericht zu verantworten, weil sie Hubert im Wald verscharrt hatten. Doch als sich herausstellte, dass Hubert nicht an dem Schlag mit der Taschenlampe gestorben war, wurden sie wegen grober Fahrlässigkeit, Körperverletzung mit Todesfolge, unterlassener Hilfeleistung und Drogenbesitz verurteilt. Die Drogengeschäfte wurden in einer Sonderermittlung bearbeitet, weil noch gegen die Bande in Holland recherchiert wurde. Da würden sie wieder als Zeugen benannt werden.

Mir ging die Gewitternacht im August lange nicht aus dem Sinn, die Nacht, in der Hubert im Kofferraum seines eigenen Autos starb. Die Nacht, in der Gerda glaubte, dass Paul…, Hubert erschlagen hätte. Welch eine dramatische Verkettung von Umständen…! Welch eine Fügung, dass Paul nicht unmittelbar am Tod seines Freundes Hubert schuldig wurde…! Und doch war er schuldig geworden, weil er Huberts Tod durch das Einsperren im Kofferraum billigend in Kauf genommen hatte.
Und er fühlte sich schuldig. Das hörte ich, als ich ihn ein Jahr später im Gefängnis besuchte. “Hätte ich ihn doch nicht in den Kofferraum gelegt“, sagte er, “dann würde er sicher noch leben. Wie konnte ich das nur tun? Der Hubert war doch mal mein Freund!”

Ich aber hatte noch immer das kindlich, runde Gesicht des kleinen Jungen vor Augen, der in meinem Garten gespielt hatte…, und nun mit fünfzig Jahren tot war, für Nichts!

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Tag der Veröffentlichung: 23.11.2011

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