Die kleine Anna, sechs Jahre alt, geb. am l. Januar 1899, stand in der großen Wohnküche vor dem Küchentisch, auf dem der kleine Bruder, soeben von der Mutter gewickelt wurde und fragte die Mutter: “Mutter, woran siehst Du, dass Johannes ein Junge ist?”
Wilhelmine-Maria, die Mutter, die ihren Namen zu Ehren des Kaisers, WILHELM und der Jungfrau MARIA hatte, eine Frau von 35 Jahren, von kräftiger Gestalt aber nicht dick, angetan mit einem gestreiften, blauweißen langen Rock, einer blauen Bluse und einer blauen Schürze, das dunkelblonde Haar zu einem Knoten aufsteckt, mit Holzschuhen an den Füßen, sah die kleine Anna - Wilhelmine, die Anna gerufen wurde und mit unschuldigen Augen zu ihr aufsah an, und errötete. Das fünfjährige Mädchen, das auf dem mit Sand ausgestreuten Holzdielenfußboden stand, die brünetten Haare, mit einem Schimmer von Gold, zu kleinen Zöpfen geflochten und mit braunen Spangen gehalten, eine kleine Schürze vorgebunden, die auf dem Rücken mit zwei Bändern übereinander gekreuzt und mit zwei Knöpfen befestigt war, sah die Mutter fragend an.
Das war im Jahre 1905 eine Frage, die die Mutter in tiefste Verlegenheit stürzte und wortlos machte.
Das Kind, das offensichtlich die Verlegenheit der Mutter erkannte, die doch schon sechs Kinder geboren, nun auch noch das Baby Bernhard bekommen und zwei Kinder wegen Totgeburt verloren hatte, die aber auch zweimal ein so genanntes “bös Wochenbett” gehabt hatte, sah die Mutter aufmerksam an und sagte: ”Das sagt dir sicher die Hebamme, Frau Mölders.” Erleichtert stimmte die Mutter zu und Anna dachte:
“Warum sagt sie nichts? Ich weiß doch schon lange, dass die Jungen da unten so ein komisches Fellsäckchen haben.. Warum ist das so etwas Schlimmes, dass die Mutter so rot geworden ist? Es muss etwas Schlimmes sein! Vielleicht sind die Brüder krank und Mutter wollte es nicht sagen.”
Anna wusste nicht, dass man über “das da Unten “ nicht spricht und dass man das nicht anfasst. “Das ist unkeusch und nimmt die Schämde”, wie man in diesem Landstrich am Niederrhein sagte und meinte die Scham.
Anna ging zu den Hunden, die im Hof ihren Stall hatten. Zwei schöne Schäferhunde, die der Großvater für den Zoll abrichtete. Hier und im Kaninchenstall konnte sie, die nie richtige Antworten auf ihre Fragen bekam, alles erzählen und fühlte sich nicht so alleingelassen mit ihren Gedanken und Fragen. Sie sah die Hunde mit ihren schönen grauen Augen an und streichelte sie. Sie dachte: “Sie verstehen mich!”
Das Kind sehnte sich nach Zärtlichkeit und Vertrauen, aber die Eltern hatten selbst diese Art von Zuwendung nie erfahren. Es war nicht üblich, Zärtlichkeit zu geben. Bei der vielen Arbeit, die sie zu verrichten hatten, blieb dafür nur wenig Zeit.
Nur einmal hatte Anna die Mutter beobachtet, als sie ihr kleines Brüderchen Willi, das nur ein Jahr alt geworden und plötzlich gestorben war, streichelte und küsste. Das hatte Anna sehr beeindruckt, als sie durch’s Schlüsselloch sah, denn sie selbst bekam sehr wenig Streicheleinheiten.
Anna dachte: “Vielleicht bekommt das ein Kind nur, wenn es tot ist!”
Es war für die Kinder und Familienangehörigen eine Selbstverständlichkeit, dass Kinder auf die Welt kamen und dass Menschen starben.
Die Toten wurden im Haus aufgebahrt und die Nachbarn und Familienangehörigen konnten zu ihnen, wann immer sie wollten um ihnen die LETZTE EHRE zu erweisen. Die Toten wurden zuvor von den Nachbarinnen links und rechts des Totenhauses gewaschen, mit dem Totenhemd bekleidet und in den Sarg gelegt. Nach dem Versterben wurde ihnen das Kinn hochgebunden, damit sie nicht entstellt in ihrem Sarg lagen und die Gesichtszüge wurden etwas korrigiert. Dann legten sie einen Blumenstrauß unter ihre gefalteten Hände.
Da sagten dann einige:” Dat es en schöne Leich!“
Auch die Kinder besuchten die Toten und für sie hatte ihr Anblick nichts Erschreckendes, aber sie waren traurig, wenn es eine Person war, die sie liebten, weil sie ein persönliches Verhältnis zu ihr aufgebaut hatten, und nun nicht mehr mit ihr sprechen konnten.
Das “NIE MEHR” wurde zu einem großen Fragezeichen und nur der Gedanke, dass sie nun im HIMMEL waren, konnte den Abschiedsschmerz lindern.
“Der LIEBE GOTT wacht über sie und über uns alle, sagten die Eltern.
Sie waren kirchen- und religionstreu und was auch immer von der Kanzel gepredigt wurde, für sie war es das Evangelium, wie sie sagten. Die Frauen gingen, wenn sie nicht allzu weit von der Kirche entfernt wohnten, morgens um sieben in die Frühmesse. Die Kirche gab ihnen vor, wie sie zur ehelichen Pflicht zu stehen hatten. Der Beischlafvorgang war nicht zum Vergnügen da und hatte nur den Zweck, dem Manne zu dienen, und Kinder in die Welt zu setzen. Sicher gab es auch, wenn die Veranlagung es zuließ, hier und da Frauen, die einen Orgasmus erlebten und denen Sex Freude machte, aber sie hüteten sich, das in der Beichte zuzugeben. Wenn jung verheiratete Frauen nicht ein Jahr nach der Hochzeit schwanger waren, sprach der Beichtvater von Missbrauch der Ehe. Annas Mutter sagte dann auch: “Lieber zehn auf’m Kissen, als eins auf’m Gewissen!”
So war sie dann auch elf mal schwanger geworden. Zwei mal “bös” Wochenbett und zwei Kindern Kind war tot geboren.
Der große Haushalt mit sieben Kindern, den Großeltern vom Vater her, eine elternlosen Cousine, die aufgenommen und untergebracht werden musste, machte die Mutter zu einer Sklavin des Haushalts. Das machte hart. Sie wurde krank!
Eine Trigeminus-Neuralgie machte ihr das Leben schwer und die Schmerzen waren unerträglich. Es wurden Blutegel angesetzt, die mit der Entnahme des Blutes ein Sekret abgaben, das die Schmerzen milderte. Welche Zusammenhänge das hatte, war auch den Ärzten nicht bekannt, das sollte zu einem viel späteren Zeitpunkt von Forschern herausgefunden werden.
Als die Schmerzen einmal besonders stark waren, durchtrennten Ärzte einen Nervenstrang. Das brachte eine Entstellung auf der rechten Wange, aber es half, und das war die Hauptsache für die Mutter.
Die Großmutter Katharina, half ihr, so weit es ging und der Großvater Wilhelm, besorgte den Garten aber für die Mutter blieb die meiste Arbeit. Anna freute sich, wenn alle nach dem Essen, bei dem nicht gesprochen wurde, eine Viertel Stunde erzählen durften. Diese Viertelstunde gönnten sich die Eltern. Der Vater, Wilhelm, verfügte über eine Menge witziger Einfälle und es wurde oft herzlich gelacht. Über die Schule und die Arbeit wurde dann nicht gesprochen.
Für die Eltern war es selbstverständlich, dass ihre Kinder gute Schüler waren. Waren sie es selbst doch auch gewesen und bei Faulheit oder Aufsässigkeit gab es kein Pardon. Stand doch der Vater, und er war nicht der Einzige der so sprach, auf dem Standpunkt,, dass ab dem zweiten Lebensjahr der Wille eines Kindes gebrochen sein müsste, sonst hätte man später nichts zu sagen. Die Eltern hatten in jedem Fall alle Rechte, während die Kinder bedingungslos zu gehorchen hatten.
Annas Vater, als Familienoberhaupt, war die Respektsperson im Hause. Die Großmutter, seine Mutter, half bei der Kinderbetreuung und Anna sah sie immer mit Näh- und Stopfarbeiten beschäftigt, wobei sie mit einem Fuß die Wiege bewegte, worin das letztgeborene Kind schlief. Sie versorgte auch die Kuh, die von ihr oder der Mutter gemolken wurde.
Wilhelmine-Maria, Annas Mutter, kam von einem kleinen Bauernhof und züchtete Schweine. Der Vater wollte eigentlich nicht, dass sie neben ihrer vielen Arbeit diese Aufgabe übernahm, aber sie wollte es so und opferte noch mehr von ihrer Zeit für diese Zucht. Sie hatte so das Gefühl, dass auch sie zum Aufbau ihrer gesamten Familienexistenz beitrug und das machte sie stolz und wichtig.
Hier war sie als Mutter und Hausfrau auch Ernährerin und das gab ihr Kraft. Ihre Eltern waren beide gestorben. Anna hatte die Großmutter nur als kleines Kind kennen gelernt und keine Erinnerung an sie. Annas Mutter hatte schon als Kind hart arbeiten müssen, denn für eine Witwe war das Leben sehr schwer. Auch wohnte diese Großmutter in Kranenburg in der Nähe von Kleve, doch zu weit entfernt, um einen kurzen Besuch zu machen.
“Anna, du darfst heute nicht in den Stall, es wird ein Schwein geschlachtet, das sollen Kinder nicht sehen!“, sagte die Großmutter, die die Mutter ihres Vaters war.
Anna lief zu einem Kind in der Nachbarschaft. Sie wollte nicht hören, wie das Schwein schrie, wenn der Metzger kam. Jedes Mal quiekten und schrieen die Schweine angstvoll und laut beim Hinausführen aus dem Stall. Anna wollte das nicht hören. Ihr taten die Tiere leid, denn die Schweine wussten, dass der Mann mit der Keule sie töten würde. Dann hielt Anna sich die Ohren zu, doch Annas Brüder lachten darüber. “Du Heulsuse!“, sagten sie.
Nach dem Schlachttag aß Anna keine Wurst und kein Fleisch, aber es zwang sie auch niemand dazu. Ihre Schulbrote legte sie irgendwo auf einen Zaun oder tauschte sie mit Kindern, die immer Marmeladenbrote mitbrachten und froh waren, wenn sie Wurst bekamen.
Zum Schlachttag wurde ihre Patentante geholt. Es war Tante Hannchen! Annas Patentante. Eine kleine, drahtige Frau mit strenger Mine, straff zurück gekämmtem, dünnen Haar, das zu einem festen Knoten aufgesteckt war.
Sie war klein und hatte ein dünne und etwas schrille Stimme, aber sie versuchte durch majestätisches Auftreten, Autorität zu gewinnen. Sie war Vaters Schwester.
Annas Vater sagte: “Die hat Haare auf den Zähnen!” Doch war sie als gute Wurstwürzerin geschätzt. Sie kannte sich mit Pfeffer, Thymian, Majoran und anderen Kräutern aus und ihre Blut-, und Leberwurst schmeckte hervorragend, wie alle sagten, die in deren Genuss kamen. Für die Kinder der ganzen nahen und weitläufigen Familie wurden kleine Würste gezaubert, die man “Pröllekes” nannte. Das Schmalz wurde mit süßen Äpfeln hergestellt, und war in der ganzen Familie gelobt.
Die Tante war stolz und lebte vom Ruhm ihres Mannes, des Onkel Karl, weil er im Regiment des Kaisers gedient hatte.
“Dummheit und Stolz, wachsen auf einem Holz, aber würzen kann sie!”, sagte Mutter Wilhelmine, die sich insgeheim über die Schwester des Vaters ärgerte, weil die kinderlose Frau alles besser wissen wollte.
Tante Hannchen wollte aber auch immer Recht haben und nur, weil der Onkel Karl, der ihr Ehemann war, als Einziger aus der Familie beim Kaiser gedient hatte.
Anna musste von Zeit zu Zeit die Patentante besuchen. Es war Pflicht!
Bei dem Besuch sah Anna einen Federbusch auf einer Ecke des Küchentisches liegen und sagte: “Tante Hannchen, da liegt ein Huhn auf dem Tisch, ein weißes Huhn!”
“Das ist kein Huhn“, sagte Tante Hannchen beleidigt, “das ist der Helm von Onkel Karl, der Helm liegt immer da!” Sie zeigte auf ein Bild an der Wand. Ein Bild vom Onkel. Er trug diesen Helm stolz auf einem Pferd sitzend. Der weiße Federbusch wehte im Wind und Onkel Karl sah majestätisch aus.
“Fast wie der Kaiser, dessen Bild im Atelier des Vaters hängt“, dachte Anna “und so dick ist er auch.” Tante Hannchen legte den Helm wieder auf den Tisch, auf dem eine Teppichdecke lag, die Onkel Karl einmal von einem Besuch in Holland mitgebracht hatte. In Holland waren diese Decken, die eigentlich Teppiche waren, modern. Der Vater hatte mal gesagt, dass die Holländer die Teppiche aus den Kolonien mitgebracht hätten, wo sie diese für “Appel und Ei” den armen Leuten abgekauft hätten.
Anna fiel auf, dass die Holländer nicht gut auf die Deutschen und die Deutschen nicht gut auf die Holländer zu sprechen waren. Die Holländer nannten die Deutschen ”BOSCH” (Schweine) und die Deutschen die Holländer “MUSKONTE” (Kohlhintern). Das fiel Anna ein, als sie die Decke sah.
Aber als sie Tante Hannchen ansah, fiel ihr auf, dass Tante Hannchen ein frommes Gesicht machte, wie in der Kirche vor dem Altar. Sie neigte den Kopf etwas zur rechten Schulter wie die Madonna im Nebenaltar und Anna faltete schon die Hände und dachte: “Sicher ist der Helm heilig!” “… : …!” Aber da lachte der Onkel dröhnend, so, wie Soldaten lachen.
Es war etwas Besonderes, wenn man beim Kaiser gedient hatte und es beeindruckte die ganze Verwandtschaft, denn der Onkel war der Einzige in der Gegend, der beim Kaiser dienen durfte. Das Schönste an dem Bild war für Anna das Pferd, aber das sagte sie nicht.
Der Onkel, der ein friedliebender, freundlicher Mann war, erzählte Anna von seiner Zeit beim Militär und sagte, dass der Helm schon viele Dinge gesehen hätte und ihm bei seinem Anblick die besten Erinnerungen an die Zeiten beim Kaiser kämen.
Er schwärmte von den Paraden und dem strengen Dienst. Von den Pferden die geritten und gepflegt werden mussten und er zeigte Anna auch die schöne Uniform, die er getragen hatte.
Ansonsten aber war es bei Tante Hannchen, in dem kleinen, nach Mottenkugeln riechenden Haus recht langweilig, was Anna aber nicht sagen durfte, weil die Tante sonst beleidigt gewesen wäre. Es wäre eine schwere Sünde gewesen, die Patentante zu beleidigen. Der Onkel und die Tante hatten keine Kinder, mit denen man spielen konnte und so hatten sie auch wenig Verständnis für die kleine Anna und wussten nichts Rechtes mit ihr anzufangen.
Anna dachte:”, Zu Hause ist es schöner, bei den Hunden und Katzen, den Schweinen, den Hühnern und Kaninchen und den vielen Spatzen und anderen Vögeln, die auf dem Hof sind“. Manchmal gefiel es ihr auch zu Hause deshalb so gut, weil der Vater am Samstagabend Harmonika spielte und sie draußen vor dem Haus, mit den Nachbarn und der Mutter zusammen Volks- und Soldatenlieder sangen. Manchmal tranken die Männer auch ein Glas Bier dazu, oder einer der Nachbarn brachte ein Schnäpschen mit. Die Frauen tranken manchmal ein Gläschen selbst gemachten Stachelbeerwein, den sie selbst in großen Glasgefäßen herstellten.
Annas Brüder, Josef und Willibrordus waren Mitglied in einem Mandolinenclub und wenn sie zu Hause waren, spielten und sangen sie. Sie waren alle musikalisch und konnten auch die Texte zu den Liedern. Alle Strophen!
So lief sie nach Hause und dachte:, “Ich muss doch den Vater fragen, was es mit der Krankheit des kleinen Bruders auf sich hat, damit die Mutter sich nicht zu schämen braucht.”
Doch dann traute sie sich doch nicht zu fragen und sollte erst sehr viel später erfahren, was es auf sich hat, mit dem Unterschied.
Für die Eltern war es selbstverständlich, dass IHRE Kinder gute Schüler waren und später einmal gute Beamte oder Handwerker würden. Ihre Erziehungsmethoden waren nicht zimperlich. Sie ließen die Kinder, wenn sie nicht gehorsam waren, auf kantigen Holzstücken vor einem Stuhl knien, wo sie beten mussten, aber das war der kleinen Anna bisher nicht passiert, wohl aber ihrer vier Jahre älteren Schwester Dora, die sich gegen die Zwänge auflehnte und mit der Anna in einem Bett schlafen musste. Es war ein großes Bett, aber Dora wickelte sich ein und zog Anna das Bett weg. Anna wurde manchmal in der Nacht wach, weil sie fror, aber an einem Abend knöpfte sie den Bettbezug auf und legte sich unter das Federbett. Das führte zu einem erbitterten Kampf, bei dem Anna den Kürzeren zog, denn Dora war viel stärker als sie. Anna weinte und schrie, doch das half ihr nicht. Anna bekam dann hier und da einen ordentlichen Knuff ab, aber daran störte sich niemand. Die Mutter
sagte: ”Vertragt euch!” Dora gab nicht auf und stritt mit der Mutter und das Verhältnis wurde immer schlechter. Dora war wütend auf die ganze Familie. Für die Eltern war es wirklich sehr schwer, allen gerecht zu werden. Sie waren kirchen- und kaisertreu, fromme Katholiken, die dem Kaiser die Treue gelobt hatten. Sie hatten dem Vaterland Verteidigung gegen die Feinde geschworen. Eltern und Großeltern gebührte Ehre und Hilfeleistung im Alter. Aus den Kindern wollten sie gute Katholiken und gute Staatsbürger machen. Die Familien waren groß und alle wollten mit ihrem Nachwuchs wetteifern. Streitigkeiten in der Familie sollten nicht nach Außen dringen und mussten beigelegt werden.
An sich selbst dachten die Eltern selten. Es musste ja vorangehen und die Sorge ums tägliche Brot und die andren Bedürfnisse war groß. Die Ehefrau und Mutter kam zu kurz. Sie war für alle da, durfte nicht klagen und die schwere Arbeit nahm kein Ende. Da hatte man keine Zeit für geistige Interessen, Bücher und Träume.
Dora, die 14 Jahre alt war, verließ nun die Schule und brachte ein sehr gutes Zeugnis nach Hause was ihr aber kein besonderes Lob einbrachte. Das kränkte Dora sehr.
Die Familien waren groß und alle wetteiferten miteinander, wessen Kinder die Gescheitesten waren. Und untereinander herrschte auch ein Wettstreit, wer das schönste Haus, die klügsten Kinder, das meiste Geld, den ertragreichsten Garten und den meisten Erfolg hatte. Hier wurde Annas Vater beneidet, der vornehme Kundschaft bediente, die es sich leisten konnte, modische und teure Kleidung fertigen zu lassen. Er verdiente gut und das weckte natürlich auch den Neid der übrigen Verwandtschaft. Der kleine Wohlstand war hart verdient aber er reichte aus, um etwas zurückzulegen. Hier half die Initiative der Mutter, die für den Haushalt sorgte, indem sie die Schweine züchtete und der Großvater, der den Garten besorgte.
Sie bauten sogar Weizen und Korn an, das in der nahe gelegenen Mühle zu Mehl gemahlen wurde und auch das Brot wurde selbst gebacken. Wenn Wind aufkam, hieß es: “Schnell, zur Mühle, wer zuerst kommt, mahlt zuerst!” Dann wurde der Sack Weizen oder das Korn in einen Leiterwagen gepackt und ab ging es zur Mühle, deren Flügel sich schon drehten und da musste man schnell sein, denn die Nachbarn kamen auch! Kam man zu spät, waren so viele vor einem und wenn dann der Wind abflaute, musste man unverrichteter Dinge wieder nach Hause.
Viel Freizeit hatten die Kinder nicht, wenn sie erst einmal mit anfassen konnten.
Die Eltern setzten voraus, dass ihre Kinder die Besten in der Schule waren, aber Dora fühlte sich ungerecht behandelt und konnte nicht verstehen, dass ihr Anerkennung versagt war. Sie wurde widerspenstig, gab Widerworte, war unfreundlich. Sie sagte: “ Die Brüder werden immer vorgezogen, und nun soll ich noch ihre Sonntagsanzüge bürsten, und ihre Schuhe putzen!” Sie wollte nicht zu Hause bleiben, sie wollte “In Stellung” gehen.
“Die Jungen bringen das Geld ins Haus!”, sagten die Eltern. Die Jungen mussten ihren Lohn abgeben, so sie denn schon etwas verdienten. Es war üblich, dass die Söhne, solange sie nicht verheiratet waren, bei den Eltern wohnten und ihren Verdienst abgaben. Von den Eltern bekamen sie dann “Taschengeld” und das war sehr wenig. Darüber gab es keine Diskussionen denn es war allgemein üblich. Dora passte das aber nicht, denn sie sagte, sie sei schlau genug um selbst für sich zu sorgen. Anna war im vierten Schuljahr und auch sie hatte in allen Fächern eine Eins. Zu Kaisers Geburtstag sagte sie Gedichte auf und auch zum Geburtstag des Kronprinzen und der Königin Luise. Sie hatte ein gutes Gedächtnis und sang alle Strophen der vielen Volkslieder, die in ihrem Liederbuch standen.
Goethes Gedicht für Johanna Sebus hatte es ihr besonders angetan, denn Johanna Sebus war ein Mädchen aus der Nachbarschaft gewesen. Sogar der berühmte Dichter im fernen Weimar hatte Johannas Mut und Opferbereitschaft für so etwas Besonderes gehalten, dass er für Johanna, die in der Einsamkeit eines kleinen Dorfes in den Rheinauen lebte, ein Gedicht verfasste. Anna durfte das Gedicht bei einer öffentlichen Veranstaltung vortragen, die zu Ehren von Johanna Sebus, statt fand.
Das Gedicht:
Johanna Sebus
Der Damm zerreißt, das Feld erbraust,
Die Fluten spülen, die Fläche saust.
"Ich trage dich, Mutter, durch die Flut,
Noch reicht sie nicht hoch, ich wate gut." -
"Auch uns bedenke, bedrängt wie wir sind,
Die Hausgenossin, drei arme Kind!
Die schwache Frau! ... Du gehst davon!" -
Sie trägt die Mutter durch das Wasser schon.
"Zum Bühle da rettet euch ! harret derweil;
Gleich kehr´ ich zurück, uns allen ist Heil.
Zum Bühl´ ist´s noch trocken und wenige Schritt;
Doch nehmt auch mir meine Ziege mit!"
Der Damm zerschmilzt, das Feld erbraust,
Die Fluten wühlen, die Fläche saust.
Sie setzt die Mutter auf sichres Land,
Schön Suschen, gleich wieder zur Flut gewandt.
"Wohin? Wohin? die Breite schwoll;
Das Wasser ist hüben und drüben voll.
Verwegen ins Tiefe willst du hinein!" -
"Sie sollen und müssen gerettet sein!"
Der Damm zerschmilzt, das Feld erbraust,
Die Fluten wühlen, die Fläche saust.
Sie setzt die Mutter auf sichres Land,
Schön Suschen, gleich wieder zur Flut gewandt.
"Wohin? Wohin? Die Breite schwoll,
Des Wassers ist hüben und drüben voll.
Verwegen ins Tiefe willst du hinein!" -
"Sie sollen und müssen gerettet sein!"
Der Damm verschwindet, die Welle braust,
Eine Meereswoge, sie schwankt und saust.
Schön Suschen schreitet gewohnten Steg,
Umströmt auch, gleitet sie nicht vom Weg,
Erreicht den Bühl und die Nachbarin;
Doch der und den Kindern kein Gewinn!
Der Damm verschwand, ein Meer erbraust's,
Den kleinen Hügel im Kreis umsaust's.
Da gähnet und wirbelt der schäumende Schlund
Und ziehet die Frau mit den Kindern zu Grund;
Das Horn der Ziege fasst das ein',
So sollten sie alle verloren sein!
Schön Suschen steht noch strack und gut:
Wer rettet das junge, das edelste Blut!
Schön Suschen steht noch wie ein Stern;
Doch alle Werber sind alle fern.
Rings um sie her ist Wasserbahn,
Kein Schifflein schwimmet zu ihr heran.
Noch einmal blickt sie zum Himmel hinauf,
Dann nehmen die schmeichelnden Fluten sie auf.
Kein Damm, kein Feld! Nur hier und dort
Bezeichnet ein Baum, ein Turm den Ort.
Bedeckt ist alles mit Wasserschwall;
Doch Suschens Bild schwebt überall. -
Das Wasser sinkt, das Land erscheint,
Und überall wird schön Suschen beweint. -
Und dem sei, wer's nicht singt und sagt,
Im Leben und Tod nicht nachgefragt!
Annas ältere Brüder, Hermann, der Älteste, ihr Lieblingsbruder, Josef und Willibrord waren schon in der Lehre bei der Reichsbahn oder im Handwerk.
Josef war 18 Jahre alt, als er erkrankte. Er hustete Blut und die Eltern wollten nicht wahr haben, dass Josef es an der Lunge hatte. Die Ärzte sagten, dass es schon viel zu spät sei. Man könne es vielleicht mit einem Sanatorium in der Schweiz versuchen, aber viel Hoffnung gäbe es nicht. Für ein Sanatorium hätte das Einkommen nicht gereicht und so siechte Josef langsam dahin und starb ein Jahr später. Anna war sehr traurig, dass nun der Bruder tot war, denn er war ein sehr lieber Junge gewesen und sehr sanftmütig, was wohl auch mit der Erkrankung zusammen hing. Manchmal nahm er Annas Hand und streichelte sie. Anna dachte oft an diese zärtliche Geste. Er starb im Jahre 1908.
Die älteren Brüder kümmerten sich nicht um Anna. Sie hatten mit sich selbst zu tun und auch wenig Freizeit. Anna hatte also nur noch zwei jüngere Brüder, die ihr nahe standen. Aloys war Sechs und Johannes-Bernd, der nun nur noch Bernd genannt wurde, dessen Krankheit Anna noch herausfinden musste, war nun fast drei Jahre alt. Mit Aloys war das auch so eine Sache. Der Vater sagte, der Junge ist ganz aus der Art geschlagen. Anna machte sich Gedanken darüber, was der Vater wohl meinte. Aloys hatte schwarze Haare und schwarze Augen und eine etwas dunklere Hautfarbe, als die anderen Geschwister. Die Brüder und Dora waren blond und alle waren blauäugig. Annas Mutter sah den kleinen ,Aloys manchmal mit einem seltsamen Blick an. Anna fühlte, dass das ein anderer Blick war, als der, mit dem die Mutter sie und die anderen Geschwister ansah, aber es waren seltene und seltsame “Augenblicke”.
Anna hörte, wie die Eltern und die älteren Brüder sich unterhielten und dass es wohl eine Urgroßmutter gegeben habe, die schwarze Augen hatte. Einen solchen “Augenblick” sah Anna noch einmal, als die Mutter einen fremden Mann, der ins Haus kam, ansah. Anna bemerkte sofort, dass da etwas war, was sie noch nie bemerkt hatte. War der Blick der Mutter abweisend, ängstlich, wütend oder herausfordernd? Dieser Mann hatte ebenso schwarze Augen wie Aloys. Anna konnte sich die Zusammenhänge nicht erklären, aber sie fragte auch den Vater nicht. In Erinnerung an diesen Moment, sagte sie viele Jahre später zu ihrer Tochter: “Wer weiß, was da passiert ist?” Sie dachte, es könne eine Vergewaltigung gewesen sein, denn einen Fehltritt aus eigenem Antrieb hätte sie der Mutter nicht zugetraut und zu einer Liebschaft hätte es ihr auch an Zeit gefehlt, zumal dieser Mann später nie mehr aufgetaucht war. Es wäre zu dieser Zeit auch unmöglich gewesen, über eine Vergewaltigung zu sprechen. Wahrscheinlich hätte man ihr nicht geglaubt und es wäre ein Stadtgespräch geworden. Für den Vater auch geschäftsschädigend. Sie hat dieses schreckliche Ereignis wahrscheinlich ein Leben lang mit sich herumgetragen. Es fiel Anna auf, dass sie nicht mehr so oft in die Kirche zur Beichte ging. Anna sah, dass die Mutter wohl vor dem Beichtstuhl in der Bank kniete, aber nicht in den Beichtstuhl hineinging. Sie ging dann einfach hinterher nach Hause. Es war üblich, dass die Frauen einmal im Monat zur Beichte gingen, denn das war vorgeschrieben, wenn man am Sonntag die Hostie bekom0men wollte. Es wurde aufgepasst, wer nicht zur “Kommunion” ging. “Die hat ihr Gewissen nicht erleichtert”, sagten sie. “Die war nicht beichten! Ohne Beichte, keine Kommunion!”
Aloys war ein ganz kesser Junge und Anna hatte ihn gern, weil er so fröhlich war und man mit ihm viel zu lachen hatte.
Zwischendurch gab es immer wieder Ärger mit Dora, die nun sechzehn Jahre alt war. Ein schönes und gesundes Mädchen, mit dickem blondem Haar, das sie aufgesteckt trug. Dora rebellierte! Sie hatte den besten Schulabschluss der Klasse, aber deswegen wurde sie nicht besonders gelobt. Die älteren Brüder waren auch immer die Besten gewesen und für die Eltern war das selbstverständlich. Sie sagte: “Die Brüder werden immer vorgezogen und nun soll ich auch noch deren Anzüge in Ordnung halten und ihre Schuhe putzen!”
Sie wollte nicht zu Hause bleiben, Sie wollte “In Stellung gehen.” Der Vater meinte, sie sei noch zu jung und noch nie von zu Hause weg gewesen und so blieb sie noch. Und versuchte ihr etwas jähes Temperament zu zügeln.
Es ergab sich, dass einer der Kunden, ein jüdischer Bankdirektor aus Köln, der auch beim Meister arbeiten ließ, ein Mädchen zur Unterstützung der Köchin suchte.
Der Mann war nach Ansicht des Vaters solide, verheiratet, hatte Kinder und eine wunderbare Villa in Köln und zahlte seine Rechnungen pünktlich. So kam Dora aus den Zwängen heraus und ein paar Wochen später saß sie im Zug nach Köln mit einem Koffer aus japanischem Stroh mit ihren Kleidern und andern Sachen.
Sie war froh, aus diesem turbulenten Haushalt herauszukommen und endlich etwas anderes zu sehen, als Wiesen, Rhein und Pappeln, und auch der Reichswald und die Burg in Kleve machten ihr nicht viel Vergnügen. Nun brauchte sie für die Brüder nicht mehr die Anzüge bürsten und ihre Schuhe putzen. Sie fühlte sich frei. In Köln angekommen, wurde ihr doch etwas mulmig, denn hier war doch ein ganz anderer Verkehr als in Kleve, aber sie fand das schöne Patrizierhaus und suchte den Dienstboteneingang. Sie meldete sich bei der Köchin und diese fand das große blonde Mädchen nett und zeigte ihr ein kleines Zimmer unter dem Dach. Dora genoss es, alleine ein Zimmer zu haben und tun zu können, was sie wollte. Sie lernte koscher kochen und die schöne große Küche gefiel ihr gut. Die Dienstherren waren gut zu ihr und sie durfte später auch beim Auftragen der Speisen helfen. Hier wurde ihr bewusst, dass sie Vorteile hatte, weil sie eine gute, wenn auch strenge Erziehung gehabt hatte. Nun war sie stolz auf ihr Elternhaus, weil auch der Hausherr sagte, dass sie es sehr gut mache. Sie war dort höflich und freundlich aber nicht unterwürfig, was ihr ja auch nicht lag. Sie hatte ihren Stolz. Herr Doktor Grünberg sagte, dass ihr Vater ungewöhnlich gute Arbeit abliefere und er könne sich mit den besten Schneidern messen. So hatte Dora die Seite der Familie noch nie betrachtet und berichtete ihren Eltern davon. Das freute den Vater sehr und auch, dass nun wieder ein besseres Einvernehmen zwischen ihm und der Tochter herrschte.
Anna musste nun doch mehr der Mutter zur Seite sein, denn die Großmutter wurde krank und Anna, die nun zwölf Jahre alt war, musste nun oft auf die kleineren Geschwister aufpassen, was ihr aber auch viel Freude bereitete. Sie übernahm gerne Verantwortung und war sich der Wichtigkeit der Aufgaben bewusst. Auch hatte sie Kinder gern. Sie war fügsam und die Eltern waren für sie große Respektspersonen. Sie gehorchte gern, weil sie die Eltern liebte. Auch wenn sie wenig Zärtlichkeiten bekam.
Die Selbständigkeit hatte sich Wilhelm Bergmann, der Vater, teuer erkauft.
Unter unsäglich schwierigen Umständen hatte er die Lehre bei einem strengen Meister erlebt. Wenig zu essen, ein Bett, geteilt mit einem anderen Jungen, unmenschlich lange Arbeitszeit, und nur ein paar Pfennige Taschengeld.
Seine Eltern, die nun bei ihm wohnten, konnten kein Lehrgeld bezahlen und so musste er zufrieden sein, dass er überhaupt seinen Traum verwirklichen konnte. Doch das hatte ihn auch hart gemacht. Er hatte den unbändigen Ehrgeiz, Schneidermeister zu werden und so hielt er es auch noch die Jahre bis zur Meisterprüfung durch. Er machte sich selbständig und hatte Erfolg. So erwartete er von seinen Söhnen, dass sie ebenso ehrgeizig ihre Ziele verfolgen sollten. Die Mädchen kamen in seinen Überlegungen nicht vor. Sie sollten, wie ihre Mutter Hausfrau und Mutter werden und ihre Männer im Sinne der Familie unterstützen. Dass sie heiraten, und Kinder bekommen würden, setzte er voraus. Das war selbstverständlich. Etwas anderes wäre den Eltern auch nicht in den Sinn gekommen. Von fünf Uhr früh bis abends spät saß der Vater auf seinem Schneidertisch und arbeitete bis zum Mittagessen. Das anschließende Mittagsschläfchen von fünfzehn Minuten gönnte er sich. Danach stellte die Mutter eine Tasse Kaffee auf eine bestimmte Ecke des Küchentisches und der Vater verschwand wieder in seiner Nähstube zu seinen Gesellen und dem Lehrling. Aus seinen schwierigen Lehrjahren hatte er die Überzeugung gewonnen, würde er einmal selbständig, sollte es den bei ihm arbeitenden Leuten besser gehen als ihm in seinen Lehrjahren. Sie wohnten alle im Haus, hatten ein eigenes Bett und aßen mit der Familie am Tisch. Er wäre gerne etwas näher an der Stadt Kleve, gewesen denn die Kunden, die für ihre Kleidung etwas ausgeben konnten, kamen alle aus der Stadt. Die einfachen Leute gönnten sich alle zehn Jahre einen Anzug oder einen Mantel, wenn überhaupt. Viele Männer gingen zu Fuß nach Holland und arbeiteten dort in der Margarinefabrik, aber es kamen auch viele Holländer nach Kleve um dort in der XOX-Keksfabrik oder in der Schuhindustrie zu arbeiten. In Kleve wurden die bekannten Kinderschuhe “Elefantenmarke” hergestellt. Die Fabrik hatte ein Betriebslied das lautete im Refrain: “Denn ohne Schüsterkes kann Klev’ net leewe, denn ohne Schüsterkes kann Klev’net sin!”
Der Zylinder, wenn sie überhaupt einen hatten, musste für das ganze Leben reichen und wurde bei Beerdigungen oder Hochzeiten ausgeliehen. In der Woche trugen die Leute Holzschuhe wie in Holland. Schuhe waren für sonntags und mussten lange halten.
Das Haus, in dem Anna mit ihrer Familie wohnte, war ein Reed gedecktes, lang gestrecktes Haus und stand ziemlich einsam gegenüber der kleinen Insel SCHENKEN-SCHANZ, zu der man nur mit einer Fähre übersetzen konnte.
Der Vater sagte, dass dort die Welt mit Brettern zugenagelt sei.
Anna dachte: “Dass doch der Pfarrer immer vom “ERDENRUND” sprach.”
Doch fragen wollte Anna nicht. Dann hätten alle wieder gesagt, dass sie “naseweis” sei.
Der Familienvater, Wilhelm Bergmann, war geschäftstüchtig und fleißig. Er hatte schon in jungen Jahren einen großen Kundenstamm. Die Stoffe kaufte er bei einem jüdischen Händler und er freute sich wenn er Herr Cohn kam. Dann sagte er beim Mittagessen:, “ET Jüdche kömmt!” Die Kinder liefen auf die lindenbestandene Straße und warteten auf die Kutsche. Das war ein besonderes Ereignis und
eine große Abwechslung für den Schneidermeister.
Dann tranken die Beiden zusammen ein Körnchen oder “ne OPJESETZTE“.
Das war eine Art Likör, der aus schwarzen Johannisbeeren und weißem Korn oder mit Sauerkirschen hergestellt wurde. Manchmal rauchte der Vater dann auch ausnahmsweise in der Woche eine Zigarre. Er war sehr bescheiden in seinen Ansprüchen, wollte er es doch einmal weiterbringen als seine Eltern, die in noch kleineren Verhältnissen aufgewachsen waren.
“ET JÜDCHE” brachte “ENGLISCHE WARE“, und Stoffe von den berühmten “AACHENER STOFFFABRIKEN“, feinste Futterseide und Sammet für Mantelkrägen mit, wenn er mit zwei großen Koffern aus der Kutsche stieg, und er hatte auch andere Zutaten in seinem Koffer. Er brachte Hosenträger, Schuhdeckchen, Sockenhalter, Kummerbunde, Hemden, Hemdbrüste und extra Kragen zum Anknöpfen, Schnallen und Knöpfe, Kragenknöpfe, Nähgarne und Nähseiden, Nadeln und Modehefte mit. In den vornehmen Kreisen legte man großen Wert auf Eleganz und Qualität.
Der Schneidermeister war stolz auf seinen exklusiven Kundenstamm denn er arbeitete modern und solide und war zuverlässig. Er fertigte auch Reitkleidung an und das war eine Besonderheit.
Es machten den beiden Spaß, um den Preis für die Stoffe und Zutaten zu handeln aber sie wurden sich am Ende immer einig und dann holte der Vater die Goldstücke, die er für den Einkauf der Stoffe zurücklegte aus einem kleinen Wandschränkchen aus Eichenholz, das mit Schnitzereien verziert war und bezahlte in bar.
Den Schlüssel zu diesem Schränkchen hatte nur er. In dem Schränkchen waren auch
alle Papiere, die für die FAMILIE aufbewahrt wurden. Für die Kinder war
“et Jüdche” eine besondere Erscheinung. Mit seinem langen, schwarzen Tuchmantel und dem kleinen, runden schwarzen Käppchen sah er Respekt gebietend und fremdartig aus. Er war sehr freundlich zu den Kindern und hatte immer ein paar Süßigkeiten dabei und deren bekamen die Kinder selten. Anna erzählte ihrer Tochter als sie schon achtzig war, von diesen Begegnungen.
“Et Jüdche” streichelte dann auch Ihren Scheitel und das war etwas ganz Besonderes.
Auch der Pastor ließ seine Kleidung bei Annas Vater anfertigen und Anna hörte einmal, dass er zum Vater sagte: “Schade, dass Anna nicht die höhere Schule besuchen kann!, Sie hätte das Zeug dazu, besondere Leistungen zu erbringen.“ “Er erzählte, dass er nur auf Wunsch seines Vaters Pfarrer geworden sei und lieber eine Familie gegründet hätte. Anna versuchte immer den Gesprächen der Erwachsenen zu folgen und passte auf, dass ihr nichts entging. Der Pastor erzählte, dass der Bauernhof, einer der größten in der Gemeinde, an seinen ältesten Bruder ging und dass er studieren musste, obwohl es ihn mehr zur Landwirtschaft gezogen hätte. Doch das wollte sein Vater nicht dulden und so musste er Pfarrer werden.
“Zur Ehre der Familie!”
Der Vater sagte später zur Mutter: “Der ist auch nicht mit seinem Schicksal zufrieden, der hätte auch besser eine Familie gegründet und Kinder gezeugt!”
Das war wieder ein Rätsel. Anna fragte den Vater: “Was ist gezeugt?”
“Anna, Du sollst uns nicht immer belauschen, das gehört sich nicht!”
“Ja, aber was ist das denn?” “ Dafür bist du noch zu jung!, Stell´ nicht immer solche Fragen und hilf lieber der Mutter!”
“Ja, aber der Pfarrer war doch so traurig, ich hab’ es an seinem Gesicht gesehen!” Anna war sehr weichherzig und der Pfarrer tat ihr leid, obwohl sie einen Ekel vor seinen geschwollenen Händen hatte, mit denen er ihre Hände in die seinen nahm, wenn er sie begrüßte. Andererseits war er einer der wenigen Erwachsenen, der von den Kindern Notiz nahm, wenn er zu ihnen kam.
Von höherer Schulbildung für Anna wollte der Vater nichts wissen, denn von den älteren Söhnen und der Schwester, die genau so begabt waren, hatte keiner die höhere Schule besucht, weil dazu die Mittel nicht ausgereicht hatten und nun sollte ein Mädchen in den Genuss kommen, das hätten die Anderen als ungerecht empfunden. Auch wohnten sie zu weit von der höheren Mädchenschule entfernt. “Mädchen heiraten ja doch“, sagte er, “dann ist alles für die Katz!” Für die Eltern genügte es, dass die Kinder gute Schüler waren. Anna ging brav jeden Tag zur Schule. Sie ging in Holzschuhen wie alle Kinder und trug die von der Großmutter selbst gestrickten Strümpfe. Nur die Kinder der “Dicken Bauern”, so nannten sie die Bauern mit dem vielen Land, trugen auch in der Woche Lederschuhe aber die Kinder sagten, dass sie in den Holzschuhen nicht so kalte Füße bekommen würden. Die Eltern sagten: “In den engen Lederschuhen bekommt man Frostbeulen!”
Die Winter waren in diesen Jahren streng. Eis und Schnee hatte es manchmal Wochen lang. In den Schlafzimmern wurde im Winter nicht geheizt. Es gab dicke Federbetten und Wolldecken und wenn man nachts mal aufstehen musste, ging man auf das “Plumpsklo” neben dem Schweinestall. Da war man darauf bedacht, das schöne warme Bett gut zuzuschlagen um dann beseligt wieder unter das warme Federbett zu kriechen.
Morgens brannte schon hell ein Feuer in dem großen Küchenherd und Annas Mutter hatte die vielen Brote schon geschmiert. Eine Tasse heiße Milch und ein Butterbrot, am liebsten mit Butter und Zucker, das aß Anna am liebsten, den Tornister und schon ging es los in die Schule. Der Schulweg war weit. Sie musste täglich eineinhalb Stunde laufen.
Anna wäre gerne noch ein bisschen länger in der warmen Küche geblieben und hätte die mit Eisblumen bedeckten Fensterscheiben angehaucht. So wundervolle Bilder von Blättern und Zweigen hatte sie noch nie gesehen.
“Morgen werde ich etwas früher aufstehen, damit ich mehr Zeit habe”, dachte sie und lief zur Schule, denn man durfte auf keinen Fall zu spät kommen. Das gab meistens einen Schlag auf die Finger, wovor sich Anna fürchtete, denn das tat sehr weh. Einmal hatte sie einen Schlag mit dem Lineal auf die Hand bekommen, weil sie trotz Ermahnung mit der Banknachbarin geschwätzt hatte. Seitdem war sie sehr vorsichtig, damit ihr das nicht noch einmal passieren sollte.
In Annas schule gab es einen Lehrer, der auf die Jungen einschlug, wenn sie unaufmerksam waren oder kleine dumme Streiche machten.
Die Kinder sahen es ihm schon an, wenn er die Klasse betrat. Sein Gesicht war gerötet und verzerrt. Dann hatten sie alle Angst vor ihm. Es dauerte dann meist nicht lange, bis er einen Jungen gefunden hatte den er verprügeln konnte. Der musste sich dann über die Bank legen und der Lehrer schlug mit einem Rohrstock. Er hatte zwei Stöcke. Einen dickeren und einen ganz dünnen, der dicke war für den Hintern und der dünne für die Finger. Er sagte, “der zieht besser!” Dann schlug er unbarmherzig zu. “Wirst du morgen deine Schularbeiten richtig machen?” fragte er, dann schlug er wieder zu. “Wirst du nicht mit dummen Entschuldigungen kommen?” Schlag auf Schlag! Das wiederholte sich und wenn eines der Kinder aufmuckte und schrie, schlug er noch fester zu. Die Kinder wagten nicht zu protestieren, denn der Lehrer hatte die alleinige Macht und die Prügelstrafe war gesetzlich erlaubt.
Die Kinder mussten dabei zusehen und durften nichts sagen.
Einmal hatte er einen Jungen so geschlagen, dass dieser eine Rippe gebrochen hatte und voller blauer Flecken war und das war nicht alles was man ihm vorwarf.
Schon die Väter hatten unter diesem brutalen Menschen zu leiden gehabt und schon da hatten die Leute gesagt: “Der schlägt noch einmal einen tot!”
Die Kinder schlichen nach so einem Vorfall traurig nach Hause und konnten sich nicht wehren. Manche Eltern sagten: “Eine Tracht Prügel hat noch keinem geschadet, es gibt auch sonst im Leben viele Ungerechtigkeiten und das ist eine davon!”
Solche dummen Sprüche waren nicht selten.
In ihrer Hilflosigkeit sagten sie manchmal: “Nun heul nicht so, sonst kriegst du noch eine rein!“
“Was meinst du, wie es ist, wenn du erst mal Soldat bist?, dann wirst du erst recht geschliffen“
“Beim “Barras” hat der Spieß hat sie noch alle zurecht gebogen!”
Was war der Spieß, fragte sich Anna als sie davon hörte.
Solche Sprüche mussten sich manche Schwestern anhören, wenn die Väter mit den Brüdern sprachen. Sie waren froh, dass sie nicht Soldat werden mussten aber sie hatten andererseits so viel Angst vor dem Lehrer, dass sie kaum miteinander über diese Vorfälle sprachen.
Annas Eltern verurteilten das Verhalten des Lehrers, doch wie üblich bei den “kleinen Leuten“, wie sie sich selbst bezeichneten, wollten sie sich nicht einmischen, so lange es nicht IHRE Kinder betraf.
Sie sagten, dass manche Menschen so denken und dass es ausgesprochen dumm sei.
Die Methoden des Lehrers seien krankhafte Handlungen.
Es gab auch ein paar Väter, die dumme Sprüche machten, wenn sie beim Anna’s Vater zur Anprobe waren.
Da wollte er sich mit Kommentaren auch nicht das Geschäft verderben. Zu den Redensarten schwieg der Vater und legte sich nicht mit den Kunden an.
Zu Anna sagte er einmal, “Reden ist Silber, Schweigen ist Gold!” Den Spruch merkte Anna sich und behielt ihn ihr Leben lang.
Nach der letzten Prügelei des Lehrers war Kirmes und ein paar Buden und Karussells wurden aufgebaut. Die Kinder freuten sich schon darauf und bekamen ein paar Pfennige Kirmesgeld. An “Kirmes” hatten sie schulfrei und freuten sich das ganze Jahr darauf. Annas Vater wurde zur Kirmes mit einer Kutsche abgeholt, weil er Ehrenmitglied des örtlichen Schützenvereins war. Er trug dann seinen besten Stresemann,(gestreifte Hose, einen schwarzen Gehrock, ein weißes Hemd und einen Zylinder), dazu Glacehandschuhe und schwarze Schuhe aus feinem Leder. So machte er als Schneidermeister für sich und seinen Beruf Reklame. Die Mutter brachte dann ein Tablett mit weißem Schnaps an die Kutsche. Alle tranken, der Kutscher schwang die Peitsche und dann ging es zur Messe in die Kirche. Nach der Festmesse fuhren sie zum Festzug. Alle winkten dem Schützenkönig zu. Anna war sehr stolz auf ihren Vater und auch auf die Mutter, die ihr schönes schwarzes Seidenkleid mit der Spitze am kleinen Ausschnitt und mit Knöpfstiefelchen, Hut und Handschuhen sehr vornehm aussah. Sie ging mit den anderen Frauen zur Kirche und zum Festzug. Die Straßen waren mit Girlanden aus Birkengrün und Papierrosen geschmückt und am Haus der Eltern standen zwei Lebensbäumchen.
Die Kinder trugen schöne Kleider und wurden angehalten, sich gut zu benehmen und sich nicht schmutzig zu machen. Es war ein sehr schöner Tag und alle strahlten vor Freude. Die Großeltern versorgten die Tiere und das Haus und die Mutter hatte endlich auch einmal frei. Für die Kirmes wurde gespart und an diesem Tag gönnte man sich etwas. Die Erwachsenen tranken Wein oder Bier und die Männer auch hier und da ein Schnäpschen. Sie wussten, dass ihre Frauen und die Mädchen sich gebrannte Mandeln wünschten und dann bekam Jede ein Tütchen. Die Frauen waren sehr zurückhalternd mit alkoholischen Getränken, denn man sagte, es gäbe nichts Schlimmeres, als eine betrunkene Frau, die sich dann auch noch den Männern an den Hals wirft. Anna hatte diese Sätze schon öfter gehört, konnte sich aber nichts darunter vorstellen. Dieses “an den Hals werfen” musste ja etwas Schreckliches sein, weil die Frauen dann so empört waren ob dieser unmoralischen Handlung. Aber Anna bemerkte dann auch das verschmitzte Lächeln des Vaters, den solche Handlungen bei anderen Leuten wohl amüsierten. Es durfte aber nichts derartiges in der eigenen Familie passieren. Er hatte ja auf seinen Ruf als seriöser Handwerksmeister zu achten. Diese Vorkommnisse hielten sich als Gesprächsstoff Jahre lang. Was in solchem Trunkenheitszustand dann noch alles passieren konnte, war nicht auszudenken. Man sprach dann gegebenenfalls von “Kirmeskindern!” Das wurde dann auch später in der Schule unter den Kindern heftig diskutiert, denn den Eltern oder den Großeltern durfte man mit Fragen nicht kommen.
Von manchen Klatschtanten wurden Familienähnlichkeiten überprüft und: “Nichts Genaues weiß man nicht”, machte die Runde.
Solchen Tratschereien waren aber auch die Männer nicht abgeneigt, nur waren es dann, wie sie sagten, “Männergespräche“, die sie “unter sich” führten.
Anna dachte, dass es doch sehr ungerecht sei, wenn die Männer zusammen saßen und über manche Leute lachten und Sprüche klopften.
Aber diese Kirmes würde man niemals vergessen, denn Anna sprach bei Gelegenheit immer wieder darüber. Am Tag nach der Kirmes, machte ein Gerücht die Runde. Es sei bei Tagesanbruch ein toter Mann hinter den Buden gefunden worden. Die Polizei sollte “VOR ORT” sein und alle waren in heller Aufregung. Es war eine unheimliche Stimmung und ein seltsames Getuschel unter den Frauen. “Wer mag das sein?” “Ist es einer von uns oder aus der Stadt?”
“Ja, es waren ein paar Männer aus Kleve da, die sich an die Mädchen heranmachen wollten aber darauf ist keine von uns eingegangen.” “Von uns Verheirateten schon gar nicht! oder doch?” “Ja, vor ein paar Jahren war schon mal so etwas und es gab nachher eine Schlägerei wegen der Lotte vom Baumhof ! Die hatte sich mit einem von den Städtern unziemlich benommen. Mitten auf der Tanzfläche hatte er sie in den Po gekniffen und dann sind die beiden verschwunden!” Als das erzählt wurde, sagte Annas Vater: ”Es sucht keiner hinter dem Gebüsch, der nicht selbst dahinter gelegen hat!” Das war für Anna wieder eine Gelegenheit nachzudenken, was da wohl so Schlimmes passiert war und was die da hinter dem Gebüsch gemacht hatten.
Wie sich herausstellte, war der Tote der Lehrer, der die Kinder so oft geschlagen hatte. Anna erinnerte sich, dass am Kirmestag mehrere Väter von den Schulkindern gesehen wurden, die sich vor dem Festzelt versammelt hatten und heftig gestikuliert und geschimpft hatten. Das fiel auf, weil “an Kirmes” immer eine heitere Stimmung herrschte. Dann wurde gefeiert und gelacht und getrunken. Der Vater sagte dann: “Wer niemals einen Rausch gehabt, das ist kein braver Mann!” Berauscht sein, das kam beim Vater aber eigentlich recht selten vor, denn dazu fehlte das Geld und er war auch darauf bedacht, bei Festlichkeiten einen guten Eindruck zu hinterlassen und wollte von der Kundschaft nicht beredet werden.
Es wurde gemunkelt, dass einige Männer Schnaps brannten, aber das war verboten und wurde bestraft wenn es herauskam.Es kam vor kam vor, dass junge Burschen wegen eines Mädchens in Streit gerieten, oder eine allgemeine Rauferei stattfand. Dann gab es: “Blaue Augen”. Im Allgemeinen wurden solche Vorkommnisse belächelt. Man dachte an eigene Dummheiten und
das gehörte nun einmal dazu, wenn Kirmes gefeiert wurde. Vater sagte dann: ”Die Kerle sind nicht zu bändigen, wenn sie in dem Alter sind.
“En löpsche Katz“ hälste och net fest”! Das mit der “Katz” war wieder für Anna eine Gelegenheit nachzudenken.
Die Kirmes war vorbei und man hörte nichts über den Tod des Lehrers und wie er zu Tode gekommen war. Die Polizei stellte Fragen in der Schule und ging von Haus zu Haus, um etwas von den Kirmesbesuchern zu erfahren aber den Leuten war nichts aufgefallen. Zumindest sagten sie das.
Die Kinder wurden nicht befragt, weil die Kinder sowieso nichts zu sagen hatten. Da man aber den Lehrer hasste, hatte man auch tunlichst vermieden, mit ihm auf dem Platz oder im Festzelt Kontakt aufzunehmen. So bestraften sie den Lehrer, der alleine, oder mit seiner schüchternen Frau über den Kirmesplatz lief. Niemand hatte mit ihm gesprochen, wohl auch, weil man ihm so Missachtung zeigen wollte und so konnte auch keiner etwas über seine Wege sagen. Die Beerdigung fand statt. Es war eine große Beteiligung in der Kirche und auf dem Friedhof, aber es herrschte keine Trauerstimmung. Für die Frau des Lehrers und den Angehörigen war es ein Spießrutenlaufen. Niemand trauerte diesem schrecklichen Menschen nach.
Der Pfarrer sprach wie immer bei Beerdigungen von: “Asche zu Asche!” und “Von Staub zu Staub. Anna dachte an den Küchenherd in dem eine Schublade war, die immer herausgenommen und ausgeleert wurde, damit das Feuer Luft bekam.
“Ich muss mal die Mutter fragen wegen der Asche“, dachte sie, “aber wegen dem Staub auch!”
In der Kirche und auf dem Friedhof sahen sich die Leute eifrig um, denn man musste ja wissen, wer alles dabei war. “War der Mörder auch auf dem Friedhof?”
Später wurde ausgiebig darüber diskutiert, wer alles auf dem Festplatz war, als der Mord geschah. Ja, man sprach in der Gaststätte, wo der Leichenschmaus stattfand, tatsächlich geheimnisvoll von Mord. Die Frau des Lehrers sah verhärmt und traurig aus, aber die Frauen sagten: “Die hat auch kein leichtes Leben gehabt bei den Choleriker!” Richtiges Mitempfinden hatten die Nachbarn aber auch nicht mit ihr.
Die Ehefrauen wurden in solchen Fällen in den Köpfen der Menschen zur “Komplizin” und dann konnte man besser zur Tagesordnung übergehen. Das war eben so! Darin waren die “frommen Katholiken” ziemlich mitleidlos. “Jeder kehre vor seiner eigenen Tür”, sagten sie und sie beteten die Litanei: “Herr erbarme dich unser!“ Niemand weinte ihm eine Träne nach und die Frau war nun Witwe, aber sie hatte immerhin die Rente von dem beamteten Lehrer und darum wurde sie nun insgeheim von mancher Frauen, deren Ehe, “nicht glücklich” war, beneidet.
Der Tod des grausamen Lehrers war den Menschen unheimlich. Einen “Mord” hatte es in ihrem Bereich noch nicht gegeben, aber man hatte Gesprächsstoff.
Die Polizei ermittelte weiter. Es wurde festgestellt, dass der Lehrer eine große Kopfverletzung und viele Hämatome am Körper hatte und er wohl an der Kopfverletzung gestorben war. “War es Mord… ein Mörder unter uns…???”
Die Kinder wurden ermahnt nicht mit Fremden zu sprechen und keinesfalls mitzugehen, was immer man ihnen auch versprach. Und wegzulaufen, sobald einer versuchen sollte, sie anzufassen.
Die Kinder gingen wieder in die Schule und Anna hatte andere Sorgen denn sie wusste immer noch nichts über die “Krankheit” der Brüder und sobald ein Gespräch aufkam, das zu einer Aufklärung hätte führen können, wurde sie raus geschickt. Sie fand bei Tante Hannchen, die sie wieder besuchen musste ein Gesundheitsbuch in dem sie zum ersten Mal etwas über den menschlichen Körper und über Geschlechtsteile fand. Es war eine farbige Darstellung von männlichen und weiblichen Körpern und gerade als sie mit hochrotem Kopf darin las, kam Tante Hannchen und nahm ihr das Buch weg.
“Das ist nichts für Kinder!” sagte sie! “Wie kannst du einfach in meinen Büchern lesen? Das sag´ ich deinem Vater!” Anna war verzweifelt und hatte schon Angst vor dem “Knieholz”. Auf dem Heimweg hatte sie ein beklommenes Gefühl. Sie hatte Angst, dass der Vater sie vorwurfsvoll ansehen würde. Die Tante hatte zum Onkel gesagt: ”Das ist ein frühreifes Kind!” Schon wieder so etwas Unheimliches! “Frühreifes Kind!”
“Vielleicht bin ich auch krank?“, dachte Anna. “Ich sehe ja auch ganz anders aus als die Brüder!”
Das Tuscheln und Geraune über den toten Lehrer hörte aber nicht auf und die Kinder versuchten etwas herauszubekommen, aber die Eltern wollten nicht, dass darüber gesprochen wurde. Niemand hatte etwas gesehen oder gehört aber hier und da wurde gesagt: ”Gut dass der weg ist!” Es war wohl auch nicht möglich, herauszubekommen wer ihm die tödlichen Verletzungen zugefügt hatte und wer an der Aktion beteiligt war. Die Polizei kam auch zu Annas Eltern, doch sie konnten nichts zur Aufklärung beitragen. Da sie ja nicht direkt im Dorf wohnten, drangen auch nicht alle Gerüchte zu ihnen durch und nach und nach kehrte Ruhe ein. Die Polizei ermittelte weiter. Es war für Anna unverständlich, dass keiner wissen wollte, was da Schreckliches passiert, und wie der Lehrer zu Tode gekommen war. In Gegenwart der Kinder wurde nicht darüber gesprochen. Nur beziehungsvolle Blicke gingen hin- und her. Ab und zu, wenn Kunden aus der Stadt kamen, wurden geheimnisvolle Gespräche geführt aber letztlich kam nicht heraus, wer den tödlichen Schlag geführt hatte oder ob der Mann mit dem Kopf auf eine der Metallstangen gefallen war. Wahrscheinlich einigten sie sich zum Schluss darauf, dass er auf die Metallstangen gefallen war.
Den Kindern fiel nur auf, dass es in der Schule nicht mehr so viel auf die Finger und auf den Po gab und darüber waren sie sehr froh. Die Jungen steckten sich nach einiger Zeit auch kein Zeitungspapier mehr in die Hose.
Über diese unheimliche Geschichte wurde noch Jahrzehnte später gesprochen und Anna erzählte sie später ihren Kindern, weil es in deren Schule, auch einen Lehrer gab, der die Kinder mit einem Schiffstau, in dem Knoten waren, schlug, aber das war schon im Jahre 1933.
Die Arbeit im Hause ging weiter und alles lief seinen Gang, dann aber kamen Kriegsgerüchte auf. Die Eltern und die Kunden sprachen über diese Gerüchte jedoch wollten sie es nicht wahr haben, dass wieder etwas so Schreckliches bevorstehen könnte.
Dazu kam, dass der Großvater, weil er nach seinem Mittagsschlaf ein Pfeifchen anzündete und nicht bemerkte, dass etwas Glut auf das Kissen in seinem Lehnstuhl gefallen war. Er ging in den Garten den er vorbildlich pflegte, obwohl er schon über siebzig war. Er las ohne Brille die Zeitung und hatte eine Art heimlicher Kräfte. Man sagte ihm nach, dass er eine heilende Hand hätte und manchmal kamen Leute zu ihm, denen er die “Hand auflegen” sollte, was er auch tat. Es gab Menschen, die gesundeten, aber als man ihn einmal fragte, woher er diese Fähigkeit habe, sagte er: “Das nehme ich mit ins Grab.” Er betete mit den Menschen die zu ihm kamen, hörte ihnen zu und sprach mit ihnen und machte ihnen auf ganz einfache Art und Weise Mut. Anna sagte später, als sie selbst Kinder hatte zu ihrem Sohn, der Großvater hätte wohl selbst nicht gewusst woher er diese Kräfte nahm aber das hatte er nie zugegeben.
Das war ja auch gut, denn manchem konnte er mit seinen Gebeten und dem Handauflegen Mut machen und helfen. Er nahm nie etwas dafür an, was sie auch brachten. Er sagte ihnen, dass seine Kraft nicht helfen würde, wenn sie dafür bezahlten.
Nach der Arbeit setzte er sich in seinem Zimmer in einen Lehnstuhl und zündete sich ein Pfeifchen an. Das wurde der Familie und dem Haus zum Verhängnis. Etwas von der Pfeifenglut fiel auf die Decke, die er um seine Rheumatischen Beine geschlungen hatte. Er ging in den Garten und das Haus brannte lichterloh.
Anna sagte später zu ihrer Tochter, er habe wohl keine hellseherischen Fähigkeiten gehabt, sonst wäre ihm die Feuersbrunst erschienen, die durch seine Pfeifenglut entstanden war und er hätte wissen müssen, dass das Ried gedeckte Haus in Flammen aufgehen würde.
Zum Glück konnten die Tiere gerettet werden und Menschen kamen nicht zu Schaden.
Weil das Haus weit weg von der örtlichen Feuerwehr war und das Fachwerk wie Zunder brannte, war nichts zu retten.
Annas Vater hatte zum Glück bei der Anschaffung des Hauses eine Feuerversicherung abgeschlossen, weil SEIN Elternhaus unversichert durch Blitzeinschlag und Feuer vernichtet wurde und die ganze Familie ohne Dach über dem Kopf gewesen war. Er hatte am eigenen Leibe erfahren, was es heißt, plötzlich mittellos auf der Straße zu stehen und das war der Grund, warum er eine gute, hohe Versicherung abgeschlossen hatte, die sehr teuer war.
Nachdem das Haus abgebrannt war, fand die Familie Unterschlupf bei Verwandten und Nachbarn und alles war sehr notdürftig, aber es musste gehen.
Trotz der Kriegsgerüchte und den politischen Unruhen ging das Leben weiter und es musste nach dem Brand eine neue Unterkunft für die Familie geschaffen werden. Die Versicherung zahlte einen großen Teil für ein neues Haus aus und der Vater hatte viel zurückgelegt. Er hatte viel zu tun, weil die jüngeren Kollegen Militärdienst machen mussten. Er beschäftigte einen älteren Schneider und einen Lehrling.
Es hatte mehrere Schlafzimmer, eine große Küche mit einem Küchentisch, an dem zehn Personen Platz hatten, feste Stühle aus Eiche, einen riesengroßen Küchenherd mit einem Wasserhafen und einem Nickelaufsatz für die Töpfe. Dazu einen großen Bauernschrank für das Geschirr und die anderen Haushaltsgeräte. Es gab eine Tenne zum Wäschewaschen mit einem großen Waschkessel und nahe der Tenne wieder einen Schweinestall, der durch das tief gezogene Walmdach in das Haus einbezogen wurde. Der Stall und die Tenne lagen Kellertief und vom Schweinestall, neben dem wieder das Plumpsklo war, führte eine Holztreppe mit breiten Stufen in den Flur von dem aus man in die große Küche gelangte.
Wasser gab es wieder aus dem Brunnen denn eine Wasserleitung gab es hier in dem Vorort von Kleve noch nicht und auch keine Kanalisation. Man konnte mit Hilfe der Pumpe das Wasser in den Wasserhafen leiten und wenn man wollte, auch in bereitgestellte Eimer, damit man nicht immer in den Hof laufen musste.
In den Schlafzimmern standen auf den Kommoden große Waschschüsseln und Krüge aus Porzellan oder aus Emaille und Nachttöpfe in den Nachtschränkchen.
Im Winter gab es auch Wärmekrüge die mit Sand gefüllt, und im Backofen des großen Küchenherdes gewärmt wurden.
In diesem neuen Haus hatten die Eltern nun einen Kolonialwarenladen eingerichtet.
Anna war begeistert und stolz auf “das Geschäft.” Hier hatte der Vater wieder einen seiner berühmten Sprüche losgelassen, denn er sagte: “Eine Hand voll Handel ist besser als eine Schubkarre voll Arbeit!”
Von der Küche aus ging es in den Vor- und Lagerraum für den LADEN, der zu Straße hin lag. Eine Treppe von sieben Stufen führte zu dem Laden hinauf und war mit einem Schmiedegitter gesichert. Im Parterre war das Wohnzimmer mit einem Kachelofen. Ein Buffet aus dunklem Eichenholz und einen Ausziehtisch mit acht Stühlen. Ein Sofa aus braunem Leder stand zwischen den mit weißem Tüll dekorierten Fenstern und Übergardinen aus aus moosgrünem Stoff. Über der Türe hing ein Brett, auf dem ein präpariertes Eichhörnchen saß. Das Eichhörnchen hielt eine Nuß in seinen kleinen Krallen. Es wurde erzählt, dass dieses Eichhörnchen dem Hermann Anna‘s großem Bruder, als er es fangen wollte, durch den Daumennagel gebissen hatte. Hermann hatte danach eine schlimme Entzündung an der Hand und es wurde erzählt, dass er knapp an einer Blutvergiftung vorbeigekommen sei.
Das jagte den Kindern einen Schauer über den Rücken, wenn diese Geschichte erzählt wurde. Wie das Eichörnchen aber zu Tode kam, wurde nicht berichtet. Jedenfalls war es “ausgestopft”, wie man sagte.
Ja, die Mutter hatte nun einen Kolonialwaren-Laden. Ein Ereignis für die lange, mit hohen Linden bepflanzte Straße, die an eine Allee erinnerte, und deren Zweige bis an die Kammerfenster im zweiten Stock ragten. Kleine Einfamilienhäuser waren rechts und links zur Straße, und für die Frauen war es nun ein weitaus bequemeres Einkaufen als zuvor, als sie noch in einem anderen Vorort von Kleve einkaufen mussten. Die Mutter war stolz auf dieses Geschäft und obwohl sie keinerlei Lehre gemacht hatte, stürzte sie sich in die Arbeit. Zuerst half ihr der Vater noch aber dann schaffte sie es allein. Die Geschäftseinrichtung war von einem Schreiner gefertigt. Alle Lebensmittel, wie Mehl, Zucker, Reis, Salz, Grießmehl, Nudeln, Gewürze wie Zimmetstangen, Koreander, Pfeffer, Nelken, Trockenpflaumen und Aprikosen wurden in großen und kleinen Schubladen aus Holz aufbewahrt. Große und kleine Holzschaufeln hingen jeweils neben den Schubladen und mit diesen wurden die Lebensmittel in spitze Tüten, die in an der Waage befestigten Ringen gesteckt wurden gefüllt und bis zum gewünschten Gewicht, eingeschüttet. Die Kunden passten genau auf, wenn Wilhelmine abwog. Sie war absolut ehrlich und hätte die Waage niemals manipuliert. Es gas auch Händler, die ein Geldstück unter die Waage klebten und so einige Gramm für sich gut machten. Es war dann ein Skandal, wenn so etwas herauskam.
Nebenher zog sie immer noch Schweine groß. Speck und Schmalz wurden im Laden verkauft und die anderen Teile wurden für die Familie verbraucht. Die Lebensmittel verliehen dem “Laden”, wie sie das Geschäft nannten, einen wundervollen, unverwechselbaren Duft. Es gab noch einen Raum hinter dem Laden der durch eine Türe mit einer Glasscheibe, vor der eine weiße Gardine hing, abgetrennt war. In dem Raum befanden sich die Lebensmittel und Flüssigkeiten, die aus dem Laden verbannt, aber auch für einen Kolonialwarenladen bereitzuhalten waren. Viele Jahre später hätte man gesagt, dass es ein “Tante Emma-Laden” sei.
Dort lagerten neben Schmierseife, Seifenflocken, Bleichmittel und anderen Waschmitteln, abgetrennt durch einen besonderen Verschlag, Salzheringe und Essig in Fässern. Auch Petroleum wurde abgezapft. Man brauchte es für die Tischleuchten.
Das Haus hatte eine gute Ventilation. Die Türe zum Schweinestall und nach Draußen und der Durchzug am Dachfenster im zweiten Stock war für die luftgetrockneten Schinken und Dauerwürste eine wunderbare Einrichtung. Bei Wind und Kälte war das nicht angenehm, weil dann der Sog ziemlich stark war aber das nahm man eben in Kauf.
Der Vater, der eine Erlaubnis zum Angeln im Altrhein hatte, wo ein großer Fischbestand für delikate Fische, wie Hecht und Schleie, Weißfisch und andere Fische für gutes Essen sorgten, ging mit den Brüdern zum Fischen. Das trug ihnen, wenn sie “Anglerglück” hatten, große Bewunderung ein.
Was nicht sofort gebraucht wurde, kam in Einkochgläser. Nichts durfte verderben. Es gab einen großen Garten in dem schon Birnbäume und Apfelbäume standen. Auch Beerenobst gab es schon vom Vorbesitzer, aber der Großvater konnte die schwere Arbeit nicht alleine bewältigen und so wurden nur noch Kartoffeln und etwas Gemüse angepflanzt. Eine Wiese diente zum Wäschetrocknen- oder bleichen.
Durch das Geschäft hatte die Mutter noch weniger Zeit als in dem alten Haus und konnte sich noch weniger um die Kinder kümmern. Sie waren alle sehr selbstständig
und waren auch stolz auf die Sonderstellung die sie durch den Fleiß der Eltern genossen, denn es gab große Armut “UNTERM KAISER”!
Ihr Haus war ein Doppelhaus mit einer Wohnung, die an einen Familienvater, der in Holland arbeiten ging, vermietet war. Er verdiente nur 25 Reichsmark die Woche und hatte eine Frau und fünf Kinder. Oft konnte er die Miete und die Lebensmittel nicht bezahlen, aber Wilhelmine stundete immer, denn sie kannte die Not der Menschen und verschenkte viel. Sie pflegte dann zu sagen: “Das ist eine arme Frau, der muss man helfen!” Die meisten Leute hatten ein Schwein im Stall und einen Garten in dem sie Kartoffeln und Gemüse zogen und Obst hatte auch fast jeder.
Anna war nun dreizehn Jahre alt. Ein schönes, schlankes Mädchen und sehr brav und Familientreu. Sie fühlte sich zu Hause geborgen, wenn die Erziehung auch streng war. Sie hätte gerne gelesen, aber in ihrem Elternhaus gab es keine Bücher. Nur die Bibel, die Gebetbücher, Lesebücher aus der Schule, ein paar Kirchengeschichten die man zur Kommunion bekam und ein einziges bebildertes Buch über die Leiden des heiligen Willibrordus. Er wurde heilig gesprochen, weil er für seinen Glauben nach schrecklichen Folterungen gestorben war. Das Buch hatten die Eltern zum Geschenk von der Heimatkirche, die Willibrordus Kirche hieß, erhalten. Anna fand das Buch schrecklich. Das viele Blut und die verzerrten Gesichter, und die Qualen, die der arme Heilige erleiden musste.
Es machte Anna traurig, dass es Menschen gab, die so etwas Böses tun konnten, aber sie las das Buch immer wieder, weil es sonst nichts gab.
Sie musste nun viel im Haushalt helfen und für Spielen oder Ausruhen blieb nicht
viel Zeit. Sie sollte sich an den Ernst des Lebens gewöhnen.
Dann kam mit vierzehn Jahren das Ende der Schulzeit. Anna erhielt das beste Zeugnis der Klasse. Die Kinder waren froh, die Schule verlassen zu können und der weite Schulweg, vor allen Dingen bei schlechtem Wetter und im Winter machte müde und verdrossen. So war sie glücklich über das Ende der Schulzeit und freute sich auf dem Weg nach Hause über den vermeintlich freien Tag, von dem die anderen Kinder schwärmten. Voller Stolz brachte sie der Mutter das Zeugnis und wollte zum Vater in die Schneiderstube, aber die Mutter rief ihr zu, sie solle den Vater nicht stören, er käme ja zum Abendessen, dann könne sie ihm das Zeugnis zeigen uns dann sagte sie: “Du musst jetzt in den Keller unter der Tenne, der ist voll Wasser gelaufen.” Anna sah die Mutter entsetzt an, aber wenn die Eltern etwas verlangten, erforderte das unbedingten Gehorsam und keines der Kinder hätte protestiert. Sie folgte dem Befehl und schöpfte Eimer für Eimer, bis ihr fast die Arme abfielen und ihre Tränen fielen in das Kellerwasser. Niemand kümmerte sich um sie.
Sie erinnerte sich später, dass sie in dem Moment und während der Arbeit ihre Mutter gehasst hatte, weil sie ihr nicht die Freude des Endes der Schulzeit gegönnt hatte, und weil sie ihrem Vater nicht das Zeugnis zeigen durfte. Noch mit 82 Jahren erinnerte sie sich an diesen Tag, als sie Wasser schöpfen musste und durchlebte noch einmal diese traurigen Stunden.
Später, als sie selbst Mutter war sagte sie, dass ihre Mutter wohl durch die Überforderung der sie ständig unterworfen war, das Gefühl für die Sehnsüchte der Kinder verloren hätte, doch es muss wohl ein nachhaltiges Erlebnis gewesen sein, das ihr Gefühl für Gerechtigkeit und Verständnis verletzte.
Sie sprach auch später nicht so viel von ihrer Mutter wie von ihrem Vater. Sie meinte, die Mutter hätte die Brüder mehr geliebt als die Töchter.
Anna war nun vierzehn Jahre alt und das Jahr 1914 wurde auch ihr zum Schicksalsjahr.
“HURRA, ES IST KRIEG” wurde verkündet. “WILHELM hat den Krieg erklärt!“
Bruder Hermann bekam den Gestellungsbefehl und musste sich in Kleve beim Einsatzkommando melden. Er war 21 Jahre alt und musste sich “STELLEN“!
In der Heimat lief alles normal weiter. Die Nachbarn redeten viel über den Krieg und die Männer sagten: “Das dauert nicht lange, unser Kaiser Wilhelm hat vorgesorgt!” Es wurde viel diskutiert und es fiel immer wieder der Spruch: “Unser Erbfeind der Franzose!” Der gewonnene Krieg 1870-1871 machte alle hoffnungsfroh und sie glaubten, dass es diesmal noch schneller ginge mit dem Sieg. “Wir werden sie jagen, die roten Hosen!”
“Wir werden das Vaterland verteidigen!”
Kaiser Wilhelm II reiste nach Wilhelmshaven und war sicher, dass die Kriegsflotte auf allen Meeren siegen würde. Die feindlichen Kräfte würden vernichtet, zu Lande und in der Luft.
“Doch warum mussten nun alle Freunde aus der Nachbarschaft einrücken?
Wer hat uns angegriffen?” fragte Anna den Vater.
“Ach Kind, das verstehst du nicht. Wir sind dem Kaiser verpflichtet und müssen unsere Pflicht tun“. Die Mutter weinte, weil nun zwei ihrer Söhne eingezogen waren. Hermann hatte schon den Wehrdienst abgeleistet und wusste, wie man sich beim “Barras” schinden musste. Willibrordus musste noch ausgebildet werden.
Anna hätte gerne eine Lehre als Verkäuferin oder als Schneiderin gemacht oder auch als Hutmacherin. Sie hatte auch von den Büroarbeiten gehört, die jetzt Mädchen machen könnten, wenn sie Schreibmaschine schreiben und Stenografie lernten. Doch das wurde ihr nicht erlaubt.
So schickte der Vater sie in die “XOX”, eine Keksfabrik. Das solle nicht für immer sein, sagte er, aber im Augenblick müsse man helfen wo man könne. In der Fabrik wurde Gebäck für die Soldaten hergestellt und dieses musste verpackt werden. Der Direktor der Keksfabrik ließ bei ihm arbeiten und sagte, er brauche dringend Personal. Anna, als brave Tochter fügte sich und ging Pakete packen. Doch der Wunsch nach einem eigenen Beruf ließ sie nicht los.
Bis 1915 packte sie Pakete und kurz bevor sie sechzehn wurde, stellte ihr ein Abteilungsleiter nach. Er verfolgte sie mit Blicken und versuchte ständig, ihr zu begegnen. Hier und da ein freundliches Wort und ein Lob für ihren Fleiß und ihre Ausdauer bei der Akkordarbeit. Anna, die diese Annäherungsversuche bemerkte
war verunsichert. Einerseits war sie stolz auf sein Interesse, andererseits hatte sie Angst vor ihm und seinen schwarzen Augen, die unzweideutig bestimmte Ziele zu
verfolgen schienen, wenn sie bemerkte, dass er sie von Kopf bis Fuß musterte.
Er erinnerte sie an den Mann mit den schwarzen Augen und an den Blick, den die Mutter ihm zugeworfen hatte. Obwohl sie den Vorgesetzten, der wohl schon dreißig Jahre alt war nicht mochte und Angst vor ihm hatte, schmeichelte es ihr, dass er ein so großes Interesse zeigte. Eine gewisse sexuelle Erregung erfaßte auch sie, wenn sie seine Blicke spürte. Er suchte Gelegenheit, nahe an ihr vorbeizugehen und sie zu berühren. Sie entzog sich ihm indem sie beobachtete, was er vorhatte. Es war ein bisschen wie Katz- und Maus-Spiel und sie genoss es im Mittelpunkt seines Interesses zu stehen. Eine für sie seltsame Situation, denn bisher hatte niemand ein besonderes Interesse an ihr und ihren Gefühlen gezeigt. Für die Eltern blieb sie das Kind und für die Brüder die kleine oder die große Schwester.
Anna war immer noch nicht aufgeklärt, und nun da auch sie bestimmte Gefühle und Sehnsüchte an sich wahrnahm, hatte sie Schuldgefühle. Sie konnte damit nicht umgehen und war verwirrt. Waren diese Gefühle verboten? Könnte sie bei der Beichte dem Pfarrer verschweigen, dass sie “unkeusche” Gedanken hatte? Was war das, was sie ständig in ihren Gedanken fühlte? Sie sehnte sich nach Zärtlichkeit und Liebe und nach Vertrauen. In ihren Phantasien sah sie einen schönen, blonden Menschen mit blauen Augen, der sie in die Arme nahm, sie beschützte und für den sie alles tun würde, um ihn glücklich zu machen. Wer das sein könnte wusste sie nicht aber es mußte etwas Wundervolles sein, einen Mann zu haben, wenn die Gedanken daran, solche angenehmen Gefühle auslösten. Warum wollten sonst die jungen Frauen unbedingt heiraten und eine Familie haben? “Es muss schön sein,” dachte sie aber dann sah sie auch wieder, dass viele ihrer Freundinnen über viel Arbeit und wenig Freude, über Geldnot und Verzicht klagten und dass sie so gar nicht mehr machen konnten, was sie wollten. Tanzen mochten die meisten Männer auch nicht mehr, wenn sie einmal verheiratet waren. Dann sprachen sie vom Ehejoch. Für die Männer war es nicht leicht, sich an die Ehemann- und Vaterpflichten zu gewöhnen. Man war es gewohnt jung zu heiraten, hatte kaum Erfahrungen und musste Ernährer der Frau sein, die ihrerseits Hausfrauenpflichten übernahm und auch eine gute Ehefrau sein sollte.
Es war unerläßlich, dass die Frauen bis zur Hochzeit Jungfrau waren und in der Hochzeitsnacht sollte dann das GROSSE WUNDER geschehen bei einem Ehemann, der selbst meist unerfahren war. Alle diese Gedanken gingen Anna durch den Kopf, während sie darüber nachdachte, was dieser Mann von ihr wollte.
Sie ging dem Mann aus dem Weg, wo sie nur konnte, doch inzwischen hatten auch andere Mädchen das Interesse des Vorgesetzten an Anna bemerkt und eine gewisse Eifersucht führte dazu, dass sie Anna mit dummen Bemerkungen quälten.
In Wirklichkeit war es aber so, dass Anna an dem Mann kein Interesse hatte. Er war nicht der Typ Mann, von dem sie träumte. Ihren Eltern erzählte sie von diesen Wahrnehmungen nichts. Sie hatte es aufgegeben, von ihnen etwas über die Zusammenhänge der Liebe zu erfahren. Die Eltern schämten sich, über Sexualität zu sprechen. Das Wort Sexualität hätten sie sicher auch nicht über die Lippen gebracht, auch wenn sie es gekannt hätten. Selbst der sonst so sprachgewandte Vater scheute sich, über “solche Sachen” zu sprechen.
Es ergab sich, dass eines der eifersüchtigen Mädchen aus der Fabrik mit Annas Bruder Hermann bekannt war und ihm erzählte, dass Anna ein Verhältnis mit ihrem
Abteilungsleiter hätte.
Statt nun mit Anna zu reden, erzählte er dem Vater davon. Der Vater stellte Anna zur Rede und sie sagte ihm, dass ihr das Verhalten des Mannes sehr unangenehm und nicht wahr sei, was das Mädchen erzählte. Der Vater aber wollte das nicht glauben. Anna war wirklich eine kleine Schönheit und auch nicht auf den Mund gefallen. Sie war in vertrautem Kreis sehr aufgeschlossen und lachte gern.
Das erfüllte viele mit Neid. Anna hatte den Mutterwitz ihres Vaters geerbt aber das war in vieler Menschen Augen nicht angemessen. Sie war von schnellem Verstand und hatte auf dumme Redensarten immer die passende Antwort. Dabei strahlten ihre Augen vor Lebenslust. Diese Eigenschaften durfte nur ein Mann haben. Die Frauen hatten den Männern eher zuzuhören und über deren Einfälle zu lachen. Denken konnten sie ja was sie wollten, nur sagen durften sie es nicht.
Ihre schönes Haar trug sie nun aufgesteckt. Es war kraus und wellig und böse Zungen sagten: “Krauses Haar und krauser Sinn, innen steckt der Teufel drin!” Der pure Neid.
Anna musste die Stelle aufgeben. Der Vater besorgte ihr eine Stelle als Haushalthilfe in einer Metzgerei. Dort wurde sie sehr gefordert, weil die Hausfrau in der Metzgerei mithelfen musste. Sie verkaufte im Geschäft Fleisch und Wurstwaren. Anna aber oblag die Arbeit im Haushalt, wie Fenster putzen, die Metzgerei schrubben und sonst alles was anfiel. Sie war abends sehr müde, aber in ihr baute sich ein Trotz auf. Sie wollte nicht einsehen, dass sie trotz ihrer guten Schulzeugnisse, ihrer schönen Schrift und ihres Fleißes keinen Beruf erlernen konnte.
Durch ein Gespräch im Laden, hörte sie, dass es in Kleve eine Schule für Stenografie und Schreibmaschine gäbe. Die Kurzschrift hieß: “Stolze Schrey!” Das war es! Kurz entschlossen ging sie dort hin und meldete sich an. Sie hatte wegen der Fleischauslieferungen, die sie auch besorgen musste, durch Trinkgelder etwas Geld gespart und wollte es für den Kurs verwenden. Das Erlernen der Kurzschrift machte ihr viel Freude und sie hatte schon vier Unterrichtsstunden absolviert. Die Lehrerin war sehr zufrieden mit ihrem Lerneifer und ihrer schnellen Auffassungsgabe, doch der Vater und die Mutter hatten bemerkt, dass sie seit einigen Wochen an bestimmten Tagen erst eine Stunde später von ihrer Arbeitsstelle kam und dann kam das Verhängnis auf sie zu. Ihr Vater stellte sich an einer bestimmten Stelle auf und bemerkte, dass sie in Aufregung an ihm vorbeilaufen wollte. Sie hatte ihn in ihrer Eile nicht gesehen, weil sie schnell nach Hause wollte. Sie wusste, dass der Vater es nicht dulden würde aber der Wunsch nach einer anderen Arbeit war so groß, dass sie den Gehorsam verweigerte und gegen seinen Willen Stenografie lernte und hatte doch Angst darüber zu sprechen. Der Vater aber dachte, sie habe sich mit dem Mann aus der Xox-Fabrik getroffen und die Bekanntschaft verheimlicht. Er trat ihr in den Weg und sagte: ”Du hast dich mit dem Kerl getroffen, du Hure!” Anna stand wie erstarrt. Sie wusste nicht einmal, was das Wort “Hure” bedeutete. Der Vater schlug sie ins Gesicht und fragte: ”Wie kannst du mir und der Mutter das antun?”
Anna kam gar nicht dazu, ihm zu erklären, wo sie ihre Zeit verbrachte um für einen Beruf zu lernen. Sie war erschüttert und traurig, dass ihr Vater, den so liebte, von ihr etwas so Verwerfliches denken konnte und schwieg. Ihr war das Herz schwer.
Zu Hause angekommen, unter den vorwurfsvollen Blicken der Mutter, erklärte sie dann, was sie in der fraglichen Zeit gemacht hatte. Der Zorn des Vaters ließ aber immer noch nicht nach, denn er hatte ja bestimmt, dass Anna nicht in eine Lehre gehen, sondern arbeiten sollte und sie ihren Kopf durchgesetzt und etwas erlernen wollte. Einen Beruf, der sie frei machte, wie sie dachte und nun dieses Dilemma.
Sie musste wieder in diese schrecklichen Metzgerei, wo sie Arbeiten verrichten musste, die sie hasste und wo sie nichts weiter als eine billige Arbeitskraft war. Nur der Umstand, dass man sie und den Lehrling so kränkte, dass selbst Annas Vater erbost war, verhalf ihr zum Ausscheiden aus dieser verhassten Firma.
Folgendes war passiert: Der Metzger feierte seinen Geburtstag und hatte eine Menge Leute eingeladen. Nachdem Anna und Anton, der Lehrling, ein Junge von 15 Jahren, den ganzen Tag gearbeitet und alle möglichen Sachen herbeigeschleppt, Stühle und Tische gehoben und geholfen hatten, den Tisch zu decken, wurde ihnen gesagt, dass sie auch an dem Geburtstagsessen teilnehmen dürften. Abwechslung war selten und so freuten sie sich auf das Festtagsessen. Sie durften am unteren Ende sitzen.
Das Essen wurde aufgetragen und Anna traute ihren Augen nicht. Anton und sie bekamen die Reste des Essens vom Abend zuvor, an dem auch schon Gäste da gewesen waren. Anna war empört und sie weinte vor Wut und der Junge weinte vor Kummer. Sie, die von Hause aus an gutes Essen gewöhnt war sollte, so etwas essen und sie schämte sich in Grund und Boden, wie sie nachher zu den Eltern sagte. Diesmal schwieg sie nicht. Der arme Junge tat ihr leid. Er erzählte ihr, dass er zum Frühstück immer Brot und Marmelade bekäme, während die Metzgersleute und der Geselle Wurst und Schinken zu sich nahmen. Er war das Kind armer Leute, die sagten, der Junge sollte etwas lernen und nicht, wie sein Vater, Tagelöhner werden. Ihm sollte es einmal besser gehen und Lehrjahre seien keine Herrenjahre.
Sie waren froh, dass sie nicht auch noch Lehrgeld bezahlen mussten und der Junge Unterkunft und Essen bekam. Sie hätten es auch gar nicht bezahlen können.
Annas Vater aber war nun empört darüber, dass man ihm, der doch einen so guten Ruf hatte, so etwas antun konnte, und seine Tochter so blamiert wurde, vor allen Gästen. Da stand die Familien-, aber auch die Geschäftehre auf dem Spiel.
Sie durfte aber trotzdem nicht weiter zu dem Stenografiekurs gehen. Er sagte: “Man weiß ja, was in den Bürobetrieben stattfindet. Da macht sich der Chef über die Mädchen her, es wird herumpoussiert und am Ende stehen die Mädchen da. Die Männer haben das Vergnügen und die Mädchen bekommen keinen rechtschaffenden Mann. “Wieso Herumpoussieren” wenn man tüchtig arbeitete? Was war das mit einem rechtschaffenden Mann? Anna konnte sich nicht erklären, dass ihr Vater, der doch sonst so gescheit war, so reden konnte. Er hatte sich da in etwas hineingesteigert, woraus er sich nicht befreien konnte und meinte das Gesicht zu verlieren, wenn er der Tochter nachgäbe. Einmal NEIN gesagt und dabei blieb es. Vielleicht hätte sie etwas von Doras Durchsetzungskraft und Widerspruch gebraucht aber das war ihr nicht angeboren und sie war zu sehr mit der familiären Situation verwachsen, als dass sie sich widersetzt hätte Auch liebte sie ihr zu Hause sehr und auch die Stadt Kleve, den Reichswald und die Natur. Trotzdem nagte etwas in ihr
und eine Unzufriedenheit mit ihrer Situation machte sich breit. Einer Cousine, mit der sie sehr befreundet, die aber evangelisch war, vertraute sie sich an. Das passte den Eltern nicht, weil ihre Cousine sich in Hermann, ihren ältesten Bruder verliebt hatte und er sich in sie. Das muss sehr schlimm gewesen sein, denn ihre Cousine erlitt einen Nervenzusammenbruch und sie mußte ins Krankenhaus. Er durfte sie nicht mehr sehen. Erstens, weil sie evangelisch war und zweitens, sie seine Cousine sei und das wäre Blutschande, sagten sie. Eine Heirat käme dann nicht in Frage und nur verheiratet dürfe man sich lieben. Außerdem sei das Inzucht und man bekäme verblödete Kinder. Man dürfe erst “ GANZ” zusammen sein, wenn man verheiratet sei. Die Kirche hatte natürlich auch ein Wörtchen mitzureden, zumal es zwei Religionen gab, die nicht zusammen passten. Frieda und Hermann hatten eine Grenze verletzt, was aber außer Anna niemand wusste. Frieda, ihre Cousine war die Einzige der Anna vertraute und der sie ihr Herz ausschüttete, aber Frieda konnte ihr auch nicht helfen. Es tat trotzdem gut, mit jemandem reden zu können, der das, was man sagte, nicht ausplaudern würde. Sie gingen zusammen spazieren. Der schöne Reichswald, der Moritzpark und das kleine Flüsschen “Kermesdahl”, das so romantisch dahin floss, liebten sie sehr. Sie gingen bis zum “Kupfernen Knopf” einem Aussichtspunkt im Reichswald oder fuhren auf der Kermesdahl Kahn. Das waren besonders vergnügliche Tage, wenn Anna mit ihrer Cousine Frieda etwas unternehmen konnte. Einmal gingen sie zum Fotografen und ließen sich zusammen fotografieren. Zwei ernste junge Frauen, gut gekleidet, mit Hüten und älter aussehend mit ihren achtzehn Jahren.
Wirklich schöne Erlebnisse von Bedeutung hatten sie noch nicht gehabt.
Frieda mit ihrer unglücklichen Liebe zu Hermann und Anna, die bisher noch keine Beziehung zu einem Mann gehabt hatte und die immer noch die brave Tochter war. Ihr fehlte Liebe und Zärtlichkeit aber die sollte vielleicht auch nie erfahren. Die Freundschaft der beiden Cousinen hielt ein Leben lang, wenn sie sich auch nur sporadisch sahen.
Der Krieg hatte sie alle verändert.
Hermann war an der Westfront und nur einmal bekam er Fronturlaub! Verlaust und verdreckt, mit zerrissener Uniform. Fußlappen an den Füßen, in den Stiefeln, die sie scherzhaft “Knobelbecher” nannten. Er sah verhärmt und verletzt aus und konnte nicht lachen. Man schrieb das Jahr 1917 und es wurde immer schlimmer mit dem Krieg. Der Stellungskrieg in Verdun forderte viele Opfer. Die Soldaten litten unter schlechter Verpflegung, trugen alte Uniformen und in den Ardennen starben sie zu Tausenden im Dreck der Schützengräben. Die jungen Männer, die so mutig in den Krieg gezogen waren, hatten schreckliche Bilder vor Augen, wenn sie an ihre sterbenden Kameraden dachten. Die Verwundeten schrien: “MAMA!” und sanken dahin um zu sterben. Die Sanitäter schleppten die Verwundeten in die Feldlazarette.
Gegenüber lagen die französischen und belgischen Soldaten und hatten die gleichen schrecklichen Erlebnisse und Sterben war angesagt. Viele Soldaten auf beiden Seiten verloren Arme oder Beine, erlitten Hirnschäden, wurden verschüttet, verloren das Augenlicht, oder das Gehör, oder wurden irre. Es waren die jungen Studenten und Schüler, die sich noch vor dem Abitur freiwillig für den Dienst am Vaterland gemeldet hatten, und die so Sieges hoffend durch die Straßen von Berlin gezogen waren; voller idealer Gedanken und Gefühle und wie bitter war das Erwachen!
Otto Dix schuf das Bild “IM SCHÜTZENGRABEN “ und über das Thema Krieg schrieb im Jahre 1929 Erich- Maria Remarque im “ WESTEN NICHTS NEUES“.
Doch von den beiden beeindruckenden Werken erfuhr die einfache Bevölkerung nichts. Es wäre vielleicht auch für die überlebenden Soldaten und die Daheimgebliebenen zu schrecklich gewesen, die entsetzten Augen der Soldaten wie DIX sie erlebt, und im Bild dargestellt hatte, und wie Remarque sie in seinem Buch beschrieb, gesehen und gelesen hätten.
Leider lasen nach dem Krieg zu wenige Menschen dieses Buch, das die Gräuel des Krieges so beeindruckend wiedergibt. Vielleicht hätten dann nicht so viele Menschen im Jahre 1939 “JA” geschrieen, als in der Nazizeit gefragt wurde: “Wollt ihr den totalen Krieg?”
Im Jahre1918 das Ende mit Schrecken. Der Krieg war verloren. Alle Siegesträume dahin. Der geliebte Kaiser verließ das Land und ging ins Exil nach Doorn in Holland. Die Bevölkerung war enttäuscht vom Kaiser und alle sagten: “Nie wieder Krieg!” Hermann kam bald nach Hause, aber er war sehr traurig und verletzt und es dauerte lange, bis er an Lebensmut gewann. Nun hatte Anna nur noch drei Brüder. Hermann, Aloys und Bernd und ihre Schwester Dora, denn Willibrord war in den letzten Kriegstagen schwer verwundet im Lazarett gestorben. Sie war nun nicht mehr das unbeschwerte Mädchen von einst, das Gedichte aufsagte und Volkslieder sang, sondern trauerte um die Brüder Willibrord und den lungenkranken Josef, den sie so lieb gehabt hatte.
Es war eine sehr traurige Zeit!
Französische Soldaten kamen als Besatzung. Eine Schmach für die stolzen Deutschen, die doch 1870-71 so schnell gewonnen, und ihren Sieg mit den Kapitulationsverträgen in Reims gefeiert hatten. Nach diesem Krieg demütigte man die Franzosen sehr und nun nahmen diese Revanche.
Deutschland musste hohe Reparationskosten zahlen und die Bevölkerung verarmte und hungerte. Das Kaiserreich zerbrach und alles endete in einem schrecklichen Chaos. Nun hatten die Franzosen das Sagen und das schmerzte die stolzen Deutschen sehr. Ab zwanzig Uhr war Sperrstunde und niemand durfte danach ohne Sondergenehmigung das Haus verlassen. Sie waren Gefangene im eigenen Land.
Anna sollte für die Mutter in Kleve etwas erledigen und lief eine Stunde zu Fuß in die Stadt.
Weil sie nicht wusste, dass Deutsche die Bürgersteige nicht benutzen durften, es war eine Sondermaßnahme der Besatzer, jagte sie ein junger, schneidiger Reiter, ein französischer Offizier, mit seinen Pferd vom Bürgersteig auf die Straße und machte sich ein Vergnügen daraus, sie zum Laufen zu bringen, Er hetzte sein Pferd mit flotten Sprüchen über das Kopfsteinpflaster, ohne Rücksicht auf sie und das Pferd. Erst als sich andere Besatzungssoldaten näherten, gab er auf und Anna weinte vor Angst und Atemnot.
Sie konnte lange Zeit dieser Angst nicht Herr werden. Sogar vor Ochsen und Kühen hatte sie Angst, obwohl sie doch zu Hause immer eine Kuh hatten und Tiere ihre Weggenossen waren. Nun aber prüfte sie bei Spaziergängen immer, ob Kühe und Pferde sich in sicheren Zäunen befanden.
Abwechslung gab es für junge Menschen nicht. Alles war trist und dunkel.
Nach und nach kehrten die Männer aus der Gefangenschaft zurück. Sie hatten in französischen Bergwerken oder in der Landwirtschaft arbeiten müssen. Sie waren mehr oder weniger traumatisiert waren sie und oft auch krank, doch gab es kaum Gelegenheit zur Erholung. Sie mussten sehen zu irgendwelchen Verdiensten kommen, denn Unterstützung gab es nicht. Viele hatten Frauen und Kinder. Die Not war groß und Wilhelmine hatte eine lange Anschreibeliste. Die Frauen hatten kein Geld um die vielen Mäuler zu stopfen und zu Lachen gab es nichts.
Doch waren die Niederrheiner erfindungsreich. Sie angelten im Altrhein und in den kleinen Flüssen und Bächen, und viele hielten Hühner und Schweine. Pilze wurden gesammelt und Kohl und Kartoffeln wurden angepflanzt. Man war genügsam und die Kirchen waren voll, wie immer in Notzeiten.
Hermann konnte wieder bei der Reichsbahn arbeiten und hatte Aussicht auf Beamtenstatus. Das bedeutete Sicherheit.
Sexuelle Bedürfnisse waren die Triebfeder für frühe Heiraten, denn man war gesellschaftlich verloren, wenn es heraus kam, dass zwei zusammen waren. Er heiratete bald! Seine Frau Maria war keine Schönheit, doch sie verehrte ihren Hermann sehr. Sie war eine “böse Zunge” und eifersüchtig bewachte sie ihren gut aussehenden Mann. Sie lief viel in die Kirche und neigte, wenn sie etwas Nachteiliges über eine andere Person sagte, den Kopf zur rechten Schulter, was ihr den Ausdruck einer Dulderin verlieh und sie war davon überzeugt, dass ihre Moralvorstellungen für alle zu gelten hatten.
Anna konnte kaum ein paar Worte mit Hermann, der ihr Lieblingsbruder war, reden, dann war seine Frau auf dem Plan und redete dazwischen. Maria war auf Anna’s gutes Aussehen und ihren klaren Verstand eifersüchtig, denn Anna beurteilte die Dinge objektiv und ließ sich nicht für dumm verkaufen. Hermann war auch sehr intelligent und liebte Anna’s Scharfsinn aber Maria liess keine Gelegenheit aus, um zu intrigieren. Sie war sehr eifersüchtig. Bald bekam Maria ihren ersten Sohn, dem noch zwei weitere folgen sollten. Nette Burschen, die Anna gern hatte.
Anna’s Mutter verkaufte inzwischen alles, was im Einkauf zu haben war. Es waren viele Sachen rationiert. Immer noch hatten sie ein Schwein im Stall und Hühner, auf die man aufpassen musste, denn der “Hühnerklau” ging um.
Später dann starb der Großvater und es gab wieder eine “Leich” im Haus.
Anna hatte den Großvater gern gehabt, denn er war immer lieb und freundlich mit ihr umgegangen und er hatte sie respektiert, doch die Großeltern hatten, wenn sie aufs Altenteil gingen, keinen Einfluß, wenn es um die Enkelkinder ging.
Er konnte ihr nicht helfen, als sie ihm von ihren Berufswünschen erzählte.
Die Großmutter war sehr krank. Sie war nun achtzig Jahre alt und konnte es gar nicht verstehen, dass der Großvater nicht mehr da war. In der Familie sagte man, sie ist “verkindscht!” Manche Leute machten sich darüber lustig, weil sie manchmal so komisch war und ihre eigenen Kinder nicht mehr erkannte, aber Anna tat die Großmutter leid. Hatte sie sich doch in der Kindheit so viel um sie gekümmert und war ein ruhender Pol in diesem hektischen Haushalt gewesen. Sie starb ein halbes Jahr später an Altersschwäche und die Verwandtschaft traf sich in diesem Jahr zum zweiten mal auf dem Friedhof, und nach der Messe und Beerdigung zum Beerdigungskaffee bei Bergmann’s. Der Laden war dann jeweils wegen “Todesfall” geschlossen.
Nun war die Familie kleiner geworden. Zwei Brüder und die Großeltern tot!
Die elternlose Cousine war Nonne geworden, aber sie hatte auch nie den Eindruck eines glücklichen Menschen gemacht. Eigentlich fühlte sie sich nur geduldet. Sie war sehr fromm und vielleicht war auch die Kirche ihr einziger Hort.
Dora heiratete Jakob, den Kutscher des Bankdirektors in Köln. Die jüdische Familie schenkte den beiden Angestellten die gesamte Aussteuer und noch einige Möbelstücke und das war in den Nachkriegsjahren eine große Hilfe für die jungen Leute. Der Bankchef gab ihnen einen Kredit zum Ankauf eines kleinen Häuschens mit vier Zimmern und einem kleinen Garten, in der Nähe von Köln. Statt einer Mietwohnung konnten sie den Kredit abzahlen, wobei Anna‘s Vater half.
Ein Glücksfall!
Jakob, Doras Ehemann, ein pfiffiger und fröhlicher Mann, hatte den Krieg gut überstanden und arbeitete weiter für die Bankiersfamilie, aber Dora musste von nun an zu Hause bleiben. Das war üblich. Eine verheiratete Frau ging nicht arbeiten. Sie versorgte den Haushalt und später sollten ja auch Kinder kommen. Der Mann musste in der Lage sein, die Familie zu ernähren. Er war der Haushaltvorstand und hatte das Sagen. Wenn eine verheiratete Frau einer Arbeit nachgehen wollte, musste der Ehemann sein Einverständnis geben. Diese Gesetzgebung galt noch viele Jahre.
Mit neunzehn Jahren arbeitete Anna auf Empfehlung, des Pfarrers und ihres Vaters auf einem Landgut als Stütze der Hausfrau. Frau Waldorf, die ein großes Gut mit in die Ehe gebracht hatte und eine Vertrauensperson brauchte, wie der Pfarrer sagte, war als treue und wohltätige Katholikin bekannt und ihr Mann Herr Waldorf wurde auf seine Empfehlung Kunde des Vaters. Herr Waldorf war ein vierschrötiger Mann, der eine dicke goldene Uhrkette über seiner Weste trug und mit Goldstücken bezahlte. Sein Beruf als Viehhändler brachte ihm viel ein und er war in seiner Branche sehr bekannt. Landauf, landab, verkaufte er die Tiere und war auf jedem Markt im Rheinland bekannt. Er war ziemlich dick und hatte ein rotes Gesicht. Wilhelm Bormann hatte den Verdacht, dass er gerne ein Gläschen zu sich nahm aber das taten andere Viehhändler auch. Das war in der Branche üblich.
Als Schneidermeister musste Anna’s Vater nun alle Kunden bedienen, die sich ihm anboten, denn viele Menschen waren verarmt und konnten sich Maßkleidung nicht leisten. Uniformröcke brauchte er nun ja auch nicht mehr herzustellen, denn die Träger versteckten nun ihre Ausgehuniformen, wegen des verlorenen Krieges.
Anna erfuhr von den anderen Bediensteten dass Waldorf einer von der “schlimmen Sorte” war. Die Knechte erzählten sich allerlei Geschichten und die Kuhmagd
sagte : “Der kann die Finger nicht bei sich behalten, wenn er gesoffen hat! Soll er doch zu seinen Weibern gehen, wenn er mit seiner Alten nicht zufrieden ist!”
Die Hausfrau erfuhr es, wie üblich immer zuletzt wenn etwas vorgefallen war und
dann war die Luft beim Mittagessen zum “Schneiden” Anna bediente am Tisch und saß mit am Tisch der Gutsherrin, denn ihre Zurückhaltung und ihr Schweigen dem anderen Personal gegenüber machte sie zur Vertrauensperson, obwohl sie noch so jung war. Frau Waldorf war immer sehr traurig, wenn etwas vorgefallen war, doch freute sie sich, wenn Anna bei ihr war und sie unterstützte.
Eines Tages hatte das Ehepaar furchtbaren Streit. Es ging laut her und Anna ging hinaus. Es ging um den Sohn, der von dem Vater total verwöhnt wurde und den er wie einen Erwachsenen behandelte. Der Sohn war sehr eigenwillig und frech. Anna hatte noch nie so einen Burschen kennengelernt und sie ging ihm aus dem Weg.
Zum Mittagessen war er nie da. Frau Waldorf hatte überhaupt keinen Einfluss und von niemandem Unterstützung.
Eines Morgens, Anna war immer schon um sechs Uhr in der Küche, herrschte große Aufregung. Frau Waldorf war verschwunden!
Mitten in der Nacht hatte sie sich mit einer Pferdekutsche abholen lassen, wie man später erzählte. Das war ein Ereignis, das das ganze Personal beschäftigte. Sie, die sonst immer so ruhige Frau, hatte etwas getan, was sich keine andere Frau in der Umgebung erlaubt hätte. Frauen hatten auszuharren! Das sagten sogar die Knechte. Letztlich hätten immerhin die Männer das Sagen und Frauen hätten zu parieren. “Wo kämen wir da hin?”, sagten sie, “wenn die Weiber machen was sie wollen?” und lachten hämisch. Einige sagten, “hinter der Hohlen Hand: “Vielleicht hat er sie umgebracht?” und sahen sich bedeutungsvoll an. Der Krach, den sie hatten, scholl ja über den ganzen Hof und er hat gebrüllt wie ein Stier, sagte der Pferdebursche.
Alle hatten an der Auseinandersetzung teilgenommen und und im Stillen freuten sie sich, dass, wie einer sagte: “Endlich einmal Leben in die Bude käme.”
Herr Waldorf suchte überall nach ihr und es war klar, dass nun alle über ihn lachten. Dem ist die Frau davon gelaufen, sagten sie und lachten hämisch. Einige sagten “Hinter der Hohlen Hand”, vielleicht hat er sie umgebracht!
Der Krach, den sie hatten, scholl ja über den ganzen Hof und er hat gebrüllt wie ein Stier.
Anna schwieg zu Allem, denn sie wollte nicht, dass man sagte, sie hätte von dem Verschwinden der Hausfrau gewusst. “Reden ist Silber, schweigen ist Gold…, dachte sie.
Frau Walldorf aber war nach Caub am Rhein gefahren, einem Mecca für verärgerte Ehefrauen, die es sich leisten konnten, einen Aufenthalt bei den Nonnen zu finanzieren, die Zimmer an katholische Frauen vermieteten, die es zu Hause nicht mehr aushielten und ihren Aufenthalt im Kloster finanzieren konnten. Caub am Rhein war ein idyllischer Ort, und Frau Waldorf erholte sich von ihrem strapaziösen Eheleben.
Arme Frauen hätten sich das nicht leisten können, denn das Kloster, das sie aufnahm, benötigte Geld für den Erhalt der Klosterkirche.
Der Chef war zu Hause ganz klein geworden und bat Anna, nicht fort zu gehen, denn der ganze Betrieb, was die Versorgung des Personals betraf, war die Aufgabe seiner Frau gewesen. Er wurde sich bewusst, dass er ohne die Frauen ziemlich auf dem Trockenen saß, und buk kleine Brötchen. Den Schafpelz zog er aber nur an, um Anna nicht zu verärgern, denn ohne sie, wäre alles “Drunter und Drüber gegangen,“ wie er sagte. Anna hatte solche Disharmonien in ihrer Familie nicht erlebt und solche Redensarten auch nicht, wenn gleich ihre Eltern sicher auch entsprechenden Streit gehabt hatten, denn manchmal war bei ihnen auch “Dicke Luft” gewesen, aber das hielt nie lange an. Ihr Wahlspruch in der Familie war, ”Lass’ nie die Sonne untergehen, über einem Streit!” Anna hatte diese Worte auch zu ihrem Wahlspruch gemacht und das half ihr später über manches Ärgernis hinweg.
In der Zeit sorgte Anna für den großen Haushalt und machte ihre Sache zu aller Zufriedenheit. Sie kochte gut, und hatte auch für die Bediensteten immer etwas Gutes bereit. Immer noch trauerte sie ihren fehlgeschlagenen Berufswünschen nach, aber sie hatte sich wohl schon damit abgefunden, dass es nichts werden sollte. Ihre Dienstherrin ließ sich Zeit in Caub und der Viehhändler ärgerte sich mächtig darüber, dass sie so lange weg blieb.
Insgeheim lachten die so genannten Freunde am Stammtisch hämisch über ihn, aber sie durften es nicht offen zeigen, weil sie in gewisser Weise von ihm abhängig waren. Kaufte und verkaufte man ja auch bei ihm, und Geld regiert nun mal die Welt, wie sie sagten. Aber Saufgelage machten sie mit.
Anna tat ihre Pflicht und nun, da Frau Waldorf nicht da war, wurde ihr Arbeitstag noch länger und es war viel, was ihr abverlangt wurde, doch sie hatte den Ehrgeiz, es zu schaffen.
Der sechzehnjährige Sohn, über die Jahre groß und etwas bullig, wurde von dem Vater verwöhnt und brauchte nichts zu tun. Er sollte auf eine Internatsschule geschickt werden, weil es in der Nähe keine Mittelschule gab. Aber der Junge sträubte sich und so brachte der Vater ihm den Viehhandel bei. Er schickte Hans, nun schon mit Goldstücken ausgestattet, allein auf die Viehmärkte und ließ ihn dort verhandeln. Der frühreife Junge machte die Bekanntschaft von Huren und leichtfertigen Frauen und meinte nun, er könne auch seine Finger nach Anna ausstrecken, und ständig ließ er seine Blicke an ihr auf- und abgleiten.
Anna hasste ihn, aber sie musste es ertragen, dass er sie ständig fixierte.
Der junge Mann aß nicht mit den anderen zu Mittag. Anna musste ihm das Essen nach seinem Befehl kochen. Er benahm sich wie ein Fürst, der seine Untertanen befehligte und sein Vater akzeptierte das. Seine Mutter war noch immer in Caub am Rhein, wie nun alle wussten, jedoch gönnten sie ihnen den Skandal.
Der Neid hat scharfe Augen, hatte Anna’s Großmutter früher gesagt.
Hans aß nur einmal am Tag, nämlich um 14 Uhr allein und dann musste Anna ihm zwei Köpfe Salat aus dem Garten holen. Außerdem bestand er auf drei Kotelettes oder fünf bis sechs Eiern. Auch einem großen Kranz Bratwurst war er nicht abgeneigt. Dazu aß er Brot oder Kartoffeln und trank Bier oder Wasser. Anna sagte zu der Kuhmagd: “Der frisst wie ein Schwein!” Das Schlimmste aber war, dass er versuchte, Anna zu betatschen und sie mit dummen Redensarten zu belästigen.
Sie, die immer noch unschuldig war, wusste sich dieses Menschen nicht anders zu erwehren, als körperlichen Abstand zu halten und zu schweigen.
Der Vater kümmerte sich kaum um den jungen Mann. Anna gefiel es nun gar nicht mehr in diesem Haus, denn so hatte sie sich das Hauswirtschaften nicht vorgestellt.
Doch bevor sie etwas unternehmen konnte, kam Frau Waldorf wieder nach Hause.
Sie war eine fromme Frau und der Pastor in Caub hatte gesagt, dass sie zu ihrem Mann zurückzukehren solle. Sie alleine könne ihn zum Guten beeinflussen. Es sei doch die Pflicht einer Ehefrau, zu verzeihen. Was sollte sie auch sonst machen?
Sie konnte ja nicht immer in Caub bleiben und sehnte sich nach ihrem Haus, das einmal ihr Elternhaus war
Anna war sehr nachdenklich geworden und fand es schrecklich, dass diese betrogene Ehefrau, nun auch noch im selben Zimmer schlafen musste wie der fette Mann. Manchmal, wenn die Fenster offen standen, hörte sie ihn schnarchen wie ein Nilpferd, denn Anna’s Zimmer war eine schöne Dachkammer, über dem Schlafzimmer der Gutsleute.
Eigentlich fand sie es ganz schön, so selbständig zu arbeiten aber dieser Sohn…
So lief also der große Haushalt weiter im alltäglichen Einerlei. Hans, Sohn, machte was er wollte und er belästigte Anna weiterhin.
Die fromme Mutter hatte aber ein Auge darauf, denn ihr waren die eindeutigen Blicke des Sohnes nicht entgangen.
Eines Tages versuchte Hans, Anna zu umarmen und als sie sich wehrte, packte er fester zu, um sie zu küssen. Aufgeregt presste er sie an sich und tastete sie ab, aber es gelang ihr, sich loszureißen, nachdem er versuchte hatte, seine Zunge in ihren Mund zu stoßen. Sie biss in die Zunge und war voller Ekel, weil sein Speichel über ihr Kinn lief und einen schrecklichen Geruch verursachte. Wahrscheinlich hatte er faule Zähne.
Der Schmerz, den sie ihm zugefügt hatte, machte es möglich, dass sie sich befreien konnte. In Panik rannte sie die Treppe hinauf, statt herunter und er verfolgte sie und schrie: “Ich krieg dich doch, du blöde Kuh!”
Anna erreichte das Dachgeschoß und den Taubenschlag und da hinein floh sie und schloss die Türe mit dem Riegel. Hans rüttelte an der Türe und schrie, “Komm raus, ich trete die Türe ein!”
Anna war entsetzt und meinte seinen Schweißgeruch durch die Türe zu spüren.
Der Krach, den er verursacht hatte, war nicht unbemerkt geblieben.
Die Mutter kam über die Treppe nach oben. Der Viehknecht hatte auch den Krach vernommen und polterte hinterher. .Anna hatte nicht geschrieen. Sie war vor Schrecken stumm.
Hier hatte die sonst so nachgiebige Frau Mut bewiesen, denn der junge Mann sah seine sonst so sanftmütige Mutter wie eine Furie auf sich zukommen, starrte sie verwundert an und spürte sodann einen heftigen Schlag auf die rechte und dann noch einen auf die linke Wange. Danach schubste sie ihn die Treppe hinunter und schrie: “Wir sprechen uns noch, du Schwein!” Sie rief: “Anna komm` raus, der tut Dir nichts mehr!”
Die Mutter war außer sich. Sie sah, dass sie auf diesen Sohn, der ihr einziges Kind war, keinen Einfluss hatte und war unendlich traurig.
Das Haus stammte von ihren Eltern und war ihr Eigentum gewesen, als sie ihren Mann heiratete und sie hatte auch Geld mit in die Ehe gebracht und nun musste sie sehen, dass alles langsam verkam. Die Trunksucht ihre Mannes und die Geldverschwendung nahm zu und nun noch die Handlungsweise ihres Sohnes!
Sie war der Verzweiflung nahe.
Hilfe war nicht zu erwarten. “Wenn Du Dein Leid nicht tragen kannst, musst du es schleppen“, sagten mitleidlos ihre Verwandten. Dieser Spruch wurde von vielen Leuten verwendet, wenn sie nicht weiter wussten und zu feige waren, einzugreifen. “Du hast ihn ja gewollt!” Mit dem Spruch kauften sie sich frei.
Verheiratete Frauen aus bürgerlichen Verhältnissen hatten keine Rechte.
Für die Eltern war es ein Ansehensverlust, wenn eine Tochter in ihrer Ehe nicht aushalten wollte und Kinder wurden in der Schule gehänselt, wenn etwas nach Außen drang.
Wenn ein Mädchen “gefallen” war, gab es kein Pardon, selbst wenn eine Vergewaltigung vorlag. Dann hieß es: “Wer weiß wie sie den herumgekriegt hat.”
Dabei spielten Neid und Missgunst eine große Rolle und die armen Kinder hießen: “Wechselbalg oder Bankert.” Da war es dann vorbei, mit der christlichen Nächstenliebe.
Ein uneheliches Kind war der Gipfel von Schande, und so wurden die jungen Mädchen auf Unterwerfung gedrillt.
Der Knecht hatte alles mit angesehen, aber so aufgebracht hatte er die Chefin, die sonst in diesem Haushalt nichts viel zu sagen hatte, noch nie gesehen. Sie hatte sich Respekt verschafft.
Eine Scheidung von ihrem Ehemann, diesem Ungeheuer, kam für eine gute Christin nicht in Frage. Eine gute Katholikin ließ sich nicht scheiden.-
Anna dachte: “Das hier ist ja noch viel schlimmer als die Sache bei der XOX.” Sie konnte ihre Eltern nicht verstehen, dass sie es zuließen, dass ihre Tochter, um deren Seelenheil sie angeblich so besorgt waren, in diesem Haushalt arbeitete, aber wahrscheinlich dachten sie, wenn die Tochter in einem so reichen Haushalt untergebracht sei, könne ihr nichts passieren, zumal es bekannt war, dass die Hausfrau eine so fromme Christin war. Durch den Pfarrer wurde Anna ja dorthin vermittelt und sie dachten, dass sie dort sicher sei. Der Viehhändler war bei den Anproben immer sehr ruhig gewesen und gab keinen Anlass, ihm zu misstrauen.
Einmal jagte Hans hinter Anna her, nachdem sie aus dem Garten frisches Gemüse geholt hatte. Sie nahm, als sie den Verfolger bemerkte, als Abkürzungsweg eine Weide, weil sie dort schneller im Haus war. Ein Ochse, der durch die Rennerei der beiden Personen aufgeschreckt war, rannte in wilder Eile Anna hinterher. Sie rannte auf die Gattertüre zu und erreichte sie mit knapper Not, riss sie auf, lief hinaus und warf sie so fest hinter sich zu, dass sie auf die Innenseite fiel. Der Ochse lief mit Wucht gegen den Holzzaun und der Junge sprang über den Zaun, um sich zu retten. Das war ein Aufruhr auf dem Hof, der das ganze Dienstpersonal erschreckte. Trotzdem genossen sie alle den Skandal, denn die Langeweile war groß. Hämisch lachten die Nachbarn, die insgeheim die reichen Leute beneideten und sich auf guten Fuß mit ihnen stellen mussten. Man lebte von Klatsch und Tratsch wie überall, wo die Langeweile herrscht. Außer Weihnachten, Ostern, Pfingsten und Kirmes gab es nur Familienfeste oder Hochzeiten, zu denen einige eingeladen wurden und die Leute hatten kein Geld, um sich zu amüsieren. Ab und zu gab es auch mal Tanz im Saal, aber das war’s dann auch. Die jungen Männer spielten Billard am Sonntag nach der Kirche und vor dem Mittagessen. Zu Hause wurden Kartenspiele wie Skat oder Sechsundsechzig oder “Spitz pass auf”, gespielt. Die etwas Gebildeteren spielten Quartett. Es gab Musiker…, Dichter…, Städte…, und Kathedralen Quartettspiele.
Anna hatte die Angst vor Kühen, Stieren aber auch vor Pferden, hervorgerufen durch das Erlebnis mit dem französischen Soldaten, der sie vor sich her getrieben hatte, nicht überwunden und das Erlebnis mit dem Ochsen und dem Sohn des Viehhändlers hatte ihr die Arbeitsstelle verleidet. Sie wollte weg von diesem Hof und für die Familie nicht mehr arbeiten. Leid tat ihr nur die Hausherrin, die sich so Vieles gefallen lassen musste. Diese Frau hätte sie gerne bei sich gehalten, denn sie hatte sonst keine Hilfe und sie hatte Anna gern.
Anna war neunzehn Jahre alt aber ein Liebeserlebnis hatte sie noch nicht gehabt.
Nur schlechte Erfahrungen mit dem Sohn des Hauses und dumme Sprüche der Knechte und des Hausherrn. Sie hatte Sehnsucht nach Kleve und ihrem Eltern.
Doch einen Tag, nachdem Anna ihrer Dienstherrin gesagt hatte, dass sie zu ihren Eltern nach Kleve zurück wollte, lernte sie Wilhelm Bürger kennen. Er war Schuhmachermeister und hatte schon für den örtlichen Bürgermeister Stiefel angefertigt, die dieser wegen einer Kriegsverletzung brauchte. Für Menschen mit Fußproblemen war es schwer, passendes Schuhwerk zu finden und nur wenige Schuhmacher fertigten Maßschuhe an.
Wegen seiner übereinander gewachsenen Zehen fand der Viehhändler keine passenden Schuhe, was ihn sehr unleidlich machte, denn jeder Schritt schmerzte. So kam Wilhelm Bürger in das Haus, das Anna verlassen wollte. Er verhandelte mit dem Viehhändler, denn die Anfertigung solcher Schuhe war kostspielig, weil es nicht mit dem Vermessen getan war. Leistenrohlinge mussten vorbereitet werden, damit das Oberleder nicht auf die hoch stehenden Zehen drücken konnte, oder es mussten entsprechende Wölbungen aufgebaut werden. Wilhelm nahm den Auftrag gerne an, denn die Anfertigung solcher Schuhe war teuer und das versprach ihm einen außergewöhnlichen Gewinn. Es herrschte große Armut im Land und nur Wenige konnten sich solche Anfertigungen leisten.
Er hatte aber auch einen zweiten Blick auf Anna geworfen, die so freundlich und geschickt den Haushalt versorgte. Sie warf ihm einen Blick zu und er dachte: “So ein Mädchen würde mir gefallen, aber auch der Mutter.”
Willhelm war dreißig, dunkelblond und entsprach ihrem Wunschbild, das sie von einem Mann hatte. Seine blauen Augen strahlten sie an und seine Stimme gefiel ihr. Er war groß und kräftig, aber nicht dick.
Weil er zehn Jahre älter war als sie, und seine Kenntnisse in fremden Landen erworben hatte, fand sie ihn außergewöhnlich, denn er konnte viel erzählen. Er war gut und solide gekleidet, worauf sie großen Wert legte, weil sie aus ihrem Elternhaus gelernt hatte: “Wie du kommst gegangen, so wirst du empfangen!”
Es war eine Frage der Höflichkeit, dass man sich solide kleidete, wenn man das Haus verließ und trug bei Einladungen zur Ehre des Gastgebers die besten Sachen, die man hatte.
Wilhelm besuchte nun verdächtig oft das Haus des Viehhändlers, um Änderungen an den Leisten vorzunehmen, nur um Anna zu sehen. Nun bekam er auch Aufträge für große und kleine Reparaturen an Schuhen und Pferdesätteln. Der Viehhändler bestellte nun noch ein Paar Stiefel. Auch empfahl er Wilhelm einigen seiner Stammtischbrüder, die gut bei Kasse waren. Das sicherte ihm Einkünfte, die er bisher in diesem Maße noch nicht gehabt hatte, aber die Zeiten waren insgesamt
schlecht und die Inflation schritt voran.
Das minderte aber nicht die Lebenslust der jungen Menschen, die in den größeren Städten lebten, und besonders in Berlin schlugen die Wellen hoch. Die so genannten
“Wilden Zwanziger!” Neue Tänze wurden getanzt. Die Röcke wurden kürzer, es wurde Bein gezeigt und der “Bubikopf” wurde erfunden. Die Tanzkleider hatten keine Ärmel, sondern nur schmale Träger und die Sandaletten hatten höhere Absätze. Frauen rauchten Zigaretten in langen Spitzen und die Männer zückten silberne Zigarettendosen und boten Zigaretten an. Beim Zigarettenanzünden wurden viel sagende Blicke getauscht und geheimnisvolle Reden über verbotene Bücher machten die Runde. Man wollte verrucht sein und fand ein sinnliches Vergnügen an Champagner und französischem Cognack. All’ dies war allerdings nur einer Gruppe von Menschen möglich, die über genügend Geld verfügten. Da mischte sich “Halbwelt”, wie Rauschgifthändler, Alkoholschmuggler, und Zuhälter, Halbweltdamen und Huren mit neugierigen und vergnügungssüchtigen Menschen aus “besseren Kreisen”, höheren Beamten, Akademikern jungen Erwachsenen, die auch einmal mitmischen wollten. Die “Studierten” zitierten Gedichte von Boudelair und sprachen französisch um sich vom “Einfachen Volk” abzusetzen. “Baletratten” tanzten Can Can und ein Mann mit Geld und Geschmack, hielt sich eine Geliebte. Spielsalons wurden gegründet und elegante Hotels eröffnet.
Berlin war ein Gemisch aus Eleganz und Dürftigkeit, aber davon erfuhren die Menschen in den ländlichen Regionen nichts. Sie waren, gezwungenermaßen, brave und folgsame, kirchentreue Bürger, die das “Lotterleben” verurteilten.
Sie verhielten sich so wie der Fuchs, dem die Trauben zu hoch hingen, denn im Stillen hätten sie gerne auch einmal so richtig auf die Pauke gehauen. So spielten sie dann die Moralapostel.
Alfred Döblin schrieb das Buch “Berlin Alexanderplatz” in dem die unterschiedlichen Verhältnisse geschildert wurden, doch so etwas lasen die Menschen auf dem Land nicht. Vielleicht hätte das freizügig geschriebene Buch auch auf dem Index gestanden, wenn es unter die Leute geraten wäre.
In der Provinz war man konservativ und tanzte Polka, Walzer und manchmal auch Foxtrott. Besonders beliebt waren Melodien von Léhar, Paul Linke, und den “Sträußen” - doch auch Gassenhauer, wie: “Wir verkaufen unsrer Oma ihr klein Häuschen und versaufen noch die letzte Hypothek.” Dazu tanzte man Rheinländer, ein Tanz mit jeweils drei Schritten - auseinander - , und beim zusammenkommen eine Walzerdrehung. Robert Stolz komponierte: ”Leb’ wohl, mein kleiner Gardeoffizier, schon vor dem Krieg, aber auch dazu wurde getanzt.
Es wurde übermütig gelacht und mit der Moral nahm man es nicht mehr so genau. Wegen des verlorenen Krieges und der fortschreitenden Geldentwertung waren auch die einfachen Leute ins Grübeln gekommen, wenn sie von den Exessen in Berlin und Hamburg, München und Köln hörten. Warum nehmen die sich alles, was uns verboten ist. Wir sollen die Moralapostel für die ganze Nation sein, sagten die Männer, die insgeheim gerne an diesem Leben teilgenommen hätten, aber brav ihre Pflicht tun sollten. Die einfachen Frauen wurden so wie so nicht gefragt.-
Sie waren froh, wenn sie einen neuen Hut für die Kirchgänge oder einen neuen Mantel bekamen, denn in der Woche trugen sie Schürzen über einfachen Röcken und Kleidern. Immer noch wurden viele Kinder geboren. Die Familien waren kaum satt zu bekommen und die Kirchen waren voll, wie immer in Notzeiten.
Die Sterblichkeit der Frauen im “Kindbett” war immer noch hoch, aber auch manches Baby wurde tot geboren oder hatte Missbildungen. Wurde ein Kind mit äußerlichen Merkmalen geboren , die auf Schwachsinn hindeuteten, sagten manche:
“Ist wohl im Suff gezeugt!” Eingebildete Emporkömmlinge sagten: “Vögeln und Besoffen sein, ist kleinen Mannes Seeligkeit!”
Es war schon immer so gewesen, dass es in jedem Dorf einen “Dorftrottel” gab. Die armen, kranken Menschen wurden oft von der Bevölkerung verhöhnt und manche Eltern versteckten ihre armen kranken Kinder vor den mitleidlosen Menschen. Wurde ein Kind mit roten Haaren geboren, sagten manche Menschen: “Der ist von Gott gezeichnet!” oder ähnlichen Unsinn.
Junge Menschen nahmen alles nicht so schwer und die Kinder lebten einer anderen Zeit entgegen.
Die allgemeine Armut führte dazu, dass die Menschen mitleidloser miteinander umgingen. “Haste was, dann biste was!” wurde bei manchem zur Religion…
Nur, wer “bei Zeiten” etwas Vermögen ansammeln konnte und ein eigenes Dach über dem Kopf hatte, war in der Lage, bürgerlich einigermaßen gut über die Runden zu kommen. Kleine Einschränkungen nahm man in Kauf.
Annas Eltern ging es den Umständen nach gut und Vaters Spruch: “Eine Hand voll Handel ist besser als eine Schubkarre voll Arbeit!”, hatte sich bewährt. Auch seine Arbeit als Schneidermeister zahlte sich aus, denn nun ließen sich auch Emporkömmlinge bei ihm einkleiden, die mit Alkohol und anderen Gütern handelten. Genaues wollte man als Geschäftsmann auch nicht wissen. Gute Kleidung brauchten diese Leute, um zu imponieren und sie zahlten. Wilhelm Bergmann nähte für alle, das war sein Geschäft und er gab auch wieder einem Gesellen Arbeit und beschäftigte einen Lehrling.
In den Metropolen wollte man leben und genießen und den schrecklichen Krieg vergessen. Doch das galt nur für bestimmte Kreise. In den Randgebieten der Städte herrschte, wie zu ”Zilles” Zeiten, bittere Armut.
Die einen nannten es “Unzucht”, die anderen Vergnügen. Es wurde auch Rauschgift konsumiert. Koks und Morphium zerstörten manche Existenz. Spielbanken in den eleganten Kurorten nahmen wieder ihre Arbeit auf, und manch einer verlor “Haus und Hof”. Junge Offiziere, die nun ihre Existenz verloren hatten, verdingten sich als “Eintänzer” in den Tanzlokalen, um mit allein sitzenden Damen zu tanzen und erfüllten in ihrer Not, auch manchen anderen Wunsch. Sie erhielten überhaupt keine Unterstützung. Wurden ja nicht mehr gebraucht, denn sie waren im Kaiserreich Berufsoffiziere gewesen, aber nun war alles aus. Manche Offiziere, vor allem ältere nahmen sich das Leben. Aber es gab auch Firmenpleiten von “alteingesessenen Firmen” und manch ein Kaufmann gab sich die Kugel, oder erhängte sich.
Jeden Tag konnte man in den Zeitungen von solchen Schicksalen lesen. Von alledem wusste Anna nicht viel. Sie hatte bisher nur Pflichten übernommen und ihre Umgebung beobachtet. Sie hatte erfahren, dass Vaters Spruch vom “Schweigen ist Gold”, ein guter Spruch war und hielt den Mund. Jedoch machte sie sich Gedanken über das Leben und ihre Zukunft. Immer noch wusste sie nicht, was es mit der Sexualität auf sich hatte und es wurde geflissentlich geschwiegen, wenn einmal eine Frage aufkam.
Das war einfach kein Thema für anständige Leute.
Auch über Geburtsvorgänge wusste sie nichts. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ein so großes Kind, durch eine so kleine Öffnung kommen könnte. Alle ihre unbeantworteten Fragen und das seltsame Verhalten der Erwachsenen hatten dazu geführt, dass sie auch keine Fragen mehr stellte, denn nun war sie fast erwachsen und hätte sich lächerlich gemacht. Nie hatte sie ein Freundin gehabt, die sie aufgeklärt hätte und eine Aufklärungsschrift, wie es denn wirklich war, hatte sie nie in Händen gehabt. Mittlerweile schob sie die Gedanken daran beiseite und dachte:
“Es ist einfach so!“ Anna nahm Wilhelms Einladung zu einem Tanzabend an und freute sich, dass es endlich eine Abwechslung gab. Seine Aufmerksamkeit genoss sie sehr, denn er war in dem Ort ein angesehener Mann und tanzen konnte er auch. Sie freute sich, wenn er sie zum Spaziergang abholte und war stolz, mit ihm gesehen zu werden.
Wilhelm aber, war zum ersten Mal in seinem dreißigjährigen Leben verliebt.
So verliebt, dass er den Wunsch hatte, Anna’s Eltern kennenzulernen. Er hatte ernsthafte Absichten. Zwar hatte er schon mehrere Frauen kennengelernt, aber Krieg und Wanderschaft hatten verhindert, eine wirkliche Partnerschaft zu gewinnen, nun wollte er “Nägel mit Köpfen” machen.
Anna trauerte zwar ihrem Wunschtraum von einem Beruf nach, aber das war ja wohl doch vorbei und sie fuhr mit Wilhelm zu ihren Eltern nach Kleve.
Ob sie ihn wirklich so liebte ? Eher war es wohl eine mädchenhafte Schwärmerei. Von der “Großen Liebe” träumte man nur. Die war für die Frauen aus der
“Großen Welt!” Für die “Kleine Welt” war es Ehre, einen Ehemann zu finden, der die Braut zum Altar führte und Treue versprach. “Die Liebe kommt dann von allein,” sagten sie und Anna war wild entschlossen, das Beste daraus zu machen, denn sie hatte ihn gern.
Nur endlich frei und selbständig sein, Kinder zu haben und ein normales Leben zu führen. Das war der Wunschtraum aller jungen Frauen, die im heiratsfähigen Alter waren, denn mit fünfundzwanzig Jahren, da konnte man so schön und gescheit sein wie man wollte, hieß es schon, “Die ist auch sitzen geblieben!“ oder: “Die hat keinen mitgekriegt, die Alte Jungfer!” Anna war zwanzig, intelligent, grazil und schön.
Sie fuhren zu Annas Eltern nach Kleve und Wilhelm traf dort ähnliche Verhältnisse an, wie in seinem Elternhaus. Als er um Annas Hand anhielt, gaben sie ihm das Vertrauen. Wilhelm und Anna wurden ein Brautpaar.
Eine Erschwernis war, dass Wilhelm Bürger evangelisch war und der katholische Pfarrer wollte sie nicht trauen. Da packte Anna die Wut. Sie begehrte auf und sagte: “Dann heirate ich eben protestantisch!“ Das aber wäre in den Augen der Verwandtschaft noch schlimmer gewesen. Der Pfarrer gab nach, aber sie mussten sich verpflichten, die Kinder im katholischen Glauben zu erziehen.
Der Makel, einen Protestanten zu heiraten, haftete ihr lange Zeit an und die Schwägerinnen nahmen ihr übel, dass sie ihren Willen durchgesetzt hatte.
“Kleine Geister, sagte Anna zu Wilhelm, “die sind nur neidig!”
Anna bekam eine gute Aussteuer und der Vater fertige ihr eine neue Garderobe. Die Eltern stellten ihr Hut, Mantel und Schuhe, ein schwarzes Seidenkleid für den Sonntag und ein schwarzes Kleid aus gutem Tuch für Feiertage in Aussicht und sie erhielt die Zusage, die Hälfte des Geldes für ein Häuschen, beizusteuern. Aber das lag noch in weiter Ferne.
Wilhelm Bürger, der auch aus einer großen Familie kam, hatte noch nicht so viel gespart, um sich dem Projekt eines Hauskaufes zu nähern. Er war 1887 geboren und im Jahre 1901 vierzehn Jahre alt. Dann kam er in die Lehre zu einem Schuhmachermeister in Rheydt. Mit achtzehn hatte er die Gesellenprüfung bestanden und ging dann auf die “Walz”, wie man sagte, um das Leben kennen zu lernen. Der Abschied von seinen Eltern, Brüdern und Schwestern fiel ihm schwer, denn sie pflegten ein intensives und vertrauliches Familienleben.
Auf seiner Wanderung kam er auch in die Tschechei, wo, wie gesagt wurde, die besten Schuhe gefertigt wurden. Dort lernte er auch Schuhe für kranke Füße herzustellen. Es wurden immer noch Kinder mit entstellten Füßen oder ohne Zehen geboren, oder sie kamen mit Klumpfüßen zur Welt. Auch andere Missbildungen traten zu Tage, wenn die Füße der Kinder erst ausgewachsen waren. Vielfach mussten die Schuhe zu lange getragen werden Die kleineren Kinder trugen die Schuhe der älteren auf und liefen die Füße wund und die noch nicht ausgewachsenen Knochen verformten sich. Dadurch wurde die Erkrankung der Füße vorprogrammiert.
Wilhelm blieb drei Jahre in der Tschechei und machte danach in Deutschland die Meisterprüfung. Das war im Jahre 1905. Er musste zum Militärdienst und wurde zur berittenen Kavallerie eingeteilt. Das Reiten in der Gruppe und den Umgang mit Pferden machte ihm große Freude.
Auf diese Truppe legte Kaiser Wilhelm großen Wert, vielleicht, weil er selbst nur gezwungenermaßen reiten gelernt hatte und sich nicht für Pferde interessierte.
Der Kaiser war mit einem Geburtsfehler zur Welt gekommen und konnte den rechten Arm nicht bewegen, aber er musste als Kind repräsentieren und hielt die Zügel mit der linken Hand. Der rechte Arm hing leblos herunter, aber das verlieh ihm, vor allen Dingen in späteren Jahren, ein elegantes Aussehen, weil er die Zügel in einer Hand hielt. Die verschiedenen Galauniformen taten ein Übriges, aber der Kaiser musste als Kind und auch als Erwachsener sehr unter dieser Behinderung gelitten haben. Die Kaiserin hatte an diesem Kind nie großes Interesse gezeigt und hatte ihm, dem späteren Kaiser, übel genommen, dass er mit dieser Behinderung zur Welt gekommen war. In der Bevölkerung wurde das nicht erwähnt und man bezeichnete den späteren Kaiser auch nicht als Krüppel. Er war eben der Kaiser und kein “kleiner Bürger”.
Wilhelm war stolz auf seine Ausbildung, denn er liebte die Pferde.
Im Jahre 1909, er war nun dreiundzwanzig Jahre alt, ging er wieder in sein Heimatdorf und arbeitete dort zwei Jahre in einer Werkstatt, die Pferdesättel herstellte. Das war wieder eine interessante Tätigkeit! Bei einem Pferdebesitzer durfte er auch reiten und lernte kutschieren. Ans Heiraten hatte er noch nicht gedacht, denn er wollte sich nicht binden, bevor er etwas zur Seite gelegt hatte. Es fiel ihm schwer, so streng mit sich umzugehen und liebte zu tanzen, zu singen und mit den Mägden zu flirten. Auch ein Körnchen oder ein Bier war hier und da drin. Nur bezeichneten ihn einige Leute als den “ewigen Junggesellen”.
Das war in den Augen mancher Katholiken, aber auch der Protestanten ein Mangel, denn es ließ an der Ernsthaftigkeit des Lebens zweifeln.
Aber das Leben machte ihm Spaß. Er war jung und gesund und sagte: “Was kostet die Welt!”
Immer wieder aber fertigte er auch Spezialschuhe an, oder er machte Reparaturen.
Armen Leuten, die kein Geld hatten um neue Schuhe zu kaufen, flickte er die Schuhe so lange, bis sie auseinander fielen, wie er sagte. Ihm taten vor allen Dingen die Kinder Leid, bei denen vorauszusehen war, wie deren Füße im Erwachsenenalter aussehen würden.
Für viele Menschen war es eine schreckliche Zeit und es sollte noch schlimmer kommen.
Sein Traum war eine eigene Werktstatt, aber daraus sollte nichts werden, denn nun kam das Jahr 1913 und alle flüsterten von Kaiser Wilhelms Plänen. Wilhelm II hatte sein Lieblingskind, die Kriegsflotte, ausgebaut und Gerüchte sagten, es sei ein Krieg gegen Frankreich geplant. Das war ein Geraune und Gemunkel! Das Wort “Vaterlandsliebe und Schutz der Heimat, Kaisertreue und Mut, Tapferkeit und Ehre” waren wieder geläufig.
Da fielen die Schüsse in Sarajewo und der Österreichische Thronfolger und seine Frau Sophie wurden getötet. Serbien plane den Aufstand gegen Österreich und Deutschland, so erzählte man sich und alle waren empört und traurig.
Wilhelm wollte aber eigentlich von allen diesen Dingen nichts wissen. Er interessierte sich nicht für Politik. Er liebte die Pferde und die Mädchen, den Gesang und das Leben. Vom “Barras” habe er genug, sagte er, und das Soldat spielen, sei nicht nach seinem Sinn.
Der lebensfrohe Wilhelm Bürger, der gerne sang und tanzte, war vierundzwanzig Jahre alt, als der Einberufungsbefehl für Ihn und seine Brüder, Karl und Heinrich
zugestellt wurde..
Wilhelm: “Berittenene Kavallerie!” Darin war er ja ausgebildet und das hob ihn in einen besonderen Stand. Reiter waren angesehen und stolz sahen die Menschen zu, wenn die “jungen, schmucken Soldaten “ausrückten”.
“Für das Vaterland!” riefen die Zuschauer, die an den Straßenrändern standen.
Die Frauen reichten ihnen Blumen zu. Immer wieder: “Für das Vaterland!” und:
“Hoch lebe der Kaiser!”
Die Mütter weinten und die Väter sagten: “Sie wissen nicht, was Krieg ist, aber wir haben ja immer die selben Fehler gemacht!”
Manche warnten und wurden als Feiglinge, ja, als Kriegs- und Kaisergegner, und auch als Eierköpfe, Sozialdemokraten und Seperatisten beschimpft.
Die Kaisertreuen waren die Mutigen und Tapferen, die das Vaterland beschützten. Die so redeten, hatten entweder noch keinen Krieg erlebt, oder den siegreichen Feldzug 1870-71 gegen Frankreich, zur Grundlage ihrer Einstellung gemacht. Da hatten die Deutschen ja gewonnen! Ja, es war Krieg, und wieder gegen die Franzosen. “Das wird nicht lange dauern!“, sagten sie siegesgewiss.
Wilhelm zog also in den Krieg und lag vor Verdun. Viele Ansichtskarten wurden nach Hause, zu den Eltern geschickt und immer stand darauf, dass es ihnen gut ginge. Immer mit der Unterschrift: “Euer treuer Sohn!“
Ein langer Stellungskrieg! So viele seiner Kameraden kamen nicht zurück, oder waren kriegsversehrt, aber Wilhelm und seine Brüder hatten das Glück, nach vier Jahren Dreck und Elend wieder nach Hause zu kommen. Inzwischen hatte sich die Welt verändert.
Der Kaiser floh nach Doorn, in Holland. Die Kaisertreuen waren bitter enttäuscht, dass Ihr Kaiser” verschwunden war und sie im Stich gelassen hatte. So lange sie denken konnten, war ihnen eingehämmert worden, dass der Kaiser und das Kaiserhaus immer im Recht seien und nun dieses Desaster. Die Menschen waren wütend, dass sie einem Phantom nachgejagt waren und schimpften entnervt auf das System, doch spürte man auch eine gewisse Trauer über den verlorenen Krieg und immer noch gab es viele, die sich das Kaiserreich zurück wünschten. Sie sahen immer noch mit Hochachtung auf die früheren Generäle und Politiker. Wenn Namen fielen wie:, Bismarck, Hindenburg, oder, wenn von den Kriegsgenerälen die Rede war, dann sagten sie: “Das waren noch Zeiten!” Sie konnten es nicht verwinden, dass IHR Kaiser verschwunden war und dass nun eine ganz neue Politik gemacht wurde.
Wilhelms Vater hatte im Laden nicht viel zu verkaufen, und er, der stolze Meister, musste seine Träume von der eigenen Werkstatt begraben. Auf Empfehlung fand er Arbeit in einer Fabrik, was noch ein Vorzug war. Dort wurden Lederwaren, Taschen und Koffer angefertigt und er hatte das Glück, eine Meisterstelle zu bekommen. Die Mädchen gefielen ihm immer noch gut und er sang : “Küssen ist keine Sünd‘!”
Die Bezahlung in der Lederfabrik war nicht gut, aber man war froh, wenn man überhaupt Arbeit hatte.
Sein Verhältnis zu Eltern und Geschwistern war liebevoll aber die Mutter meinte, er solle mit dem Lotterleben aufhören und endlich heiraten. Sie war eine zarte Frau und eine fromme Protestantin, die den Kaufmann Wilhelm Bürger geheiratet hatte. Sie sagte zu Wilhelm, dem Sohn: “Andere Männer deines Alters sind schon verheiratet und haben Kinder! Du bist schon fast dreißig! Wo soll das enden? Habe ich einen Schürzenjäger großgezogen? Nun bist Du heil aus dem Krieg heimgekommen und noch nicht verheiratet. Kinder hast Du auch nicht!” Wilhelm antwortete: “Ich hab’ noch nicht die Richtige gefunden
Wilhelm Bürger, Ihr Ehemann und Familienvater, war das glatte Gegenteil von ihr, denn er war ein so genanntes “Schlitzoh”. Er hatte einen angeborenen Humor, und das schaffte den Rahmen für eine frohe Familie, die aus allen Widerlichkeiten des Lebens noch etwas Positives machen konnte. Seinen Kolonialwarenladen führte er mit viel Geschick und seine Leutseligkeit machte ihn zu einem beliebten Kaufmann, der alle Sorgen der Leute kannte. Den Frauen gab er manchmal Kredit, wenn ihre Männer mal wieder ihren Wochenlohn in der Wirtschaft gelassen hatten. Er scherzte mit ihnen und hörte ihren Kummer an. Das machte den “LADEN” zu einem beliebten Treffpunkt für die Frauen, für die es sonst nicht viel Unterhaltung gab. Wilhelm Bürger hatte allerlei Späße bereit und hatte als Einziger unter den einfachen Leuten täglich eine Zeitung. Im “LADEN” wurde dann alles durchgehechelt, was im Dorf passierte. Genau wie in Kleve bei Anna’s Eltern, die ja auch ein Gemischtwarengeschäft hatten. Doch hier wie da, waren die Kaufleute sehr verschwiegen, auch wenn sie über jeden Kunden die Familienverhältnisse kannten. Bei Ihnen weinten die Frauen sic aus und erzählten auch über den einen oder anderen Dorfbewohner, was sonst niemand in Erfahrung bringen konnte.
Einen Vorteil hatten diese Tratschereien aber auch! Man wusste immer, wenn einer bedrohlich erkrankt war, oder sogar gestorben. Jeder kannte die Gewohnheiten des Nachbarn oder deren Kinder. Außergewöhnliche Verhaltensweisen wurden sofort registriert und gelangten beim morgendlichen Einkauf in die “Läden”. Rs wurde berichtet, wer am Tag zuvor betrunken nach Hause geschwankt war, oder, wer ein “Wirtshaussitzer” oder ein Fremdgeher war. Man erfuhr, welche Frau eine “Xantippe” oder eine schlechte Hausfrau war.
Noch schlimmer: “Wenn eine Frau ihrem Ehemann keine Kinder “schenken” konnte, oder, wenn statt des erwarteten Stammhalters “nur” ein Mädchen geboren wurde. Das war dann, bei manchen Ehemännern, “Die Schuld” der Frau. Das Kuriose war, das kaum einer über ein Vermögen verfügte über das dann der Sohn als Erbe verfügen könnte. Es waren doch meistens einfache Leute, die froh waren, wenn sie ihr Leben gestalten konnten. Aber auch unter den “kleinen Leuten” gab es einen Dünkel und eine gewisse Hirarchie, die einige für sich beanspruchten. Wer sich dem nicht unterwarf, wurde nicht mehr gegrüßt und gehörte nicht mehr “dazu!”
Annas Eltern und Wilhelms Eltern beobachteten diese kuriosen Geschichten und schwiegen dazu. Das war ein eisernes Gesetz, wenn man Kaufmann oder Kauffrau war. Stellungnahmen durfte man sich überhaupt nicht erlauben, dann hätte man sie nachher ALLE gegen sich gehabt und Kunden verloren .Auf diese Art und Weise hatten die Dorfladenbesitzer eine unerschöpfliche Quelle von Geschichten. Lustspiele, Skandale und Tragödien, die sich vor ihren Augen abspielten doch an die eigene Familie durfte man die Dinge nicht zu nahe heran lassen, das hätte den Familienfrieden empfindlich gestört. So lebte man denn im Familienkreis meistens friedlich, wenn auch Wilhelms Mutter als moralische Instanz religiöses Verhalten anmahnte. Ja, sagte dann Annas Mutter: “Den Verrat liebt man, aber den Verräter verachtet man!
Wilhelm und seine Brüder waren im örtlichen Gesangverein. Abends wurde zu Hause gesungen und auch ihre Schwestern hatten schöne Stimmen. Sie sangen mehrstimmig alte Volkslieder. Sie hatten Gesangbücher mit den entsprechenden Texten und sie sangen alle Strophen. Gelesen wurde nicht viel, außer der Tageszeitung, die von Hand zu Hand ging. Immerhin waren sie ja manchmal acht Personen.
Personal, wie Annas Vater in seiner Schneiderei hatten sie nicht. Alle Arbeit wurde, so lange die Kinder im Haus waren von den Familienmitgliedern erledigt, doch nun waren ja einige schon: “Aus dem Haus’!”
Die männlichen Familienmitglieder waren alle im örtlichen Turnverein “Vater Jahn” und wurden von den Mädchen des Dorfes bewundert, denn sie waren gute Turner.
Anna bemerkte, dass auch hier, wie bei ihr zu Hause, viele Männer Wilhelm und viele Frauen Anna und Wilhelmine hießen. Man legte dann immer ein Wort der Erklärung hinter den Namen, damit man verstand, wer da gemeint war, oder man fügte den Zweit- oder Drittnamen, Onkel, Tante, den Patennamen, oder den Familiennamen hinzu. Wie Anna Bergmann oder Katharina Bender.
Anna fand es insgeheim grotesk und verwirrend dass alle gleiche Vornamen hatten und nicht nur in ihrer Familie. Es wimmelte nur so von Wilhelms und Annas und Wilhelminen wegen des Kaiserhauses, aber auch, weil die Paten den Vornamen bestimmten, oder wenn es ein Junge war, dem Kindesvater die Ehre gebührte. Vielleicht noch Karl, weil er an Karl den Großen erinnerte oder Hermann, an den Cherusker.
Nun war das Kaiserreich dahin und die Namen setzten sich noch über mehr als eine Generation weiter fort. Das kam alles durch Taufpaten, sagten einige, oder weil man sich von den Taufpaten etwas für den Täufling erhoffte.
Wilhelms Mutter, Anna-Katharina, geborene von Gehlen, aus verarmtem Adel. Auf das “von” legte sie großen Wert, brachte drei Söhne und drei Töchter zur Welt und sie erzog sie im Sinne ihrer Gläubigkeit und Religionstreue. Sie schrieb ihren Töchtern lange Gebete ins Poesie-Album und als überzeugte Protestantin zog sie ihre ganze Kraft aus der Religion, betete sehr viel, und trug ihr Geschick mit Geduld. Sie war eine brave Ehefrau, die ergeben ihrem Mann und den Kindern diente. Aber sie hatte auch ihre Prinzipien, die darin gipfelten, dass ihre jüngste Tochter nicht heiraten durfte.
Das war eine festgelegte Sache und duldete keinen Widerspruch. Die Tochter, genannt die “Möhn”, ein Ausdruck für “jüngste Tochter” oder “das Vögelchen “, fand sich damit ab. Die Tochter sollte die Eltern im Alter versorgen und betreuen, damit sie nicht in ein Altersheim müssten, das damals ein Schreckgespenst war und in ferneren Zeiten auch bleiben würde. Dafür erbte die “Möhn” Gertrud, das Elternhaus und den Garten und den großen “Obstbungert” mit zahlreichen Apfel- , Birnen- und Pflaumenbäumen. Damit waren auch alle Geschwister einverstanden, denn mit dieser Maßnahme kauften sie sich frei, später für die Eltern sorgen zu müssen. Das “Vögelchen” bekam alles und musste dafür auf alles verzichten, was den anderen Freude bereitete. Die “Möhn” fand sich damit ab und wurde ebenfalls eine fromme Protestantin, die nie ein Eheleben kennen gelernt hatte, aber auch nicht den Tortouren unterworfen war, die anderen Frauen drohten, wenn die Ehe “schief” ging.
In diesen Verhältnissen war es Ehrensache, dass die Mädchen nur einmal im Leben etwas von körperlicher Liebe erfahren durften und zwar mit ihrem Ehemann.
Die Mädchen hatten keusch und brav, bis zur Eheschließung, auf das Wunder des Beischlafs zu warten; und wehe sie hätten das Tabu gebrochen. Die fromme Protestantin hätte die Tochter nicht mehr geduldet. Das Wort Beischlaf wurde aber nicht gebraucht. Man sprach nur von “ehelichen Pflichten!” “Was war das?”, fragten sich viele Mädchen vor der Ehe. Aufklärung gab es nicht.
Also nahmen die Mädchen brav den ersten Bewerber und hatten das Glück, brave Ehemänner, mit guten Berufen zu bekommen. Für die Männer war es sehr wichtig, dass die Mädchen tugendhaft und brav waren, denn sie waren der “Herr im Haus!” Aber auch die Eltern der Söhne herrschten über die Söhne und Schwiegertöchter. Sie setzten als Druckmittel immer das Erbe ein. “Krieg’ ich den Pflichtteil oder kriege ich mehr?” Wenn da einer ausscherte und zu selbständig wurde sagten sie: “Der ist aus der Art geschlagen!”
In Wilhelms Bürgers Familie stellten sich diese Fragen nicht, denn das war schon geregelt, wegen der “Möhn”.
Sie bekamen Kinder und hatten später alle ein eigenes Haus mit Garten, so wie die Eltern.
Eine Besonderheit hatte diese Familie auch, denn durch den Humor des Familienvaters bedingt, wurde die allzu treudeutsche Frömmigkeit der Mutter gemildert und die Fröhlichkeit kam nicht zu kurz. Der Vater gab den Kindern Extranamen, die die Besonderheit jedes einzelnen Kindes hervorhob. Der Sohn, Wilhelm, Annas späterer Ehemann, der voller Phantasie war, hatte den Namen:
” Möpsken-Mäxken-Pommerchen.” Woher der Name kam, wusste nur der Vater und der sagte: “Möpsken”. Anna fand das komisch, aber das war nun einmal so.
Karl hieß: “der Grüsel”, weil er viel grübelte und handwerklich begabt war. Er wurde später Schlosser und Werkmeister. Heinrich hatte die Angewohnheit, den Kopf zur rechten Schulter zu neigen, wie Heilige auf Bildern es tun und darum hieß er: “der Mönnik” (Mönch). Anna fiel auf, dass viele Leute, wenn sie eine bestimmte Meinung vertraten und diese erläuterten, den Kopf zur Schulter neigten, wie auch Tante Hannchen und ihre Schwägerin Marie. Der Kopf kam dabei auch in Richtung rechter Schulter etwas ins Schwingen. Es kam ihr immer so vor, als ob die Leute, die diese Angewohnheit hatten, die Unwahrheit sagten. So heuchlerisch!
Heinrich hatte später ein Textilgeschäft, Weiß- und Kurzwaren. Er heiratete “Hannchen“, eine behäbige Matrone, aber er hatte nie Kinder. Die Beiden waren selbstzufrieden, und ihre weiteste Reise in ihrem ganzen Leben war die Reise nach Kleve zu Annas’Hochzeit, und einmal waren sie in Köln. Anderer Leute Sorgen ging sie nichts an. Ihr Interesse galt nur ihrem Geschäft und dem Garten und sie legten Sparkonten an. Anna sagte: “Sie sitzen wie die Made im Speck und scheinen glücklich zu sein,” Als Haustier hielten sie eine Ziege, eine Art Hundeersatz. Die Ziege hieß Mia und hatte einen schönen, warmen Stall. Am Ende ihres Lebens hatten sie hunderttausend D-Mark gespart. Jedesmal, wenn sie das Sparbuch hervorholten, waren sie beglückt.
Johanna hieß: “der Schümmel” (Schimmel), weil sie hellblondes Haar hatte.
Sie heiratete einen Kirchmaler und Restaurator, der aber jung, bei einem Unfall ums Leben kam. Anna fand ihn nett und sagte: “Er war ein schöner Mann!”
Zehn Jahre nach Hugos Tod heiratete Johanna Hans aus Posen. Ein braver Mann mit einer festen Anstellung bei der Rheinbahn. Er arbeitete im Depot und war der Pförtner mit einer schönen Uniform. Blau, mit silbernen Knöpfen an der Jacke. Das sah stattlich aus. Hans hatte Pensionsanspruch und eine Werkswohnung in Heerdt, aber er hatte es nicht mit der Religion und brachte Johanna oft in Verlegenheit, wenn er nicht zu “seinem Recht” gekommen war und seine Sprüche losließ. Dann sagte er despektierlich: “Scheiß-Religion!” Sie sah sich dann um, ob es denn jemand gehört hatte. Martin Luther, sagte sie, hat gesagt: ”In der Woche Zwie, das schad’ nicht die noch mie!” “Scheiß Luther:” sagte er dann, aber er war nicht nachtragend.
Es war klar, dass auch in zweiter Ehe “Verkehr” vor der Trauung nicht in Frage kam und Hans respektierte das, als er um sie warb. Aber als Johanna ihm in der Hochzeitsnacht erklärte dass sie sich für ihr Zusammenleben eine “Josefsehe” vorgestellt hätte, war er doch sehr verärgert und es gab Krach in dieser entscheidenden Nacht. Sie erzählte ihrem Lieblingsbruder Wilhelm, dass sie nun doch den Wünschen von Hans nachgekommen sei und sie nun ein Eheleben der üblichen Art führten. Das genügte, um ein friedliches Zusammenleben zu gewährleisten. Sie hatte den Gedanken an die “Josefsehe” aufgegeben, aber der Vollzug der Ehe ist nur Pflichterfüllung, sagte sie. Wilhelm lachte und sagte: ”Schümmel, da hast du dir mal wieder was Feines ausgedacht aber gut, dass du mit dem Hans nun gut zusammen lebst. Er ist doch ein guter Kerl.-
Marie hieß: “die Madam”, wegen ihrer guten Manieren. Marie machte dann auch die beste “Partie!” Ihr Ehemann war Geschäftsführer in einer größeren Firma, was damals eine sehr gute Verbindung war, denn er hatte die höchsten Einkünfte. Sie bekam einen Sohn und eine Tochter. Etwas eingebildet war die “Madam” schon,, weil sie das größte Einfamilienhaus hatten und weil ihr Mann ein “Studierter” war. Sie pflegte auch nicht die Verbindung zu Eltern und Geschwistern wie die anderen Bürger-Kinder.
Es war nicht so, dass die Kinder mit den Spitznamen gerufen wurden, aber wenn sie untereinander von ihnen sprachen, benutzten diese. Das war Fremden gegenüber,
wie ein Geheimcode.
Als Anna Wilhelms Familie kennen lernte, war nur Karl verheiratet. Seine Frau hieß Wilma und sie hatten schon einen Sohn, der wiederum Karl hieß, wie sein Vater. Dieser Sohn, ein außergewöhnlich intelligenter Junge übersprang eine Klasse im Gymnasium und macht mit Siebzehn das Abitur. Darauf waren die Eltern natürlich sehr stolz und das gelang keinem sonst in der Familie.
Später bekamen Karl und Wilma noch eine Tochter. Die Tochter hatte Glück, sie hieß Berti. Der Kaiser hatte schon abgedankt und nun hieß sie Albertine wie die Taufpatin. Wilma war sehr ehrgeizig und sparte sehr. Sie nähte unter einer Glühbirne von 15 Watt, um Strom zu sparen. “Lieber verderbe ich mir die Augen, als den Stadtwerken das Geld in den Hals zu stecken“, sagte sie, aber zu Kindern war sie freundlich. Sie hatten einen großen Garten, ein Schwein im Stall, und auch zwanzig Hühner.
“Wann heiratet Anna?”, fragten die Leute im Laden von Annas Mutter in Kleve, die nun wieder ihren Laden betrieb. Immer noch zog sie Schweine groß und verkaufte Schmalz, Speck und Wurst im Laden.
Lufttrockener Schinken und Dauerwurst hingen im Durchzug über der Treppe und Tante Hannchen kam immer noch zum würzen von Pannhas, Blut- und Leberwurst.
Zu diesem Zeitpunkt schenkte Annas Mutter dem Vater einen großen, weißen Schleiflack-Küchenschrank zum Geburtstag. Diese Möbelstücke waren zu diesem Zeitpunkt sehr in Mode und etwas Modernes wollte sie, die so viel arbeitete, auch haben, aber Annas Vater wollte den Schrank nicht kaufen, weil er die alten Eichenmöbel schöner fand.
Er aber wünschte sich einen Plattenspieler, weil er die Musik sehr liebte, aber ihm vieles nur durch das Kino oder durch den Kirchenchor zu Ohren kam. So schenkte er der Ehefrau, Annas Mutter, einen Plattenspieler zum Geburtstag, der in einen Eichenschrank eingebaut, und schon eine Verbesserung der “Stimme seines Herrn” war.
Sie hatten nun beide ihre Wünsche erfüllt und so ging das ja auch! Ohne Streit!
Die Kinder blinzelten sich zu und fanden das komisch. Doch sie liebten die Eltern und achteten sie hoch, weil sie doch ein besseres Leben hatten, als viele ihrer Verwandten und Nachbarn. Sie anerkannten, dass ihre Eltern, nur durch ihren Fleiß und zurückstellen eigener Interessen, zu dem bescheidenen Wohlstand gekommen waren, woran auch sie Teil hatten.
Vater bekam dann Schellackplatten zu den Feiertagen. Das war zu der Zeit eine kleine Kostbarkeit. So hatte Vater dann auch eine Platte von dem berühmten Richard Tauber und auch Violinkonzerte und Platten von Beethoven und Bach.
Auch das Wolgalied war dabei und auf der Rückseite der Schallplatte war das “Heidegrab”.
Es war die schreckliche Geschichte um einen Deserteur, der, wegen “Entfernung” von der Truppe, erschossen wurde. Eine traurige, mit finsteren Tönen umrahmte Geschichte um den armen Jungen, der aus Angst vor dem Tod, seine Truppe verlassen hatte und von einem Militärgericht zum Tode verurteilt wurde. Begleitet von schauriger Musik ertönte ein Schuß und in Gedanken sah man den Soldaten niedersinken. Das waren die Gesetze des Krieges und es mussten Exempel statuiert werden, um zu verhindern, dass Soldaten die Flucht ergriffen. Den anwesenden Müttern standen jedes mal die Tränen in den Augen.
Dann waren sie alle sehr sentimental.
.
Wenn Besuch da war, und es fröhlich zugehen sollte, spielte Vater die Platte: “In Paris, in Paris, sind die Mädels so süß, wenn sie flüstern: “Monsieur, ich bin dein!” Dann blinzelten die Männer sich zu und lächelten vor sich hin…! Einige zwirbelten ihren Schnurrbart und sahen sich kennerisch um. Sie würden in ihrem Leben sicher niemals die Stadt Paris und ihre Mädels kennenlernen, aber sie sahen sich in der Rolle des Lebemannes. Denken darf man ja !
Vaters größte Freude war, wenn er am Sonntagmorgen nach der Kirche, im Wohnzimmer sitzen und Musik hören konnte. Dort blieb er zwei Stunden und rauchte eine Zigarre. Dann durfte ihn niemand stören, denn das war seine ganz private Feierstunde und hier feierte er seinen Erfolg. Nur das ausgestopfte Eichhörnchen durfte auf seinem Brett über der Türe dabei sein.
Mutter Wilhelmine spielte am Sonntag, vor dem dem Mittagessen, mit den Söhnen oder mit den Gesellen Skat. Das war ihr Lieblingsspiel. Sie hatte einen ausgesprochenen Kartenverstand und es war vor allem den Männern ein Rätsel, woher sie das konnte. So lange die Töchter im Hause waren, kochten sie das Mittagessen und erledigten auch den Spülkram.
Während des Spiels tranken sie zusammen ein Körnchen. Einen weißen Schnaps aus fingerhutgroßen Schnapsgläschen, die aussahen wie kleine Weingläser. Davon trank Mutter zwei Gläschen und die Männer tranken auch nicht mehr. Sonntags gingen sie nicht spazieren, denn nach dem Kirchgang, um acht Uhr morgens, waren sie müde.
Mittagessen wurde vorbereitet, und die Schweine und Hühner mussten gefüttert werden. Auch im Laden war dann noch etwas zu tun. Um sechs Uhr früh vor der Messe wurde der Laden geputzt, denn samstags war das kleine Geschäft bis um acht Uhr geöffnet und manchmal klingelten auch am Sonntag Kunden, die etwas vergessen hatten. Sie wurden dann auch noch bedient. Man wollte ja keine Kunden verlieren und nicht ins Gerede kommen, zumal es ja auch teilweise Kunden des Vaters waren. Notfalls kamen sie auch “hinten herum” über den Hof und klopften an die Küchentüre.
Wenn sie mal nicht aufmachten, sagten die Leute: “Die haben es wohl nicht mehr so nötig!”
Doch eines Tages packte sie die Reiselust, denn sie hatten noch nichts von der Welt gesehen. Alle sprachen davon, dass Vater und Mutter mit Vaters Bruder und Tante Charlotte, Friedas Eltern eine Reise zum Drachenfels machen würden. Das Heinegedicht und das Loreleylied kannten sie ja alle und sie wünschten, dass nur ja schönes Wetter sein würde.
Auch zum gegenüber liegenden Rolandsbogen wollten sie und hatten schon das Lied vom Rolandsbogen herausgesucht, das sie auch im Gesangverein gelernt hatten.
Ich kam von fern gezogen
zum Rhein, zum Rhein
beim Wirt am Rolandsbogen
da kehrt ich ein
Ich trank mit seiner Base
auf Du und Du
Der Mond mit roter Nase
sah zu, sah zu
Der alte Sünder zeigte
auf voll, auf voll
Mein junges Herze geigte
in Dur und Moll;
Ich sah zwei Ringellöckchen,
bombom, bombom
Die läuteten wie Glöckchen
komm, komm, komm, komm.
Und Augen heiß wie Köhlchen
von Erz, von Erz,
Es hüpfte in dem Bölchen
mein Herz, mein Herz;
Die Welt sie ridawanzte
jupphei, jupphei,
Der Rolandsbogen tanzte
duldei, duldei
Die Maid zu meiner Linken
goß ein, goß ein
Mir wärs als tät sie winken
bin dein, bin dein
Das war ein selig Kosen,
zu zwein, zu zwein
Es schwammen rote Rosen,
im Wein, im Wein
Sie küßte mich und lachte
ich trank und trank,
Ein Miederstänglein krachte
ich sank und sank;
Und als die Mondsilhouette
verschwand, verschwand
Da lag die Maid im Bette
und ich im Sand
Drum kommst du Knab´ gezogen
zum Rhein, zum Rhein
Hüt´ dich vorm Rolandsbogen
und seinem Wein.
Es lockt in jedem Glase
bombom, bombom,
Das Glöckchenspiel der Base
komm, komm, komm, komm!
(Altes Volkslied)
“Was ziehen wir an?” und “ Wann fährt der Zug?” und “Wie geht es weiter?” und “Wie kommen wir zum Bahnhof?”
Es war ihre erste Reise, die sie in all’ den Jahren machen wollten und sie freuten sich sehr darauf. “Wir tun so, als ob wir eine Weltreise machen würden“, sagte Wilhelm Bergmann belustigt, aber insgeheim war er genau so gespannt wie Wilhelmine, seine Frau. Eigentlich war es wie eine Hochzeitsreise, die sie nie hatten machen können, und von der alle träumten, aber dass sie es nun so weit gebracht hatten, machte sie stolz. Außerdem hatten sie auch Silberhochzeit. Es war eine Krönung des Erreichten. Mit sehr viel Arbeit und etwas Glück, hatten sie es geschafft, ihre Kinder groß zu ziehen und ein kleines Vermögen anzusammeln, das es ihnen ermöglichte,
allen Kindern etwas mitzugeben und sich selbst nun auch etwas zu gönnen
Sie hatten es gar nicht richtig bemerkt, dass sie nun über die Fünfzig waren und dass die Jugend vorbei war, aber das nahm man als unabänderliche Tatsache hin. Mit fünfzig trugen die Frauen “gedeckt”. Schwarz oder dunkelblau mit weißen Krägen, oder silbergrau , wenn es reine Seide war. Die meisten Älteren trugen das Haar aufgesteckt oder mit Mittescheitel.
Wenn sie zu einer Festlichkeit zusammensaßen, sangen sie: “Schön ist die Jugend, sie kommt nicht mehr“, oder: “Goldne Abendsonne, wie bist du so schön, nie kann ohne Wonne, deinen Glanz ich sehn!”
Mit dem Stummfilm wurden Ponyfrisuren und Bubikopf modern, aber das war nur etwas für junge Leute. Man kümmerte sich nicht viel um gesunde Ernährung, und so waren sie alle fülliger geworden, aber das nahm man hin, wenn man älter wurde. Männer trugen über ihren Bäuchen Westen und eine goldene Uhrkette im Knopfloch. Eine Sprungdeckeluhr in Gold war etwas ganz besonderes. Zweimal in der Woche rasierten sich die Männer mit einem scharfen Rasiermesser. Dann durften sie nicht gestört werden, denn leicht hatte man einen Schnitt im Gesicht und das Blut musste mit Alaunstein gestillt werden. Trotzdem, Bärte waren nicht mehr so modern und wo ein Friseur in der Nähe war, gingen die Männer auch dort hin und ließen eine “scharfe Rasur” machen. “Fassonschnitt?”, fragten dann die Friseure und sie ließen die Haare schneiden. Manche Friseure, die Meister, waren auch Barbiere und durften Zähne ziehen.
Den Jungen schnitten die Väter die Haare mit einem kleinen mechanischen Rasierapparat und der Schere. Dazu wurde eine Schüssel auf den Kopf des Jungen gesetzt und darum herum wurden die Haare abgeschnitten. Das war sauber und ordentlich und konnte leicht gekämmt werden. Manche Väter beherrschten auch die “Scheiteltechnik” und der Mittel-, oder Seitenscheitel konnte scharf gezogen werden. Die Jungen hatten das nicht gerne, aber sie wurden nicht gefragt. Sie mussten das ertragen und wurden dann noch von denen, die den “Topfschnitt” nicht hatten, gehänselt. Die sagten dann: “Der hat einen Beamtenscheitel, der Angeber!”
Die Mädchen auf dem Land, hatten fast alle Zöpfe, mal als “Gretchenfrisur”, da schlang man die Zöpfe um den Kopf. Das passte zur Gretchenfigur aus Goethes “Faust”, oder die Zöpfe wurden als Schnecken über den Ohren mit Haarnadeln festgesteckt.
Im Klever Theater hatten sie auch ein paar Schauspiele gesehen.
Anna schwärmte immer noch von Hamlet, als sie schon Achtzig war.
Sie hatten nun auch einen Schauspielführer, um sich von den Theaterstücken ein Bild zu machen.
“Ja, was ziehen wir an?”
“Ja, was ziehen wir an?”
Mutter Wilhelmine bekam jedes Jahr ein Kleid aus reiner Seide.” Das“, sagte Vater Wilhelm, “bin ich meiner fleißigen und tüchtigen Frau schuldig.”
Über Kleidergrößen wurde nicht viel gesprochen, denn die meisten Leute hatten eine Hausschneiderin, die einmal im Jahr, für ein paar Tage ins Haus kam und entsprechend Maß nahm.
Ein paar Kilo mehr, wurden dann in Kauf genommen und von “dick” sprach kaum jemand. Die Männer sagten: “An Frauen muss was “dran” sein! Von einem Knochengerippe halten wir nichts!” Solide musste die Kleidung sein und lange halten. Mit “GUTEN SACHEN” musste man vorsichtig umgehen, weil sie meistens nicht waschbar waren, einliefen, oder die Form verloren. Reine Seide war zwar waschbar, aber das “Schönste” daran war weg, wenn Fett- oder Obstflecken das Waschen erforderlich machten.
Zu Hause trug man auf jeden Fall eine Schürze, um Flecken zu vermeiden. Junge Mädchen und Frauen trugen zu Tanzveranstaltungen oder Ausflügen weiße Battistkleider, die hübsch aussahen und dazu trug man Hüte mit Bändern in verschiedenen Farben oder mit Blumenschmuck. Knöpfstiefel und Schuhe mit kleinen Absätzen waren modern und alle Frauen träumten von den unerreichbaren Garderoben der Filmschauspielerinnen. Von den Pelzmänteln, den Pelzhüten und einem “Muff” für die Hände. Für die “kleinen Leute” unerreichbare Kostbarkeiten.
Friseure arbeiteten mit der Brennschere, und waschbrettartige Wellen wurden in die Haare gepresst. Eleganter war der “tiefe Nackenknoten“, den trugen die “Adeligen”. Die Adeligen und die verarmten Offiziersfrauen wollten die “Kleinen Leute” aber auch nicht als Vorbilder. “Denen machen wir nicht alles nach”, sagten sie. “Die haben auch nicht mehr als wir und sind nur eingebildet! Die Beamten, die Hungerhaken essen sich nicht satt, um mit ihren Teppichen und Möbeln angeben zu können und wollen was Besseres sein, nur weil sie später Pensionäre heißen und wir Arbeiter mit Wochenlohn Rentner!” Arme Rentner!
“Dumm geboren und nichts dazu gelernt“, sagten manche von den eingebildeten, kleinen Beamten, wenn sie mit ihren Kneifern auf der Nase, den Arbeitslosen, von denen es in den frühen Zwanzigern viele gab, das magere Stempelgeld auszahlten. So, als ginge es von ihrem eigenen Einkommen ab.
Die Menschen waren im allgemeinen schlecht gekleidet und schlecht ernährt. Die Frauen und Kinder litten Not. Sie konnten sich gute Kleidung nicht leisten!
Wilhelm Bergmann und seine Frau waren für “gut” wertvoll gekleidet, denn Wilhelm’s Schneiderei “lief” und der “Laden” brachte auch Gewinn. So konnten sie stolz auch mal an sich denken.
Da die Kinder nun selbständig wurden, waren die Sorgen nicht mehr so groß. Sie arbeiteten zwar immer noch über die Maßen viel, aber der Gewinn reizte, wenn auch das Geld immer weniger Wert hatte. Man war WER in seinem Kreis, und nun wollte man verreisen, etwas von der Welt sehen und sich freuen. Im Stillen lernten sie schon mal den Text des Liedes vom Rolandsbogen und summten ihn vor sich hin. Irgendwie fanden sie den Text sehr frivol aber auch schön.
Das Lied von der schönen Loreley kannten sie schon lange und zwischendurch kamen ihnen die Strophen über die Lippen. “Ja, die Loreley, die schöne Elfe vom Rhein.!” Diese Sirene hätten alle Männer gerne einmal im Arm gehalten. Von vielen Malern war sie in ihrer ganzen verführerischen Weiblichkeit dargestellt, Mit ihrem Sirenengesang und ihrem schönen, goldenen Haar, nicht zu vergessen, ihrer schönen Gestalt, hatte sie die Fischer abgelenkt und die Männer versanken bei ihrem Anblick mit ihren Fischerkähnen in den Stromschnellen des Rheines bei Sankt. Goarshausen, wenn sie zu der Elfe auf dem “Elfenfelsen” hinaufsahen sahen und ihrem Gesang lauschten.
Heinrich Heine schenkte dem Elfenfelsen, später Drachenfels ein Gedicht, das noch neunzig Jahre später, von sangesfreudigen Japanern bei einem Ausflug auf dem Rhein, mit allen Strophen gesungen wurde. Wilhelm Bergmanns Ur- Ur- Enkelin war dabei und sang mit, denn die Rheinromantik erfüllt jeden, der eine Reise durch das Rheintal macht mit Freude, wenn es auch immer einige Satiriker gibt, die für solche “Gefühlsduselei” nichts übrig haben. Vielleicht braucht es aber auch ein paar sangesfreudige Japaner um die Stimmungslage der Deutschen Vorfahren nachzuvollziehen, die da mit Begeisterung sangen:
Ich weiß nicht was soll es bedeuten,
Dass ich so traurig bin;
Ein Märchen aus alten Zeiten,
Das kommt mir nicht aus dem Sinn.
Die Luft ist kühl und es dunkelt,
Und ruhig fließt der Rhein;
Der Gipfel des Berges funkelt
Im Abendsonnenschein.
Die schönste Jungfrau sitzet
Dort oben wunderbar;
Ihr goldnes Geschmeide blitzet,
Sie kämmt ihr goldenes Haar.
Sie kämmt es mit goldenem Kamme
Und singt ein Lied dabei;
Das hat eine wundersame,
Gewaltige Melodei.
Den Schiffer im kleinen Schiffe
Ergreift es mit wildem Weh;
Er schaut nicht die Felsenriffe,
Er schaut nur hinauf in die Höh.
Ich glaube, die Wellen verschlingen
Am Ende Schiffer und Kahn;
Und das hat mit ihrem Singen
Die Lore-Ley getan.
Doch bevor sie ihre erste Reise antreten wollten, sollte die Hochzeit von Anna und Wilhelm Bürger stattfinden. Alle Verwandten wurden benachrichtigt, und alle, sagten zu. Wilhelms Verwandte reisten aus allen Himmelsrichtungen, vierzig Personen an der Zahl, an. Neugierig beäugt von Annas Geschwistern und Verwandten.
Ihre Brüder und die Schwester Dora mit ihrem Mann dem Spaßvogel Jakob, und Hermann und Maria, die den kleinen Fritz von einem Jahr hatten. Alois und Bernd mit ihren Bräuten und deren Eltern und Geschwistern.
Die größte Freude für Anna war, dass ihre Cousine Frieda da war und ihr bei den Vorbereitungen zur Hochzeit half, denn Anna’s Mutter kümmerte sich um den Laden und hatte auch sonst eine Menge Arbeit zu verrichten. Sie, die arbeitsame Mutter, war vor der Zeit gealtert. Mit der Zeit hatte sie zugenommen und ihre straffe Figur verloren, aber sie hielt sich gerade. Trotz einer gewissen Härte hatte sie etwas beständig Gütiges und auch einen gewissen Stolz auf den Erfolg, der ihrem unermüdlichen Schaffen zu verdanken war. Der Trigenimus-Nerv quälte sie in Zeitabständen immer noch, aber die Schmerzen hatten etwas nachgelassen.
Cousine Frieda traf hier auf ihren Jugendfreund Hermann, den sie so sehr geliebt hatte, dass sie einen Nervenzusammenbruch erlitt, als man ihr verbot, mit ihm zusammen zu bleiben und Hermann hatte nachgegeben. Beide waren nun verheiratet und hatten sich mit der Trennung abgefunden, aber es war immer noch eine Art Spannungsfeld zwischen ihnen. Sie hatten ihre Liebesbeziehung nicht vergessen. Es gab “gewisse A u g e n b l i c k e… !”
Hermann war Vater und Frieda war Mutter und trotzdem…! Anna bemerkte das Spannungsfeld, doch sie sagte nichts. Frieda war nach wie vor schön und ihre dunklen Augen sagten so viel! Sie sprachen nicht über ihre Gefühle und Anna stellte keine Fragen.
Für Anna war alles aufregend und anstrengend. Vieles musste arrangiert werden. Die Schlafgelegenheiten, das Essen, die Tische und Stühle, Tischwäsche, Servietten, Bestecke, Getränke und Gläser.
Mutter Wilhelmine knetete den Teig für die Weißbrote, die in der Bäckerei gebacken wurden. Stuten, mit und ohne Rosinen wurden in Formen oder Laiben zur Bäckerei gebracht und wurden am Tag der Feier noch warm, ins Haus getragen. Ein Duft von Brot, Braten, Schinken. Kuchen und Kaffee durchzog dann das Haus.
Es war ein Schwein geschlachtet worden, aber es gab auch Rindfleisch für die Suppe und für die Vorspeise. Braten von Schwein und Rind, Gemüse und Salate, und zum Nachtisch Vanillepudding mit Himbeersoße, Annas Lieblingspudding. Die Hochzeitstorten standen bereit. Tagelang hatten sie alles vorbereitet. Sie hatten eine Köchin engagiert, die bekannt war für gute Zubereitung.
An nichts wurde gespart. “Anna soll eine gute Erinnerung haben“, sagten die Eltern, und Anna war glücklich und stolz auf ihr Elternhaus und ihre Familie.
Das Hochzeitskleid, es war bei den kleinen Leuten zu der Zeit aus schwarzer, bestickter Seide, stand Anna gut. Sie hätte auch in weiß heiraten können, aber sie fand den langen Schleier dumm. Sie war mehr für das Einfache und wollte nicht tun, was alle machten. Ein kleines, goldenes Kreuz an einer Goldkette und ein schmales, goldenes Armband, das Wilhelm ihr schenkte, vervollständigte ihre Hochzeitskleidung. In diesen schweren Zeiten waren die Menschen sehr bescheiden.
Wilhelm würde den schwarzen Gehrock über dem weißen Hemd mit dem steifen, weißen Kragen, der scherzhaft auch “Vatermörder” genannt wurde, tragen… und dazu die grau-schwarz gestreifte Hose. Einen Zylinder hatte er schon angeschafft. Ein so genannter Chapeau Clap. Das war würdevolle Kleidung für den Bräutigam und seine aufrechte Haltung und Gestalt tat ein Übriges. Mit dem Chapeau Clap hatten sie schon zuvor viel Spaß. Jeder wollte ihn einmal hochschnellen lassen und das “Plop” hören,
Dann kam der Tag! Am frühen Morgen kamen ein paar Nachbarinnen, um alles für das Mittagessen zu richten, die sich auch um das Frühstücksgeschirr kümmerten und schon die Tische für das Mittagessen deckten.
Die Männer hielten sich aus dem Geschehen tunlichst heraus. Sie bekamen schon einmal ein Schnäpschen und wurden rausgeschickt, denn sie standen nur im Weg. Sie guckten in die Töpfe und machten dumme Sprüche. Einer sagte: “Jeder junge Mann hat einen Hang zum Küchenpersonal!” und wollte eine Suppenprobe. Doch die Köchin machte “kurzen Prozess” mit ihm.
“Nun aber raus”, sagte sie kämpferisch und in späteren Familienzusammenkünften wurde über diese Episode immer noch gelacht.
Dann machten sich alle auf den Weg zur Kirche. Anna und Wilhelm, die Eltern und die Trauzeugen fuhren in der Kutsche, die zweimal fahren musste. Alle anderen Gäste gingen zu Fuß.
Die katholische Anna Bergmann und der protestantische Wilhelm Grüber, immer noch etwas misstrauisch beäugt von einigen fanatischen Katholiken. Unter ihnen auch die streitbare Tante Hannchen und Onkel Karl, der beim Kaiser gedient hatte.
Doch die Hochzeitsfeier war sehr schön und der Küster spielte :”So nimm denn meine Hände, und führe mich!” Anna war es doch etwas unheimlich, als der Pfarrer sagte: “Bis dass der Tod Euch scheidet!”, doch war sie auch sehr froh über die gelungene Trauungszeremonie.
Es es gab viele Glückwünsche vor der Kirche. “Der glücklichste Tag in meinem Leben!”, dachte Anna, und “all’ die Arbeit nicht umsonst!” Wilhelm war sehr aufgeregt und nahm sich vor, Anna alles zu geben. Er freute sich, dass sie aus einem so guten Elternhaus kam und war stolz, dass er eine um zehn Jahre jüngere Frau geheiratet hatte, mit der er ein gutes Leben führen könne. Sie war nicht streitsüchtig, aber gescheit und mit ihr konnte man sich unterhalten. Sie diskutierte gerne und sie hatten beide Humor. Anna war fröhlich und lachte gern. Sie konnte Karten spielen…, das konnten nur wenige Frauen. Die Winterabende waren doch manchmal recht langweilig, wenn man nicht in einer großen Stadt wohnte. Es gab ja für die langen Winterabende keine Unterhaltung. Die Frauen beschäftigten sich oft mit Handarbeiten, wie Stricken, Häkeln oder Sticken und die Männer lasen Zeitung, oder bastelten mit Holz oder Metall, wenn sie das konnten. Eigentlich waren sie sehr bescheiden, aber die Verhältnisse ließen nicht mehr zu. Wenn man ein “Ehrenmann” sein wollte, hatte man sich gewissen Regeln zu unterwerfen, denn man wollte nicht von Nachbarn oder Verwandten “beredet” werden.
Wilhelms Mutter Katharina, die fromme Protestantin, war zur Hochzeit nicht mitgekommen. Sie sagte, sie hätte eine schwere Erkältung. Wilhelms Vater war mit Umsteigen in Rheydt, Düsseldorf und Kleve mit seinem ganzen Clan zur Hochzeit gekommen. Es muss sehr anstrengend gewesen sein, denn sie waren den halben Tag unterwegs.
In seiner verschmitzten Art sagte er: “Wilhelm, mein Sohn, zum letztenmal nenne ich dich mit deinem Spitznamen, denn nun hast Du Pflichten! Du hast Glück gehabt, so eine nette Frau zu finden. Nun bist du der Ehemann Wilhelm Grüber. Mach uns Ehre…!”
Mit einem Augenzwinkern, leise…: “Mutter betet für Euch, protestantisch…!”
Da wusste Wilhelm, dass die fromme Protestantin nicht mitgekommen war, wegen der vielen Katholiken. “Die Protestanten“, dachte er, sind manchmal noch fanatischer als die Katholiken, aber er wusste auch, dass seine Mutter ihn liebte, wie alle ihre Kinder. Alles wird gut!
Anna war glücklich, dass Wilhelms Vater da war, denn sie fühlte, dass er sie mochte. Er ließ sie erkennen, dass sie seinen komischen Einfällen und seinem Mutterwitz gewachsen war. Da blitzten Ihre Augen wie in früheren Zeiten, als noch kein Krieg war und sie noch nicht die Erfahrungen mit dummen und frechen Männern gemacht hatte, wie dem Gutsherrn und dem Sohn.
Wortgefechte gingen hin- und her, aber das passte ihren Schwägerinnen nicht, weil sie manches nicht verstanden und eine gewisse Eifersucht machte sich breit aber Wilhelm war stolz, dass er eine so gescheite Frau hatte.
Vater und Mutter umarmten sie und die Geschwister waren herzlich.
Kein Missklang störte bei den Gratulationen vor der Kirche und langsam fuhr die Kutsche vor, doch sie konnten sich noch nicht trennen, denn da waren noch die Freundinnen aus der Schulzeit, die nicht eingeladen waren. Alle wollten gratulieren.
Die zu Hause beschäftigten sprachen über die Hochzeit und eine der Nachbarinnen sagte: “Hoffentlich fangen die Männer nicht mit der Politik an. Dann ist wieder der ganze Aufwand umsonst und der ganze Spaß vorbei!, Schließlich ist das hier eine Hochzeit und da soll es keinen Streit geben.”
Das war ein Thema der Frauen bei allen Familienfeiern, denn es gab ja die unterschiedlichsten Meinungen über Krieg und Frieden und die Politik. Einige Männer trauerten immer noch wegen des verlorenen Krieges und des zerstörten Kaiserreichs. Andere schimpften über den Kaiser und machten sich darüber lustig, dass er nun in Doorn Holz hacken sollte. “Das hätte in der Zeitung gestanden”, sagten sie, “das müsse ja wohl stimmen…”
“So ein Quatsch“, sagten wieder die Kaisertreuen. “Hoffentlich kommt jetzt endlich mal die SPD dran. Die tun wenigstens etwas für uns!” Die besonders guten Katholiken sagten dann: “Für uns kommt nur die Zentrumspartei in Frage!” Das brachte wieder die mehr der kommunistischen Partei zugewandten Männer in Rage und mit “DENEN” wollten sie, die Angestellten und Beamten, aber auch die katholischen Arbeiter nichts zu tun haben.
“Freidenker” waren total aus dem Rennen. Sie waren nicht getauft und deshalb nicht Mitglied einer Kirche. Sie wurden meistens gemieden. Da halfen auch nicht verwandtschaftliche Bande. Eigentlich wussten sie alle nicht viel über die Programme der einzelnen Parteien, aber man konnte so schön streiten und die Wortgefechte wurden immer persönlicher. Da wurden sich oft die Köpfe heiß geredet und es ging hoch her. Der bei solchen Gelegenheiten ausgeschenkte “Opjesetzte” tat dann ein Übriges und der Geräuschpegel stieg. Die Frauen sagten dann: “Jetzt führen sie wieder Hähnchenkämpfe auf!”
Hermine Klein sagte: ”Mein Geburtstag endete auch mit Streit um die Politik und als ich sagte: ”Nun hört doch mal auf!”, sagte Klaus: “Halt’ dich da raus, das ist nichts für Frauen. Davon habt ihr keine Ahnung! Kümmert Euch um Euer Strickzeug und den Kochtopf!” Und traurig sagte sie: “So etwas hat er noch nie zu mir gesagt und auch noch vor allen Leuten! Ich sage Euch: “Das wird noch einmal übel enden! Meine Mutter hatte Recht, wenn sie sagte: “Politik verdirbt den Charakter!” Christine sagte: “Wenn Dein Mann wüsste, wie du über ihn redest ?”
Hermine ärgerte sich und fragte: “Findest du es gut, was er gesagt hat?”
Charlotte, die einen Streit heraufziehen sah, sagte: “Männer müssen nicht alles wissen, Männer müssen alles essen !” Das wiederum war ein Spruch ihrer Großmutter. Damit beendete sie diese Diskussionen um solche Beleidigungen.
Bei diesen Gesprächen hatten sie aber alles festlich geschmückt und die Tische waren für das Mittagessen gerichtet. Zufrieden betrachteten sie ihr Werk und dann hörten sie Pferdegetrappel.
“Die Kutsche kommt!”, riefen sie und liefen auf die Straße.
Das Brautpaar und die Hochzeitsgesellschaft kam bestens gelaunt zurück und nun
begann die Hochzeitsfeier. Es gab eine Menge bescheidener Hochzeitsgeschenke,
denn die Gäste waren alle nicht gut bei Kasse. Man konnte nicht viel kaufen, weil
die Inflation den Wert des Geldes von Tag zu Tag herabsetzte, und das Fahrgeld
musste ja auch bezahlt werden.
Ja, dann war da noch die Hochzeitsnacht…! Nie hat Anna darüber gesprochen!
Aber, ein Jahr später bekam Anna einen kleinen Sohn. “Darüber spricht man nicht“,
sagte sie”, und… Wilhelm ist ein guter Mann !”
“Es war eine schöne Hochzeit” sagten sie alle, als sie sich am nächsten Tag
auf den Weg nach Hause machten. Anna und Wilhelm blieben noch zwei Tage bei Bergmanns, um zu helfen, denn sie wollten der Familie nicht die ganze Arbeit überlassen. Dann kam der Abschied und für das junge Ehepaar begann ein neues Leben.
Als sie das Haus verließen, war Anna doch sehr traurig, denn von nun an sollte ihr zu Hause bei ihrem Ehemann sein. Fern von den Eltern und Geschwistern. Sie erzählte später, dass der Hund, der im Hause ihrer Eltern war, ein mittelgroßer Spitz, der sehr an ihr hing, noch bis zur Straßenbahn mitlief. Sie schickte ihn zurück, weil da, wo sie nun wohnen würden, kein Platz für ihn war. Sie wollte auch in ihrem späteren Leben keinen Hund in ihrem Haus, doch hatte sie ihren Kindern eine Katze nicht verweigert. Wahrscheinlich wollte sie sich nie mehr dem Abschiedschmerz aussetzen und es war ihr egal, ob die anderen sagten, dass sie keine Tiere mochte. Erst im Alter hatte sie ihre Einstellung geändert, als ihre Tochter einen “Streuner” mit nach Hause brachte, einen prächtigen Dackelrüden, den sie sehr gerne hatte.
Ihr Leben musste sie nun selbst gestalten und es wurde ihr schwer ums Herz, als sie sich die Frage stellte: “Bis dass der Tod uns scheidet?” Wilhelm stellte sich solche Fragen nicht. Er hatte sich entschieden und war zufrieden mit seinem Leben. Verliebt, verlobt, verheiratet, das war des Lebens Lauf und er hätte das große Los gezogen, sagte er. Anna aber wurde es in diesen Stunden Angst und Bange vor der unsicheren Zukunft und dem ganz neuen Leben. Doch nun, mit einundzwanzig Jahren, war sie volljährig und für sich selbst verantwortlich. Sie hatte - JA - gesagt und wollte diese Selbständigkeit und sie hatte sich vorgenommen, das Beste aus ihrer Ehezu machen.
Anna war von Natur aus treu und zuverlässig aber die wilde Leidenschaft, die sie sich von der Ehe versprochen hatte, war es nicht. Doch vielleicht kommt es noch, was die Liebespaare zusammen treibt, dachte sie. Vielleicht bin ich auch zu brav? Sexuelle Aufklärung gab es nicht und das sollte auch noch lange so bleiben! Unkeusche Gedanken , hatten … unter dem Teppich … zu bleiben aber sie waren da! In der Beichte wurde danach gefragt und welche Frau schämte sich nicht, wenn sie über “solche Sachen” sprechen sollte. Selbstbefriedigung war ein Wort, das nie ausgesprochen wurde und Onnanie, das muss etwas ganz Furchtbares sein. Die Ehe war dazu da, Kinder zu kriegen. Hatten sie “Spaß” am Eheleben, bekamen sie wieder den Satz vom Missbrauch der Ehe zu hören. Hätten sie in der Beichte die Unwahrheit gesagt, hätten sie das fünfte Gebot verletzt. Sie hätten dann die Lüge beichten müssen und dann wäre es doch herausgekommen. So waren die Frauen in einem ständigen Zwiespalt. Viele gönnten sich das Vergnügen aber es durfte niemand wissen. Anna war als Kind und junge Frau fromm und gläubig und die Gesetze der Kirche waren ihr heilig. Wenn einmal die Rede auf solche Themen kam, wurde von Superschlauen gesagt”, dass Handlungen an sich selbst zu Geisteskrankheiten führen würden und dann bekäme man verblödete Kinder. Wer wollte schon verblödete Kinder? Wilhelms Verwandre, besonders die Mutter, waren sehr kirchentreu und fromm. Alleine daraus zogen sie Kraft und im Gebet fanden sie Trost. Wilhelm war auch sehr gläubig aber er, wie auch viele Männer seiner Generation, sahen die Gesetze der Kirche lockerer, wenn sie auch innerhalb der Familie auf Einhaltung der kirchlichen Moral Wert legten. Wilhelm ging auch mit in die Katholische Kirche. Er meinte, das sei gleich gut und es wäre doch derselbe Gott zu dem sie beteten. Gebete vor und nach dem Essen hielten sie ein. Es wurde zu einer lieben Gewohnheit und auch der Spruch, “Laß’ nie die Sonne untergehen über einem Streit!” gab ihnen Kraft, ihre Zweisamkeit zu leben, zumal Anna schwanger war.-
Die Ehemänner hatten im Elternhaus gelernt dass der Vater als Familienoberhaupt das Sagen hatte und das galt für alle Zeiten. Wilhelm beanspruchte diese Gesetze nicht. Er liebte Anna und gab ihr seine Anerkennung, denn sie war eine gute Rechnerin und lenkte das kleine Familienschiff, was die schriftlichen Dinge betraf und Wilhelm war ein guter Handwerker der sich um die Einkünfte kümmerte, was im Jahre Neunzehnhundertzwanzig auch noch viel versprechend aussah, denn er hatte wieder eine gute Arbeit gefunden, wenn es auch nicht die ersehnte Selbständigkeit war.
Als sie das Haus verließen, war Anna doch sehr traurig, denn von nun an sollte ihr zu Hause bei ihrem Ehemann sein. Fern von den Eltern und Geschwistern. Sie erzählte später, dass der Hund, der im Hause ihrer Eltern war, ein mittelgroßer Spitz, der sehr an ihr hing, noch bis zur Straßenbahn mitlief. Sie schickte ihn zurück, weil da, wo sie nun wohnen würden, kein Platz für ihn war. Sie wollte auch in ihrem späteren Leben keinen Hund in ihrem Haus, doch hatte sie ihren Kindern eine Katze nicht verweigert. Wahrscheinlich wollte sie sich nie mehr dem Abschiedschmerz aussetzen und es war ihr egal, ob die Leute sagten, dass sie keine Tiere möge. Erst im Alter hatte sie ihre Einstellung geändert, als ihre Tochter einen “Streuner” mit nach Hause brachte, einen prächtigen Dackelrüden, den sie sehr gerne hatte
Ihr Leben musste sie nun selbst gestalten und es wurde ihr schwer ums Herz, als sie sich die Frage stellte: “Bis dass der Tod uns scheidet?” Wilhelm stellte sich solche Fragen nicht. Er hatte sich entschieden und war zufrieden mit seinem Leben. Verliebt, verlobt, verheiratet, das war des Lebens Lauf und er hätte das große Los gezogen, sagte er.
Anna aber wurde es in diesen Stunden Angst und Bange vor der unsicheren Zukunft und dem ganz neuen Leben. Doch nun, mit einundzwanzig Jahren, war sie volljährig und für sich selbst verantwortlich. Sie hatte: “JA” gesagt und wollte diese Selbständigkeit und sie hatte sich vorgenommen, das Beste aus ihrer Ehe zu machen. Sie hatte Wilhelm gern und meinte, nun mit der neuen Selbständigkeit einen guten Anfang zu haben. Sie war von Natur aus treu und zuverlässig, aber die wilde Leidenschaft, die sie sich von der Ehe versprochen hatte, war es nicht.
“Vielleicht kommt es noch, was die Liebespaare zusammen treibt“, dachte sie. “Vielleicht bin ich auch zu brav?” Sexuelle Aufklärung gab es nicht und das sollte auch noch lange so bleiben! Unkeusche Gedanken hatten … “unter dem Teppich” … zu bleiben aber sie waren da!
In der Beichte wurde danach gefragt und welche Frau schämte sich nicht, wenn sie über “solche Sachen” sprechen sollte. Selbstbefriedigung war ein Wort, das nie ausgesprochen wurde und Onanie, “das muss etwas ganz Furchtbares sein“, dachte sie. Einmal hatte sie das Wort gehört und die Männer, die darüber sprachen, lachten so zweideutig. Mit Wilhelm darüber zu sprechen, traute sie sich nicht. Es war ja so, dass viele Männer auch meinten, dass Frauen keinen Orgasmus haben könnten. Die Ehe war dazu da, Kinder zu kriegen.
Hatten die Frauen “Spaß” am “ Eheleben, bekamen sie in der Beichte wieder den Satz vom Missbrauch der Ehe zu hören. Hätten sie in der Beichte die Unwahrheit gesagt, wäre es ein Verstoß gegen das fünfte Gebot gewesen. Lügen mussten ja auch gebeichtet werden. Dann wäre es doch herausgekommen. So waren die Frauen in einem ständigen Zwiespalt. Viele Frauen, die schnell zum Orgasmus kamen, gönnten sich das Vergnügen, aber es durfte niemand wissen, denn Beischlaf sollte nur zur Produktion von Kindern beitragen.
Wenn einmal unter den jungen Frauen die Rede darauf kam, lachten diejenigen, die was davon hatten, zweideutig und sagten: “Ich war im Himmel!“ und verdrehten die Augen. Die, die nichts davon hatten, schwiegen, weil sie sich dumm vorkamen. Sie hätten es auch gerne erlebt, aber die Erlebniswelt war klein. Unentwegt drängten sich den unbefriedigten Frauen Gedanken auf, die sich mit diesen Fragen beschäftigten, denn sie hatten Bedürfnisse, von denen sie nicht sprechen durften. Andererseits wurde immer wieder gesagt, unkeusche Gedanken würden den Ehefrieden stören. Die Männer waren “sauer“, wenn sie nicht zu ihrem “Recht” gekommen waren und sagten, dass die Frauen sich nicht “hingeben” könnten, was diese dann als einen Makel an sich selbst empfanden.
Bei den Frauen, die Sexualität genussvoll erlebten, sagte man: “Die braucht man nicht lange zu bitten!” Bei denen, die nichts vom Beischlaf hatten, sprach man von
Frigidität. Für die Kirche war alles, was nicht mit der Erfüllung der Pflicht zur Kinderproduktion zusammen hing - SÜNDE - und das führte wiederum zu
- UNLUST - . Wer wollte schon in der Beichte damit konfrontiert werden? Anna fragte sich: “Bin ich krank?”
Doch irgendwann hatte sie den Weg gefunden, wie sie ihre ständige Unzufriedenheit bewältigen konnte und das Erlebnis war so stark, dass sie einfach alle Regeln in den Wind schlug und in der Beichte diese Erlebnisse nicht mehr als Sünde betrachtete.
Wenn einmal die Rede auf solche Themen kam, wurde von Superschlauen gesagt, dass Handlungen an sich selbst zu Geisteskrankheiten führen würden und dann bekäme man verblödete Kinder und diese Meinung wurde noch von Vielen bis in die fünfziger Jahre vertreten. Anna aber sagte: “daran will ich gar nicht denken. Sie bemerkte, dass sie ein viel besseres Leben führte und für Wilhelm mehr Verständnis hatte. Viele Mädchen wurden auch da noch nicht aufgeklärt und manche Mütter sagten vor der Hochzeit zu ihren Töchtern, wenn diese nach der Hochzeitsnacht fragten, “Das ist nur was für Männer!” Einmal hatte sie gehört, dass englische Mütter ihre Töchter aufklärten, indem sie sagten: “Mach’ die Augen zu und denk’ an England!”
Ihre Cousine Frieda hatte einmal zu ihr gesagt, dass einer der Männer, die untereinander über das Thema redeten, sagte: “Wenn die Weiber es selbst machen, brauchen sie uns nicht mehr!” Zum gleichen Zeitpunkt hörte sie, dass einer sagte: “Mach’ sie nicht wach, denn dann hast du keine Ruhe mehr! Dann sind die Weiber unersättlich!” Alle diese Erkenntnisse führten dazu, dass Anna nun mit niemandem darüber sprach. Alles in sich verschloss und später auch mit ihren Kindern nicht darüber sprechen konnte. Sie konnte ihre Kinder nicht aufklären. Niemand, den sie kannte, tat das. Sexualität wurde aus dem Erziehungsprogramm ausgeklammert. Alle Menschen übten sie aus und beschäftigten sich über die Maßen damit, aber niemand sprach darüber. Zu dem Zeitpunkt hatte sie noch keine Ahnung, was das richtig bedeuten sollte, denn diesbezüglich war sie noch unreif aber nun fielen ihr diese blöden Sprüche wieder ein. Wie viel schöner muss es doch auch für einen Mann sein, wenn er erlebt, dass seine Frau das Gleiche fühlt wie er, und wie viel erfüllter wäre das Leben in diesen schweren Zeiten, dachte sie und wie viel schöner wäre eine Ehe. Sie begann an den Vorschriften der Kirche zu zweifeln, aber sie blieb trotzdem eine gläubige Katholikin. Sie suchte in der Gläubigkeit Trost, wenn ihr das Leben schwer, und der Kampf ums tägliche Brot unerträglich wurde.
Die Mieter konnten die Miete nicht zahlen. Wilhelm arbeitete viel, doch die Anschreibeliste wurde immer länger.
“Das Wichtigste ist, dass wir gesund bleiben und zusammenhalten“, sagten sie.
Wilhelms Verwandte, strenge Protestanten, besonders die Mutter, waren religionstreu. Aus dem Gebet zogen sie Kraft und fanden Trost. Wilhelm war auch sehr gläubig, aber er, wie auch viele Männer seiner Generation, sahen die Gesetze der Kirche lockerer, wenn er auch innerhalb der Familie auf Einhaltung der kirchlichen Moralgesetze Wert legte. Wilhelm ging auch mit in die Katholische Kirche. Er meinte, das sei gleich gut und es wäre doch derselbe Gott zu dem sie beteten. Gebete vor und nach dem Essen hielten sie ein. Es wurde zu einer lieben Gewohnheit und auch der Spruch, “Lass’ nie die Sonne untergehen über einem Streit!” gab ihnen Kraft, ihre Zweisamkeit zu leben.
Die Ehemänner hatten im Elternhaus gelernt, dass der Mann, als Familienoberhaupt das Sagen hatte und das galt für alle Zeiten. Wilhelm beanspruchte diese Gesetze nicht. Er liebte Anna und gab ihr seine Anerkennung, denn sie war eine gute Rechnerin und lenkte das kleine Familienschiff, was die schriftlichen Dinge betraf. Und Wilhelm war ein guter Handwerker, der sich um die Einkünfte kümmerte, was zu der Zeit auch noch viel versprechend aussah, denn er hatte wieder eine gute Arbeit gefunden, wenn es auch nicht die ersehnte Selbständigkeit war.
Anna hätte gerne eine größere Wohnung gehabt aber andererseits wollte sie auch ein eigenes Häuschen mit Garten wie die Geschwister, und das hieß “Sparsamkeit!”
Das Beste an ihrer Zweisamkeit war, dass sie beide Humor hatten und miteinander lachen konnten und sie sangen zusammen schöne, alte Volkslieder.
Wilhelm freute sich, dass Anna gut kochte und genoss das Zusammensein. Abwechslung gab es nicht viel. Man ging sonntags in die Kirche, kochte Mittagessen, las Zeitung oder ging spazieren, wenn das Wetter gut war, und abends spielte man Karten oder Brettspiele. Anna war in einer Leihbibliothek und konnte so endlich lesen, aber diese Bibliothek war privat und klein. Es waren fast nur Romane der einfacheren Literatur auszuleihen, aber als die Geschäftsinhaberin bemerkte, dass Anna sich nach inhaltsreicheren Stoffen sehnte, lieh sie ihr Bücher aus ihrer eigenen Sammlung. Für Anna bedeutete es viel, dass sie ihr Bücher von L.N. Tolstoi gab.
Das erste dieser Bücher, das sie las, war Anna Karinina und mit dieser, für sie neuen Literatur, war ihr Leben reicher geworden. Dann las sie Biografien großer Musiker, Schriftsteller und über berühmte Maler. Romane von Ganghofer, Anzengruber, aber auch Courths Maler, Heimatromane und Liebesromane füllten die sonst so ereignislosen Abende, denn es gab keine Abwechslungen, die ihrem Alter angemessen gewesen wären. Der Schriftsteller Emil Zola hatte es ihr besonders angetan. Wenn sie in diesen Büchern las, war sie weggetreten, wie Wilhelm sagte, aber er ließ sie in Ruhe lesen. Er hatte sich einem Gesangverein angeschlossen, denn er hatte eine gute Stimme. Da hatte er dann auch zweimal im Monat eine Abwechslung unter Männern und man konnte auch mal ein Bier zusammen trinken. Anna sagte: “Ich glaube, das Bier ist noch wichtiger als das Singen”, aber sie gönnte es ihm. Es war ein einfaches Leben, doch es war friedlich. Wilhelm freute sich auf das Kartenspiel mit Anna, bei dem er fast immer gewann, aber da sie immer alleine waren, konnten sie nicht Skat spielen, was Anna gar zu gerne gelernt hätte. Wenn er gewonnen hatte sagte er: “So spielt man mit Studenten”, und Anna warf ihm dann die Karten an den Kopf. Sie erzählte später ihren Kindern, dass der Vater dann herzlich gelacht hätte und dabei hätten sie großen Spass gehabt.
Zu Annas Überraschung traf eines Tages eine Postkarte mit dem Foto von Annas Eltern und den Verwandten ein. Sie hatten ja schon vor Annas Hochzeit die Drachenfelsreise geplant und nun waren sie endlich, mit einigen Verwandten
zusammen, nach Königswinter gefahren. Alles war gut vorbereitet und sie fuhren in aller Herrgottsfrühe los. Mit der Umsteigerei war es etwas beschwerlich gewesen, aber endlich waren sie in Königswinter angekommen, und sie hatten tatsächlich zum ersten Mal in ihrem Leben ein Hotel gebucht, in dem sie übernachteten. Sie wollten ja auch zum Rolandsbogen und das hätten sie an einem Tag nicht geschafft. Als sie mit der Zahnradbahn auf den Drachenfels fuhren, hatten sie strahlenden Sonnenschein. Der glitzernde Rhein lag vor ihnen und ein sonderbares Glücksgefühl machte sich breit. Besonders Mutter Wilhelmine war begeistert von dem Anblick der Berge rings umher, denn sie war noch nie aus der Flachlandschaft des Niederrheins herausgekommen. Es war für sie, wie die Ruhe nach einer schweren Arbeit und danach, das wohlverdiente Ausruhen.
Sie, die fleißige Frau und Mutter, Geschäftsfrau und Hausfrau. Sie, die in all’ den Jahren unermüdlich gesorgt und gearbeitet hatte, saß nun völlig hingerissen von diesem schönen Tag in der Zahnradbahn. Wilhelm Bergmann bemerkte gerührt, dass seine Frau sich so sehr freute und nahm ihre Hand. Das wäre, wie sie sagte, einer der schönsten Augenblicke ihres Lebens gewesen.
Auf dem Drachenfelsgipfel angekommen, machten sie zuerst einen Rundgang und dann tranken sie Kaffee und hörten dem Sänger zu, der einen schwarzen Schlapphut aufhatte, und sich mit der Gitarre begleitete. Er sang das Lied von der Lorelay, das sie ja schon lange geübt hatten und genossen es, dass sie trotz der schwierigen Zeiten ihren Traum von der Reise verwirklicht hatten. Zum Schluss wurde das Foto für die Ansichtskarte gemacht, die Anna nun in den Händen hielt und sie nahm sich vor, die Eltern noch vor der Geburt ihre Kindes zu besuchen, um alles über diesen Ausflug zu erfahren. Das tat sie auch, und da erzählten die Eltern, dass sie sich wie im Paradies vorgekommen wären. Endlich frei in der Sonne sitzen, gespartes Geld in der Tasche, stolz, dass sie alles aus dem “Nichts” geschafft hatten. Die Kinder versorgt, ein Haus gebaut, ein Geschäft eröffnet und eine ansehnliche Schneiderei aufgebaut…!
Sie feierten sich selbst und waren stolz auf den Erfolg. Anna freute sich sehr, als sie noch einmal das Bild mit den Eltern und dem Steineselchen betrachtete, denn sie wusste, wie viel Mühe es die Eltern gekostet hatte, ihren Traum zu verwirklichen und sie neidete es ihnen nicht. Gerne wäre sie dabei gewesen, aber Neid war für sie ein unbekanntes Wort.
Die Eltern erzählten wie schön es auch am Rolandsbogen gewesen sei. Sie hätten in dem Lokal, in dem die schöne Meid mit den Ringellöckchen den Wanderer zum Wein verlockt hätte, auch Wein getrunken und wären hinunter mit einer Kutsche gefahren. Auf dem Weg hätten sie sogar das Lied vom Rolandsbogen gesungen und sie wären etwas beschwipst gewesen. Vom Rheinwein!
Auf der Rückfahrt wären sie im Zug fast eingeschlafen und zu Hause hätten sie noch einmal alles erzählen müssen und da hätte Vater Wilhelm noch ein paar Schallplatten gespielt. Auch die von Paris, wo die Mädels so süß sind. So viel wie in den beiden Tagen hätten sie schon lange nicht mehr gelacht. Anna freute sich für die Eltern, die nun, nach den schweren Zeiten etwas hatten, wovon sie erzählen konnten. Es war gut, dass die Eltern sich diese Freude gegönnt hatten, denn nun ging es auf den Höhepunkt der Inflation zu. Das Geld verlor von Tag zu Tag mehr an Kaufkraft. Bis 1922 blieb der 1000-Mark-Schein der höchste Wert in der Nominalkette, doch dann verlor die Mark rapide an Wert.
Die kleine Wohnung, in der Anna und Wilhelm wohnten, war sparsam eingerichtet, aber wenn sie erst “ IHR” - Haus hätten, denn sie wollten ja ein eigenes Haus, wie alle ihre Verwandten, - DANN ! Ja, dann…!, doch dazu hatten sie noch nicht genügend Kapital. Sie verloren ihre Pläne nicht aus den Augen. wenn auch die Inflation nicht viel Gelegenheit bot, Geld zurückzulegen.
Zu dieser Zeit kam die Stadt Düsseldorf in große Nöte und musste Grundstücke verkaufen. Das hörte Anna von ihrem Vater, der durch den Bankdirektor aus Köln, für den er immer noch arbeitete erfuhr, dass in Düsseldorf Grundstücke und Häuser zu Spottpreisen angeboten und versteigert würden und ob sie interessiert wären, eines zu erwerben. Er sagte, dass er ihm dabei behilflich sein könne und so kam es, dass Anna und Wilhelm ein Haus bekamen, das die Stadt Düsseldorf verkaufte. Vater Wilhelm kam eilends nach Düsseldorf und sie kauften sofort! Annas Vater hatte immer schon auf Gold gesetzt und seine “Goldstückchen” gehortet und Wilhelm hatte gespart und so wurden Anna und Wilhelm im Grundbuch zu gleichen Teilen eingetragen und waren “Hausbesitzer“! Im Gegenwert von sechstausend Goldmark, der an Inflationsgeld in die Millionen ging.
Anna war schwanger und dachte: “ Bis das Kind da ist, kann sich noch vieles
Ändern!” Sie waren mit ihren eigenen Problemen so belastet, dass sie politische Veränderungen kaum wahr nahmen, es sei denn, sie wären mit dem Zeitgeschehen durch Währungsveränderungen aufgeschreckt worden. Doch lasen sie Zeitung und erfuhren in ihrer Abgeschiedenheit von der Weimarer Republik, die seit 1919 bestand und den neuen politischen Richtungen. Sie lasen von der unglaublichen Höhe an Reparationskosten von einhundertzweiunddreißig Milliarden Goldmark und von der Drohung der Franzosen, das Ruhrgebiet zu besetzen, wenn die Forderungen nicht erfüllt würden und so sollte es dann auch kommen.
Im Jahre 1922 gab es Anzeichen für den Ruhrkampf. Deutschland konnte die Reparationskosten nicht bezahlen. Die Menschen waren mit ihren eigenen Problemen belastet und bekamen von den politischen Maßnahmen nur wenig mit. Auch gab es ständig Änderungen. Es war ein einziges Chaos. Im Inneren aber wussten sie, dass sie sich doch mehr interessieren müssten. Es war nur ein Problem, dass Wilhelm und Anna so wenige Leute kannten, mit denen sie sich hätten unterhalten können und die kompetent waren, wobei Anna schon wusste, dass sie bei Gesprächen über Politik von den Männern nicht hätte mitreden können, denn Frauen hatten in den Augen der Männer keine Bedeutung. Sie hätten nichts zu melden, sagten sie, und das ist “Männersache”! und: “Im Krieg müssen wir ja doch den Kopf hinhalten”! Manchmal war sie richtig wütend aber sie durfte nichts sagen. Man hätte sie nicht verstanden.
Auch viele Frauen verstanden diesen Freiheitsdrang nicht und sprachen von “Flintenweibern”, die sich in die Politik einmischten. Sie plapperten den Vätern und Ehemännern nach, um sich bei ihnen beliebt zu machen.
Wenn man als Frau in diesen kleinbürgerlichen Kreisen den Mund aufmachte, war man unbeliebt. Also schwieg man. Dann fiel Anna wieder der Spruch vom Silber und Gold ein und sie fügte sich unter innerem Protest.
.
Wilhelm hatte sich schon immer für die SPD interessiert, aber er war nicht Mitglied einer Partei und wollte es nicht werden. Er sagte, wenn er selbständig würde, müsse er auch die bedienen, die nicht seiner Meinung seien und als Mitglied müsse er Farbe bekennen. Das wollte er nicht, denn er traute auch den Kommunisten nicht und nicht DENEN vom Zentrum. Die bezeichnete er als “SCHEINHEILIG.” Anna hätte sich gerne über die Programme der Parteien informiert, aber die Zeitung, die sie lasen, war zentrumsorientiert und eine andere wurde in dem kleinen Ort nicht angeboten.
Was sie gar nicht wollten, war, dass die seit Jahren rumorende NSDAP mit diesem “Hitler”, die 1922 ihren ersten Parteitag gefeiert hatte, und nun in München großmäulig Kämpfe ausfochten. Mit großartigen Versprechen versuchten sie, arme Menschen in ihre Reihen zu bringen. Adolf Hitler hielt in großen Sälen stundenlange Reden, bei denen arbeitslose, hungrige Menschen saßen, die nicht in der Lage waren, ein Bier zu bezahlen, geschweige denn, etwas zu Essen! Aber er versprach ihnen Macht, wenn sie mutig und tapfer … SEINEN … … KAMPF… unterstützen würden. Dann, ja dann würde es ihnen besser gehen. Manche der Zuhörer sahen in ihm eine Art Messias. Viele junge Menschen, die die Schrecken der Schlachtfelder nicht erlebt hatten, ließen sich von den heroischen, fanatischen Reden beeinflussen und merkten nichts von dem Missbrauch, der mit Ihnen getrieben wurde und sie zu Mitgliedern dieser Partei machten. Manche von Ihnen waren so fanatisiert, dass sie ihre Verwandten verrieten, die anderer Meinung waren. Sogar bei den kleinen Leuten in der Provinz hielt man den Mund, wenn einer mit den “BRAUNEN” Ideen auftauchte.
Die Uniform, die Koppel und die Lederstiefel, die mit Nägeln beschlagen waren und beim Marschieren einen Klang von Macht hervorriefen, machten die SA-Männer zu Kraftprotzen. Sie, die bis dahin nur arbeitslose Sozialempfänger waren, halfen dem Fanatiker Hitler in den Sattel. Für eine Uniform, eine Mütze mit Kokarde und einem Totenkopfgürtel. Als Zeichen ihrer Macht, trugen sie sogar einen Karabiner mit sich herum, wenn sie in einem “Einsatz” die Leute schikanierten.
Anna störte es sehr, dass so viel gegen “DIE JUDEN” gehetzt wurde. Sie dachte dabei an - ET JÜDCHE - den Mann, an den sie und ihre Familie so gute Erinnerungen hatte und mit dem Vater Wilhelm eine lange Geschäftsverbindung unterhielt. Schwester Dora schrieb Anna, dass der Bankier, bei dem sie in Köln gearbeitet hatte, mit seiner Familie nach Amerika ausgewandert sei. Er sei bedroht worden und hätte das Bankhaus aufgegeben. Das war Ende des Jahres 1922, als man eigentlich noch nicht glaubte, dass die NSDAP so einen großen Einfluss bekommen würde und viele Juden glaubten, dass der Spuk vorbei ginge. Sie blieben zum Teil zu lange und kamen nachher nicht mehr ins Ausland. Es war, kurz bevor Anna ihren Sohn Gerd zur Welt brachte.
DAS HAUS, das nun IHR Haus war, ein Zweckbau, im Jahre 1912 erbaut, erst zwölf Jahre alt, war schon sehr verwohnt. Keine der Wohnungen war frei und die Mieter zahlten zum Teil keine Miete, doch man musste alles in Kauf nehmen, denn ein Mehrfamilienhaus hätten sie sich unter Vorkriegszuständen niemals leisten können und das Haus war schuldenfrei! Keine Hypotheken, keine Zinszahlungen, doch nun mussten Versicherungen und Grundsteuer bezahlt werden. Auch Kaminkehrergebühren und Müllabfuhr leisteten sie von ihrem geringen Einkommen.
Wenn sie nun auch noch eine Zeit bescheiden wohnen mussten, waren sie doch froh und stolz auf diesen Hausbesitz. Etwas Eigenes, das war ein wunderbares Gefühl… Wenn es auch noch dauern würde, bis sie einziehen konnten. Sie waren ja noch so jung und voller Tatendrang. Einen Garten von siebenhundert Quadratmetern konnten sie schon preiswert mieten, bevor sie einzogen. Von gutem Boden konnte man natürlich nicht reden. Es war eine “Mordsarbeit” das Land urbar zu machen. Sie träumten von Obstbäumen, Sträuchern, Kartoffeln und Gemüse. Auf dem Hof sollte ein Hühnerstall gebaut werden und Anna wollte viele Blumen pflanzen. Der Straßenzug, in dem das Haus stand, war noch von Feldern umgeben, und in der Nähe stand ein schwarzer Gaskessel denn Elektrizität gab es hier noch nicht. Auf den Straßen standen noch schöne, alte Gaslaternen, die vom “Lateerepit”
(Laternen Peter) gewartet wurden. In den Wohnungen Gaslicht und Gasherd, wenn man denn einen hatte. Im Flur hingen neben den Eingangstüren Petroleumlampen, die von den jeweiligen Mietern angezündet wurden. Wer keinen Gasherd hatte, kochte auf dem Küchenherd, der mit Kohle oder Brikett geheizt wurde. Jede Mietpartei hatte einen Keller, in dem es eine, durch eine Wand abgeteilte Ecke für Brennmaterial gab und wenn Bedarf war, brachte der Kohlenhändler, die Säcke auf dem Rücken tragend, in den Keller. Es war schon mühselig, jeden Tag einen schweren Eimer Kohlen, oder auch zwei, hinauf zu tragen und am Tag darauf, die Asche wieder herunter in die Tonne. Für die Müllmänner war es schwer, die vollen Tonnen die Kellertreppe hinauf zu tragen, auszuleeren und wieder hinunter zu tragen. Alles war zeitraubend und arbeitsintensiv aber das war bei den meisten Leuten so. Nur in den besonderen Wohnvierteln, wo die “Reichen Leute” wohnten gab es Müllschächte, die von den jeweiligen Hausmeistern entleert wurden und die auch Zentralheizungen zu betreuen hatten. Jedoch in den Arbeitervierteln und deren gab es viele, wurden solche Vergünstigungen nicht eingeplant. Es gab eine Waschküche und einen Trockenspeicher. So mussten die Hausfrauen die nasse Wäsche auf den Speicher schleppen, wenn es regnete, denn sie konnten in der Waschküche nicht die Wäsche trocknen, weil jeder die Waschküche nur fünf Tage benutzen konnte. Dann kam schon der nächste Mieter dran. Es gab einen Wäscheplan, der eingehalten werden musste und die Frauen hatten sich daran zu halten. Jede Mietpartei musste auch den Speicher und die Speichertreppe putzen, so wie das Treppenhaus und die Flurfenster. Manche Mieter waren schlampig und dann gab es Streit aber das hatte für Anna und Wilhelm noch keine Bedeutung. Wichtig war erst einmal, dass sie nun die Aussicht auf Wohnung und Garten und Hof hatten und dass ihnen niemand Vorschriften machen konnte. Da ließen sich die Schwierigkeiten besser überwinden, die sie in der Enge ihres Heims hatten.
Wilhelm hatte schon seine Pläne, wie er den Garten bestellen konnte. Er wollte auch Obstbäume und Sträucher pflanzen. Kartoffeln und Gemüse und auch eine Wiese in der Mitte, zum Wäsche trocknen. Auf dem Hof hatte er schon einen Pfirsichbaum gepflanzt und das Schönste war, dass das Grundstück ihnen nun gehörte. Ein eigenes Haus! Ein Glücksgefühl sondergleichen, dessentwegen sie auch noch länger in der unkomfortablen Wohnung blieben und jeden Pfennig für das Haus sparten. Doch mussten sie sich mit den im Haus wohnenden Mietern bekannt machen. Es war alles sehr schwer gewesen und auch jetzt, waren sie eigentlich eher ärmlich, denn sie hielten für Vergnügen nichts übrig. Trotzdem weckte es den Neid der im Haus wohnenden Mieter und auch Wilhelms- und Annas Geschwister, die nur ihr Einfamilienhäuschen hatten und Anna konnte das gar nicht verstehen. Die Leute, die zur Miete wohnten sagten später, “Die haben die Häuser ja für Appel und Ei gekriegt, weil die Stadt, durch die Inflation unbedingt Geld brauchte!” Ja, sie sagten sogar: “Die haben ja das Haus geschenkt bekommen!” An Folgekosten dachte niemand.- Sie mussten sich aber mit den dort wohnenden intern bekannt machen und fuhren mit den Fahrrädern hin.
In dem Haus wohnte eine Familie Hahn, Vater, Mutter und Sohn. Sie hatten schon drei Jahre keine Miete gezahlt und die Stadt Düsseldorf führte einen Prozess gegen diese säumigen Mieter. Doch das berührte diese asozialen Leute nicht. Mit Fahrrädern hatten sie die Tapeten im Treppenhaus verschmutzt und beschädigt, die Holztreppen verkratzt und das schöne Geländer beschädigt. Gegen sie war kein Kraut gewachsen und die Gerichte ließen sich Zeit. Also hieß es Geduld üben. Wilhelm versuchte ruhig mit ihnen zu sprechen, aber da fielen sie mit Geschrei und Beschimpfungen gröbster Art über ihn her. Anna beschimpften sie als Schlampe und Nutte und warfen einen Besen hinter ihnen her, quer durch das Treppenhaus, und schrieen: “Bald werdet ihr sehen, wo ihr hinkommt, wenn erst die Kommunisten am Ruder sind, die machen euch einen Kopf kürzer, ihr Lumpenpack!” Alles das, in ordinärstem Düsseldorfer Platt, das Anna zuerst gar nicht verstand. Sie floh zur Haustüre, als sich im Parterre die Korridortür öffnete und die Mieterin Frau Dieselbach den Kopf herausstreckte. Auch diese lag im Streit mit den Mietern im ersten Stock. Frau Dieselbach nahm den Besen, betrachtete die Bürste und rief zu Frau Hahn hinauf: “Ihr hat jo jar ken Hoor dran!” Worauf diese rief: “Sacht öre Mann, he wör ene alde Quatschkopp!” Dann schlugen beide Streitparteien ihre Türen zu. Herr Dieselbach war Maler und Anstreicher. Er hatte eine künstlerische Ader und hatte seine Frau als splitternackte Venus… im Liegen… an die Wand gemalt. Gar nicht schlecht, sagte Wilhelm als er einen Blick darauf werfen konnte, denn zu der Zeit, hatte man nicht viel Gelegenheit einen “Akt” zu sehen. Herr Dieselbach hatte damit keine Probleme. Alle großen Maler haben nackte Frauen gemalt, sagte er aber irgendwie hatte Herr Dieselbach wegen dieser “Freien Kunst” einen schlechten Ruf. Er ließ oft die Fenster weit offen stehen, so dass man von der anderen Straßenseite Einblick bekam und Frau Dieselbach dort in freier Pose liegen sehen konnte. Als Model ihres Ehemannes hatte sie damit keine Probleme. Herr Gartz von “Drüben” lud schon mal seine Karnevalsfreunde ein, um dieses “Schaufenster” zu sehen, denn Darstellungen nackter Frauen gab es nur ganz selten, und wenn, dann “Unter der Hand!” Dann sagten die Frauen: “Die Schweine kucken sich fiese Bilder an!”
Für Anna war das eine “Neue Welt”. Sie war empört über Frau Hahn, die sie so beschimpft hatte und nun auch noch der Streit zwischen diesen beiden Frauen! Sie sah verständnislos zu Wilhelm und fragte: “Was haben die gesagt?”
Wilhelm lachte und sagte: “Frau Dieselbach hat gesagt: “Sie haben ja gar keine Haare dran, und Frau Hahn rief: “Sagen sie ihrem Mann, er wäre ein alter Quatschkopf!” dabei lachte er laut auf und sagte: “Anna, wir haben eine Lasterhöhle gekauft! Die haben was untereinander und nun streiten sie, aber irgendwie werden wir sie schon los!” Er lachte noch mal in sich hinein und sagte: “Das wäre was für meine fromme Mutter und für meine Schwestern…! Ein Sündenbabel…!”
Sie waren immer noch auf die kleine Wohnung angewiesen, und mussten in “IHREM Haus”, den Speicher im zweiten Stocks ausbauen, denn der Stadt Düsseldorf war wohl wegen der Inflation das Geld für den Ausbau ausgegangen, und so hatte das Haus zwei Speicher. Eine weitere Etage konnte entstehen, - IHRE - Wohnung. Es sollte eine - Vier Zimmerwohnung - werden. Im Keller wollte Wilhelm seine Werkstatt einrichten, denn es gab zu ebener Erde ein Fenster zum Hof, mit einem Blick ins Grüne. Endlich könne er selbständig werden, in - SEINEM - Beruf, sagte er, aber vorerst war noch nicht daran zu denken, denn die Inflation machte alle Pläne zunichte. Was Wilhelm verdiente, war eine Stunde später weniger Wert und man lebte: “Von der Hand in den Mund”. Anna hatte sich den Ehestand auch etwas anders vorgestellt aber nun musste man durchhalten aber manchmal war sie auch traurig, weil alles so langsam voran ging. Wilhelm war auch manchmal missmutig aber sie stritten nicht besonders viel und sie waren auch des Wartens müde.
Die Zeitungen berichteten von den Auswüchsen des Schwarzhandels, des moralischen Verfalls in den großen Städten aber auch von der Armut in den Hinterhöfen von Berlin. Es war die Rede von den Kommunisten, die mal alles aufmischen würden. “Schöne Kommunisten“, sagte Anna, weil sie an ihre säumigen und frechen Mieter dachte. Es gärte überall! Faschistische Parolen tauchten auf und die Armut nahm zu.
Vor der Schwangerschaft hätte Anna gerne gearbeitet, aber das wollte Wilhelm auf keinen Fall, denn es war fast ehrenrührig, wenn eine verheiratete Frau arbeiten ging. Alle hatten dieselben Probleme, aber keiner wollte eingestehen, dass althergebrachte Einstellungen in diesen außergewöhnlichen Zeiten sinnlos sind. “Die Frauen gehören an den Herd…!” Wie Anna das hasste…! Vor allem dann, wenn die Leute sagten, “Ein Heimchen am Herd, ist Goldes Wert…!” Sie empfand das als Beleidigung. Doch machte sie Wilhelm nicht das Leben schwer und Ihn plagten solche Sprüche nicht. Anna aber begann nun, mangels Unterhaltung mit kompetenten Menschen,
ihre Gedanken einem leeren Schulheft anzuvertrauen. Sie zeigte es auch Wilhelm nicht. Sie wollte nicht, dass ihre verschlüsselten Gedankenspiele diskutiert würden.
Das war etwas, was ihr allein gehörte.
Sie überlegten zusammen, wie man das Problem mit dem Ausbau des Speichers lösen könne und Wilhelm sagte, dass er mit Hilfe von anderen Handwerkern und Freunden, das Dachgeschoß ausbauen könne. Das war natürlich alles “Schwarzarbeit”! Doch da sowieso alles Drunter und Drüber ging, machten sie sich darüber keine große Gedanken. “Eine Hand wäscht die Andere!” sagte Wilhelm. Er reparierte die Schuhe der Familien und die Männer schufteten am Ausbau des Dachgeschosses. Das konnte auch nur nach und nach geschehen, denn das Geld für das Material musste ja auch aus den kleinen Einkünften bezahlt werden, aber das Schlimmste war die Inflation, die alle Pläne zerschlug, denn von den Eltern konnten sie nichts mehr erwarten, das hätte den Neid der Geschwister geweckt. Steifelanfertigungen gab es auch nicht mehr und Menschen mit Fußproblemen hatten überhaupt kein Geld, weil es auch keine Unterstützung für Kriegsversehrte gab, die solche Kosten abdeckte, also mussten die armen Leute Löcher in das Oberleder schneiden um Schmerzen zu verhindern. Wilhelm sagte: “Ich hab’ ja nie was für den “Barras” übrig gehabt aber das “Kriegspielen” ist den “Oberen” nicht auszutreiben. Immer noch gab es Leute die sagten: “Unter’m ”Kaiser war es besser! ”Und wenn sie einen in der “Krone” hatten sangen sie: “Wir wollen unsern alten Kaiser Wilhelm wieder haben!” Oder sentimental: “Es stand ein Soldat am Wolgastrand!
”Schon Wilhelm Busch sagte: “Es ist ein Brauch von Alters her, wer Sorgen hat, hat auch Likör!” Die Dummen werden nicht alle, sagte Anna. Sie war hochschwanger und musste das Kind in der kleinen Wohnung zur Welt bringen. Hausgeburten waren üblich. Eine Hebamme besprach alles mit der Erstgebärenden, die große Angst vor der Geburt hatte, denn andere Frauen hatten von den entsetzlichen Wehen und Schmerzen gesprochen und dass man auch sterben könne. Anna hatte keine Hilfe von Verwandten. Alle wohnten so weit weg, dass sie mit dem Zug hätten fahren müssen. Die Männer liefen hinter der Arbeit her, um etwas zu verdienen und die Frauen hatten kein Geld, um die Zugfahrt zu bezahlen. Auch hätten die Männer darauf bestanden, dass ihre Frauen für die eigene Familie da zu sein hätten. Sie wollten pünktlich das Essen auf dem Tisch haben und wenn sie einen Garten hatten, zweimal “warm” am Tag. Das war natürlich viel billiger, aber auch viel aufwändiger für die Frauen. “Um des lieben Friedens Willen” und wegen der “Leute” muckten die Frauen nicht auf, denn welche Frau wollte nicht, als “gute und sparsame Hausfrau” gelobt sein.
Annas Mutter hatte das Geschäft und ihre viele Arbeit und konnte ihr nicht beistehen. Die älteren Frauen hatten in ihrem Leben so viel leisten müssen. So viele Kinder geboren und verloren, dass ihnen auch das Verständnis für junge Frauen fehlte, die ihr erstes Kind bekamen. Auch sie waren in diesem Zustand nicht betreut worden. Es war einfach üblich, mit diesen Problemen alleine gelassen zu werden, denn es betraf die meisten jungen Frauen. Alle strebten danach zu heiraten und das Kinderkriegen gehörte dazu. Es war nichts Besonderes, aber sie liebten ihre Kinder und alle sagten: “Ihnen soll es einmal besser gehen als uns!” Doch das sagten die Menschen wohl zu allen Zeiten, seitdem sich seit Darwin die Rassen trennten.
Hart geworden, im Dienst der Familie alterten die Frauen vorzeitig aber ihre Gefühlswelt war auch mit Vierzig noch jung. Da ging ein Raunen durch die Gemeinde, als von einem Buch die Rede war, das da hieß: “Die Frau von dreissig Jahren!” Geschrieben hatte es Balcack, ein französischer Romancier, der noch mehr von “DIESEN“ Büchern geschrieben haben sollte. Alles was an Literatur aus Frankreich kam, war leicht anrüchig bei den einfachen Leuten. Sie versuchten zwar heimlich einen Blick hinein zu werfen aber das durfte niemand wissen. Manche Bücher standen auch auf dem “Index“…. Von der Kirche verbotene Bücher…!
Den Kindern wurde im Religionsunterricht gesagt, dass, wenn sie trotzdem diese Bücher in die Hand nähmen, würden sie aus der Heiligen - Katholischen - Kirche ausgeschlossen und sie dürften die Sakramente nicht mehr empfangen. Nun gab es ja in den meisten Haushalten keine Bücher und so durften nur die reichen Leute diese Schweinereien lesen, wie einige besonders fromme Katholiken sagten. Anna sagte, die regen sich nur auf, weil sie die Bücher nicht in die Finger kriegen. Es war eigenartig, dass doch einige dieser verbotenen Bücher auf Umwegen in die Haushalte der einfachen Leute gelangten und dann von Hand zu Hand gingen. Doch durfte es niemand wissen. Meistens oder fast immer waren es Frauen, die lasen, aber auch sie sprachen nicht über das Gelesene. Sie sagten dann: “Ich bin gar nicht dazu gekommen, bei der vielen Arbeit, und meinem Mann darf ich das nicht zeigen, der will nicht, dass ich “So was” lese. So waren sie denn auch “Guten Gewissens!”
Ein beliebtes Versteck war unter den Matratzen oder hinter der Wäsche. Männer und Frauen hatten meist auch je eine Schublade für Geheimnisse, Erinnerungen an die Hochzeit oder die Junggesellenzeit. Auch Poesiealben und Tagebücher fanden Platz. Manche Leute sammelten Glückwunsch - Einladungs - und Feldpostkarten aus dem ersten Weltkrieg. Auch Annas Eltern hatten alle diese Dinge aufbewahrt und bei Besuchen der Kinder und Enkelkinder wurden diese Sachen mit großem Interesse gelesen und betrachtet Dann kam immer das …weißt du noch…! Sie hatten Gesprächsstoff und Altes mischte sich mit Neuem.
Eine Dose mit Knöpfen wurde beim Besuch der Enkelkinder geöffnet. Das war besonderes Spielzeug für die Kinder. Es war nicht selten vorgekommen, dass die Kinder die Knöpfe in die Ohren oder in die Nasen steckten. Bevor sie damit spielen durften wurden sie ermahnt, das ja nicht zu machen, was wiederum die Kinder besonders reizte, es doch zu tun, was dann zu Geschrei und Aufregung führte, aber die Knöpfe kamen immer wieder ins Spiel.
Was da im Laufe der Zeit alles zusammen kam…! Über jeden Knopf ließe sich eine Geschichte erzählen, denn was die Knöpfe, als es noch keine Reißverschlüsse gab.
alles zusammen halten mussten…!?
Diese Zusammenkünfte stärkten einerseits das Familienleben, andererseits gab es auch Streitereien und Eifersüchteleien zwischen den Kindern und unter den angeheirateten Partnern. Es wurde beobachtet, wie sie gekleidet waren, ob sie Schmuck trugen und wie sie finanziell gestellt waren, doch versöhnlich war immer ihr gemeinsamer Gesang und Vaters Grammophon. Manchmal sagte Einer vom Anderen: “Die sind sich nicht grün!”, wenn es zu Meinungsverschiedenheiten kam und man hörte eine Zeit lang nichts voneinander. Im Grossen und Ganzen war es friedlich aber wehe, eine Familie hätte sich benachteiligt gefühlt. Da ging es dann nicht nur um Knöpfe. Wenn es sich um Geld und Werte ging, verstanden sie keinen Spass.
Im November 1922 kam Gerd, der kleine Sohn unter schwierigen Bedingungen zur Welt. Angstvoll und verkrampft erwartete Anna das Kind und das hatte zur Folge, dass der Geburtsvorgang Stunden dauerte, weil sie sich nicht entspannen konnte. Die Hebamme war die einzige Person, die bei ihr war, denn Wilhelm musste arbeiten, sonst hätte er kein Geld bekommen und dann hätte die Inflation den letzten Rest weggefressen.
Als er nach Hause kam, war der kleine Junge mit den schönen, großen, blauen Augen schon fünf Stunden alt. Sie waren sehr glücklich über das gesunde Kind und für einen Moment hatten sie das ganze Elend vergessen. Nun hatte Anna eine wirkliche Aufgabe und das machte sie froh und stolz. Sie versuchte aus der kleinen Wohnung einen gemütlichen Raum zu machen und ihr kleiner Sohn war ihre größte Freude. Das Leben hatte jetzt eine wirkliche Bedeutung und sie war nicht mehr allein, denn immer war sie in einem Haus mit vielen Menschen gewesen und immer waren Kinder in den Familien. Sie liebte Kinder über alles.
Die Familie fehlte ihr, die so gerne arbeitete und so viel nachdachte, denn sie hatten keine Abwechslung in dem kleinen Dorf. Sie hatten keine Bekannten und Verwandten wie zu Hause. Das Einzige was sie sich leisteten, war die Tageszeitung, die vor allen Dingen von Anna aufmerksam gelesen wurde, denn Wilhelm war, wenn er abends nach Hause kam, rechtschaffen müde und Anna erzählte ihm von allen Neuigkeiten, die sie gelesen hatte.
Wilhelm fuhr schon um sechs Uhr mit dem Fahrrad zur Arbeit und kam meistens erst um sieben Uhr abends nach Hause. Er war nicht unzufrieden, aber es fiel ihm doch schwer, alles zu schaffen. Er war nicht mehr der lockere Bursche, der sang und fröhlich redete. Der verlorene Krieg und die schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse nahmen die Lebensfreude. Er konnte nichts mehr gestalten und musste zufrieden sein, denn viele Menschen hatten überhaupt keine Arbeit. Da war dann immer das “Gespenst” - Stempelgeld - , das ihm nicht aus dem Kopf ging. Er arbeitete in der Lederwarenfabrik als Meister, aber der Lohn war gering. Wenn er mit dem Lohn nach Hause kam, lief Anna gleich los, um etwas einzukaufen, denn es kam vor, dass innerhalb eines Tages schon wieder eine Geldentwertung stattfand und man nur noch für die Hälfte einkaufen konnte.
Das Vertrauen in die Stabilität im In- und Ausland war tief erschüttert. Die Mark verlor rapide an Wert. Zur Deckung von laufender Ausgaben mussten immer wieder neue Kredite in Anspruch genommen werden. Die Drohung Frankreichs ins Ruhrgebiet einzumarschieren, wenn die Reparationskosten nicht bezahlt würden, waren durch Kredite nicht abzudecken und im Jahre 1923, das gerade begonnen hatte, besetzten belgische und französische und belgische Truppen in einer Stärke von anfangs 60.000 und später 100.000 Mann das gesamte Ruhrgebiet ein, und brachten sich in den Besitz von “produktiven Pfändern”, d.h. Kohlegruben und anderen industriellen Anlagen um ihren Forderungen Ausdruck zu verleihen. Auf den Einmarsch reagierte die Bevölkerung mit passivem Streik der von der Weimarer Republik ausging. Für die Streikenden druckten die Notenpressen immer mehr Geldscheine um die Streikenden zu bezahlen. Im November 1923 gab die Reichsbank einen Geldschein in Höhe von 100 Billionen Mark heraus, d.h. einen Schein mit zwölf Nullen. Dieser Wahnwitz führte dazu, dass bis zu 133 Fremdfirmen, mit 1733 Druckmaschinen im Herbst 1923 für die Reichsdruckerei Tag und Nacht arbeiteten. Es kam endlich dazu, dass sogar 700 Trillionen Mark
(700 000.000.000.000.000.000 M) Notgeld und 524 Trillionen Mark von der Reichsbank ausgegeben wurden. Die Versorgungslage hatte sich immens verschlechtert, die Menschen verarmten und der Reallohn sank auf ca. 40 Prozent des Vorkriegsniveaus. Kriminelle stahlen was nicht Niet- und Nagelfest war, und es kam vor, dass sie ihren Opfern die Goldzähne herausrissen.
In den Kirchen standen für die Kollekte Wäschekörbe bereit, statt Klingelbeuteln. Im August 1923 bemühte sich Gustav Stresemann um eine Stabilisierung der Währung. Verwaltungs- und Wirtschaftsbereiche gaben wertbeständiges Notgeld als Waren und Sachwertgutscheine aus.
Die Regierung Stresemann verkündete am 26. September das offizielle Ende des Ruhrkampfs. Die Menschen an Ruhr und Rhein waren glücklich, dass wenigstens diese Besatzung vorüber war, da verhängte die Bayrische Reichsregierung unter Friedrich Ebert den Ausnahmezustand über das gesamte Reichsgebiet. Es gab Unruhen in Sachsen und Thüringen zu Unruhen republikanisch - proletarischer Kräfte. Der Streit zwischen Bayern und dem Reich eskalierte. Rechtsgerichtete Wehrverbände planten den Marsch auf Berlin und in Aachen wurde eine separatistische Rheinische Republik ausgerufen. In Hamburg kam es zu Straßenkämpfen zwischen Kommunisten und der Polizei und mit einem Putschversuch, wollte Adolf Hitler vom 8. zum 9.November die chaotische Lage ausnutzen.
(Lion Feuchtwanger schrieb den Roman ERFOLG , der Versuch in epischer Form die
Gefahr, die von den Nationalsozialisten ausgeht, darzustellen.)
Für Millionen von Zeitzeugen war die Inflation ein traumatisches Erlebnis, doch gab es auch hier einige Profiteure. Die Kleinen Leute jedoch, konnten diese Manipulationen nicht verstehen. Sie lasen wohl in den Zeitungen die Namen der Akteure aber die Auslegungen der einzelnen Redakteure konnten die Menschen, die jetzt schon so lange im Elend lebten, nicht nachvollziehen. Die Geldmarktpolitik ist nicht zu durchschauen und wird es auch in späteren Zeiten nicht sein. “Das Geld hat ein “Eigenleben” in den Händen von raffgierigen, Menschen und die kleinen Leute sind immer die Dummen, die die Kohlen aus dem Feuer holen müssen!”, sagte Wilhelm. “Genau wie im Krieg!” “Der Kaiser sitzt in Paradeuniform auf dem Pferd und die Soldaten liegen im Dreck, und wissen überhaupt nicht warum! Da schießen Menschen aufeinander, die sich im Leben nie gesehen haben, nur, damit die Macht und die Pfründe der so genannten “Oberen Zehntausend” ihre Macht behalten. Vater hat schon Recht wenn er sagt: Fett schwimmt immer Oben!” Doch irgendeiner Partei beitreten wollte Wilhelm nicht.
Die Frauen hatten so wie so nichts zu melden, wenn es um die Politik ging. Sie hatten “nur” dafür zu sorgen, dass die Kinder nicht verhungerten oder erfroren. Man sparte an Allem. Nur ein Ofen wurde geheizt, denn die Kohlen waren fast unerschwinglich. Eisblumen an den Fenstern waren im Winter unvermeidlich und sie blieben, wenn strenger Frost war, tagelang. Da waren, sofern man hatte, dicke Federbetten und Wolldecken lebenserhaltend. Um die “schlanke Linie ” brauchten die einfachen Leute sich nicht zu sorgen, denn sie hatten nicht viel zu konsumieren.
Die größte Freude brachte den jungen Eltern das gesunde Kind. Er war nun schon fast zwei Jahre alt, der kleine Gerd. Sie waren immer noch in der kleinen Wohnung und es wurde immer schwieriger, denn der Dachausbau wollte nicht vorangehen. Es fehlte an allen Ecken und Enden. Die Fabrik, in der Wilhelm arbeitete machte “Pleite” und der Fabrikant nahm sich das Leben und er war nicht der einzige Arbeitgeber der sich das Leben nahm. Einige Versicherungsnehmer hatten vor Zeiten den “Selbstmord” mitversichert und sie sicherten so ihren Familien das Leben, indem sie sich das Leben nahmen, aber manche taten es auch aus Verzweiflung und aus Scham. Die Inflation näherte sich dem Höhepunkt. Die Zahlen wurden den Bürgern um die Ohren geschlagen und man rechnete mit Millionen. Ein Schein erschien mit dem Wert von einer BILLION, aber es sollte noch viel schlimmer kommen. Den Menschen war es völlig unverständlich, dass man auch schon von Trillionen sprach und zählte die Nullen. Viele Menschen hungerten un d wohnungslose Bettler klopften an die Türen. Darunter auch Kriegsversehrte, die Arme oder Beine verloren hatten und miserabel gekleidet waren. Da sprach man von “Landstreichern”, Dieben und Räubern und man verschloss immer alle Türen.
Anna hatte das Glück, oft ein Schlachtpaket “von zu Hause” zu bekommen. Da war dann eine Seite Speck, Schmalz und Wurst verpackt, so dass sie nicht allzu große Not leiden mussten, hatten sie ja noch den kleinen Garten für Kartoffeln und Gemüse. Wilhelms Vater steuerte einen Sack Äpfel und Birnen bei und Anna legte Einkochgläser an. So versuchte man diese schlimme Zeit zu überstehen. Milch bekam man von den Bauern in der Umgebung. Extras gab es nicht! Es war schon recht traurig, das Leben unter diesen Umständen…
Wilhelm hätte gerne mal eine Zigarre geraucht aber auch das war nicht drin, und ausgehen konnte man überhaupt nicht. Es musste gespart werden. Für das Haus.
Eines Tages kam Annas Vater zu Besuch, der nun sechzig Jahre alt geworden war. Er kam unangemeldet, weil er Gelegenheit hatte, mit einem Lastwagen mitfahren zu können, der am gleichen Tag wieder zurück nach Kleve fuhr. Schon um fünf Uhr war er aufgebrochen, um mitfahren zu können, weil der Lastwagen an verschiedenen Punkten anhalten musste, um abzuladen.
Da stand er nun vor Anna! Strahlend, dass er nun endlich sein Enkelkind sehen konnte. Den kleinen Bernd! An der Haustüre schon rief er: “Bernd, ich habe dir auch ein Auto mitgebracht und nachher, wenn der Lastwagen mich abholt, bekommst du noch einen Bauernhof, mit Pferden und Kühen!” Anna erinnerte sich, dass er sie umarmt und sie sich sehr gefreut hatte, als er so unerwartet kam, doch ein leiser Stachel war immer in ihr, dass er sie so ungerecht beschimpft hatte, als er ihr eine Liebschaft mit dem Mann von der “X0X” unterstellt hatte. Das Thema war ihm wohl peinlich, denn entschuldigt hatte er sich nie, wenn er auch versuchte, Anna zu zeigen, dass es ihm Leid tat, dass er sie so falsch eingeschätzt hatte. Auch die Mutter hatte das Thema nie wieder berührt. Noch mit zweiundachtzig Jahren, als sie schon sehr krank, aber noch von starkem Verstand war, sagte sie: “Mein Vater hat mir Unrecht getan, aber ich habe ihn doch geliebt! Er war für mich Heimat!”
Der Vater hatte aber für den kleinen Bernd einen Matrosenanzug gearbeitet und für Wilhelm einen Anzug genäht. Anna brachte er Stoff für ein Kleid. Ein Schatz in dieser schweren Zeit. Für einen Moment hatten sie alle Unbill vergessen und es war ein Erzählen, bis der Lastwagen kam, um den Vater abzuholen. Sie war gerührt und froh, als sie Wilhelm abends von dem Besuch erzählte und er freute sich mit ihr, denn er konnte ihr so wenig bieten. Alles, was er sich vorgenommen hatte, ging schief und sie gab sich große Mühe, alles unter “Einen Hut” zu kriegen. Es war so beengt und primitiv, aber es blieb nichts anderes übrig, als durchzuhalten und das Beste daraus zu machen. So ging das bis zum Jahr 1925. und Anna wurde wieder schwanger.
Das Kind sollte Anfang Dezember geboren werden. Das sagte die Hebamme Frau Mölders, die wieder dabei sein sollte. Anna hatte Angst aber Frau Mölders sagte beruhigend: Die Geburt des zweiten Kindes ist meist leichter. Das wird schon werden. Es ist noch keins “drin geblieben!” Alles war vorbereitet. Der kleine Gerd, nun drei Jahre alt, war für ein paar Tage bei einer Bekannten von Anna, die sich angeboten hatte, auf das Kind aufzupassen.
Wilhelm konnte nicht zu Hause bleiben, denn er hatte Schichtdienst und da musste er auch am Nikolausabend, einem Samstag, arbeiten, weil er sonst die neue Arbeitsstelle in einem Stahlwerk, das in der Nähe des Hauses, das sie gekauft hatten, lag, verloren hätte.
Um sechs Uhr morgens fuhr er mit dem Fahrrad eine halbe Stunde durch eisigen Dezemberwind. Es war keine Meisterstelle und hatte nichts mit seinem Beruf zu tun, aber er brauchte das Geld, um allen Verpflichtungen nachzukommen. Man musste nehmen, was man bekam, denn immer wieder geisterte das Wort “Stempelgeld” durch seine Gedankenwelt. Ein Horrorgedanke…!
Bei eisiger Kälte, Die Fenster hatten schon wieder Eisblumen, es war der immer gefeierte Nikolausabend und schon Nahe der Dunkelheit, lag Anna in den Wehen. Sie hatte starke Schmerzen und schrie Stundenlang. Es waren die schrecklichen Schmerzen, von denen die Frauen früher gesprochen hatten. Die Hebamme meinte, dass das Kind falsch läge und es kam und kam nicht.
Wilhelm, von der Arbeit zurück, lief in der Aufregung ohne Jacke und Mantel im eisigen Wind durch den Garten und betete: “Lass’ sie nicht sterben!” Dazwischen die Schreie. Er wollte zu Anna, aber die Hebamme schob ihn raus. “Das ist nichts für Männer!”, sagte sie. “Ziehen sie einen Mantel an und machen sie einen Kessel heißes Wasser! Und…, sie müssen den Ofen stochen, damit es warm ist!” Sie hatte selbst große Angst um Anna und das Kind, denn mit diesen Komplikationen hatte sie nicht gerechnet und sie machte sich Vorwürfe, dass sie sich nicht um einen Arzt bemüht hatte. Doch dann hatte sich das Kind gedreht und…, da, endlich… am Nikolaustag, um sieben Uhr, kam die Tochter zur Welt. “Ein Sonntagskind”, sagte Anna strahlend. Nun kann mir nichts mehr passieren!” Sie weinte vor Glück und Erschöpfung. Wilhelm war glücklich und alle Not der vergangenen Stunden war vergessen. Doch er war tief erschüttert und sagte: “Du bekommst kein Kind mehr! Zwei Kinder sind genug. Du sollst nie mehr so leiden!” Das Versprechen hielt er, denn er hatte in seiner Junggesellenzeit erfahren, wie man Kindersegen verhindert, auch wenn die Kirche mit dieser Sünde nicht einverstanden war.
Das kleine Mädchen war blond, wie Gerd, der nun vier Jahre alte Bruder, und sie hatte dunkelblaue, fragende Augen, - die Schwester, - die sie Elisabeth und später Liesi nannten. Annas Vater hatte später einmal zu Wilhelm gesagt: “Wir hätten auch nicht so viele Kinder bekommen, wenn wir so schlau gewesen wären, wie ihr, und im Beichtstuhl brauchten wir das ja auch nicht unbedingt zu sagen.
Es dauerte aber noch fast zwei Jahre, bis sie endlich in ihr “Eigenes Haus” einziehen konnten. Da war Gerd sieben Jahre alt und Liesi drei. Beim Einrichten der Wohnung mussten sie bescheiden sein, denn auch eine Werkstatt für Wilhelm musste eingerichtet werden und die Maschinen waren sehr teuer. Das konnten sie auch nur mit Hilfe von Annas Eltern, denn große Ersparnisse hatten sie nicht. Wie auch, bei den Verhältnissen? Das War im Jahre 1927.
Die “kleinen Leute” hatten vom Aufschwung in den Städten, wovon optimistisch die Zeitungen berichteten, keine Ahnung und sie glaubten auch nicht daran. Wahrscheinlich war das wieder nur was für die Kriegsgewinnler und Schwarzmarkthelden…! Arbeitslosigkeit herrschte überall und Wilhelms Kunden hatten zwar alle durchgelaufene Sohlen und brachten Schuhe, aber sie konnten oft die Reparaturen nicht bezahlen. Da hatte Anna dann ein “Anschreibeheft” für Schuhreparaturen, wie ihre Mutter in Kleve für Kundinnen, die ihre Lebensmittel nicht bezahlen konnten.. Der Einzige, der noch etwas besser verdiente, war Annas Vater, der für Kunden arbeitete, die er sonst nicht angesehen hätte, Schwarzhändler, Zuhälter und Kriegsgewinnler. Ein paar reiche Leute waren auch darunter, sie hatten auf irgendeine Art und Weise ihre “Schäfchen ins Trockene” gebracht. Und dann noch die “Superreichen”, die es auch immer gibt, ” Das Fettauge, das auf der Suppe schwimmt“, sagte Wilhelms Vater, als er sie einmal besuchte.” Die haben so viel, dass sie gar nicht arm werden können! Sie sind geizig wie die Sünde, aber gut, dass sie auch nichts mitnehmen können, wenn sie sterben!”
Von den Verwandten, weder von Wilhelms noch von Annas, hörten sie nicht viel. Jeder sorgte für sich und man schrieb sich Karten zum Geburtstag oder zu Weihnachten. Nur Bruder Aloys kam einmal vorbei. Er fuhr mittlerweile als Chauffeur einen Mercedes Benz für einen Bankdirektor und darauf war er sehr stolz. Wenn er mit dem Fahrzeug auf der Straße auftauchte, standen sofort alle Kinder darum herum Er trug eine Uniform, eine Ledermütze und weiche Lederstiefel. Er verdiente gut und genoss großes Ansehen, denn mit dem Autofahren waren noch nicht viele Männer vertraut. Aloys, war sehr glücklich über den Beruf. Er kam in der Welt herum und seine schwarzen Augen blitzten vor Stolz. Er hatte eine schöne Stimme und der weiche Klever Dialekt stand ihm gut. Die Kinder mochten ihn gern und er hatte immer ein paar Bon Bons dabei. Inzwischen hatte er eine nette junge Frau geheiratet und sie wohnten in einer hübschen kleinen Wohnung in Kleve. Seine Frau Margrit half manchmal im Laden von Annas Mutter aber die richtige Lust hatte die junge Frau nicht für ein Geschäft wie dieses. So ein “Laden” brachte viel Arbeit. Doch noch schaffte es die Mutter alleine.
Durch Aloys erfuhr Anna, dass der Vater erkrankt war, aber es sei nicht so schlimm, sagte er. Was es genau war, konnte er auch nicht sagen aber Anna machte sich Sorgen, denn nie, so lange sie zurückdenken konnte, war der Vater krank gewesen.
Anna hatte Heimweh nach Kleve und nach der Familie und Aloys versprach ihr, sie auf der Rückfahrt mitzunehmen. Er wolle mit seinem Chef sprechen. Und wirklich, zwei Tage später kam er und sagte: “Der Chef hat nichts dagegen, wenn du mit fährst. Sein Chef hatte ein paar Tage in Düsseldorf zu tun aber der Wagen wurde in Kleve gebraucht. Anna kam in den unwahrscheinlichen Genuss einer Fahrt in diesem Luxuswagen und fuhr in Kleve vor dem kleinen Kolonialwarenladen von Wilhelmine vor und Aloys ging vorschriftsmäßig um das Auto herum und riss den Wagenschlag auf, so dass Anna aussteigen konnte. Noch Jahre später wurde von diesem “Schauspiel” gesprochen und darüber gelacht, wie gravitätisch Aloys Anna aus dem Auto geholfen hatte. Wunderbar war auch, dass Anna zwei Tage später wieder mit Aloys nach Düsseldorf zurück fahren konnte. So etwas Schönes hatte sie noch nie erlebt. Wilhelm hatte die Kinder gut versorgt und für Anna war diese Reise ein großes Erlebnis.
Doch so schön diese beiden Tage auch gewesen waren. Die Sorge um Annas Vater war groß. Er hatte Probleme mit einer Darmgeschichte. Der Arzt sagte, es seien innere Hämorrhoiden. - Sie bluteten. - Der Vater sah nicht gut aus aber er arbeitete und hatte sie beruhigt. Er sagte: “Das geht schon wieder vorüber!” Anna freute sich, dass sie wieder bei ihren Lieben war und berichtete von Kleve und von den Verwandten. Bruder Hermann hatte drei Söhne. Nette Jungen! Vater Wilhelm hatte auch ihnen Matrosenanzüge genäht und Anna bekam ein Bild von ihnen mit nach Hause.
Anna und Wilhelm waren glücklich mit ihren Kindern, die in besseren Verhältnissen aufwachsen konnten. Gerd ging in die katholische Volksschule, die drei Kilometer entfernt war. Er war stolz auf den Ledertornister, den alle Kinder auf dem Rücken trugen und die Tafel an der eine Kordel mit dem Tafellappen hing, den Anna gehäkelt hatte. Der Tafellappen war weiß, mit einem Rand von grünen - “Mausezäckchen”. Man legte Wert darauf, dass der Tafellappen immer sauber war.
Die Schule begann um acht Uhr und dann liefen alle großem Kinder zur Schule und die Kleinen liefen einfach mit. So wurden sie schon früh selbständig. Die Kinder wurden ermahnt, nie mit Fremden mitzugehen, sich nicht ansprechen und sich nichts schenken zu lassen, und wenn einer sie anfassen wollte, wegzulaufen und zu schreien. Für die Kinder waren diese Ermahnungen sehr aufregend und sie dachten auch an die bunten Märchenfiguren, wie den Wolf oder die Räuber, die in manchen Geschichten vorkamen. Manche Kinder erzählten, dass die Oma gesagt hätte, wenn sie nicht brav seien, käme die “Abendmutter” - oder - “Der Schwarze Mann”. Diese Kinder hatten Angst und konnten nicht einschlafen. Gerd erzählte es Wilhelm und der wurde fuchsteufelswild und sagte aufgebracht: “So ein Quatsch! Das wirst du doch wohl nicht glauben!” Ja, sagte Gerd: “Aber der Kaplan hat gesagt, wenn wir Sünden gegen die Gebote begehen, kommt der Teufel und holt uns in die Hölle!” Auf einmal rannte Gerd wie wild in der Werkstatt herum und schrie: “Sie kommen, sie holen mich…!” Das wurde dem Vater doch zu bunt. Er schnappte Gerd, der voller Angst war und rief: “Was erzählen die nur für einen Quatsch! Da gehe ich hin, dem werd’ ich was erzählen!” Doch dann sagte Gerd: “Wir spielen doch Theater und ich bin einer von den braven Knaben, weil ich ja erst acht Jahre alt bin aber der Theo, der ist ja schon groß, der hat gegen das sechste Gebot verstoßen und der muss nun in der Hölle braten!” “Was hat er denn gemacht, gegen das sechste Gebot?” fragte der Vater. “Ja, das weiß ich auch nicht so genau, das ist wegen dem “da Unten”, da darf man sich nicht anfassen, glaube ich!, sagte Gerd, Der Theo hat geweint und jetzt verspotten ihn die anderen großen Jungen und singen: “Theo Meyer, legt die Eier mit Verstand in den Sand, kommt ein Geyer, frisst die Eier, oh wie schreit der Theo Meyer!“
Vater, dürfen die so was singen? Der Kaplan hat gesagt:“ So etwas zu singen wäre auch Sünde. Dann mussten sie die Hand hinhalten und er hat er ihnen zur Strafe mit dem Lineal auf die Finger gehauen. Der Rudi hat ganz laut geschrieen und seine Hand festgehalten. Der eine Finger war nachher ganz blau. Liesi hörte mit großen Augen zu…”
“Die ganze Schlagerei hat keinen Sinn“, sagte Wilhelm…, aber dagegen kommt man nicht an…!“ Uns haben sie noch viel schlimmer verhauen…!
Ja, sagte Anna, und einen Lehrer hat man dann ermordet! Das war natürlich ein Signal, die Geschichte aus Annas Schulzeit in Kleve zu erzählen, wo an Kirmes der Lehrer tot hinter den Zelten lag. Liesi hörte aufmerksam zu und fragte: “Was meint Gerd mit dem “da Unten?” , aber die Beantwortung der Frage ging in der Erzählung mit der Mordgeschichte unter, die Gerd sehr interessierte.
Die Lebensbedingungen verbesserten sich in diesen Zeiten nicht und man musste jeden Pfennig umdrehen, ehe man ihn ausgab. Die Einkommen der Leute waren gering und man war schon so an Sparsamkeit gewöhnt, dass man froh war, wenn ein paar Mark im Hause waren und die Familie auskam. Man schrieb das Jahr 1929. Da kam der große Bankenkrach in Amerika und es gab wieder Selbstmorde. Leute, die sich hatten betören lassen und ihr Geld, ererbtes oder gespartes, den Banken anvertraut, oder sich selbst verspekuliert hatten. Alles war weg und es gab keinen Ersatz.
Die “kleinen Leute” hatten diesmal keinen Schaden erlitten, denn sie hatten sowieso nichts zu verlieren. Sie gönnten es den “reichen Säcken”, wie sie sagten und hatten mit ihnen kein Mitleid, wenn alles verloren war. Das Schlimme war, dass mit deren Untergang auch noch die Firmen pleite machten, in denen sie Arbeit gefunden hatten und nun? Nun wurde alles noch schlimmer. Sie gingen mit ihnen unter und wurden noch ärmer, als sie vorher schon waren.
Zuerst arbeitete Wilhelm noch in der Fabrik, die in der Nähe war. Rund herum waren
Fabrikschlote zu sehen und eine Güterbahn fuhr in einigen Hundert Metern
Entfernung vorbei. Liesi saß oft auf der Fensterbank und hörte, wenn die
Lokomotive einen schrillen Pfiff ausstieß und eine mächtige Dampfwolke in den
Himmel stieg. Auch die Fabrikschlote stießen Rauch aus und es war Staub in der
Luft. Anna sagte: ”Das ist hier nicht die beste Wohngegend, aber immerhin
haben wir ein Haus und niemand kann uns Vorschriften machen! Fast alle Männer, die in der Straße wohnten, arbeiteten in den Fabriken und alle gingen in blauen Arbeitsanzügen zu Fuß zur Arbeit. Es war ja nicht weit. - Die Anzüge wurden immer
am Montag gewechselt und nur wenige hatten zwei davon. Die Frauen wuschen die
Anzüge am Samstag und am Montag konnten sie gebügelt wieder angezogen werden.
Die Männer trugen ihre alten, hohen Schuhe auf, denn nur sonntags, zum “guten
Anzug” gehörten Halbschuhe. Nur wenige waren Bürofachleute, Kaufleute, oder
Handelsvertreter. Einfache Straßenbahnschaffner oder Briefträger wohnten auch hier. Sie verdienten alle nicht viel, aber irgendwie versuchte man doch, eine gewisse Hierarchie aufzubauen. Immer wollte einer mehr sein und immer drehte es sich darum, ob einer mehr hatte als der andere. Einkommensverhältnisse wurden geheim gehalten. Selbst die kleinen Arbeiter verrieten nicht, wie hoch ihr Lohn war. “Ich weiß auch nicht, wie die sich das leisten können!” sagten sie, wenn einer ein Fahrrad hatte, oder wenn die Frauen in der Kirche ein neues Kleid trugen.
Neid und Missgunst bestimmten die Gefühlswelt der Menschen. Nur Wenige hatten eine höhere Schulbildung und wenn einer die Meisterprüfung hatte, war das etwas Besonderes. Aber auch, wer die Gesellenprüfung hatte, stand auf der Leiter über denen, die nur Hilfsarbeiter waren. Wenn die Kinder in der Schule nicht mitkamen, ganz gleich aus welchen Gründen, sagten die Eltern: “Willst du vielleicht mal Straßenkehrer oder Müllmann werden? Noch schlimmer war es, wenn man “Oppicker” (Aufpicker) war. Es waren arbeitslose ältere Männer, die mit einer Art Spazierstock, der eine Metallspitze hatte, die weggeworfenen Zigarettenschachteln, Zigarttenkippen oder Zigarrenreste, Bon - Bon - Papier oder sonstige kleine Abfälle mit dem Stock aufpickten und in einen Müllsack steckten, den sie umgebunden hatten. Diese Art von Beschäftigung wurde sehr schlecht bezahlt aber gab den armen Leuten die Möglichkeit, die übrig gebliebenen Tabakreste in der Pfeife zu rauchen. Oft waren es auch Obdachlose, die von den Bediensteten der Stadtverwaltung verfolgt wurden, weil deren Pfeifen kalt blieben, wenn diese “Fremdpicker” schon da gewesen waren.
Die Promenade am Rhein in Düsseldorf und die Rheinallee (Der Rheindamm) in Oberkassel waren sauber und gepflegt, wenn bei schönem Wetter, an Sonn- und Feiertagen die Menschen hier Spaziergänge machten. Platanen spendeten Schatten und Bänke luden zum Ausruhen ein. Im Sommer legten sich viele Leute auf Decken ins Gras in den Rheinwiesen und ruhten sich aus, aber auch manches Liebesgeplänkel fand dort statt.
Bei der Rheinbrücke in Oberkassel, gegenüber der Altstadt, war ein kleines Schwimmbad, wo man sich der Illusion hingeben konnte, am Meer zu sein, weil dort auch weißer Rheinsand war, wo Kinder mit Förmchen und Schüppchen spielen konnten. Das Baden war nur am seichten Ufer erlaubt. Dahinter war eine Absperrung aus Balken mit Warnschildern, denn der Rhein hatte dort Strudel, die Schwimmer hinunterzogen und manch ein leichtsinniger Mensch ist hier umgekommen. Die ersten ertranken an “Christi Himmelfahrt”, denn oft waren dann die ersten heißen Tage.
Auf der Düsseldorfer Seite nutzten Reiter die Reitallee an der Cecilienallee, die weiterführend am Rhein entlang, bis zur Barbarossafestung nach Kaiserswerth, führte.
Die Frauen konnten dann ihre Sonntagskleider und Hüte tragen. Die Männer zwängten sich in Hemd und Kragen, nannten Krawatten “Kulturstrick” und gingen mit einem Spazierstock. Sie mussten Hüte tragen, damit sie bei Begrüßungen den Hut “lüften” konnten. Manche Männer machten das schwungvoll und übermütig, andere gravitätisch. Wenn man zufällig dem Chef oder dem Vorgesetzten begegnete und dieser jovial grüßte, sagten die Untergebenen stolz: “Das ist ein freundlicher Mann, ein Herr, der weiß was sich gehört!” Es hob das Ansehen, wenn Bekannte das gesehen hatten. Da wurde dann gesagt: “Der scheint in der Firma angesehen zu sein, denn sein Chef hat den Hut gezogen, freundlich gegrüßt, und seine Frau hat genickt und gelacht!”
Die Mütter legten Wert darauf, dass die Kinder fein herausgeputzt wurden und
sie durften sich nicht schmutzig machen. Den Mädchen steckte man große Schleifen in weiß oder rot ins Haar. Wilhelm nannte sie spöttisch “Propeller”. Wenn das Geld reichte, machte man eine Bötchenfahrt nach Kaiserswerth und zurück. Das konnte man sich aber meist nicht leisten.
Oft liefen die Leute auch am Rheinufer entlang und sahen den Frachtschiffen zu. Das war ein weiter Weg für die Kinderbeine, aber dann fuhren die Leute mit der Straßenbahn wieder zurück bis Heerdt. Ein Stück mussten sie dann noch am Waisenhaus vorbei laufen und gerade gegenüber vom Waisenhaus war ein “Büdchen”. Die Kinder hatten schon vor dem Spaziergang mit den Eltern ausgemacht, dass sie zum “Büdchen” gingen.
Das Büdchen hatte eine Luke, hinter der ein für Kinderaugen “Alter Mann” saß, der als einzige Getränke, Brause und Wasser, in kleinen Flaschen bereit hielt. Das so genannte “Dotzwasser”…! Das gab es in rot und grün, Himbeer und Waldmeister. Wenn man zehn Pfennige auf das Tablett legte, nahm der Mann ein Fläschchen aus einem Kasten und drückte mit seinem breiten Damen eine Glaskugel, mit der die Flasche verschlossen war, nach Innen. Es gab ein zischendes Geräusch von der ausweichenden Kohlensäure. Dann steckte er einen Strohhalm in das Fläschchen und gab es den Kindern, denen das Getränk eigentlich nicht schmeckte, denn sie waren für Limonade an Mutters Himbeersaft gewöhnt, aber das war etwas “Gekauftes” und deshalb in ihren Augen besonders wertvoll. Wilhelm sagte etwas abfällig: “Das ist nichts als Wasser mit Zucker, Farbe und Aromastoff! “Doch für die Kinder war das ein gebührender Abschluss ihres Ausflugs, denn sie fanden dieses “Spazierenlaufen” mit den Eltern langweilig aber sie mussten mit. “Wir sind doch eine Familie“, sagten sie und insgeheim wollten sie auch, dass man sehen konnte, dass sie wohlerzogene Kinder hatten. Die Kinder fanden das langweilig aber wenigstens gab es jedes mal “Dotzwasser!”
Für die Frauen war so ein Sonntagsvergnügen oft mit Müdigkeit verbunden, denn am Sonntag gingen sie meistens um sieben oder acht Uhr in die Kirche; die Kinder um elf in die Kindermesse. Dazwischen Frühstück. Um zehn war das Hochamt in Latein, aber das war vielen zu langweilig, denn da konnte man ja nicht mitsingen und das Mitsingen war eigentlich die angenehmste Art, die Messe zu feiern. Der Küster, der die Orgel spielte, war den Sängern immer ein Stück voraus, denn die Kirchenlieder verführten dazu, den Gesang zu einem “Singsang” zu machen, wie er sagte und er schimpfte, dass die Menschen “leierten”. Die Gläubigen ärgerten sich oft über den Küster, weil sie es viel feierlicher fanden, wenn sie so richtig schön schmusig singen konnten - “O Hauptvoll Blut und W… u… n .. d… e… n” , denn der Küster war schon bei H o h n, wenn Sie noch die Wunden bedeckten.” Dann sagten sie: “Der Küster hatte es mal wieder eilig, denn wir können den… Teil:…” Voll Schmerz bedeckt mit Hohn“, nicht richtig singen. Der jagt uns und ist uns mit seiner Orgel immer voraus. Er spielt dann extra laut und die ganze Kirche dröhnt, nur um uns zu übertönen.
Wieder zu Hause, mußte Frühstück gemacht werden und wenn Wilhelm und die Kinder zur Kirche gingen, musste aufgeräumt, gespült und Betten gemacht werden. Danach Mittagessen zubereiten, das am Sonntag immer aufwändiger war, denn es gab Suppe, Hauptgericht und Nachtisch.
Es war ja auch der einzige Tag, an dem die Fabrikarbeiter und Büroangestellten das Mittagessen gemeinsam mit dem Vater einnehmen konnten, denn in der Woche nahmen die berufstätigen Menschen ihr Essen im Henkelmann mit. Das wurde dann in den fabrikeigenen Räumlichkeiten in großen Kesseln aufgewärmt. Hier hatten die Arbeiter von Mannesmann einen Spottvers aufgesetzt: “Et jing ne Mann met noch ene Mann, mem Henkelmann no Mannesmann. Mannesmann und Söhne, zahlen schlechte Löhne, Mannesmann un Companie, LMA ich komm net mi“. (“Mannes mann und Söhne, zahlen schlechte Löhne, Mannesmann und Companie, LMA, ich komm’ nicht mehr!”) Sie kamen aber immer wieder, denn etwas besser Bezahltes bekamen sie doch nirgendwo.
Wilhelm, der ja im Hause arbeitete, hatte es da besser. Er war beim Mittagessen immer dabei und nach dem Essen legte er sich eine halbe Stunde hin, denn sein Tag begann schon um fünf Uhr. Wenn er viele Aufträge hatte, arbeitete er auch bis in den Abend hinein.
Nach dem Essen musste noch gespült, und der Küchenherd geputzt werden, was Wilhelm dann übernahm. Unaufgeräumt verließ man nicht das Haus. “Als nur Hausfrau findet man keine Anerkennung“, sagte Anna etwas traurig. “Es bringt ja nichts ein ! Nur wer Geld auf den Tisch legt, hat etwas zu sagen. Die viele Arbeit der Hausfrauen und Mütter wird überhaupt nicht anerkannt!” Wenn Anna sich mittags auch gerne etwas hingelegt hätte, sagte Wilhelm: “Ich bin ja auch zwölf Jahre älter als du.” Darauf antwortete Anna, das wirst du auch immer bleiben und dann komme ich nie dazu.” Sie lachten Beide und sie legte sich dann ein halbes Stündchen aufs Sofa, während die Kinder etwas zusammen spielten.
Doch manche Frauen machten sich nichts daraus, wenn man über sie lästerte weil sie arbeiten gingen, um Geld für “Firlefanz” auszugeben und sie rauchten sogar Zigaretten. Die Mannweiber!”, sagten die Leute. Sie arbeiteten im Accord in den Maschinenfabriken aber im Grunde genommen, waren die meisten Frauen, die dort arbeiteten, sehr brave Frauen, deren Männer froh waren, wenn sie Geld nach Hause brachten. Sie konnten sich dann etwas mehr leisten und das wecke wieder den Neid der Mitmenschen. Eigentlich war das ein ausgesprochen langweiliges Dasein für Männer und Frauen, die nicht in kirchlichen oder privaten Vereinen waren. Manche Leute sagten: “Gesangvereine sind Saufvereine”! Turnvereine hatten einen guten Ruf, aber vielen war der Sport am Abend nach der Arbeit zu anstrengend und sie lagen lieber mit einem Kissen unter den Armen im Fenster und beobachteten die Straße. So freuten sie sich auf die Feiertage wie Weihnachten, Neujahr, Ostern, Pfingsten; Kirmes und Karneval. Dafür sparten sie auch, wenn sie überhaupt Einkommen hatten und nicht arbeitslos waren.
Einige Frauen und Mädchen waren Verkäuferinnen. Das war ein angesehener Beruf, denn die Verkäuferinnenlehre dauerte drei Jahre und die Ausbildung in den großen Kaufhäusern, wie z.B. Tietz, war sehr streng. Wer Schneiderin werden wollte, musste im Monat zehn bis zwanzig Mark Lehrgeld bezahlen, und auch die Lehre zur Putzmacherin kostete Lehrgeld. Es erforderte sehr viel Geschick, Hüte aus Stroh, Filz oder gar Pelz herzustellen, denn die Kundschaft war sehr anspruchsvoll. Einfache, preiswerte Hüte wurden, je nach Mode, in den Hutfabriken hergestellt. Dort wurden sie in Formen gepresst und große Mengen vom gleichen Format wurden preiswert in den Verkauf gebracht.
Wenn ein Fräulein sich Sekretärin nennen durfte, war das etwas ganz Besonderes. Sie musste Stenografie und Schreibmaschine beherrschen und gute Noten in Deutsch vorweisen können. Außerdem sollte ihr Äußeres ansprechend sein, sie musste ein freundliches und zurückhaltendes Wesen haben und sollte möglichst eine Handelsschule besucht haben. Hatte ein Mädchen eine solche Position, wurde spioniert, ob sie nicht was mit dem Chef hatte, der doch meistens verheiratet war.
Die Nähe zum Chef, die durch die Zusammenarbeit entstand, wurde von manchen Arbeitgebern ausgenutzt und einige konnten ihre Finger nicht bei sich behalten, wenn die hübsche, junge Frau zum Diktat gerufen, an seinem Schreibtisch saß. Darauf hatten die jungen Männer die im Betrieb arbeiteten, ein strenges Auge und die Neugier trieb reiche Blüten. Da wurde jede Miene beobachtet und die jungen Frauen hatten es schwer, sich auch deren Nachstellungen zu entziehen. Für einige der jungen Männer, die schon ein wenig Erfahrung gesammelt hatten, waren berufstätige Frauen eine Art von “Freiwild”. Es war eine absolute Männerwelt, der sich die Frauen unterzuordnen hatten und es hatte sich, seit Annas Jugend, als sie einen Beruf erlernen wollte, in den Köpfen der Menschen nicht viel geändert.
Anna sagte: “Die haben ein Brett vor dem Kopf!”
Die jungen Frauen hatten, wie jeder junge Mensch sexuelle Interessen und hätten gerne hier- und da etwas erlebt und geflirtet, aber im Hintergrund stand dann meistens die Hoffnung auf eine “feste” Beziehung, wo am Ende die Heirat stand. Hatte ein Mädchen einen festen Freund, der auch den Eltern vorgestellt war, sagten die Leute: “Die hat auch schon Verkehr!”, was immer das bedeuten sollte. Merkten die Eltern, dass die Mädchen verliebt waren, hieß es gleich: “Komm’ nur nicht mit einem Kind nach Hause! Wenn er erst einmal seinen Willen hat, lässt er dich mit dem Kind sitzen…!” Hatte ein Mädchen sich zweimal verliebt und es wurde doch keine Hochzeit daraus, sagte man hinter vorgehaltener Hand: “Ist der Ruf erst ruiniert, lebt man völlig ungeniert”! Das sagt man zu jeder Gelegenheit, die sich bot.
Sie hatten aber vergessen, ihre Töchter aufzuklären und manches junge Mädchen dachte, dass ein Zungenkuss, eine ungewollte Schwangerschaft heraufbeschwören könnte. So empfanden es auch… die pubertären Jungen…, die auch nicht aufgeklärt wurden. Sie befanden sich in einem großen Stress, wenn es um Sex und Liebe ging. Die Väter und Lehrer hatten meist vergessen wie es ihnen erging und wie sich gefühlt hatten. Sie hatten frühzeitig darauf verzichtet, von den Eltern etwas zu erfahren. Das Wort Pubertät kannten sie nicht und hätte jemand das Wort benutzt, hätten sie gedacht, dass das eine große “Schweinerei” oder eine Krankheit sein müsste. Bestimmt kam es öfter vor, dass die Jungen miteinander etwas ausprobierten, wenn sie auch nicht homosexuell waren, aber doch ihren Bedürfnissen nachkamen und einmal miteinander, oder alleine für sich erfolgreich gewesen, sich gegenseitig aufklärten. Über die Frauen und Mädchen wussten sie nichts. Bei den einfachen Leuten, die nicht durch gewisse Literatur aufgeklärt waren, wie die Gymnasiasten und Studenten, war “Nichtwissen” auch gewollt. Es war schon eine seltsame Welt, und sehr bedrückend für viele junge Menschen.
Es es kam auch vor, dass ein Chef die Sekretärin heiratete. Das war dann was ganz Besonderes und wurde immer wieder erwähnt, wenn die Sprache darauf kam. Neidvoll sagte dann die Eine oder Andere: “Die war ja mal seine Sekretärin, aber die hat es auch drauf angelegt, das ist eine ganz raffinierte!“
Dann dachte Anna wieder daran, dass der Vater vom “Herumpoussieren” gesprochen hatte, als sie Stenografie lernen wollte und nahm Partei für die Sekretärinnen, die doch eigentlich nur einen Beruf ausüben und Geld verdienen wollten, aber man ließ sie nicht! “Was mag nur in den Köpfen der Männer vor sich gehen?”, dachte sie. Ihre verlorene Zukunftsplanung ging ihr oft durch den Kopf aber sie wusste, dass unnütze Gedanken waren.
“Den Zug habe ich verpasst” dachte sie. Es ist Unsinn, immer wieder daran zu denken, was mir versagt geblieben ist. Das größte Glück aber waren ihre Kinder und der wirtschaftliche Erfolg, den sie auch ohne höhere Schulbildung und ohne Berufsausbildung gewonnen hatten, denn Wilhelm war auch nicht dumm und sehr fleißig. Sie waren Hausbesitzer und darauf war Anna stolz. Keine Schulden zu haben und gesund zu sein, das ist auch etwas.
In ihrem Kopf geisterte auch der Wunsch, wenn alles etwas besser ginge, ein Schuhgeschäft zu haben. Der Spruch ihres geschäftstüchtigen Vaters und ihrer Mutter kam ihr in den Sinn. “Eine and voll Handel, ist besser als eine Schubkarre voll Arbeit!” So hatte auch schon Wilhelms Vater argumentiert, als er seinen kleinen Handel mit Lebensmitteln und anderen Gütern hatte.
Anders war das bei den Ärzten. Wenn sie nicht aus “reichem Hause” kamen, heirateten sie oft Krankenschwestern. Als Ehefrauen wurden diese dann zu unbezahlten Sprechstundenhilfen, aber sie wurden von den einfachen Leuten zum Trost dann auch “Frau Doktor” oder entsprechend “Frau Apotheker“ genannt. “Frau Geheimrat” kam auch vor. “Wer solche Leute im Bekanntenkreis hat, fühlt sich geadelt“, sagte Anna spöttisch aber sie sagte auch: “Frau Doktor”, wenn Wilhelm den Auftrag für ein paar handgefertigte Stiefel bekam. Immerhin hatten sie durch den Beruf des Ehemannes einen besseren Status, und wurden darum beneidet, wenn sie einen “Studierten” abbekommen hatten.
In der Nähe war auch die Apotheke. “Frau Apotheker” eine wirklich feine Dame, mit in Wellen gelegtem, weißen Haar und einem feschen Hütchen , ging oft mit ihrem kleinen Dackel spazieren und kam auch durch die Straße. Sie hatte eine feine Stimme und sprach gutes Deutsch. Die Kinder mochten die feine Dame, die mit ihnen freundlich sprach. Sie durften den kleinen Hund streicheln. Neider sagten: “ “De Hönkelmadam wor wedder do!”
(“Die Hündchen Madam war wieder da“) Anna sagte: “Sie ist eine feine Frau!”
Der Herr Apotheker war ein weißhaariger, etwas kompakter Herr, der sehr freundlich war und immer den Hut zog, wenn man ihm begegnete. Er trug gute Anzüge, weiße Hemden mit steifem Kragen und Krawatte mit einer immer zugeknöpften Weste. Er sah ähnlich aus, wie die joviale Werbefigur auf “Kathreiners Kaffee”. (Vöre spetz un henge spetz) (Vorne spitz und hinten spitz) Es war Malzkaffee aus Korn in einer blau - weiß gestreiften Papierverpackung. Bohnenkaffee konnte man sich nicht jeden Tag leisten. “Für Kinder ist Bohnenkaffee ungesund“, sagten die Eltern und sie selbst leisteten sich den Bohnenkaffee nur Sonn- und Feiertags, wenn überhaupt! Um sich gewisse Genüsse zu versagen, erklärte man die Dinge einfach als - ungesund - , dann konnte man sich deren Genuss besser versagen. Wenn ein “Reicher”an einer Herzkrankheit litt, sagten die Leute: “Der hat immer sehr viel Bohnenkaffee getrunken, das geht aufs Herz!”
“Einbildung kommt vor dem Fall“, sagte man, wenn jemand sich besonders hervor tat und dazu gab es den Spruch: “Dä hät eene näve sich jon!” (“Der hat einen neben sich gehen, also einen vornehmen Schatten.”) Er meint, er wäre etwas Besseres als seine armen Nachbarn. Das alles lernte Anna in Düsseldorfer Platt und sie wandte es auch an und fand es komisch weil es so treffend war und darüber konnten sie herzlich lachen, wenn sie Wilhelm davon erzählte.
Gerd und Liesi merkten sich die Sprüche, denn sie fanden es schön, wenn die Eltern lachten.
Das Leben verlief ziemlich ruhig und man verlor sich im alltäglichen Kleinkram aber irgendwie war es auch gut, sachte Anna, denn eigentlich musste man zufrieden sein. .Kein Krieg und genug zu Essen. Ein eigenes Haus und den Garten, eine Schaar Hühner, ein schwarzes Kätzchen, und Kohlen im Keller. Gerd, der Sohn war ein lieber Junge und kam in der Schule gut zurecht. Er hatte eine Menge Freunde, mit denen er “die Gegend unsicher machte“, wie Wilhelm scherzte. Liesi war sehr lieb aber wie Anna sagte, sehr eigenwillig.
Anna und Wilhelm standen meist um fünf Uhr auf und ruhten mittags ein Stündchen, und Liesi fügte sich widerstandslos zum Mittagsschlaf, aber an einem Tag im Juni sagte sie plötzlich:
“Ich bin nicht müde, ich will nicht ins Bett!
“Alle kleinen Mädchen schlafen mittags”, sagte Anna“, die sich schon auf diese Ruhezeit freute.
“Ich aber nicht“, rief Liesi. ”Das will ich nicht!”
“Du tust, was ich dir sage”, sagt Anna.
“Ich habe auch was zu sagen, sagt Liesi trotzig.
“Nein, die Mutter hat das Sagen!”
“Nein, ich auch!”, schrie Liesi und stampfte mit dem Fuß auf..
Da, ein Klatsch auf den Po!”
Dazu bist du noch zu klein, du tust, was die Mutter sagt, und jetzt ziehe ich dir das
Kleidchen aus und bringe dich ins Bett!”, nachher hast du Zeit genug zum Spielen!
Liesi stößt einen Schrei aus und weint.
Nun wein’ nicht, es ist doch nicht so schlimm, ein Stündchen zu schlafen”, sagt Anna, die den Poklaps schon bedauerte aber sie hatte sich “durchgesetzt“…
“Ich muss aber weinen, Mama!”
Nach diesem “Schlafzwang”, hatte Liesi, aber auch Anna, kein Auge zugetan und Anna sagte: “Nun ist die Mittagspause vorbei und du kannst aufstehen!”
“Ein vorwurfsvoller Blick von Liesi und ein Schluchzen”!
“Na, hast du immer noch was zu sagen?”, fragt die Mutter.
“Mama, bist du mir böse?”
“Nur, wenn du Widerworte gibst und streitest!”
“Mama, ich hab’ dich lieb, ich will auch nie mehr was zu sagen haben!”
“Liesi, hast du die Tapete aufgerissen und den Mörtel herausgekratzt?”
Liesi hatte das mit großer Wut gemacht aber sie sagte:
Ja, es ist aber nur ein ganz kleines Loch, das kannst du sicher wieder zumachen!”
“Mama, wann hab’ ich denn was zu sagen?”
“Mach’ dir darüber jetzt mal keine Gedanken!, du kannst jetzt mit Leni spielen, da kommt sie gerade!”
Liesi läuft hinaus und sagt zu sich: “Ich hab’ doch was zu sagen!, die Mama weiß das
nur nicht und ich werde es ihr auch nicht mehr sagen!”
Anna sah den Kindern nach und dachte: “das hast du jetzt von deinen
Erziehungsmaßnahmen! Ein Loch in der Wand !!!
Wenn die Arbeitszeit zu Ende war, dröhnten die Fabriksirenen. Das war ein schreckliches “Geheule“, und dann strebten alle nach Hause. In den Fabrikhallen war es manchmal heiß und alles roch nach Maschinenöl. Schmutzig und verschwitzt kamen viele Menschen aus den Fabriktoren. Sie sehnten sich nach frischer Luft und nach Waschwasser, denn es gab für sie noch keine Bäder oder Duschen, weder in der Fabrik, noch zu Hause. Sie mussten sich von Kopf bis Fuß waschen. Wer das nicht tat, roch streng, nach Schweiß und nach Maschinenöl.
Im Sommer, wenn das Wasser im Rhein eine gewisse Temperatur hatte, konnte man in Oberkassel, oder auch auf der anderen Seite im Rhein, schwimmen. Man hatte ein Stück Kernseife dabei und ein Handtuch. Das erfrischte kolossal, aber nicht jeder konnte schwimmen und Frauen beobachtete man dort selten. Für sie wäre das Baden im Rhein lebensgefährlich gewesen, denn die Strömung war stark. Anna konnte, wie die meisten Mädchen, nicht schwimmen und sie hatte noch nie einen Badeanzug besessen oder gar getragen. Das wurde in der prüden Familie, in der sie aufgewachsen war, nicht erlaubt. Zu ihrer Zeit durfte man sich nicht zeigen, aber Ende der “zwanziger Jahre” und in der Stadt war man bedeutend freier, als in Kleve auf dem Land. Hier zeigten die Frauen schon etwas mehr und manche zeigten “Alles”! Nun gingen auch viele Mädchen in die Turnvereine und da wurde alles etwas freier. Mädchen und Jungen waren zusammen auf dem Sportplatz und Gerd spiele nun Handball in der Jugendmannschaft.
Den Kindern erlaubten sie das Spiel am Strand. Gerd trug eine Badehose und Liesi einen Turnanzug. Gerd lernte im Rhein schwimmen und als er älter war, schwamm er sogar von dem einem Ufer des Rheines zum anderen und wieder zurück. Die Jungen kannten genau die Route, in der sie schwimmen konnten und richtig gefährlich war es hauptsächlich neben der Skagerrakbrücke. Gerd und einige seiner Freunde schwammen zu den auf dem Rhein fahrenden Schleppern und ließen sich ein Stück aufwärts ziehen, um dann bequem mit der Strömung zurückzu- schwimmen. Das war sehr gefährlich und das durften die Eltern nicht wissen, denn es war zudem noch verboten. Die Schiffer scheuchten sie zurück ins Wasser. Liesi wusste es, aber sie “hielt dicht, so klein sie auch noch war, doch war sie auch stolz, dass der “große Bruder” ihr vertraute. Auf den Schleppkähnen beschmutzten die Jungen sich oft mit Teer, der durch die Sonne flüssig geworden war. Anna wunderte sich, wenn plötzlich “Butterschwund” da war. Mit Butter konnte man Teer entfernen, wenn man die Flecken damit einrieb. Gerd tat dann harmlos und sagte: “Ich war’s nicht, vielleicht hast du versehentlich zum Kochen Butter statt Margarine genommen!”
Doch eine andere Gefahr lauerte…! In den Zeitungen wurde vor einem
“Massenmörder” gewarnt und in diesen Tagen wurde wieder ein Opfer auf den
Rheinwiesen gefunden. Der Mörder hatte schon mehrere Frauen umgebracht und bestialische Sachen mit den Opfern gemacht. Der Name des Mörders war bekannt. Es war Peter Kürten. Doch hatte er sich immer wieder der Festnahme entziehen können. Vor den Kindern versteckte Anna die Zeitung um die Kinder nicht besonders zu ängstigen.
Liesi durfte nun nur noch in kurzen Interwallen auf die Straße, zu den anderen Kindern zum Spielen und musste sich immer wieder bei Anna melden. Bis jetzt war alles ganz normal verlaufen. Anna wollte das Kind nicht isolieren und Liesi durfte nur unter ihren Fenstern oder auf dem Hof spielen.
Doch die fantasievolle Kleine sah plötzlich eine seltsame Prozession. Eine Ordensschwester in schwarzer Tracht und eine Schar von kleinen Mädchen, die alle schwarze Kleidchen und weiße Schürzen trugen, gingen brav zu zweit, Hand in Hand, und ohne einen Laut, an ihr vorbei, wo sie dann langsam in Richtung Heerdt verschwanden. Dort war das Waisenhaus, wovon Anna oft gesprochen hatte, weil sie die armen Kinder, die dort sein mussten, bedauerte.
Anna hatte gehört, dass die Kinder aus gescheiterten Ehen stammten, oder Waisen waren. Man erzählte sich, dass die Kinder sehr streng gehalten und oft geschlagen wurden, wenn sie nicht parierten. Bis zur Volljährigkeit mussten sie in diesem Haus ausharren und ab vierzehn, mussten sie im Krankenhaus nebenan, von morgens bis abends niedrigste Arbeiten verrichten. Das erzählten Leute, die in dem Krankenhaus gelegen hatten. Liesi hatte die Gespräche, die Anna mit Kunden führte, mit “großen Ohren” gehört und verarbeitete das Gehörte in ihrer Märchenwelt und so lief sie neugierig, neben der Gruppe her, aber die Kinder sprachen kein Wort. Liesi hatte aber auch nicht den Mut, die Nonne etwas zu fragen, denn deren Miene war sehr abweisend und ihr schmallippiger Mund war fest zusammen gepresst.
Sie lief neben dieser eigenartigen Gruppe her, die sie noch nie gesehen hatte. Sie kamen zu dem großen, schmiedeeisernen Tor, das die Schwester mit einem großen Schlüssel aufschloss, die kleinen Mädchen hineinscheuchte, und Liesi ohne ein Wort das Tor vor der Nase zuschlug. Dann ging zu dem großen, drohend aussehenden Gebäude und Liesi sah noch, wie die schwere Haustüre zuschlug. Liesi hatte das Gefühl, dass das Haus die Kinder verschluckt hatte, so schnell waren sie verschwunden. Die Nonne warf ihr noch einen strafenden Blick zu, bevor sie hinter dem großen Eingangstor verschwand.
Liesi stand vor dem Tor und hatte ganz vergessen, woher sie gekommen war, denn alleine war sie hier bestimmt noch nicht gewesen, und so entschloss sie sich, den nächsten Weg zu nehmen. Jetzt, im November dunkelte es früh und Liesi wusste nicht, wo es nach Hause ging. Sie war oben auf dem Rheindamm und lief unter den Platanen in Richtung Oberkassel. Ihr taten schon die Beine weh, aber dann sah sie in der Ferne ein erleuchtetes Fenster, ein tröstliches warmes Licht und hielt darauf zu.. Doch es war doch weiter als sie gedachte hatte und langsam befiel sie Angst, auch weil sie einfach weggelaufen war und der Mutter nichts gesagt hatte. Ihr war kalt und sie hatte Hunger.
Inzwischen hatte Anna das Kind, das so plötzlich verschwunden war, vermisst, und gesucht. Sie lief die Straßen ab, sah im Hof und im Hühnerstall nach, wo sich Liesi schon mal aufhielt, fragte Wilhelm und dann waren sie furchtbar aufgeregt, weil das Kind nicht zu finden war. Sie nahmen die Fahrräder und fuhren die ganze Umgebung ab. Auf die Idee zum Rheindamm zu fahren, der doch zu Fuß fast eine halbe Stunde entfernt war, kamen sie nicht. So weit hätte Liesi nicht laufen können, meinten sie. Sie dachten natürlich auch an den Mörder, der noch immer frei herumlief und Anna machte sich große Vorwürfe, dass sie das Kind draußen spielen ließ. Wilhelm machte ihr Vorwürfe und fast hatten sie in ihrer Aufregung und Angst miteinander Streit, doch schon fuhren sie wieder los, um Liesi zu suchen.
Liesi aber lief noch immer auf dem Rheindamm, dem erleuchteten Fenster entgegen und wurde entsetzlich müde und fast hätte sie geweint. Da fuhr ein großer, dicker Mann auf einem Fahrrad an ihr vorbei, der Liesi, die da ganz allein auf dem einsamen Rheindamm herum lief, aufmerksam ansah. Liesi bekam nun Angst und wollte weglaufen, doch kam der Mann mit dem Fahrrad zurück, stieg ab und kam auf sie zu, indem er das Rad schob. Liesi war kein ängstliches Kind, doch nun erschrak sie sehr. Ängstlich sah sie den Mann an, der sie fragte: “Was machst du hier so ganz allein? Es ist ja fast dunkel!”
Liesi sagte: “Ich war im Waisenhaus”. Ich geh‘ nicht mit!”, was dem Mann nicht verständlich war, denn er glaubte, das Kind zu kennen und fragte: “Bist du nicht das Kind von Grübers? Ich meine, ich hätte dich schon gesehen! Kennst Du mich nicht? Ich wohne in dem Haus nebenan, wo die Anneliese wohnt, mit der du immer spielst.” Liesi sah ihn ängstlich an aber nun erkannte sie ihn und wusste nun, wer der Mann war. Eigentlich hatte sie immer Angst vor dem Mann gehabt, weil er eine blutunterlaufene, großporige Nase hatte. Er sah sehr entstellt aus, aber jetzt im Dunkeln fiel das nicht auf und sie fasste doch Vertrauen.
Herr Stelter, so hieß der Mann, hob Liesi, die sich zuerst sträubte und doch froh war, dass sie nicht mehr laufen musste, auf die Lenkstange. “Hab’ keine Angst, sagte er, wir fahren jetzt nach Hause.” Anna und Wilhelm waren eben wieder von einer Suchtour zurückgekommen und die halbe Straße war in Aufruhr, weil das Kind verschwunden war. Liesi war sich gar nicht bewusst, dass sie so eine Aufregung verursacht hatte. Sie war nur sehr müde und hungrig. Nie mehr würde sie weglaufen, versprach sie. Es war eine furchtbare Aufregung…!
“Dem Herrn Stelter haben wir viel zu verdanken”, sagte Anna. Wer weiß was noch passiert wäre, wenn er nicht zufällig dort vorbei gekommen wäre. Nun weinte sie vor Freude, was Liesi gar nicht verstehen konnte. “Mama, warum weinst du, ich bin doch wieder da“, sagte sie… “Ach, Kind….!” sagte Anna, und lachte unter Tränen. Den Namen “Kind” behielt Liesi von Anna - bis zu Annas Lebensende - und Liesi hörte immer wieder gern, wenn die Mutter sie Kind nannte. Das klang so warm und herzlich.-
Herr Stelter aber nahm bei Grübers eine Sonderstellung ein und sie wären ihm ewig dankbar, sagten sie. Herr Stelter starb ein Jahr später an einer Hautkrebserkrankung, durch welche die großporige dunkelrote Nase entstanden war und strafte missbeliebige Nachbarn Lügen, die behaupteten, “er habe eine “Säufernase”.
Liesis Weglaufen hatte eine große Aufregung hervorgerufen und Nachbarn und Kinder fragten nach Liesi und nach den Vorgängen. Manche sagten: “Das Kind braucht eine Tracht Prügel“, und das bei einem kleinen Mädchen, das an Nikolaus fünf Jahre alt wurde! Diejenigen, die selbst Kinder hatten, freuten sich mit Grübers, dass alles so gut verlaufen war.
Doch einen Tag später wurde bekannt, dass der Mörder am gleichen Tag, wie Liesi auf dem Rheindamm herumirrte, ein fünfjähriges Mädchen auf bestialische Art ermordet wurde. Er hatte das Kind vergewaltigt, bevor er es erstach. Er hatte ihr Blut getrunken. Er war jedoch erst sechs Monate später später endlich gefaßt worden. Das kleine Mädchen war sein letztes Opfer.
Peter Kürten, der Massenmörder, wurde “Vampir von Düsseldorf” genannt. Auf seine Ergreifung wurde eine Belohnung von siebentausend Reichsmark ausgesetzt. Eine unvorstellbar hohe Summe. Er wurde aber erst sechs Monate nach seiner letzten Tat, am Rochusmarkt in Düsseldorf endlich festgenommen. Der Mörder war verheiratet und hatte zwei Kinder. Er hatte nachweislich neun Menschen auf bestialische Art gefoltert und getötet und man sagte ihm insgesamt dreißig Morde nach. Kaltblütig erzählte er nach seiner Verhaftung von seinen Gräueltaten. Seine Mordlust ging so weit, dass er sich an Schwanenküken im Hofgarten verging und sie danach tötete. Am zweiten Juli 1931 wurde er hingerichtet. Als Anna und Wilhelm diese Berichte lasen, stand ihnen noch einmal vor Augen, wie nah’ ihr Kind dem Tod hätte sein können, wäre dieses Monster dem kleinen Mädchen auf dem Rheindamm begegnet.
Ein Jahr verging und Liesi kam in die Schule. Zur Einschulung ging Anna mit, aber begeistert war Liesi nicht. Sie, die die Freiheit so liebte und ständig mit ihrem Turnen und ihren Träumereien beschäftigt war, hatte keine Lust auf all’ die Vorschriften und sie fand die Lehrerin schrecklich, aber das durfte sie ja nicht sagen. Die Lehrerin, Fräulein Dornseifer, eine Frau mittleren Alters, klein, untersetzt, mit straff zurück gekämmtem Haar, mit einem kleinen grausamen Mund. Sie war in ein schwarzes Ungetüm von Kleid gehüllt, das bis zum Boden reichte. Die Kinder wurden geprüft ob sie das “Vater Unser” konnten und das “Gegrüßet seist du Maria!” Liesi konnte das alles, denn sie ging ja schon in die Messe und sie beteten ja auch zu Hause. Sie lernten schon am ersten Tag das Gebet: “Der Engel des Herrn.” und das fand Liesi schön, denn Engel liebte sie.
Liesi war böse, dass Anna verlangt hatte, dass sie eine Mütze auf dem Schulweg tragen sollte und zwang sie, die Mütze auf dem Kopf zu behalten. Die langen Strickstrümpfe aus feiner Wolle, die mit Stumpfbändern und einem Leibchen gehalten wurden, gefielen ihr auch nicht. Sie sagte, die kratzen. Das Schlimmste für sie war, als sie nach der Einweisungsstunde nach Hause gingen
.
Liesi hatte die schreckliche Mütze wieder auf, da stand am Schultor ein Fotograf, der die Kinder am ersten Schultag fotografierte und Anna wollte gerne ein Foto von diesem besonderen Tag im Leben von Liesi, die das aber gar nicht wollte, denn sie fand sich nicht mit der Mütze ab und als dann noch ein Junge, der auch in ihrer Klasse war, neben ihr fotografiert werden sollte, passte ihr das überhaupt nicht. Der Junge strahlte Liesi mit seinen schönen, grauen Augen an und freute sich, dass er neben ihr stehen sollte.
Als dann der Fotograf auch noch sagte: “Das ist aber ein nettes Pärchen!” und beide Mütter lachten und strahlten, war Liesis Stimmung auf null und der kleine Junge war ganz erschrocken, weil sie ihn so wütend anblitzte. Liesi hatte das untrügliche Gefühl, verkuppelt zu werden. Sie sagte später zu Anna: “Meine Freunde such’ ich mir selbst aus!” Sie wartete dann auf das vermaledeite Bild mit dem Jungen und war ganz erstaunt, dass eine missmutig blickende Liesi alleine auf dem Bild war und fand sich insgeheim hässlich, so verkniffen, wie sie aussah, führte das aber alleine auf die Mütze zurück. Den strahlenden Blick des kleinen Jungen vergaß sie nicht und sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie ihn so böse angesehen hatte. Später hatte sie mit dem Jungen darüber gesprochen und er wurde ein guter Schulfreund.
.
Der Fotograf hatte sie nicht zusammen fotografiert, er benutzte nur eine Platte aus Sparsamkeitsgründen, bevor er unter das schwarze Tuch kroch, um die Aufnahme zu machen.
Wohl oder Übel, musste Liesi von nun an in die Schule, aber es gefiel ihr immer noch noch nicht. Nur der Sportunterricht war wunderbar, denn die Turnhalle war ganz neu und es standen alle Geräte drin. Angefangen vom Barren über das Pferd, die Kletterstangen, die Turnstange und die Ringe. Dicke Ledermatten lagen zum Schutz da, und die Lehrerin war eine junge, sportliche Frau, die Liesi mochte, weil sie schon jetzt eine gute Sportlerin war und sehr gut am Reck und an den Ringen turnte. Und das kam daher, weil sie zu Hause eine richtige Turnstange hatte. Vater hatte ihr eine Turnstange aus Eschenholz machen lassen. Er sagte: “Die Stange schwingt mit!” Er hatte sie zwischen zwei dicken Balken mit einem Querholz am oberen Ende anfertigen lassen. Die Stange war für Liesi zu hoch, aber sie kletterte an dem Balken hoch und gelangte von dort zu der Turnstange, wo sie ihre Kunststücke vorführte. Sie konnte aber auch Rad schlagen und Brücke und Kopfstand.
In der Umgebung gab es ganze Viertel, wo Kommunisten wohnten. Die begrüßten sich mit erhobener Faust. Darunter konnten die Kinder sich nun gar nichts vorstellen. Kommunisten waren bei den braven Katholiken nicht willkommen und da auch Frauen unter ihnen waren, sprach man auch hier wieder von “Flintenweibern” und “ordinären Frauenzimmern”. Der Name “Rosa Luxemburg” wurde erwähnt aber hier in dieser abgelegenen Gegend hatte man sich nicht mit den politischen Auseinandersetzungen beschäftigt. Von kirchlicher Seite aus wurde Rosa Luxemburg nicht als Freiheitskämpferin für die Frau gewertet. Die Gläubigen waren auch auf solche “Auswüchse” was die Rolle der Frau betrifft, nicht vorbereitet.
Das regelt der liebe Gott”, sagten sie, und: “Die Kirche spielt auch eine Rolle. Wir haben ja doch nichts zu sagen!” Den Männern war diese Einstellung angenehm. Es herrschte ja sowieso im Allgemeinen die Meinung vor, dass Politik nicht Sache der Frauen ist. Immer schön den Mund halten, wenn es um wichtige Dinge geht! In den großen Städten und besonders in Berlin, war man da anderer Meinung. Dort gärte es in allen Richtungen. Es gab Demonstrationen gegen die Armut und gegen die Arbeitslosigkeit. Anna sagte: “Das hat ja doch keinen Zweck. Geld regiert die Welt!”
Für Anna war das eine ganz neue Welt, aber sie gefiel ihr nicht, denn sie sagte: “Die
sind hier ziemlich ordinär!” Sie war von zu Haus, wie sie sagte, einen anderen Umgangston gewohnt und als wirklich braves Mädchen war es ihr unverständlich, dass es Frauen gab, die einen Liebhaber haben sollten, und das hier, in der kleinen Welt! Vor allen Dingen, die aus der Fabrik, sagten sie. Irgendwie waren diese Frauen ihnen ein “Dorn im Auge“. Da sprach man auch von frechen Weibern, die sich alles erlauben.
“Wie in den Romanen, die ich gelesen habe“, sagte Anna zu Wilhelm, “aber doch nicht hier, in dieser armen Gegend, wo die Leute so wenig zu beißen haben“, oder doch?
“Gerade da!”, sagte Wilhelm, “denn das ist ja Einzige was sie haben, die armen Leute!” Anna sagte: ”Ich würde mich schämen!”
Wenn - DIE - aus der Fabrik auftauchten, wurden von den Hausfrauen, die nicht in der Fabrik arbeiteten Blicke getauscht und es wurde über die liederlichen Frauenzimmer getuschelt. Irgendwie wurden sie aber auch beneidet, um die Freiheiten, die sie sich herausnahmen, aber das durften man ja nicht sagen, dann wären sie in die gleiche Reihe gestellt worden. Es war eine seltsame Stimmung, wenn die Sprache darauf kam und man die - Weiber - verurteilte und eine Mischung von Lust und verbotener Liebe aufkam. Träume, die man nicht verwirklichen konnte, weil man in die Netze von Ehe und Mutterschaft geraten und schon das Wort Lust eine Sünde war, aber Lust hatten sie eigentlich alle, doch sagen durften sie es nicht.
.
“Hüte deine Zunge!” hatte Anna gelernt und sie sprach nicht über die Reden der Frauen, die die Schuhe zum Besohlen brachten. Niemand sollte sagten können: “Frau Grüber hat gesagt!”, doch beobachtete auch sie die Leute und manche Bemerkung, die sie zu Wilhelm machte, wurde von Gerd und Liesi “aufgeschnappt“. Die Beiden bekamen dann “große Ohren”, genau wie Anna, als sie noch ein Kind war. Als sie ihrem Vater viele Fragen stellte. Doch zog auch sie sich aus der Affaire, wenn sie sagte: “Das braucht ihr noch nicht zu wissen! Stellt nicht so dumme Fragen!” Später sagte sie: Man macht leider oft dieselben Fehler, die die Eltern gemacht haben. “Man ist einfach feige und weiß nicht, wie man sich ausdrücken soll.”
Zur Unterhaltung kamen ab und zu “Hofsänger”. Meist ein Mann, der Ziehharmonika, oder ein anderes Instrument spielte. Sie sangen Arien aus Operetten oder Volks- und Karnevalslieder. Die Kinder standen dann staunend dabei und manchmal öffnete sich das eine oder andere Fenster und Kupfermünzen wurden den Sängern zugeworfen, die die Kinder aufsammelten und den Sängern brachten.
Die Frauen zeigten sich dann aber nicht an den Fenstern, denn es könne “böses Blut” geben, wenn die Nachbarinnen merkten, dass man “Geld” zum Fenster hinaus warf. Die “Hofsänger” merkten sich die Plätze, an denen sie etwas bekommen hatten und kamen ein Jahr später wieder.
Es wurde auch gebettelt aber Anna gab kein Geld. Sie gab Brote oder Suppe denn es war bekannt, dass die Bettler das Geld, wenn sie es einmal hatten, sofort in Schnaps
umsetzten. Niemand wusste, dass Alkoholismus eine Suchtkrankheit ist. Liesi hörte einmal, dass Anna sagte: “Den Säufern gebe ich kein Geld!” Die Bettler sahen aber auch schrecklich aus. Schmutzig und mit langen Mänteln schlichen sie herum und sie machten den Kindern Angst. Vor allen Dingen, weil Liesi ja schon das Erlebnis auf dem Rheindamm hatte, aber besonders ängstlich war Liesi nicht. Anna musste sie immer ermahnen, nicht zu waghalsig zu sein.
Trotz der schwierigen, wirtschaftlichen Verhältnisse führten sie im Allgemeinen ein friedliches Leben. In gewisser Weise hatten sie in den paar Jahren doch einiges geschafft, wenn sie auch keine Reichtümer ansammeln konnten und abends wurde immer noch gesungen, oder mit den Kindern gespielt. Anna nähte und strickte viel. Von der Großmutter hatte sie auch das Strümpfe stricken gelernt, aber es musste auch viel gestopft und geflickt werden. Na, du Reißkittel, sagte sie dann zu Gerd, hast du wieder eine fünf in der Hose? Wie hast du das wieder gemacht? Doch Ärger gab es deswegen nicht. Die Jungen müssen sich austoben, sagte sie.
Anna hatte eine Singer - Nähmaschine, auf der einmal im Jahr eine Schneiderin für Anna und Liesi Kleider nähte. Die Kinder freuten sich auf den Besuch, denn wenn Frau Stein kam, gab es Sonntagsessen. Frau Stein war gerne bei Anna, denn sie musste mit ihrem Mann und dem Kind bei der Schwiegermutter wohnen. Die Schwiegermutter mochte die Schwiegertochter nicht. Sie war eifersüchtig auf die junge Frau und der Mann von Frau Stein hatte bei dieser Mutter nichts zu melden.
Der Schneiderin gefiel es nicht, dass ihr Mann zu den “Nazis” ging Sie sagte: “Bei den Nazis fühlt mein Mann sich wohl. Da hat er was zu sagen!” Herr Stein trug schon die braune Nazikleidung und hatte schwarze Schaftstiefel und eine Mütze mit einer Silberkordel. Er war SA-Mitglied. Endlich war er wer und marschierte bei den Aufzügen mit, die die Nazis veranstalteten. Sie sangen: “Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen, SA marschiert in ruhig festem Schritt…..
Anna mochte “den Stein” nicht, aber sie schwieg. Sie sagte: “Wenn ich “DIE” höre und ihre Stiefel auf dem Pflaster knallen, bekomme ich Angst. Wie in der Besatzungszeit, als mich der Franzose auf dem Pferd verfolgte.
Doch noch interessanter für die Kinder war, wenn der Milchmann kam. Er hatte ein Dreirad, von der Marke Hanomag, das seitlich geöffnet werden konnte. Meistens kam er gegen neun Uhr. Dann kamen die Frauen aus den Häusern. Sie hatten Schüsseln oder Krüge dabei, die der Milchmann dann, nachdem er mit einem Aluminiummaß gemessen hatte, füllte.
Alles wurde von Liesi sorgsam registriert und nie vergaß sie die Szene, die sich jeden Wochentag vor ihren Augen abspielte, denn sie hatte ja Ferien..
Der Milchmann hieß BÄTES. Wenn Bätes alle bedient hatte, riefen die Frauen: “Bätes, jetzt schmetter mol eene!” Dann sang er - “La Paloma” - oder - “Gern hab’ ich die Frau’n geküßt, hab’ nicht gefragt, ob es gestattet ist” - und dabei blinzelte er den Frauen ein bisschen zweideutig zu. Er hatte wirklich eine schöne Stimme…
Die Kinder waren begeistert und die Frauen lachten und klatschten Beifall.
“Dat is vielleicht ene kasanowa, sagten sie und wenn sie in ihre Wohnungen zurück gingen, waren sie fröhlicher als zuvor.
Liesi war insgeheim in den Milchmann verliebt. Er war groß und schlank und hatte eine blonde Tolle über der rechten Augenbraue. Doch am schönsten war es, wenn er sang, und seine blauen Augen blitzten. Die Hausfrauen hatten wenig zu lachen und wenig Geld. Immer damit beschäftigt, zu sparen und zu sorgen, dass die Familie zufrieden war und vom “Familienvorstand” und “Ernährer” keine Klagen kamen. Wenn Anna das Wort “Ernährer hörte, wurde sie ärgerlich und sagte: “Ich mache doch meine Arbeit von morgens bis abends und bin kein Kind, das ernährt werden muss. Ohne mich, würde die gesamte Familie verkommen!
Doch wehe, wenn vermutet wurde, dass in der Nachbarschaft eine der verheirateten Frauen einen “Fehltritt” begangen haben sollte! Dann schlugen die Wellen der Empörung hoch. “Sie hat doch so einen fleißigen und arbeitsamen Mann!“, auch wenn der “fleißige Mann” ein ganz fieser Zeitgenosse war. Scheinheilig wurde noch viele Jahre später kolportiert: “Die hat doch damals… auch…!”
Anna sagte empört: “Sie wussten doch, dass ihr Mann ein “Schläger” ist! Trotzdem sagten sie: “Es wird schon seine Gründe haben!” Hämisch wurde darüber gelacht, dass diese untreue Frau grün und blau geschlagen war und niemand hatte Mitleid mit ihr. “Das kommt in den besten Familien vor!“ sagten manche Leute. Dass diese Frau aber angeblich schon öfter die Kellertreppe hinunter gefallen war, wurde geglaubt und weil sie Trost bei einem Menschen gesucht hatte, wurde es sofort als Fehltritt gewertet. In Wirklichkeit war nichts weiter passiert, als dass der Mensch, ein Jugendfreund und Nachbar sie in den Arm genommen und getröstet hatte. Nur, dass jemand DAS g e s e h e n hatte und sich bemüßgt fühlte, das herumerzählen zu müssen.
Es gab viel heimliche Gewalt in manchen Familien aber alles wurde “unter den Teppich gekehrt.“ Wenn so etwas passierte, sind die Frauen immer schuld. (“ Is se sich doch selbs Inschuld“), sagten sie mitleidlos in Düsseldorfer Platt. Da waren sich ein paar der “braven” Hausfrauen einig. “Das kann man sich als verheiratete Frau nicht leisten und als Katholikin schon gar nicht!” Gut, dass nicht alle so so blöd’ reden, sagte Anna. “Es gibt auch nette Leute”, doch einmischen konnte man sich nicht. Dann hätte die arme Frau unter diesem Scheusal noch mehr zu leiden gehabt.
Auch die Kinder in diesen Familien wurden oft geschlagen und die Jungen regelrecht verprügelt, wenn sie nicht aufs Wort gehorchten und immer wurde mit der Erziehungsanstalt gedroht, wenn sie was angestellt hatten. Die Erziehungsanstalt war dann das so genannte Waisenhaus in 0üsseldorf-Heerdt.
Scheidungen kamen nicht in Frage. Das war nur was für die Bessergestellten die Vermögen, oder für Künstler, die nichts zu verlieren hatten. Was “die Künstler” betraf, hatten die Leute eine seltsame Vorstellung von unerlaubtem Beischlaf und “alles durcheinander. Schulden, Hunger Verderbtheit und schmuddelig sind die auch!” Sie leben ohne Trauschein, tuschelten sie und wer weiß was die alles sonst noch treiben mit ihren Modellen! Anna sagte dann: “Viele Künstler sind aber auch verheiratet und haben Kinder. Sie sind nicht alle schlecht!” Dabei dachte sie an Johannas Mann Hugo, den Kirchenmaler, der ein ganz solider und guter Mann gewesen war.
Sie kannten aber keine Künstler außer dem Dieselbach, den mit dem Akt an der Schlafzimmerwand, aber urteilen konnte man ja immerhin. Doch im tiefsten Inneren, war da auch Neid, wegen der unbekümmerten Freiheiten, die sich Künstler erlaubten, wie sie meinten.
Wirklich begabte Kinder wurden davon zurückgehalten ihrem Talent zu folgen, denn Malerei und Schauspiel galt als brotlose Kunst. “Lern’ besser was Ordentliches“, sagten sie, - Heirate! - Setz Kinder in die Welt, damit du im Alter eine Stütze hast”, und sie waren doch oft selbst nicht in der Lage, ihren alten Eltern beizustehen. Sentimental sagte man: “Eine Mutter kann fünf Kinder ernähren, aber fünf Kinder nicht… eine… Mutter“, doch sie selbst drückten sich oft um diese Liebesdienste herum. In der “Guten alten Zeit” hatten die Alten so gut wie nichts, wenn sie nicht gründlich vorgesorgt oder geerbt hatten. In kleinen bäuerlichen Betrieben gingen die “Alten” aufs “Altenteil” und mussten froh sein, wenn ihre Kinder ihnen etwas zu Essen zukommen ließen. Sie hatten überhaupt nichts mehr zu melden, auch wenn sie im Betrieb mithalfen. Anna kannte solche Betriebe aus ihrer Heimat und wusste, wie es den Menschen ging.
Nur Kinder von “Bessergestellten” hatten Klavierunterricht - und - ein Klavier. Da wurde dann Hausmusik gemacht. Manche Neider sagten dazu auch “Katzenkonzert“! “Die mit ihren Blockflöten”, das kann man ja nicht aushalten! In den Schützenvereinen, da wird Musik gemacht, das ist was Richtiges!” sagten sie. Da lernen sie Trompete, Horn, Trommel und andere Instrumente. Dort wird
“M u s i c k” gemacht!”
Wenn dann noch ein guter Leiter da war, waren die Musiker überall gern gesehen. “Auf Kirmes” und “Fastnacht” (Karneval) wurde ordentlich gefeiert. Familie Gartz von gegenüber feierte drei Tage Karneval und sie gingen drei Tage nicht ins Bett. Sie machten sich nichts daraus, wenn die Nachbarn sahen, dass sie ihre Federbetten hinaustrugen um sie ins Pfandhaus zu bringen. Manche verpfändeten wenn das Geld nicht reichte alles, was nur etwas Wert hatte um unbekümmert feiern zu können und “hauten alles auf den Kopf!” Nach Fastnacht wurde nach und nach alles wieder eingelöst bis zum nächsten Jahr.
Notfalls schliefen sie auf dem Sofa oder auf den Matratzen unter ein paar Wolldecken. Für Anna ein Ding der Unmöglichkeit.
Der Alkohol spielte in diesem schwierigen Zeiten eine große Rolle und mancher Arbeiter vertrank am Freitag, wenn er die Lohntüte bekam, den ganzen Wochenlohn und die Frauen mussten im Laden anschreiben lassen und konnten die Miete nicht bezahlen. Dann gab es Krach. Die Frauen mussten still halten.
Wilhelm sagte nicht viel zu solchen Geschichten. War er doch als Junggeselle auch nicht gerade einer der Bravsten gewesen und nun war er ziemlich ausgelaugt durch die viele Arbeit und die schlechten Geschäfte. Er war auch ein paar mal, wenn er vom Ausliefern der Schuhe kam, in einer Kneipe gelandet und hatte, als er nach Hause kam, zuviel getrunken. Das schlechte Gewissen und die Enthemmung durch den Alkohol ließ ihn dann auch laut werden wenn er die vorwurfsvolle Miene von Anna bemerkte, die aber nicht viel sagte, weil sie vor den Kindern keinen Streit hervorrufen wollte und am nächsten Tag tat ihm alles leid.
Die Männer hatten ebenso wenig etwas vom Leben, wie die Frauen und die ständige Sorge um das Einkommen machten sie mit der Zeit mürbe und unduldsam und die Frauen sorgten sich um den Familienfrieden. Annas Prinzipien von “Reden ist Silber…!”, gewährten ihr einen gewissen Frieden, aber nun war sie jedes Mal, wenn Wilhelm unterwegs war, besorgt, ob er pünktlich nach Hause kommen würde. Im Grunde war es gar nicht so schlimm, was er machte, um einmal von seinen Sorgen loszukommen und in besseren Zeiten hätte man es als normal angesehen, wenn er mal mit ein paar Männern ein Bier trank, aber so störte es den Familienfrieden und es fehlte auch das Geld, das Anna verwaltete und das sie wieder etwas einsparen musste, um alles bezahlen zu können. Gerd und Liesi merkten davon nichts. Da war alles friedlich aber in Anna gärte es und auch sie war unzufrieden, wenn sie sich dies auch nicht eingestehen wollte, doch einen offenen Streit gab es nicht.
Eines Tages hörten die Kinder, als die “Fabrikfrauen” von der Arbeit zurückkamen, dass diese von der schlanken Linie sprachen und sie sprachen immer ziemlich laut. Gerd, Liesi und die anderen Kinder standen um sie herum und eine schlanke Frau, bei der die Liebhaber ein- und ausgingen rief: “Kein Problem, schlank zu sein!” Die anderen Frauen, die dabei standen, kreischten laut und zweideutig und dann rief diese Frau: “Die Einen tun es für Geld, und die Anderen für die Figur!” Als Anna, die am Fenster stand, das hörte, ging sie hinaus und sagte: “Frau Danski, das müssen sie nicht vor den Kindern erklären, die sind schon schlank…!”
“Die Frau sagt, sie tun es?”, fragte Gerd. “Was tun die für Geld?” Anna war das peinlich, denn es berührte sie sehr, dass ihre Kinder nun mit Fragen kamen, die ihr in der Kindheit verboten wurden. Sie hatte nie Antworten auf solche Fragen bekommen und nun konnte sie auch nicht antworten. Wilhelm wollte auch nicht darauf eingehen. Er war diesbezüglich genauso feige wie die anderen Väter, die sagten, dass das Aufgabe der Frauen sei. Es hätte einer Aufklärung bedurft, und Männer waren in den meisten Fällen noch weniger bereit als Frauen. Es war ihnen genau so peinlich, über Sexualität zu sprechen, wie es ihren Eltern unangenehm gewesen war. Annas einzige Aufklärung war die Hochzeitsnacht und die Geburt ihrer Kinder.
Durch die Bücher, die sie gelesen hatte, wusste sie nun schon eine Menge mehr, aber dabei drehte es sich ja meistens um erotisches Erleben, aber sie hatte in der Ehe selbst, nicht viel erlebt. Sie erfüllte, wie viele ihrer Geschlechtsgenossinnen, ihre ehelichen Pflichten, aber es brodelte in ihr und sie hätte es so gerne “mit ihm zusammen” erlebt und nicht für sich allein. Sie fragte sich oft, ob die Männer wirklich glaubten, dass nur für sie, die geschlechtliche Vereinigung erstrebenswert sei. Sie wären auch beleidigt gewesen, wenn eine Frau von ihren Defiziten gesprochen hätte. Alle Fragen waren offen und nicht nur bei Anna, denn an den Mienen der Frauen sah man, ob sie glücklich waren in der ehelichen Vereinigung, wenn sie von ihren Männern sprachen. Anna fragte sich: “Was geht in den Köpfen der Männer vor?”
Immer noch war sie der katholischen Kirche sehr verbunden. Sie ging am Sonntag in die Messe und zur Kommunion und vorher zur Beichte, was ihr ja nicht schwer viel, denn sie war anständig und treu. Doch “davon” sagte sie nichts, denn “davon” stand ja auch nichts in den “zehn Geboten” und für die “Kinderverhütung” war Wilhelm zuständig. Da war dann auch nicht viel zu beichten und sie nahm die Sakramente. Doch Frömmelei fand sie verwerflich und sie machte ihre Bemerkungen dazu, wenn sie sah, wie wenig die Leute nach ihren Aussagen lebten.
Noch immer handelte sie nach ihrem alten Wahlspruch: “Man muss das Beste daraus machen”, und sie machte das Beste daraus, denn es herrschte ein fröhlicher Ton im Haus und der Humor kam nicht zu kurz. Es wurde immer noch viel gesungen und noch mehr in Haus und Garten gearbeitet. “Hauptsache ist, dass wir gesund sind!”
In den beiden Straßen waren zwei Lebensmittelgeschäfte. In einem Geschäft gab es neben Lebensmitteln auch Näh- und Stopfgarn, Kopfschmerzpulver, Natron und
Baldrian. Es soll vorgekommen sein, dass bei Nachbarschaftsstreitigkeiten, wenn man einander ärgern wollte, Baldrian in Nachbars Hof versprüht wurde, und die armen Leute dann nächtelang nicht schlafen konnten, weil dann unter großem Gemautze, Fauchen und Schreien, Kater und Katzen dort herumstreunten und miteinander kämpften, und dann, irgendwann, gegen Morgen, total erschöpft, ihrem Naturtrieb erlagen. Davon hatte dann aber auch die gesamte Nachbarschaft etwas, und es wurden Vermutungen angestellt, wer das verschuldet hatte.
Liesi hatte sich an den Schulalltag gewöhnt und war eine mittelmäßige Schülerin, die immer “Flausen” im Kopf hatte, statt intensiv zu lernen, aber es ging so…
Niemals war sie die Beste, wie Anna es früher gewesen war, und mit einem mal war sie besonders fromm. Sie sagte: “Ich werde Nonne, wie Schwester Gertrude!”
“Wie kommst du denn auf die Idee, Nonne werden zu wollen?”, fragte Anna. “Willst du denn nicht auch heiraten und eine Familie haben?”
“Nein,” sagte Liesi, ich will Nonne werden, wie Schwester Gertrudis!”
“Mal sehen, wenn du erst größer bist“, sagte Wilhelm, der dazu gekommen war.
“Alles soll ich nicht dürfen! Nicht Rad fahren, und Nonne darf ich auch nicht werden“
Eine Rad fahrende Nonne ist auch nichts Besonderes,“ sagte Anna.
Gerd rief: “ Beetschwester, Beetschwester!”
Die Geschäfte in der Straße wurden von “Brot Döres” beliefert. Döres war der Kutscher, der mit Pferd und Wagen, der die Geschäfte belieferte, und der bei Wilhelm die Stiefel besohlen ließ. Er lieferte alle Brotsorten, große Laibe Graubrot, Schwarzbrot und Weißbrot. Döres Maaßen war ein sehr freundlicher, kinderlieber Mann, der anbot, Liesi nach Düsseldorf-Heerdt auf dem Kutschbock mitzunehmen und sie bis zum katholischen Kindergarten zu fahren. Dort wurde den Schulkindern ein Ferienangebot gemacht, denn in den Schulferien fuhr niemand in Ferien. Es sei denn, es wären reiche Leute gewesen, die sich erlauben konnten, an die See oder in die Berge zu fahren.
Liesi und Gerd durften drei Wochen zu den Großeltern nach Kleve fahren. Das war eine wunderbare Sache.” Wir fahren in Ferien,” riefen sie und Anna brachte sie hin. Gerd war schon einmal dort gewesen und er erzählte Liesi, was es dort alles zu sehen gab.
Von den Schäferhunden und von den Schweinen und Hühnern und von dem “Plumpsklo” neben dem Schweinestall. Es gab noch immer die Pumpe im Hof, wenn sie auch inzwischen fließendes Wasser hatten. Großmutter Wilhelmine hatte noch immer den “Laden”. Was das Schönste war: Liesis Freundin Ricka durfte mitfahren und die beiden Mädchen schliefen zusammen in Annas früherem Zimmer unter dem Dach. Es gab immer noch nur das Buch vom armen Willibrordus, das Anna so oft gelesen hatte, und nun lasen die beiden Mädchen darin und bedauerten den armen Märthyrer. Die Linden dufteten süß und die Äste ragten fast ins Fenster hinein. Das Haus roch nach allem Möglichen. Nach Dauerwurst und luftgetrocktenetem Schinken, nach dem Laden mit den Lebensmitteln, nach Küchenherd und ein bißchen auch nach Schweinestall. “Je nachdem wie der Wind steht,” sagte Oma.
Liesi erzählte der Oma von dem dem Brotwagen und dass sie auf dem Kutschbock gesessen hatte. Das war ein besonderes Ereignis Anfang der Ferien gewesen. In dem Kindergarten lernte Liesi Schwester Gertrude kennen. Eine junge Nonne, groß und schlank, mit einem zarten Gesicht und wunderschönen blauen Augen. Sie trug sonntags zum Kirchgang eine weiße Haube und ein weißes Kleid. Dazu hatte sie eine lange Kette mit einem Kreuz, die sie um den Hals trug und sie sah aus wie ein Engel oder wie die Mutter Gottes. So rein und gut und sie lächelte Liesi freundlich zu. Bei ihr hatte Liesi das Gefühl, verstanden zu werden. Später hätte sie es als eine Seelenverwandtschaft bezeichnet. So gut und rein wollte Liesi auch sein, und sie betete viel zum lieben Gott und zur Mutter Gottes und zu allen Heiligen.
Doch das Beten in der Schule gefiel ihr überhaupt nicht, und Fräulein Dornseifer war ihr ein Gräuel. Morgens um acht mussten alle neben der Bank stehen und das “Vater Unser” beten. Um zwölf Uhr das Glaubensbekenntnis und bei Schulschluß wurde der “…Engel des Herrn” gebetet und “Großer Gott wir loben dich” gesungen. Außerdem war zweimal in der Woche Schulmesse, um sieben Uhr, da mussten die Kinder schon um sechs Uhr aufstehen aber niemals gingen sie ohne Frühstück fort und nie ohne Pausenbrot. Das ist Ehrensache, sagte Anna, die sowieso immer um fünf Uhr aufstand. Im Winter brannte dann schon der Küchenherd und manchmal waren Eisblumen am Fenster, die, wenn man sie anhauchte, die Scheibe durchsichtig machte und einen Blick in den Garten gewährte.
Vater hatte dann auch schon seinen schwarzen Eisenofen in der Werkstatt angefacht, denn im Keller war es mächtig kalt, wenn der Ofen bei gebrannt war. Ein Brikett wurde abends in nasses Zeitungspapier gewickelt und die Glut konnte man morgens zum Anzünden verwenden.
Der Kindergarten interessierte Liesi nicht so sehr, weil dort, was eigentlich sehr fortschrittlich war, drei Stunden absolute Ruhe zu halten war, um zu Basteln und eine Stunde getobt und geschrieen werden durfte. Das Basteln gefiel ihr gut, aber dieses Geschrei störte Liesi sehr, und sie ging währenddessen zu einer kleinen, dicklichen Frau, die einen Buckel hatte. Sie saß die ganze Zeit auf einem Hocker und stach mit großer Präzision Löcher in Pappe, die für Briefmappen, Uhrenschuhe, oder Buchhüllen zurechtgeschnitten waren. Die glänzende Pappe wurde doppelt gelegt, mit buntem Perlstickgarn umstickt, und später zusammen genäht… Daraus entstand eine sehr schöne, haltbare Briefmappe, im Din-A4- Format, in der eine Menge Briefe oder Postkarten Platz hatten. Die Mappe bekam Anna zu Weihnachten von Liesi. Und Anna nahm sie für Dokumente, wie Familienstammbuch, Ausweise und Zeugnisse.
Der Uhrenschuh, der wie eine Schuhsohle zugeschnitten war, bekam am oberen Ende einen kleinen Haken, an dem die Taschenuhr einen schönen Platz fand. Den
Uhrenschuh schenkte Liesi Onkel Hans, dem Mann aus Posen, der so komisch sprach und so oft Scheiße sagte, und der immer so verschmitzt lachte, wenn Tante Johanna sich darüber aufregte, dass er so fiese Wörter vor den Kindern sagte.
Onkel Hans freute sich sehr über den Uhrenschuh, und sofort schlug er neben der Schlafzimmertüre einen Nagel in die Wand und hängte den Schuh auf, worauf Liesi sehr stolz war, dass ihr Geschenk Anerkennung gefunden hatte, und sie verzieh ihm dann auch für immer das fiese Wort.
“Maria… und … Josef, hölp“, sagte die Tante, genannt der Schümmel und vorwurfsvoll sah sie ihren Mann an. Der lachte nur und fand das alles lustig. Für Liesi war das große Bühne, denn zu Hause durften sie so was nicht sagen.
Der Onkel hatte einen Schnauzbart mit spitzen Enden. Liesi musste immer dahinschauen, weil der Schnurrbart wippte, wenn er sprach. Der Onkel erzählte eine Geschichte von einer Gräfin, die in Posen ein Schloss besaß. Er wohnte in dem Dorf, das zu dem Schloss gehörte und hatte die Gräfin als Kind oft gesehen. Für Liesi klang das so, als wäre Onkel Hans ein Leibeigner der Gräfin gewesen. Sie meinte auch, Onkel Hans habe so etwas mal gesagt. Er behauptete auch, die Gräfin hätte einen Hundekopf gehabt und wäre am ganzen Körper dunkel behaart gewesen, und sie hätte auch einen Bart gehabt. Das hätte er selbst gesehen. Die Tante sagte: ”Das glaube ich nicht, das hast du bestimmt nicht sehen können. Du hast sie bestimmt nicht ohne Kleider gesehen.“ Wobei sie das Wort “nackt” vermied.
Nackt wurde nur negativ verwendet, nämlich wenn von Frauen geredet wurde, die ausgeschnittene Kleider und kurze Röcke trugen. Dann sagten sie: “Die läuft auch halb nackt herum, das liederliche Frauenzimmer!“.
Onkel Hans strunzte immer mit seinen Feldfrüchten die sie in ihrem Schrebergarten hatten. Er sagte dann: “Habe ich geerntet, zwei Zentner Porree und hundert Knollen Sellerie. Zwei Zentner Möhren habe ich eingemietet und mehr noch Kartoffeln im Keller.” Tante Johanna sagte dann mit heller Stimme: “Aber Hans, so viel war das nicht und du sollst nicht lügen, hat unser Herr Jesus gesagt.
Dann sagte er: “Täubchen, du hast keine Ahnung von Mathematik”, und Johanna sah ihn an, als habe er etwas Furchtbares gesagt.
Liesi aß ihr Brot mit Johannisbeermarmelade, die Tante Johanna ganz vorzüglich kochte und fand es sehr spannend, was die beiden erzählten. Anna versuchte dieses Rezept nachzukochen aber neidlos gestand sie, das kann Johanna besser. Es war eine Mischung aus vielen schwarzen Johannisbeeren, Erdbeeren und Rhabarber. Diese Marmelade hatte eine sehr feste Substanz, was Anna nicht gelang.
Brummig sagte Onkel Hans dann: Was weißt du schon von Herrn Jesus? Du bist ja nur protestantisch und ich bin katholisch, wie alle in Posen. Die Katholischen waren zuerst!”
“Ja,“ sagte die Tante, aber du gehst ja nicht mal in die Kirche.“
“Habe ich keine Lust zu beichten,” sagte Onkel Hans, “die Pfaffen wollen immer alles genau wissen! Ha, Ha!”, lachte er.
Zu Hause kam es selten zu solchen Gesprächen, dafür hatten sie es immer mit den Parteien, denn mittlerweile hatte die SA mehr Mitglieder und sie spielten sich als Wichtigtuer auf. Wilhelm sagte: “Die haben sie nicht alle!” Aber man hörte von vielen Übergriffen auf Andersdenkende. Wilhelm ging es nicht gut. Er fühlte sich schlapp und müde, aber er machte weiter. Eines Tages kam Liesi in die Werkstatt und sah, dass Vater ganz krumm ging. Liesi war darüber sehr erschrocken, aber Anna sagte: “Vater hatt einen Hexenschuss. Das wird schon wieder.”
Hexenschuss” ?
Was war das? Eine Hexe auf dem Besen? “Der arme Vater,” sinnierte Liesi.
Doch dann kam ein Telegramm für Anna. Vater Wilhelm war gestorben. Sie hatten Anna verheimlicht, dass der Vater wohl doch eine schlimmere Krankheit hatte, als man ihr beim letzten Besuch gesagt hatte. Sie war unendlich traurig. Sie hatten von inneren Hämorrhoiden gesprochen, aber es muss wohl Darmkrebs gewesen sein. Zu der Zeit noch ein unheilbares Leiden.
“Vater wollte nicht, dass es jemand weiß“, und so konnte Anna von ihrem Vater nicht Abschied nehmen. Sie fuhr alleine nach Kleve, zur Beerdigung, denn die Kinder mussten in die Schule und Wilhelm blieb bei ihnen.
Opa ist tot, hatte Anna gesagt und geweint aber Liesi konnte sich darunter nichts vorstellen aber sie war traurig, dass sie Opa nun nicht mehr wieder sehen würde und dass die Mutter so weinte. Sie zog ihr schwarzes Kleid an und sah ganz verzagt aus, mit der Straßenbahn nach Neuß und von dort mit dem Zug nach Kleve
Gerd raste mit seinen Freunden durch die Gegend. Er war nun elf Jahre und hatte gerade Radfahren gelernt. Das war natürlich schwierig auf einem Herrenfahrrad, das viel zu groß für ihn war, aber er war stolz, dass er nun etwas konnte, was die kleine Schwester, die so gut am Reck war, nicht konnte. Liesi wurmte das sehr aber das ging nun wirklich noch nicht. “Damit musst du noch warten“, hatte Anna gesagt.
Doch Liesi lief, trotzdem es verboten war, mit den Kindern zum Baggerloch. Gerd hatte ihr gezeigt, wo sie mit den Füßen ins Wasser konnte und überließ ihr einen kleinen Tümpel, den er sich gebaut hatte und wo man im klaren Wasser die Kieselsteine sehen konnte. Dort hatte er eine so genannte Frosch-Schule eingerichtet, und herrlich anzusehende, giftgrüne, junge Laubfrösche turnten in dem Wasser herum. Gerd hatte mit Zweigen und kleinen Ästen ein Gitter um diese Kieselsteinprile gebaut und Liesi bekam die Aufgabe, auf diese Frösche aufzupassen, damit sie nicht davon hüpfen konnten. Das gefiel Liesi gut und eine Zeit gelang es ihr, die Frösche in Schach zu halten, indem sie sie immer wieder auf die Äste setzte. Als sie merkte, dass die Frösche keine Lust mehr hatten, immer wieder ins Wasser zu springen, machte sie einen Ausgang und schwupp, waren die Frösche abgetaucht. Doch sie war sehr angetan von diesen schönen Tieren und hat deren Anblick nie vergessen.
Das Kiesbaggerloch barg eine Menge Geheimnisse.
Angler hatten hier noch Gerätschaften der Römer gefunden. Hellebarden und lange Schwerter und einige andere Erinnerungsstücke. Ein Dickicht von Sträuchern, Brombeeren und Himbeeren wuchs um das Baggerloch herum, aber das waren märchenhafte Spielplätze für Abenteuer jeder Art. Die Jungen bauten sich Höhlen darin, doch die Mädchen hatten keinen Zugang. Von alledem wussten die Eltern nichts und hätten sie es gewusst, wäre das alles unterbunden worden. Auch weil es gefährlich war, denn das Baggerloch war sehr tief.
So verging das Jahr und es näherte sich dieWeihnachtszeit mit all’ dem Zauber, den das Fest auf Menschen ausübt. Am ersten Advent ging es los und zuerst fing es in der Kirche an. Lieder wurden feierlicher. Der Organist spielte freudiger und der Pfarrer schimpfte nicht so viel mit den sündigen Gläubigen. Die Gläubigen gingen zur Beichte, denn Weihnachten wollten sie Kommunizieren. Wenn sie das auch im ganzen Jahr nicht taten, Weihnachten und Ostern gingen alle. Manche Katholiken machen auch ihre Sprüche, wie: “Hast Du gesehen ? Minchen Kessel hat auch gebeichtet”, oder “Fritz Breuker war an der Kommunionbank.”. Die so genannten “Betschwestern” wussten alles. Keiner wollte beredet werden und so waren an Weihnachten fast alle “sündenfrei”. Wilhelm, der ja evangelisch war, lachte und sagte: “Die haben auch schon ganz heilige Gesichter!” Vor allen Dingen wurde registriert, wer neue Kleidung trug.
Väter bauten im Keller an irgendwelchen Weihnachtsgeschenken, Mütter wuselten in den Schränken, wenn die Kinder nach Hause kamen und versteckten irgendwelche Handarbeiten. Die Kinder begannen ihre Weihnachtsbilder zu malen und lernten Gedichte auswendig.
Am zweiten Advent begann das Plätzchen backen. Hauptsächlich Spritzgebäck und Ausstecherle. Dabei durften die Kinder helfen.
Jeder bekam einen Klumpen Teig und jeder durfte etwas daraus formen. Das wurde dann so oft begutachtet und wieder verworfen, bis der Teig eine dunkle Färbung angenommen hatte. Zum Schluss kamen immer wieder irgendwelche weckmannartige Gestalten heraus, die dann im Küchenherd-Backofen gebacken wurden. Man musste sehr aufpassen, dass sie nicht anbrannten, weil die Bleche sehr heiß wurden, aber meistens ging es gut.
Ein wunderbarer Duft zog dann durch das Haus und die Kinder bekamen ein paar Plätzchen im Voraus, denn die Plätzchen wurden danach versteckt. Wenn alles fertig gebacken war, wurde eine große Schüssel außen auf die Fensterbank gestellt. Das Christkind oder die Engel würden sie abholen, sagte Mutter, und Wilhelm bestätigte, dass sie am Heiligen Abend zurück gebracht würden. Danach kämen sie auf den Weihnachtsteller.
Gerd und Liesi sahen sich an und lachten, denn alle wussten, dass das Schwindel war und sie wussten, wo die Eltern die Plätzchen versteckten. Sie waren im Einkochkessel und der stand im Keller neben den Einmachgläsern, doch niemals würden sie etwas davon nehmen.
Grundsätzlich bekam Gerd Stabilbaukastenteile und Liesis Puppen, ein Baby und eine Lederpuppe mit echtem langen Haar, bekamen neue Kleider. Anna nähte und strickte für die Kinder und auch für Wilhelm, Pullover und Socken. Für Eisenbahnen und Fahrräder war kein Geld da, doch bekamen die Kinder in jedem Jahr Spiele und Bälle, oder Seile zum “Seilchenspringen.”
Nach Weihnachten erzählten sie, dass Fritzchen Leinert eine Eisenbahn bekommen hätte. Da sagte Wilhelm: “Die Schuhsohlen haben sie aber noch nicht bezahlt!
Das wäre wohl erste Bürgerpflicht gewesen!”
Auch Baukästen aus Holz bekamen sie und einmal auch eine Laubsäge.
Am Tag vor dem Heiligen Abend stellte Wilhelm den Christbaum auf. Es war immer eine Fichte, denn Edeltannen waren sehr teuer. Gerd ging mit, wenn Wilhelm den Baum aussuchte und es war jedes Mal eine Aktion. Dann holte Wilhelm den schweren Dreifuß aus der Werkstatt. Der hatte in der Mitte ein Loch. Da hinein kam der Baumstamm, der nie richtig passte. Anna stand dann mit schräg gelegtem Kopf davor und sagte: “Ein bisschen mehr nach links oder nach rechts…, oder drehen…!” Immer mal wieder stand der Baum schief und es mussten Holzstückchen dazwischen geschlagen werden, dich dann stand er…!
Dann kam der große Augenblick, wo Mutter die Weihnachtskugeln auspackte und immer wieder fielen die Worte: “Pass’ auf, die Kugeln gehen leicht kaputt…”,
Und immer wieder mussten neue Aufhängungen gemacht werden. Mutter sagte: “Die Kugeln sind sehr wertvoll und sehr alt!”
Die Kinder durften mit schmücken und es war in jedem Jahr einer der schönsten Augenblicke, wenn der Vater die Spitze oben drauf setzte. Die Spitze war silbern und rundherum mit vielen kleinen Glöckchen. Kerzen wurden aufgesteckt und im ganzen Haus war Tannenduft, denn auch alle Mieter stellten ihre Bäume auf. Jetzt wurden auch schon mal Weihnachtslieder geprobt und die Kinder sagten sich die Gedichte vor, die sie unterm Weihnachtsbaum aufsagen mussten. Sie fanden das ja blöd, aber Anna bestand darauf, und sie warnte immer wieder vor brennenden Kerzen.
Auch die Mieter warnte sie, denn einmal hatte bei einer jungen Frau, die zwei kleine Kinder hatte, der Christbaum gebrannt. Zum Glück stand noch die kleine Badewanne da und die Frau löschte geistesgegenwärtig mit dem Badewasser, aber danach gab es eine große Überschwemmung und Anna half der Frau, alles aufzuwischen, damit nichts durch die Decke lief.
Mit dem Weihnachtsessen war das auch so eine Sache. Im Hühnerstall hatten sie neben den zehn Hühnern auch drei Kaninchen und eines davon wurde Weihnachten geschlachtet. Es war jedes mal ein Kunststück, die Kinder davon zu überzeugen, dass es nicht “UNSER” Kaninchen war, das dann Weihnachten auf der Platte lag, denn dann hätten sie vielleicht nichts davon gegessen und Liesi hätte geweint. Und ähnlich ging es mit den Hühnern, die Anna ja schon als kleine Küken aufgezogen hatte. Andererseits ließen die Kinder sich beruhigen, weil Anna sagte, die Tiere kämen in einen Zoo in der Stadt, wo die Kinder noch nie lebendige Kaninchen und Hühner gesehen hätten. Dafür hätten sie dann die Braten im Geschäft gekauft.
Gerd, der ja älter war als Liesi sagte: “Ob Mutter auch beichtet wenn sie lügt?” Liesi war auch im Zweifel, aber letztendlich schob sie das bei Seite, denn auch sie freute sich auf den Kaninchenbraten. Da wollte sie schon lieber glauben, was die Mutter sagte.
Widerwillig musste Gerd das Gedicht: “Über der Hütte weht der Wind, wo Josef und Maria sind!“ vortragen und Liesi: “Markt und Straßen stehn verlassen, still erleuchtet jedes Haus…!”
Die Kinder wussten ja, das nicht das Christkind selbst kam und trotzdem genossen sie es, wenn sie abends in ihren Betten lagen, dass die Eltern geheimnisvoll mit Papier raschelten, leise miteinander sprachen und alles vorbereiteten. Sie hofften, dass sie etwas Schönes zu Weihnachten bekommen würden, aber sie wussten ja, dass die Eltern nicht mit Reichtümern gesegnet waren, und dass Vater viel und schwer arbeiten musste und Mutter plagte sich mit dem Haushalt, der Wäsche und mit dem Garten ab und pflegte die Hühner. Unentwegt sorgte sie für die Familie und nie war ihr etwas zu viel.
Aber am Schönsten war der glitzernde Baum und alles war so anders, als im Alltag. Sie hatten Weihnachtsferien und brauchten nicht in die Schule.
Am Nachmittag zogen sich alle um, und trugen ihre Sonntagskleider. Vater zog sich als Letzter um, denn zuvor musste er sich mit dem Rasiermesser rasieren, was immer eine besondere Aktion war, denn dann baute er seine Rasierutensilien auf. Rasierspiegel, Rasierseife, Pinsel, Handtücher und einen Alaunstein. Mutter sagte: “Liesi, faß nicht das Messer an, es ist sehr scharf.
Liesi sah zu, wie sich das Gesicht des Vaters mit dickem, weißem Schaum bedeckte, den er vorher mit dem Pinsel in einer kleinen Schüssel geschlagen hatte. Dann zog er mit dem Messer lange Bahnen bis zum Hals, und das Gesicht wurde immer weiter freigelegt. Er musste aufpassen, dass er sich nicht schnitt und Liesi sah ihm dabei zu. Wenn doch ein kleiner Kratzer entstand, tupfte er mit dem Alaunstein über die Stelle, um das Blut zu stillen. Liesi fand das immer wieder interessant.
Mutter hatte ihr schönes, schwarzes Kleid an und dann, endlich begann das Weihnachtsfest. Zuerst wurden alle Weihnachtslieder gesungen und Alle, auch die Eltern hatten einen “bunten Teller.“ Darauf waren blanke, rote Äpfel und Erd- und Walnüsse, Bon Bons, Plätzchen, Schokoladengeld, eine Apfelsine, Marzipankartoffeln und obenauf eine große Tafel Schokolade.
Ganze Tafeln gab es das ganze Jahr nicht. Wenn überhaupt, wurde eine Tafel aufgeteilt. Anna und Wilhelm tranken eine Flasche Moselwein und dazu holte Anna die Treveresgläser aus dem Schrank, die sonst selten gebraucht wurden, denn Wilhelm trank nur samstags eine Flasche Bier. Die passte zum Hackfleisch. Anna trank nur zu besonderen Gelegenheiten Alkohol und sie rauchte auch nicht. Einmal hatte sie an einer Zigarette gezogen und gleich einen Hustenanfall bekommen. “Wie kann man nur rauchen?” sagte sie, aber Wilhelm rauchte Pfeife und an Feiertagen eine Zigarre. Manche Männer rauchten auch Zigarillos, die aus Österreich oder Bayern kamen. Sie hatten eine Art Strohhalm als Mundstück und sie waren nicht gerade, wie sonstige Zigarren. “Die “krummen Hunde” sind sehr stark“, sagte Wilhelm, “ und sie kratzen im Hals.”
Die Weihnachtstage waren die schönsten Tage im ganzen Jahr und immer dachten sie daran zurück, wenn einmal schlechte Tage kamen.
Sylvester machte Wilhelm Brezeln aus Hefeteig und es wurden Muzen gebacken.
Das war ein Hefeteig mit Rosinen oder Korinthen. Sie wurden mit einem Löffel abgestochen und in kochendheißem Fett herausgebacken, in feinem Zucker gewälzt und zum Kaffee gegessen.
Feuerwerk gab es nur selten in den großen Städten, aber da kamen die kleinen Leute, die auf dem Land wohnten, nicht hin. Davon lasen sie nur in den Zeitungen, oder sahen, wenn sie ins Kino gehen konnten, die “Wochenchau.”
Doch Blei gießen, das war eine bekannte Beschäftigung an Sylvester. Da gab es dann das “große Rätselraten”, was sie wohl im nächsten Jahr erleben würden.
Anna bereitete Sylvester eine Bowle mit eingekochten Erdbeeren oder Pfirsichen und Weißwein. Dann durften auch die Kinder mal “nippen”. Sie hielten es immer noch mit dem “Opjesetzten” wie in Kleve. (Schwarze Johannisbeeren und Doppelkorn), oder “Schmittmannkorn”. Es wurde auch Stachelbeerwein angesetzt, und hier und da holte man ein paar Flaschen Bier, wenn es was zu Feiern gab, aber das war nicht an jeden Tag.
Schon war wieder Sommer. Liesi war sieben Jahre alt und Gerd war elf. Es hatte sich nicht viel geändert seit dem letzten Jahr. Das Baggerloch hatte seine Anziehungskraft nicht verloren, Sie spielten immer noch hier in dem Dickicht von Pflanzen und Bäumen. Ein Eldorado für Kinder mit Fantasie.
In dem Baggerloch gab es viele Fische und einmal hatte der alte Anton Dahle, so nannten sie ihn, einen Riesenhecht gefangen. Das stand sogar in der Zeitung. “Anglerglück” ,sagten die Leute mit etwas Neid und rechneten die Personenzahl aus, die an der Mahlzeit teilnehmen konnten.
Die “alten Dahles” hatten zwei Töchter, mit denen Liesi befreundet war. Sie spielten zusammen in der Sandgrube am Gaskessel, aber es regnete und da besuchte Liesi die Kinder zu Hause.
Anton Dahle und seine hutzelige, kleine Frau hatten eine ziemlich große Dachzimmerwohnung. Liesi sah die kahlen weißen Wände. An diesen Wänden hatte Herr Dahle die Lanzen und andere Fundsachen aus den Höhlen am Baggerloch angebracht. Das sah sehr ungewöhnlich aus und Liesi sagte später zu Anna:
“Ich glaube, die Dahles sind sehr arm.”
“Wieso?” fragte Anna.
“Ja“, sagte Liesi, “die haben gar keine Tapeten an den Wänden und alles nur weiß gestrichen, wie in unserem Hühnerstall und in der Waschküche.”
“Ich hab’ das ja nicht gesehen“, meinte Anna, “aber vielleicht passen Tapeten nicht gut zu diesen Mordwerkzeugen, die die Römer am Baggerloch vergessen haben!“
“Was haben die Römer denn da am Baggerloch gemacht, Mutter?”
“Ja, da war Krieg und die Römer haben gewonnen und haben alles besetzt.“
“Ach, das ist dann so was, wie Länder abstecken” sagte Liesi.
“Was soll das sein?” fragte Anna.
“Ja, das ist, wenn es Krieg gibt. Dann bekommen die, die gesiegt haben, ein Stück Land von denen, die verloren haben“, sagte Liesi…
“Die armen Leute“, sagte Anna, “die bei den Verlierern sind!”
“Ja“, sagte Liesi, “aber die Jungens haben gesagt, “das holen wir wieder zurück und stecken wieder was für uns ab!”
“Ein komisches Spiel“, sagte Anna.
“Ja, aber spannend“, sagt Liesi abschließend, weil sie stolz war, dass die großen Jungen sie haben mitspielen lassen, obwohl sie nur ein Mädchen war.
“geh’ nur wieder spielen”, sagte Anna “und komm zeitig nach Hause, denn es gibt heute Reibekuchen“. Doch einige Minuten später erschien Liesi wieder aufgeregt bei Anna und sagte: “Mutter, bei Dahles vor der Türe stehen komische Polizisten. Sie haben ein Gewehr und der Mann von Frau Stein versperrt die Haustüre. Er hat die Beine ganz breit gestellt und hat das Gewehr in den Händen und drinnen, auf der Treppe, sind sie ganz laut am schreien…!
Anna lief mit hinaus und es standen schon einige Leute an der Ecke. Alle redeten durcheinander und es hörte sich an, als hätten sie Streit.
Als Anna den Stein sah, dachte sie gleich an den verlorenen Krieg von 1918 und an den französischen Besatzungssoldaten, der sie in Kleve vom Trottoir gestoßen hatte. Stein trug die SA - Uniform und hatte blanke, schwarze Stiefel an. Ein Koppel mit Totenkopf und über der Schulter einen Lederriemen. Dazu eine Mütze mit Schirm. Anna fragte,: “Was ist denn hier los?”
Einer der arbeitslosen Männer, die dort herum standen sagte: “Es geht ja auch nicht, dass der Dahle Waffen versteckt. Waffen müssen abgegeben werden.
Da haben die SA-Leute Recht! Die sorgen für Ordnung!”
“Ja“, sagte Anna, “aber das sind doch Waffen, die die Römer dort liegen ließen und bisher hat sich auch keiner darum gekümmert. Wie kann man denn die armen Leute so quälen ?”
“Ja“, aber das ist Staatseigentum“, sagte der Mann gleich wütend. Da kann ja jeder kommen und alles mitnehmen. Vielleicht wollen sie noch Geschäfte damit machen!
Die sollte man einen Kopf kürzer machen! Gut, dass die Nazis hier Ordnung schaffen!”
Anna sah’ Liesi an und sagte: “Komm, wir gehen nach Hause, das ist nichts für Kinder.” Doch da kamen zwei Andere in Uniform und trugen die so genannten Waffen heraus. Stein trat zur Seite und tat streng dienstlich. Anna nahm Liesi an die Hand und sie gingen, aber sie sahen noch, wie sie den “alten Dahle” wegführten.
Das war das erste Mal, dass Liesi so etwas sah. Und Anna, ja, sie war sehr traurig und sagte zu Wilhelm: “Wie können Die so was machen? Dahles sind doch so nette Leute und haben niemandem etwas getan!” Wilhelm sagte nicht viel dazu, denn es ging ihm in letzter Zeit nicht gut. Er fühlte sich schlapp und müde. Er sagte nur: “Die Nazis sind jetzt am Ruder und seit dreiunddreißig machen sie, was sie wollen. Sie haben das ärgste Pack um sich versammelt und denen muss ich auch noch die Schuhe flicken. Bezahlen tun sie auch nicht. So sind sie, die Nazis…!”
Ein paar Tage später kam Gerd nach Hause und sprach von einer Autokolonne, die durch das Kommunistenviertel gefahren sei, und Adolf Hitler hätte im offenen Auto gestanden und die Hand zum Gruß gehoben. Ein paar Autos wären hinter ihm her gefahren und hätten mit ihren Gewehren auf die Fenster der Häuser gezielt.
Sie hätten alle Uniformen getragen und gesungen. Was sie gesungen haben, könne er nicht sagen. Die Fenster wären alle geschlossen gewesen und es hätte sich keiner gezeigt. Liesi nickte,, denn sie hatte auch die Hitlerkolonne gesehen aber das durfte sie nicht sagen. Seit der “Rheindammgeschichte“, mit dem Massenmörder Kürten, war ihr verboten worden, die Straße zu verlassen. Gerd hatte sie gesehen aber er verriet sie nicht.
Auf dem Nikolaus Knopp Platz in Heerdt war ein Zeitungsständer angebracht.
Hinter Glas konnte man den “Stürmer” eine Nazizeitschrift lesen. Anna hatte beim Metzger eingekauft und war auf dem Heimweg. Sie sah’ den Ständer mit den aufgeschlagenen Blättern. Es war übelste Judenhetze, die dort betrieben wurde. Ein jüdischer Mann, mit einer großen, krummen Nase saß auf einem Stuhl und ließ sich eine nackte deutsche Frau vorführen, auf deren Brust seine Hand ruhte. Es war eine Karrikatur übelster Art. Anna war empört und zog Liesi, die bei ihr war, zurück, und sagte: “Das ist nichts für Kinder!”
Liesi, die jeden Tag auf dem Weg zur Schule daran vorbei ging und schon oft in den Kasten geschaut hatte sagte: “Mutter, da ist jede Woche so eine Zeitung drin und auch Bilder! Unser Rektor Schmitz hat gesagt: “Seht euch an, was diese Schweine mit deutschen Frauen machen!” Mutter, frag’ mal den Gerd, der liest das auch immer wenn er dran vorbei kommt, und die anderen Jungens sind immer am lachen, wenn sie das sehen! Nackte Weiber, sagten sie, denn den Sinn hatten sie wohl nicht verstanden.
Rektor Schmitz hat in der Schule immer eine braune Uniform an und am Ärmel eine Binde mit einem Hakenkreuz, sagte Gerd und wir müssen, wenn er Unterricht gibt, mit “Heil Hitler” grüßen.
Bei ihm müssen wir singen: “Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen, SA marschiert, mit ruhig festem Schritt, Kameraden die Rot - Front und Reaktion erschossen, marschier‘n im Geiste mit!”
“Auch die Kleinen“? fragte Anna.
“Ja, wir auch und die Jungen sowieso!”
Liesi war froh, dass Gerd ihr nicht übel genommen hatte, dass sie die Frösche hatte schwimmen lassen. Die Jungen von elf und zwölf Jahren sagten immer, dass sie mit den “Weibern” nichts zu tun haben wollten. Überhaupt spielte sie lieber mit den Jungen. Sie hatte nicht viel Lust auf Puppenmutter und wollte lieber im Sand graben und Wohnungen bauen, oder in einer alten Blechdose Sand mit Wasser vermengen und rühren, bis der Kuchenteig ganz sämig ist, so wie Mutter es macht, wenn sie für sonntags Kuchen backt.
Mit dabei ist ihre Freundin Ricka, die auch schon mit in Kleve war. Ein dunkelhaariges Mädchen, zwei Monate älter als Liesi, mit einer hellen Stimme und wunderschönen, dunkelbraunen Augen, mit goldnen Pünktchen drin.. Ein Mädchen, das in den nächsten Jahren für Liesi eine große Rolle spielen würde. Ricka hatte kurz geschnittene Haare und nicht Zöpfe, wie Liesi. Anna legte viel Wert auf die Zöpfe, aber Liesi hasste es, wenn ihre naturkrausen Haare gekämmt werden mussten. Jeden Morgen dasselbe Geschrei, wenn Anna sie kämmte und die Zöpfe flocht. Liesi hatte sehr schönes, blondes Haar und Anna sagte: “So kräftig und schön waren meine Haare auch, nur dunkler.
Die Oma in Kleve hatte auch ihre Last mit dem Haare kämmen gehabt, aber auch sie sagte: “Zöpfe sind gut für ein Mädchen” und Liesi schaute neidvoll zu Ricka, die diese Prozedur nicht über sich ergehen lassen musste.
Aus den Zeitungen erfuhr man, dass Adolf Hitler nun “am Ruder” war und “fest im Sattel” säße. Viele Menschen versprachen sich eine Besserung der Zustände, denn schlimmer konnte es wirtschaftlich ja auch nicht kommen. Die einfachen Leute waren des Elends und der Arbeitslosigkeit so müde. Es wurde und wurde nicht besser. Zu lange dauerten die Kämpfe um die Macht und immer noch waren sie, die kleinen Leute, diejenigen, die zuschauen mussten. Sie konnten sich rein gar nichts leisten.
Die arbeitslosen Männer standen an den Straßenecken. Manchmal schickten sie die Kinder in den nächsten Laden. Dort gab es Zigaretten zu kaufen. “Drei Eckstein” für zehn Pfennige. Sie schämten sich selbst zu gehen, weil die Kaufleute sie kannten und ihre Frauen schon Lebensmittel auf “Pump” kaufen mussten. Diese Zigaretten teilten sie sich noch. Jeder “eine”.
Für zehn Pfennige konnte man aber auch drei Brötchen kaufen. Wenn andere das gesehen hatten, sagten sie: “Die qualmen Zigaretten und die Frauen wissen nicht, wie sie ihre Kinder ernähren sollen!” So hatten die Nazis mit ihren Versprechungen freies Spiel, denn den Menschen war es nachher egal, von wem sie etwas bekamen, wenn es nur besser werden würde. Sie waren es einfach leid, immer zusehen zu müssen und von Politik verstanden sie sowieso nicht viel. So setzte sich mit der Zeit ein Regelwerk zusammen.
Die Menschen wurden beeinflusst und verwaltet. Wer sich irgendwelchen Anordnungen widersetzte, oder nicht mitmachen wollte, wurde drangsaliert. Das fing ganz unten an, denn da kamen nun die zum Zuge, die vorher gar nichts waren und nun plötzlich etwas zu sagen hatten. Andersdenkende wurden zusammengeschlagen, und in den Schulen lernte man Kampflieder.
Es gab aber auch “Schulspeisung”. Das war Milch für bedürftige Kinder und “Külesse” Eine Art Brötchen mit Rosinen aus Hefeteig. Das fand natürlich Anerkennung bei den Eltern. Als dann mit großer Propaganda die Autobahn geplant wurde, waren alle Arbeitslosen des Lobes voll. “Endlich“, sagten sie, “endlich wird es wieder Arbeit geben. Das hat “der Hitler” ja auch versprochen. “Der hält Wort” sagten die SA-Leute. “Jetzt geht es wieder aufwärts.”
Es entstanden Jungvolk-Gruppen, wo die Jungen bis vierzehn zusammen geführt wurden und die größeren wurden Hitlerjungen, (Die HJ). Die Mädchen gingen zum BDM (Bund Deutscher Mädel). Alles war freiwillig und viele fanden dort Gruppen, in die sie sich integrieren konnten. Stolz sagten sie: “Wir gehen zum Dienst!“ Die Haare der Jungen wurden messerscharf gescheitelt. Kleidung wurde verteilt und manchmal auch Schuhe oder Stiefel. Die Jugendlichen sahen “adrett” aus, und die Mütter freuten sich, dass die Kinder nicht herumstreunten. Das war der Anfang!
Hitler wurde gelobt und man hörte begierig, was der Führer verkündete.
“Zum Dienst…“, trugen alle , auch die Mädchen, Uniformen und nun wurde auch hier wieder marschiert, und es wurden Soldatenlieder gesungen. Man war wieder wer!
Hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder und flink wie die Windhunde sollten die Jungen sein und die Mädchen sollten später gute Mütter werden, so brüllte Hitler bei einer seiner Kampfreden, und Rector Schmitz schmetterte diese Worte vom Pult aus in die Klasse. Die Jungen waren natürlich stolz, dass sie so viel Aufmerksamkeit bekamen und ihnen schwoll der Kamm…, vor lauter Wichtigkeit. Beim Marschieren sangen sie mit stolz geschwellter Brust: “O, du schöner Westerwald, über deine Höhen pfeift der Wind so kalt… und ihre Nagelschuhe knallten laut auf dem Pflaster.
Den Jungen wurde so schon rechtzeitig ihre Wichtigkeit als Mann, und späterer Held beigebracht.
Die Blut- und Bodentheorie fand gut vorbereiteten Boden. Warnungen derer, die den ersten Weltkrieg mitgemacht hatten, wurden in den Wind geschlagen. “Ein Volk steht auf!” wurde geschrieen, und… , “Schluss mit dem Schandvertrag von Versaille!” Sie sangen: “Deutch ist die Saar, Deutsch immerdar…!”
Die Mädchen und Frauen hatten nicht viel zu sagen. Die einfachen Frauen trugen immer noch den “Deutschen Haarknoten” und und Kopftücher. Sie waren treue, ehrliche Hausfrauen und Hausmütterchen… “Dem Manne untertan…!”
Von “Gleichberechtigung” war in den Jahren zwischen der “Machtergreifung” bis in die späten fünfziger Jahre keine Rede, und die Frauen logen sich selbst etwas in die Tasche, wenn sie sagten: “ Gut, dass die Nazis uns nun auch mehr Rechte einräumen!”
Doch Etliche, die politisch nicht bei Seite stehen, und bei den Nazis mitmischen wollten, traten der neu gegründeten NS - Frauenschaft , von den Jugendlichen respektlos “Krampfadergechwader”…, genannt, bei.
Anna sagte: “ Die werden gar nicht ernst genommen und sie haben überhaupt nichts zu sagen, da kriegen mich keine zehn Pferde hin! Da pflanz’ ich lieber meine Kartoffeln im Garten!”
Die Frauen hatten im Allgemeinen fast noch weniger Mitsprache, als “unterm Kaiser“. Ihnen wurde das “Mutterkreuz” versprochen, wenn sie mindestens vier Kinder auf die Welt bringen würden. Frauen, die nicht mehr im gebärfähigen Alter waren, hatten nicht viel zu melden, Witwen und ledige Frauen auch nicht.
Wenn Wahlen waren sagten die Männer stolz: “Meine Frau wählt, was ich wähle! Wäre ja noch schöner, wenn sie gegen mich wäre!”
Es herrschte Wählpflicht. Die SA- und Parteimitglieder passten genau auf, wer zur Wahl ging und am liebsten wären sie m mit in die Wahlkabinen gegangen und hätten den Leuten die Hand geführt.
Leute, die früher in der KPD waren, wurden besonders beobachtet und die vom Zentrum auch. In der näheren Umgebung wohnten keine Juden, so konnte man nicht beobachten, wie die Nazis sich ihnen gegenüber verhielten aber es wurde erzählt, dass in den großen Städten so genannte “Säuberungsaktionen” statt fanden. Doch etwas Genaues konnte man nicht erfahren.
Wilhelm sagte: “Gerade haben wir es fertig gebracht, weniger Kinder in die Welt zu setzen und nur so viele, wie man ernähren kann und nun wird man geadelt, wenn man kinderreich ist! Hätten wir nicht gerade den ganzen Kriegs- und
Währunsschlsamassel hinter uns, würde ich sagen: “ Die brauchen Kanonenfutter!”
“Mund halten” sagte Anna, als sie das hörte.
Ein Eintrag in Liesis Poesiealbum lautete:
Zum Andenken
Deutsche Freiheit deutscher Gott,
Deutscher Glaube, ohne Spott,
Deutscher Harz und deutscher Stahl,
Sind vier Helden allzumal.
Dies schrieb Dir zum Andenken Anneliese Liebermann.
“Quatsch!“, sagte Anna, “das hat doch gar keinen Sinn!”, da sind mir die frommen Sprüche von Oma Grüber doch noch lieber.
Wilhelms Mutter, die fromme Protestantin hatte Anna den Spruch ins Album geschrieben:
Wenn Deine Seele ist voll Leid,
Dein Herz zu Tod betrübt,
Verzage nicht, es kommt die Zeit,
Wo neues Leben blüht.
Doch suche Trost nicht im Gewühl
Kehr ein ins eigne Herz,
Kein Mensch versteht ja das Gefühl,
Kein Mensch kennt Deinen Schmerz.
Und schreist Du’s in die Welt hinaus
Und weinst die Augen blind,
Sie tragen’s nur von Haus zu Haus,
Weist ja wie Menschen sind.
Geh’ einsam in die Kirch hinein,
Wo stille Andacht Dich umgibt,
Dem ewigen Gott vertrau allein,
Was Deine Seele drückt.
Er wird Dir Mut und Kraft verleihn,
Zu tragen Deinen Schmerz.
Der Liebe Gott versteht allein,
Ein armes Menschenherz.
Jetzt, da Wilhelm wegen eines Bandscheibenvorfalls nicht arbeiten konnte, verließ Anna, die sonst doch immer so hoffnungsvoll war, der Mut. Jetzt fand sie diesen Eintrag in ihr Album gar nicht mehr so rückständig. Jetzt fand sie ein bisschen Trost in diesem dürren Zeilen. Sie dachte, wenn Wilhelms Mutter solche Sprüche aufgeschrieben hat, war ihr Leben sicher nicht so einfach, wie es immer dargestellt wurde. In Gedanken sah sie die sehr klein gewordene Siebenundachtzigjährige in ihrem hohen Lehnsessel, in einem bis zum Boden reichenden, schwarzen Kleid, und schwarzem Spitzenhäubchen am Fenster sitzen, Sie erinnerte sich, dass ihr ein weißes Taschentuch herunter gefallen war.
Anna hatte Liesi aufgefordert, das Tuch aufzuheben, was das Kind auch tat und die unbekannte Oma, Liesi hatte sie erst einmal gesehen, sagte im Dialekt und leise: “Dat is äwer e leev Kenk…!”
(Das ist aber ein liebes Kind) Liesi hatte das nie vergessen.
Wichtigtuerei von kleinen Nazis, Kirmesfreuden, lang’ gespart.
Und das Leben geht weiter
Dem dreizehnjährigen Gerd war das alles egal. Er las Terra X und Karl May. Er war eigentlich gar kein “Draufgänger”, wie viele seiner Mitschüler, die beweisen wollten, dass sie “richtige Hitlerjungen” waren und er wollte auch nicht zum Jungvolk, aber er ging in den “Turnverein Jahn” und machte Leichtathletik. Ziemlich still und etwas verschlossen beschäftigte er sich mit Malerei. Er liebte Tiere und er handwerkte gerne. So goss er in Vaters Werkstatt auf der Herdplatte Bleisoldaten, die er später anmalte. Liesi leistete ihm manchmal Gesellschaft und fand seine Arbeit interessant, aber Anna meinte, sie sollten doch lieber an die “frische Luft” gehen “
Ich glaube Blei ist giftig!”, sagte sie, und Wilhelm sagte: “Blei war schon immer giftig und…, tödlich…!” In seinem Bein steckte noch ein Geschoßteil aus dem zweiten Weltkrieg. Es war verkapselt, aber wegen dieser und einer anderen Verwundung hatte er im Lazarett gelegen.
Heimlich goss Liesi dann auch mal “Blei” aber als Gerd das bemerkte, wurde er fuchsteufelswild. Willst du dich verbrennen?, schrie er, ich sag’s Mutter, aber das tat er dann doch nicht, denn “Antragen” mochte Anna nicht und das wusste Gerd.
Liesi tat es dann aber auch nicht mehr, denn das war ja seine Sache und diese Dinge wollte er für sich alleine haben, wie Liesi ihre Turnstange.
Unter den “Wilden” war Gerd nicht gerne, wie er sagte. So lief er mit den anderen Jungen viel am Rhein entlang und im Sommer gingen sie nach den Schularbeiten zum Schwimmen. Er las gerne, aber in der Schule waren die Rabauken angesehener als die Stillen und Gerd hatte nicht viel Freunde. Die “Hitlerjungen” hatten das Wort.
Anna verlangte von den Kindern keine Mitarbeit. “Sie werden im Leben noch sehr viel leisten müssen“, sagte sie. “Sie sollen wenigstens eine schöne Kindheit haben.”
Eines Tages kam Gerd aufgeregt nach Hause und erzählte, dass sein Klassenlehrer, er hieß Hansen, die Kinder mit einem Seil schlug, in dem Knoten waren. Er war im Krieg 14/18 bei der Marine gewesen und dort wurde er selbst in dieser Weise gestraft, sagte er. Hansen war ein kleiner, schmächtiger Mann, aber grausam zu den Kindern. Wer weiß, was man mit ihm bei der Marine gemacht hatte, dass er sich nun an Kindern rächte.
Gerd war empört. Er sagte: “Bei der geringsten Kleinigkeit wird der wild und dann muss der Junge, der gerade drankommt, sich über die Bank legen und der schlägt dann zu. Mit dem Seil, immer wieder, bis derjenige schreit:” Das erinnerte Anna an ihre Schulzeit und an den toten Lehrer.
Sie sagte: “Nicht, dass der auch mal hinter den Kirmesbuden gefunden wird!”
Bei solchen Gelegenheiten kam immer der Spruch: “Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht!”
Gerd erzählte am nächsten Tag, dass die Mutter des Jungen, eine Bäuerin von beträchtlichem Umfang, mit Schürze, in die Klasse gestürmt sei und im breitesten Düsseldorfer Platt geschrieen hätte: “Männeken, wenn du noch emol mine Jong verprüjelst, beste nächste Woch’ doot.” Alle hatten das gehört und Schulleiter Schmitz, der immer in SA-Uniform Unterricht erteilte, aber mit dem Bauern Schmidt Skat spielte, war auf der Seite der Bäuerin und ließ den prügelnden Lehrer in eine andere Schule versetzen, was alle wunderbar fanden.
Rektor Schmitz schrieb Liesi ins Poesiealbum
“Du bist nichts, dein Volk ist alles!“ Schmitz Rektor Mit Hakenkreuzstempel.
“Das ist aber ein schöner Spruch!”, sagte Wilhelm höhnisch.
Der Auftritt der Bäuerin in der Schule trug Früchte. Lehrer Hansen war weg!
Das brachte den Nazis wieder ein paar neue Mitglieder, denn sie fanden, dass nur die Nazis diese Gerechtigkeit ausüben konnten. Die Schüler, in dem neuen Betätigungsort von Lehrer Hansen, interessierten sie nicht. Da konnte er dann weiter prügeln. “Sollen sie sich doch selber wehren“, sagten sie.
Die Nazis mischten sich vorerst nicht in die kirchlichen Belange, denn die Kirchen sorgten dafür, dass die Bürger “brave” Christen blieben, und Gehorsamkeit war sowieso angesagt (bei den Staatsbbürgern). Sie ließen auch die Pfarrer in Ruhe, wenn sie ihre Pläne nicht durchkreuzten und sie nicht kritisierten.
Wehe aber, wenn ein Pfarrer die Maßnahmen der Nazis, nicht gut hieß. Ein Pfarrer hatte in der Heerdter Kirche von der Kanzel, die Moral der Gläubigen in Frage gestellt, und übte Kritik an einigen Verordnungen der Nazis, ohne Namen zu nennen, aber alle wussten, wer gemeint war.
Das brachte ihm einen Aufenthalt in einem Keller ein, in dem auch später Künstler, aus dem Kreis “Junges Rheinland”, gefoltert wurden. Der Pfarrer muss sehr gelitten haben, denn nie mehr hörte man von ihm auch nur die geringste Kritik, als er aus dem “Urlaub” zurück kam. Er blieb noch Pfarrer in dieser Gemeinde bis nach dem zweiten Weltkrieg.
Im September war Kirmes und dann wurde die ganze Straße geschmückt. Die Frauen flochten aus Tannengrün Girlanden. Birkenstöcke säumten die Straßen und wenn auf der Straße einer der Schützen den…Vogel…abgeschossen hatte und Schützenkönig war, dann war alles wunderbar. Es wurde aber darauf geachtet, dass überall, aus jedem Fenster eine Hakenkreuzfahne gehisst wurde.
Liesi war dann bei Ricka. Sie lagen im Fenster und schauten auf die Straße hinunter. Dann spielten die Schützenkapellen und mit Rumtata wurde gefeiert. Wenn der Schützenzug kam, standen alle auf der Straße und sahen zu. Dann wurde ein “Schieber” oder ein Walzer gespielt und die Schützen holten die Frauen, die auf dem Bürgersteig standen, zum Tanzen. Das Haus, in dem der Schützenkönig wohnte, war mit Girlanden und weißen Papierrosen geschmückt. Manchmal gab es auch ein Jungschützenpaar und es wurde gerätselt, welche Kleider die Königinnen und die Hofdamen bei der Parade tragen würden.
Die Schützen und die Musiker bekamen alle was zu Trinken. Bier oder Schnäpskes…! Es wurde gelacht und gesungen.
Für ein paar Stunden waren dann die Sorgen vergessen und auch die “Miesmacher” lachten einander zu. Sogar die von der SA schunkelten mit.
Einmal war ein ganz besonderer Trompetenspieler dabei, der ganz alleine “Die Post im Walde” spielte und alle waren gerührt über das schöne Spiel. Sogar Rickas Vater, der als ganz besonders gebildet galt, sagte: “Das ist ein außergewöhnlicher Musiker, aus dem wird noch mal was!”
Wilhelm ging es nicht gut. Er wollte es nicht wahr haben, dass er eine Geschwulst am Hals hatte. Eiförmig und fingerstark ließ sie sich hin- und herschieben. “Was mag das sein?” rätselten sie. Anna sagte: “Wilhelm, du musst zum Arzt gehen. Da stimmt was nicht.” Aber Wilhelm meinte: “Ich bin nicht krank! Das geht schon
wieder vorüber.“ Er war fünfundvierzig Jahre alt und kräftig gebaut. “Zum Kranksein hab’ ich keine… Zeit…”, sagte er…
Doch im März 1934 zog er seinen guten Anzug an, setzte die graue Melone auf und schlang den Schal um den Hals, denn er glaubte immer noch, dass er eine Mandelentzündung hätte, die er nun endlich auskurieren müsse. Doch er hatte nicht die Symptome einer Erkältungskrankheit und er ahnte auch, dass es etwas Schlimmeres war. Bei der Untersuchung erfuhr er, dass eine Gewebeprobe entnommen werden müsse und das war der Anfang vom Ende.
Das Wort Krebs fiel nicht, aber als der Arzt von Lymphogranulomatose, als einer seltenen Krankheit sprach, erschrak er sehr, denn er fühlte, dass es schrecklich werden würde.
Er war sehr tapfer, aber auch hoffnungsvoll, als der Arzt von einer Behandlung mit Röntgentiefenbestrahlung sprach und dachte: “Vielleicht ist es doch gar nicht so schlimm! Doch im tiefsten Innern spürte er, dass er sich in einer schlimmen Lage befand.
Die Behandlung wurde in der Praxis des Arztes durchgeführt. Dazu wurde die Geschwulst mit Gummiplatten rund herum abgedeckt, aber es konnte nicht verhindert werden, dass auch gesundes Gewebe angegriffen wurde. Man wusste noch nicht viel über Dosierung und Zerstörungskraft der Röntgenbestrahlung, und die Gewebezerstörung setzte sich fort und es bildeten sich weitere Entzündungsherde, die zum Schluss bis zur Leiste gingen.
Wilhelm ging trotz der Behandlung seiner Arbeit nach, aber er ermüdete schnell und brauchte viel Zuwendung. Die offenen Stellen mussten immer wieder verbunden werden und Anna sorgte täglich für einen frischen Verband, aber die Wunden schlossen sich nicht.
Anfang des Jahres 1935 hatte sich eine große eitrige Geschwulst gebildet und Anna rief den Hausarzt an. Telefon hatte nur der Lebensmittelkaufmann und der Arzt kam sofort. Er musste mit einem Skalpell diese Geschwulst aufschneiden. Anna kochte Wasser auf und der Arzt desinfizierte das Skalpell.
Liesi war auch im Zimmer und Anna rief: “Liesi, schnell, hol’ zwei saubere, weiße Handtüchter!” Der Vater stand vor dem Arzt und Liesi hielt die Handtücher dem Vater unter den Arm. Anna schütze oben am Hals mit Gasetüchern und dann schnitt der Arzt mit dem Skalpell die Eiterbeule auf. Eiter und Blut spritzten heraus und liefen über Liesis Hände in die Handtücher. Liesi dachte, dass es dem Vater weh getan hatte und sah ihn an. Wilhelm stand ruhig da und sagte nichts. Kein Laut kam über seine Lippen, aber man sah ihm an, dass er die Öffnung dieser Geschwulst als Erleichterung empfand. Er hatte wohl vorher starke Schmerzen gehabt, aber auch da hatte er nicht geklagt. So tapfer war er…! Anna war ganz blass, als sie dem Arzt half, Wilhelm zu verbinden. Liesi sah die Mutter an und wusste, dass sie nur mit äußerster Kraft versuchte, ein Weinen zu unterdrücken.
Als der Arzt in sein schwarzes Auto gestiegen war, hatte Anna sich wieder gefasst und sagte: “Liesi, du hast Vater sehr geholfen“, und…, “man muss tapfer sein, im Leben!”
Liesi war stolz auf ihre Leistung und dass sie mitgeholfen hatte, dem Vater die Schmerzen zu nehmen. Sie strich Wilhelm über den Kopf, wie er das gerne hatte und er lächelte.
Liesi vergaß diese Geste nie.
Wilhelm versuchte immer noch, etwas zu arbeiten, aber Ausdauer hatte er nicht mehr. Zu sehr schwächte ihn die Krankheit und er fuhr nun auch nicht mehr am Samstag die Schuhe zu den Kunden. Sie mussten sie abholen. Er machte sich große Sorgen um das Geld, denn sie mussten nun an ihr zurückgelegtes Geld gehen und das schmolz nach und nach zusammen und arbeiten konnte er dann auch bald nicht mehr. “Die Krankheit frisst mich auf…“, sagte er.
Abends spielte er noch mit Anna ab und zu Karten und mit Liesi Dame oder Mühle. Er wurde immer schwächer und bald konnte er sich nicht mehr richtig konzentrieren und regte sich auf, wenn er nicht gewann.
Gerd war mit seinen nun fast dreizehn Jahren in der Pubertät, worauf aber nirgends und bei Niemandem Rücksicht genommen wurde. Man wusste überhaupt nicht, was das war und kannte auch den Ausdruck nicht. “Nicht Fisch, nicht Fleisch” ,sagten die Leute, wenn man Absonderlichkeiten bei den Jungen bemerkte und sie kontrollierten die Betten, ob nicht Sperma auf den Bettlaken war. “So eine Schweinerei kann man nicht dulden!“, Das sind doch noch Kinder!” wurde gesagt und das Wort “Sperma“ kam nicht über ihre Lippen. Man wusste überhaupt nichts…! Die Jungen wurden nicht aufgeklärt.
Gerd war ein gut erzogener, lieber Junge und wohnte nun bei einer sehr netten Familie in der Nachbarschaft, die einen Sohn hatten, der ein paar Jahre älter war. Er half dem Jungen über die Einsamkeit hinweg. Gerd kam jeden Tag, den Vater zu besuchen aber ihm fehlte die richtige Aufmerksamkeit, die Anna nun auch Liesi nicht mehr geben konnte, weil sie unentwegt mit Wilhelms Pflege beschäftigt war und auch alle anderen Aufgaben erfüllen musste.
Der Haushalt, der Garten, die Hühner, die viele Wäsche…!
Anna war dankbar, dass Rickas Eltern, mit denen sie schon lange befreundet waren, das Angebot machten, Liesi aufzunehmen. Sie konnte die Arbeit nicht mehr bewältigen. Auch Liesi besuchte Vater und Mutter jeden Tag und Anna sagte: “Liesi spiel mal mit Vater Karten, oder Dame und Mühle.” Doch Wilhelm verlor und er, der früher immer gewann, erregte sich sehr.
Anna sagte im Nebenzimmer leise: “Liesi, Vater ist sehr krank. Er regt sich auf, lass ihn gewinnen…!“
Für Liesi war es nun ein Sport, so raffiniert zu spielen, dass er gewann und das gab ihm das Gefühl, doch noch gesund, und doch noch bei der Sache zu sein.
Er saß nun oft in der Wohnküche in einem Sessel und sah, was Anna leistete. Jetzt sagte er: “Ich weiß jetzt erst, wie viel Arbeit ihr Frauen habt! Das hätte ich nie gedacht! Es tut mir leid, dass ich das nicht früher gesehen habe, aber immer war alles fertig, wenn ich aus der Werkstatt kam. Wie hast Du das nur alles geschafft?”, und voller Verzweiflung…: “Nun kann ich gar nichts mehr machen…!”
Er sprach ganz offen darüber, dass er wohl nicht mehr lange leben würde. Anna war, wenn sie später bei Gelegenheit mit der Tochter darüber sprach, noch immer gerührt über die ehrlichen Worte, die Wilhelm zu ihr gesprochen hatte und die Anerkennung ihrer großen Leistung, während seiner Erkrankung.
Als es immer schlimmer wurde, fasste Anna sich ein Herz und fuhr mit ihm zu einem Internisten in Oberkassel. Es war ein jüdischer Arzt, der ihr sagte, dass Wilhelm wohl nicht mehr lange leben würde. Höchstens ein Jahr, hatte er gesagt. Anna war völlig entnervt und weinte.
Wilhelm solle doch ins Krankenhaus gehen, sagte der Arzt, denn Anna könne die Pflege alleine nicht schaffen. Doch Wilhelm wollte nicht ins Krankenhaus. Er hatte wohl das schreckliche Lazarett im Sinn, als er nach einer Kriegsverletzung einige Wochen dort zubringen musste. Als Wilhelm aufgeregt wurde, sagte Anna: “Ich werde das schon schaffen!”
Der Arzt verlangte von Anna kein Honorar, denn die Krankenkasse hatte mal wieder ausgesetzt und Anna wusste schon jetzt nicht mehr, wie sie alles bezahlen sollte. Die kleinen Mieteinnahmen konnten gerade das Nötigste decken und nun konnte Wilhelm nicht einmal mehr alleine zum Arzt laufen. Etwas hatten sie zurückgelegt aber das schmolz weiter zusammen. Der Arzt sah Anna mitleidsvoll an und sagte: “Sie haben Beide eine schwere Zeit vor sich!” Anna erwähnte später, als alles vorbei war, wie gut ihr die Worte des Arztes getan hatten. “Wir müssen tapfer sein“, sagte sie zu Wilhelm. Das Wort “tapfer” wurde in der Familie zu einem geflügelten Wort.
Ein paar Wochen später kam der evangelische Pfarrer um Wilhelm zu besuchen. Er betete mit Wilhelm und Anna sagte: “Ich habe noch nie einen Menschen so inbrünstig das “Vater Unser” beten gehört“. Er sah, dass Anna am Ende ihrer Kräfte war und sagte: “Morgen schicke ich Ihnen die Gemeindeschwester. Sie wird Ihnen täglich beim Verbinden helfen…”
Am nächsten Tag kam die Gemeindeschwester. Eine sehr liebe Frau, die Anna in den Arm nahm und ihr Mut zusprach, aber als die Verbände abgewickelt waren, und sie die schrecklichen Wunden sah, fiel sie in Ohnmacht. Auch der Verwesungsgeruch, der alles überlagerte, hatte wohl seinen Teil beigetragen. Sie bat, als sie wieder zu sich gekommen war, Anna um Verzeihung, dass sie ihr nicht helfen könne, und fuhr
auf ihrem Fahrrad davon. Sie kam nie wieder.
Liesi war zu dieser Zeit viel bei Ricka und deren Eltern, die schon immer mit Anna und Wilhelm befreundet waren. Liesi schlief mit Ricka in einem weißen Metallbett und fand den Aufenthalt bei Ricka wunderbar. Sie konnte von da aus zur Schule gehen, Schularbeiten machen und mit Ricka spielen. Sie genoss es, nicht immer zusehen zu müssen, dass der Vater so krank war und für Anna war es eine große Erleichterung, dass das Kind gut versorgt war und nicht das Leiden des Vaters ansehen musste.
Ricka erzählte Liesi, dass es jetzt auch eine Jungmädelgruppe gäbe ,und dass man dort viel Spaß haben konnte, und Liesi ging mit ihr hin. Eine Führerin gab es dort auch. Ein freundliches Mädchen mit Namen Henny. Sie war achtzehn und schwärmte für Adolf Hitler, für Hermann Göring und für Josef Goebbels. Ihr Vater war auch in der SA und sie war sehr beeinflusst von ihren Brüdern, die in der HJ waren. Henny war sehr hübsch und sie benutzte einen lila Lippenstift, was Liesi sehr gut gefiel, wenn auch zu Hause, in ihrer Familie, das Auftragen von Lippenstift verpönt war. Liesi fand Henny toll!
Henny machte mit ihnen Spiele und sie sangen dort Volkslieder. Sie spielten auf der Wiese an der alten Mühle Verstecken und Nachlaufen. Das gefiel auch Liesi gut. Alle hatten schon ein schwarzes Schultertuch mit hellbraunem Knoten und Henny sagte: “Bald bekommt ihr auch schöne Strickjacken und weiße Blusen.“ Das gefiel den Kindern gut, aber als sie sich aufstellen mussten wie die Soldaten, gefiel das Liesi gar nicht.
“Bauch rein, Brust raus!”, rief die Führerin, bevor sie sich in Marsch setzten. Das mit der “Brust raus”, war Liesi sehr unangenehm. Sie hatte zwar noch keinen Brustansatz, aber sie fühlte, dass es etwas Besonderes auf sich hatte, mit der weiblichen Brust.
Sie hatte einmal zugehört, als ältere Jungen, die vor dem Kasten mit dem “Stürmer” standen, riefen: “Die hält äwer dicke Memme!” und dabei so hässlich lachten.
Bei “Dienstschluss” sangen sie: “Deutschland, Deutschland über Alles” und später: “Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen.” Als aber die Führerin dann am Schluss des Heimabends noch ihre Fingernägel kontrollieren wollte, machte das Liesi gar keinen Spaß mehr, und sie ging nicht mehr hin. Erst das mit der “Brust raus” und nun noch Fingernägel vorzeigen…!
Als sie den ersten Ansatz eines Busens bei sich bemerkte, ging sie mit vorgeneigten Schultern und Anna sagte: “Halt Dich gerade! Warum gehst du so krumm?”
Aber Liesi dachte immer an die Jungen, die von “Weibern” und von “Memme” gesprochen, und so dreckig gelacht hatten.
Doch davon erzählte sie den Erwachsenen nichts und sprach auch nicht mit Ricka
darüber, die unentwegt von Shirly Temple schwärmte.
Lieber turnte sie auf dem Hof am Reck bis zum Umfallen oder schaukelte und spielte mit der Katze und mit den Hühnern, oder sortierte die Frösche am Baggerloch, aber am Schönsten war das Spielen in der großen Sandgrube hinter dem Gaskessel.
Dort setzte Liesi sich auf einen kleinen Hügel, hinter dem ein wilder Rosenstrauch stand, der sich über Liesis Kopf wölbte. Da konnte sie träumen…
Vom Gaskessel wurde immer dann, wenn der Kessel sich senkte, Wasser abgelassen, das etwas nach Gas roch, aber für Liesi eine Art Parfüm war, und wie ein munterer kleiner Bach herunterplätscherte. Dann schloss Liesi die Augen und sie befand sich in einer Märchenwelt. Natürlich war sie eine verwunschene Prinzessin, die von Zigeunern verschleppt und auf unbekannten Wegen unter diesen Dornbusch geraten war.
Sie träumte sich in eine andere Welt, wo sie keinen kranken Vater hatte und wo ihre Mutter in schönen Kleidern, in einer wunderschönen Wohnung leben konnte.
Dabei träumte das Kind von einer Wohnungseinrichtung mit dunklen glänzenden Möbeln und von dem Bücherschrank, wie einer bei Rickas Vater im Wohnzimmer stand. Dieser Bücherschrank, hinter dessen Glasscheiben bunte Buchrücken zu sehen waren, hatte es Liesi angetan.
Sie hatte das “Kommunionglöcklein” mitgenommen. Ein schmales Heft, in dem die Vorbereitung zur Kommunion dargelegt war. Wunderschöne Engel mit brav gefalteten Händen, und schönem, zarten Gesichtern begleiteten die Texte, die auf dieses wunderbare Ereignis vorbereiten sollten. Lilien und Rosen und auch Vergissmeinnicht schmückten einige Seiten.
Bei der Kommunion würden sie mit der Hostie, Jesus, auf die Zunge gelegt bekommen. So stellte sich Liesi das vor, denn es hieß: “Das ist mein Fleisch, das ist mein Blut” und bei der Wandlung hielt der Pfarrer die große Hostie in die Höhe, wenn er vor dem Tabernakel stand. Liesi war so beeindruckt, dass sie sich selbst als ein wenig “heilig” empfand.
Die Hostie dürfe man nicht essen, wie ein Stück Brot und darauf herum kauen, sagte der Kaplan, sondern müsse sie ganz andächtig hinunterschlucken und dann hätte man
Jesus, den Erlöser, im Herzen.
Liesi ging zum Kommunionunterricht und befolgte alles, was dort vorgeschrieben war. Sie nahm das alles sehr ernst und Gerd spottete: “Liesi hat schon einen Heiligenschein…!”
Auch “Beichten” wurde gelehrt und die Kinder schrieben ihre Sünden auf einen Zettel, aber da kam eigentlich gar nicht viel zusammen. Notlügen waren immer drauf und Ungehorsam, Unaufmerksamkeit in der Schule, Faulheit, Zanksucht und Neid.
Es wurde auch über Unkeuschheit gesprochen aber Liesi wusste nicht genau, was damit gemeint war, denn sie hatte noch keine Empfindungen für körperliche Lust. Die Lust erschöpfte sich in ihrer Turnerei am Reck im Hof, oder beim Ballspielen. Es war reine Lebensfreude!
Doch eines Tages, sie war wieder unter ihrem Rosenbusch gewesen, begegnete sie Rosi, zwei Jahre jünger als Liesi. Sie zeigte, was von der Kirche als Unkeuschheit gewertet wurde.
Rosi hatte mit anderen Kindern in der Sandgrube gespielt und begegnete Liesi auf dem grasbewachsenen Abhang, der zu der Sandgrube, genannt: “De Sandkull) führte. Dieses Sandloch ca 300 qm groß, bot den Kindern alle Möglichkeiten sich auszutoben. Es gehörte zum früheren Rheinbett und man konnte sich dort ganze Zimmer ausbuddeln. Die Fantasie kannte keine Grenzen.
Es bildete sich eine ganze Gruppe von Wohnungen und in der Mitte gab es einen Laden. Dort gab es allerlei Salate und Gemüse zu kaufen. Das waren Kräuter und wilde Blumen. Steine stellten Gebäck oder Brot dar. Gesiebter Sand war Mehl oder Zucker und wurde mit kleinen Schaufeln in Zeitungspapier, das zu Tüten geformt war, gefüllt, und sachgerecht zugefaltet. Auf einer Waage aus Lehm geformt, wurde alles abgewogen und Schlinggewächse dienten als Bindeband. Bezahlt wurde nur mit dunklen Steinen und deren Größe bestimmten den Wert. Alles war genau geregelt. Liesi hatte das alles bei der Oma in Kleve gesehen und nun spielte sie “Kaufmann”, “Kauffrauen”…, der Ausdruck wurde noch nicht verwendet.
Doch dann kam das mit Rosi…
Rosi, erst sieben Jahre alt, sagte zu Liesi: “Komm mit…, ich muss dir was zeigen!” und Liesi folgte neugierig.
Rosi setzte sich auf einem Grashügel hinter einem Strauch und zog ihren Rock hoch und Liesi sah, dass Rosi kein Unterhöschen anhatte. Rosi sah Liesi mit einem seltsamen Blick an, machte die Beine breit und nahm ein Stöckchen vom Boden auf.
Sie begann, sich damit in der Scheide zu kratzen. Liesi hatte noch nie gesehen, wie “das da Unten“ aussah. “Rot und nass!” Liesi hatte immer gedacht, dass die Stelle, wo der Pipi raus kam, so aussah, wie der Po. Mit heller Haut…, aber das, was Rosi da hatte, fand Liesi nicht schön…! Sie dachte an Vaters Wunden und so etwas hatte sie noch nie gesehen…
“Was war das…? Was machst du da…?”, fragte Liesi. “Das darfst du nicht, das ist Sünde! “Hier“, sagte Rosi, “nimm das, und schob Liesi das Stöckchen in die Hand,
“Mach’ weiter!” und dabei röchelte sie so komisch und atmete schnell.
Liesi bekam Angst und dachte: “Rosi ist krank, sie atmet so schnell wie Vater, vielleicht muss sie sterben!” Sie sprang auf, und rannte so schnell sie konnte nach Hause, zur Mutter, die gerade wieder dabei war, Vater zu verbinden.
“Komm“, sagte Anna, “hier ist eine ganzes Bündel Mullbinden, die habe ich gewaschen. Du weißt ja, wie man die aufwickelt”, und Liesi machte sich an die Arbeit aber immerzu musste sie an Rosi denken, doch sie traute sich nicht, von Rosi und dem Stöckchen zu erzählen. und erst im Jahre 2010 hatte sie es aufgeschrieben.
Diese Geschichte beschäftigte sie den ganzen Tag und darüber hinaus und wegen der Beichte war sie sich im Unklaren, ob sie das auch beichten müsse aber das verbot ihr die Scham.
Anna hatte ihr sowieso beigebracht, dass man sich “da Unten” nicht anfassen dürfe. Das war ein absolutes Tabu-Thema. So tüchtig und aufgeschlossen Anna sonst im Leben war, dieses Thema schob sie weit von sich, denn sie hatte in ihrer Kindheit nur schlechte Erfahrungen gemacht. Unaufgeklärt war sie in die Ehe gegangen und der Beischlaf hatte ihr keinen Spaß gemacht. Ihre eigenen “sündigen Gedanken” musste sie verbergen und so konnte sie auch ihren Kindern keinen Beistand geben. Jetzt, bei der schweren Erkrankung von Wilhelm, mit der Aussicht auf frühe Witwenschaft und Furcht vor der Zukunft, war ihr sowieso jede Lust vergangen.
Liesi sprach nicht von ihrem Abenteuer mit Rosi und ging zu Ricka, aber auch ihr erzählte sie nichts und deren Mutter schon gar nicht. Die hätte bestimmt Rosis Mutter angesprochen und dann hätte es Anna erfahren und alles wäre noch undurchsichtiger geworden. Liesi hatte immer noch das seltsame Stöhnen im Ohr und das Schimpfen von Rosi, als sie fluchtartig den Platz verließ, wo Rosi wutentbrannt hinter ihr her schrie: “Warum rennst du weg?, komm’, mach weiter!”
Liesi sah weg, wenn sie Rosi auf der Straße sah und dann sah sie “Hass” in deren Augen. Sie fühlte sich gedemütigt.
Eines Tages sah’ sie, dass Rosi ein weitaus jüngeres Mädchen schlug.
Liesi hatte einen ausgesprochenen Gerechtigkeitssinn, fühlte sich stark, und wollte dem Kind helfen. Sie rief: “Rosi lass sie los, sie ist doch viel kleiner als du!“
Rosi ließ das Kind los und sprang sie an, wie eine Wildkatze. Rosi hatte etwas zigeunerhaftes an sich, mit ihrer bräunlichen Haut und mit ihrem schwarzen Haar, das in Zöpfe geflochten war. Sie war sehr stark.
Die sportliche Liesi, die so gelenkig war, spürte, dass sie nur mit äußerster Kraftanstrengung gegen dieses Mädchen aufkommen konnte. Sie riss an Rosis Haaren und konnte sich kaum aus deren Umklammerung lösen. Das Mädchen hatte “Bärenkräfte”, obwohl sie einen Kopf kleiner war als Liesi.
Rosi biss und kratzte aber endlich merkte sie, das sie Liesi nicht bezwingen konnte, ließ plötzlich los und rannte weg. Das war eine Lehre für Liesi, und das einzige Mal in ihrem Leben, dass sie sich auf eine körperliche Auseinandersetzung dieser Art einließ mit einem Menschen einließ.
Das Kommunionglöcklein hatte sie an dem “Platz der Sünde” liegen gelassen, als sie vor der stöhnenden Rosi weg lief, aber sie fand es wieder, denn es war als Begleitung zum Katechismus gedacht und es war sehr tröstlich von den Heiligen und der Mutter
Gottes mit dem Kind zu lesen. Liesi war in einen Zustand von Frömmigkeit gefallen. Sie erfand Kirchenlieder und in einem ewigen Sing-Sang wiederholte sie die litaneiartigen Verse, die sie sich ausdachte. Wenn Anna sie mit in die Kirche nahm, meistens war es auf die letzte Minute, standen sie hinten in der Kirche, weil alle Plätze besetzt waren und Liesi hörte andächtig zu, wenn Anna alle Kirchenlieder
mit sang. Anna hatte eine schöne, für Liesis Ohren, besonders schöne Sopranstimme und sie war sehr stolz auf ihre Mutter. Direkt nach der Kommunion gingen sie schnell nach Hause, denn Vater wollte nicht allein sein.
Liesi ging dann zu Ricka und die beiden Mädchen spielten Quartett oder mit den Puppen, Mutter und Kind, Oder sie lasen das Buch “Der Trotzkopf.” Die Geschichte eines Mädchens, vom Kleinkindalter bis zur Verehelichung, in mehreren Bänden.
Doch immer gab Rickas Vater nur ein Buch entsprechend des Alters heraus.
Ricka empörte sich darüber aber Liesi fand es schön von Kindern zu lesen, die so behütet aufwuchsen. Der Vater von “Trotzkopf” war Arzt mit hohen ethischen Ansprüchen und die Mutter war die gute Hausfrau und verständnisvolle Ehefrau des guten Doktors. Es gab aber dort auch brave Hausangestellte, die von ihren Dienstherren gut behandelt wurden und alles war einfach “ideal.” In der Familie.
Es gab keine Krankheiten und nur die Patienten des Doktors wurden verständnisvoll betreut. Schön war das für Liesi, bei der alles anders war. Doch sie empfand bei dem Lesen dieser Geschichte keinen Neid, wie ihr auch in ihrem späteren Leben Neidgedanken fremd waren. Hier war sie wie Anna, die sich über Erfolge ihrer Nächsten freuen konnte. Anna sagte: “Böse Gedanken machen unglücklich!”
Liesi war nun Tag und Nacht bei Familie Krieger und sie erfuhr hier, wie man in anderen Familien lebte.
Rickas Vater stammte aus einer sehr wohlhabenden Familie. Ricka sagte “altklug” Er hätte “unter seinem Stand” geheiratet.”
Rickas Vater war in Frankfurt am Main geboren und hatte dort das Gymnasium besucht. Er war “Lateiner” sagten sie, und er sprach Französisch. Liesi hing an seinen Lippen, wenn er etwas sagte, denn er sprach einwandfreies Deutsch und kein Wort Düsseldorfer Platt, was die Kinder alle sprachen. Ricka durfte auch nicht Platt sprechen und nur Rickas Mutter sprach gern mal “Öchener”, wenn ihre Geschwister da waren, aber sonst durfte sie das nicht. Leo, ihr gebildeter Mann, hatte es ihr abgewöhnt …!…sagte er…
Liesi fand die “Büchersprache” schön und sprach nun auch nur noch “hochdeutsch”, wie in der Schule, aber da sagten die anderen Kinder, sie wäre eingebildet, und wollten mit ihr nichts mehr zu tun haben. Es hieß immer: “Sprich, wie dir der Schnabel gewachsen ist!”
Anna sagte: “Sprich mit denen Platt, und bei Krieger Hochdeutsch. Dann kriegst Du keinen Ärger.
In Annas und Wilhelms Familie gab es nur einen “Studierten”, einen außergewöhnlich begabten Vetter, Karl, der ein Stipendium für das Görresgymnasium in Düsseldorf, hatte. Er lernte Latein, Griechisch und Französisch. Er war der Sohn von Wilhelms Bruder Karl, dem “Grüsel”.(Grübler)
Anna sagte bewundernd: “Er ist sehr begabt und ich wünsche ihm großen Erfolg!
Ein Cousin aus Kleve war auch sehr begabt und sollte ein Stipendium bei den Jesuiten bekommen. Die frömmelnde Mutter wollte unbedingt, dass er Pfarrer werden solle.
Doch als ihm mit Ehelosigkeit gedroht wurde, und er “die Finger von den Mädchen” lassen sollte, gab er auf, und schlug die Inspektorenlaufbahn bei der Reichsbahn ein, wo er bis zur Pensionierung blieb. Er heiratete Mary und hatte eine Tochter und einen Sohn, die beide Lehrer wurden.
Kinder mit normaler Begabung kamen selten in den Genuss der “höheren Schulbildung”, weil mit hohen Kosten verbunden und selbst die Mittelschule kostete zu der Zeit im Monat fünfundzwanzig Reichsmark. Wenn Arbeiterkinder auf Kosten der Eltern die Schule besuchten sagten die Leute: “Die haben sich jahrelang krumm gelegt, für die Kinder und wenn sie dann “mehr” sind, dann sind ihnen die Eltern nicht mehr “fein” genug!” Dann haben sie keine Zeit für uns! Besser, wir bleiben zusammen…
Es gab in seltenen Fällen natürlich auch andere Beispiele, aber die meisten Leute in kleinen Verhältnissen machten sich diese Meinung zu Eigen. Wenn mehrere Kinder in der Familie da waren, ging das sowieso nicht, denn dann hätten die Arbeiterfamilien nichts mehr zu essen gehabt
Rickas Vater, Leo Krieger, war von Rickas Großvater, dem Geheimrat Krieger, des Hauses verwiesen worden, weil er nicht studieren, sondern Schauspieler oder Sänger werden wollte, und auch, weil er die Tochter eines Bohrmeisters ohne väterliche Genehmigung geheiratet hatte. Eine “Meassaliance…”, wie er gesagt hatte.
Liesi hatte das nicht verstanden aber Anna sagte: “Die sind dem nicht fein, und nicht reich genug.
Schauspieler konnte er nicht werden. Man sagte ihm, dass er mit seiner Größe von einmeterachtundsechzig keine Aussicht auf Erfolg hätte. Auch konnte er, ohne finanzielle Unterstützung des Vaters, keine Schauspielschule besuchen und das war wohl der Hauptgrund für sein scheitern. Anna sagte: “Leo ist irgendwie eine “verkrachte Existenz…!” “Ist das was Schlimmes, fragte Liesi…?” Nein, gar nicht, sagte Anna, aber irgendwie ist es auch traurig, wenn man nicht werden kann was man will. Dabei dachte sie an ihren Wunsch, einen Beruf zu erlernen.
Sie sagte: “Du und Gerd, Ihr müsst einen guten Beruf erlernen, damit Ihr für Euch selbst sorgen könnt…!
Rickas Vater, hatte noch eine Zwillingsschwester, Friederike, die sehr traurig war, dass sie ohne den Bruder in Frankfurt leben musste. Sie war ein zartes Wesen und auf Wunsch des Vaters Französischlehrerin. Sie war Rickas Patin und bezahlte für Ricka die Mittelschule. Er hatte noch eine ältere Schwester, Juliane, zu der er aber wenig Kontakt hatte. Sie hatte eine mehr männliche Ausstrahlung und konnte Leos Ehefrau Greta nicht leiden. Sie war Lateinlehrerin, und mehr dem Geheimrat, Leos Vater, zugeneigt. Sie sagte: “Grete ist vulgär!” Sie übernachtete auch nicht bei Rickas Eltern, sondern in einem Hotel in der Nähe des Bahnhofs, wenn sie ausnahmsweise zu einem “Pflichtbesuch” kam, wie sie sagte.
Leos Ehefrau, Rickas Mutter Greta , sagte von ihr respektlos: “Juliane ist so eingebildet, deshalb hat sie keinen abgekriegt, und deshalb ist sie so blöd!”
Leos Zwillingsschwester, Friederike, war auch nicht verheiratet, denn dem allmächtigen Vater war wohl keiner als Schwiegersohn recht und so wurde sie eine ältliche, vornehme Lehrerin mit weißem, wohl frisiertem Haar, und ohne eigene Familie. Dabei war sie ein wirklich liebevolles Wesen, mit einer zarten Stimme.
“Wie aus dem Bilderbuch“, sagte Ricka, den Vater nachahmend.
Rickas Mutter, Leos Ehefrau, war eine rundliche, etwas behäbige, rothaarige Frau mit einer etwas schrillen Stimme, aber unter ihren rauen Manieren gutherzig und nicht schnell beleidigt. Sie hatte noch drei Brüder und zwei Schwestern. Ihr Vater, ein Bohrmeister, der viel zu Ölbohrungen auf Montage im Ausland gewesen war und nur sporadisch in Aachen, hinterließ bei jedem seiner jährlichen Besuche seiner Ehefrau, Gretas Mutter, einen weiteren Erdenürger und da er gut verdiente, konnte er sich die große Familie leisten. Die Söhne konnten die “Schule” besuchen und die Mädchen bekamen eine gute Aussteuer.
Der Bohrmeister war im Ausland bei einem seiner Einsätze durch einen Unfall ums Leben gekommen und Gretas Mutter war vor einem Jahr gestorben, aber der geschwisterliche Zusammenhalt war groß. Oft war einer von den Geschwistern zu Besuch da und brachte “Leben” in die Bude, wie sie sagten und es wurde viel gesungen und gelacht. Liesi tat die Atmosphäre gut, denn sie hatte in den letzten Jahren viele traurige Dinge erlebt. Hier konnte sie zeitweilig alles vergessen..
Dann sagte Rickas Mutter, in Aachener Platt: “Paul, schmetter mol Eene” und ungeniert holte Paul Luft, und sang: “Warum ist es am Rhein so schön!”, oder etwas Ähnliches. Er hatte eine schöne Tenorstimme. Sie alle waren nett zu Liesi, wenn sie zu Besuch kamen und ihre Aufmerksamkeit tat Liesi gut. Da war eine gewisse Wärme und obwohl sie nicht verwandt waren, schlossen sie Liesi in ihre Familie ein.
Einer von Gretas Geschwistern hatte einen Weinberg an der Mosel und da war auch noch ein Cousin, der etwas älter war als Ricka. Der war Anhänger der NSDAP und sollte später noch eine Rolle spielen.
Unter Gretas Verwandten gab auch noch zwei Cousins in Liesis und Rickas Alter und das war für Liesi etwas Neues. Durch sie erfuhr sie viel aus dem Leben dieser Jungen. Auch sie waren “höhere Schüler“. Für Liesi wurde das Leben interessanter durch all’ diese Menschen, die so ganz andere Wege gingen, als sie und ihre Familie.
Rickas Mutter sagte manchmal mit Bewunderung: “Der Leo hat Abitür!” Leo hatte mal gesagt, dass im Französischen das U wie Ü gesprochen würde und sie fand den Klang auch viel schöner. Sie war sehr stolz auf ihren Mann und nahm manche seiner Unarten hin, aber sie gab ihm, wie sie sagte, auch Contra, wenn er es allzu toll trieb.
Er aber hielt nicht viel von ihren geistigen Fähigkeiten, auf die er doch, seiner Herkunft wegen, soviel Wert legte. Liesi spürte das, und fand es nicht schön, dass er so mit seiner Frau umging.
Leos Vater, war ein großer Goetheverehrer und das einzige Geschenk, dass er seinem Sohn Leo gemacht hatte, war der Bücherschrank und ein schwerer Goetheband in Dünndruck, in dem Goethes ganzes Lebenswerk eingebunden war.
Albert Krieger hatte sich als hohen Beamten, der wie Goethe in Frankfurt geboren- und aufgewachsen war, dem Leben und Werk von Goethe so nahe gefühlt, dass er sich nichts sehnlicher gewünscht hatte, als dass sein einziger Sohn einen hohen Posten bekleiden sollte, der dem des großen Meisters, Johann Wolfgang von Goethe, ähnelte.
Sein Sohn war hoch intelligent und hatte alle Prüfungen mit Note Eins bestanden und er sollte, wie Goethe, Jura studieren, aber was tat der ungehorsame Sohn? Er schmiss das Studium und wollte Schauspieler werden…, Schauspieler…!
Leo verließ ohne Genehmigung die Universität und wurde vom Vater verstoßen…!
Zu allem Überfluss verliebte er sich in die ungebildete Bohrmeisterstochter Greta und heiratete sie sogar.
Anna sagte: “Vielleicht musste er!” Sie hatte etwas an Rickas Geburtsdatum herumgerechnet. “Doch was soll’s“, sagte sie, “Hauptsache, er hat sie ehrlich gemacht!”.
Mit all’ diesen Sprüchen konnten Gerd und Liesi wegen “Unaufgeklärtheit” nichts anfangen, und nahmen es hin. Das Thema war dann auch bald wieder vergessen. Nur manchmal dachte Liesi…, musste… ?
Leos Vater hatte Greta nur einmal eingeladen. - Allein… !, um ihr “auf den Zahn” zu fühlen, wie er zu seiner Haushälterin gesagt hatte und die arme Greta bekam nicht einmal einen Schluck Bier ab, den er sich jeden Morgen mit der Haushälterin, vor dem Essen gönnte. Als die Haushälterin sagte: “Herr Geheimrat, soll ich heute nicht zwei Flaschen Bier holen, weil ihre Schwiegertochter doch hier ist?”
Da sagte er: “Dann lassen wir es!“
An dem betreffenden Tag gab es kein Bier…
Die Haushälterin erklärte der Schwiegertochter später, es sei ihm zu teuer gewesen.
Greta sagte : “Ein Geizhals ist er auch noch!”
Greta wurde nie mehr eingeladen, und wenn Leos Vater Geburtstag hatte, durfte nur Leo kommen. Ricka sagte: “Mutter, warum lässt Du dir das alles gefallen? Und Greta sagte: “Wenn Du mal verheiratet bist, lässt Du Dir noch viel gefallen…!”
Geizig war Greta nicht, sie sorgte gut für die Familie aber das war auch ein häufiger Streitpunkt bei Kriegers, denn Greta hatte spätestens am 25. jeden Monats kein Geld mehr für den Haushalt und dann saß Leo wieder am Schreibtisch und trommelte mit den Fingern auf die Armlehnen seines Schreibtischsessels. Greta sagte: “Du bist genau so verrückt wie dein Alter!”
“Immer müssen wir Deine Verwandten beköstigen” und dann kommst du mit dem Geld nicht aus, sagte er. Es gab Streit, aber Grete schwieg zu den Attacken, denn seiner Wortgewandtheit war sie nicht gewachsen und letztendlich strich Ricka, seine Tochter, die er sehr liebte, ihm über das graue Haar. Er hatte einen “Stiftekopp” und eine gewisse Ähnlichkeit mit dem älteren Goethe.
Dann rückte Leo seine Ersparnisse heraus und Greta kochte etwas Leckeres. Das versöhnte ihn dann wieder. Sollte aber beim Tischdecken mal eine Gabel, oder ein Messer fehlen, trommelte er mit den Fingern auf das Tischtuch und Greta fragte: “Was ist denn jetzt schon wieder?” Er sagte dann: “Es fehlt ein Messer!” Dann sagte sie: “Dreh’ dich doch um, hinter Dir in der Schublade!, Du doller Kerl!”
Liesi, die Rickas Vater wegen seiner Bildung und wegen Goethe bewunderte, dachte: “So feine Leute sind das auch nicht!”, Aber sie war gerne bei ihnen.
Leo bekam also den Bücherschrank und den dicken Goetheband zur Hochzeit und sonst nichts. Der “Alte” Krieger hatte alles schon zu Lebzeiten an die Töchter gegeben, die bei ihm geblieben waren, und sich seinen Wünschen gefügt hatten.
Das waren für Liesi alles aufregende Geschichten, die sie in ihrer einfachen Welt bisher nicht gehört hatte.
Der Geheimrat-Vater hatte in einer winzigen Schrift, auf vielen Seiten, Notizen über die Entstehung der Werke gemacht. Auch Zeitabläufe und Reisen, Gespräche mit Eckermann und anderen Zeitgenossen waren vermerkt. Goethes Besuche in Düsseldorf und sein Nachtritt durch den Grafenberger Wald nach Wuppertal, alles war dort akribisch am Rand aufgeschrieben.
Dieses Buch, sollte in Liesis Leben noch eine große Rolle spielen. Goethe war von da ab für Liesi ein unvergleichlicher Held.
Leo Krieger hatte den Sprung zur Bühne nie gemacht und auch seine Gesangstudien hatten ihn nicht weiter gebracht, doch den Lebensunterhalt musste er verdienen und so wurde er Buchhalter bei der Firma BP - OLEX.
Er fügte sich in sein Schicksal, aber seine Verehrung für Goethe, Schiller und die anderen großen Dichter und Schriftsteller, blieben seine große Leidenschaft. Er hatte auch eine wirklich schöne Tenorstimme und manchmal sang er: “Dein ist mein Herz! Dein ist mein Herz und soll es ewig, ewig
Blei… ei… ei… ei.. Ben.”
Das war sehr beeindruckend für Liesi, denn diese Art Arien hatte sie bisher noch nicht kennengelernt. Zu Hause waren es mehr Volkslieder, die auch im Chor gesungen wurden. So genanntes “Deutsche Liedgut”, woran Liesi aber viel Freude hatte. Nur war jetzt zu Hause, mit Vaters Krankheit und Annas Sorgen, keine Zeit für Gesang.
Anna wusste noch nicht, wie das mit Liesis Kommunion gehen würde. Sie sollte doch auch zur Kommunion ein Fest haben, aber wie? Da bot sich Rickas Mutter an…!
Sie könnten es ja, wenn es nicht all zu Viele wären, auch bei ihr feiern…!
Anna nahm Kontakt mit Frieda, ihrer geliebten Freundin und Cousine auf, und diese kam mit dem Zug von Gelsenkirchen nach Düsseldorf. Anna weinte vor Freude, als Frieda kam, denn von ihrer eigenen Familie hatte sich noch keiner sehen lassen. In all’ der Zeit, da Wilhelm krank war, hatte sie außer Bruder Aloys und Wilhelms Bruder Karl, nur Schwester Johanna, “der Schümmel” besucht…, und Karl, Wilhelms ältester Bruder, der Wilhelm mit achtzig Mark beigesprungen war, als einmal das Geld für einen Ledereinkauf fehlte.
Wilhelm konnte kaum noch arbeiten. Das Leder lag in der Werkstatt und musste bezahlt werden und das bedrückte Anna sehr, denn noch nie hatte sie Schulden gehabt. Es war ihr peinlich, als sie hörte, dass Karls Ehefrau gesagt hatte: “Das kriegst du nie wieder…! , die pfeifen doch aus dem letzten Loch…!”
In Kleve stritt man um das Erbe, denn seit Vater Wilhelm gestorben war, gab es keinen Frieden mehr zwischen den männlichen Geschwistern und wo früher Eintracht geherrscht hatte, war man regelrecht verfeindet. Annas Schwägerinnen stocherten eifrig mit im Familienzwist und Anna sagte” es geht immer nur um Geld!”, und Wilhelm war todkrank.
Anfang des Jahres 1935 hatte sich eine große eitrige Geschwulst gebildet und Anna rief den Hausarzt an. Telefon hatte nur der Lebensmittelkaufmann und der Arzt kam sofort. Er musste mit einem Skalpell diese Geschwulst aufschneiden. Anna kochte Wasser auf und der Arzt desinfizierte das Skalpell.
Liesi war auch im Zimmer und Anna rief: “Liesi, schnell, hol’ zwei saubere, weiße Handtüchter!” Der Vater stand vor dem Arzt und Liesi hielt die Handtücher dem Vater unter den Arm. Anna schütze oben am Hals mit Gasetüchern und dann schnitt der Arzt mit dem Skalpell die Eiterbeule auf. Eiter und Blut spritzten heraus und liefen über Liesis Hände in die Handtücher. Liesi dachte, dass es dem Vater weh getan hätte, aber Wilhelm stand ruhig da und sagte nichts. Kein Laut kam über seine Lippen, aber man sah ihm an, dass er die Öffnung dieser Geschwulst als Erleichterung empfand. Der Schnitt muss doch weh getan haben, dachte sie.
Er hatte wohl vorher starke Schmerzen gehabt, aber auch da hatte er nicht geklagt. So tapfer war er…! Anna war ganz blass, als sie dem Arzt half, Wilhelm zu verbinden. Liesi sah die Mutter an und wusste, dass sie nur mit äußerster Kraft versuchte, ein Weinen zu unterdrücken.
Als der Arzt in sein schwarzes Auto gestiegen war, hatte Anna sich wieder gefasst und sagte: “Liesi, du hast Vater sehr geholfen“, und…, “man muss tapfer sein, im Leben!”
Liesi war stolz auf ihre Leistung und dass sie mitgeholfen hatte, dem Vater die Schmerzen zu nehmen. Sie strich Wilhelm über den Kopf, wie er das gerne hatte und er lächelte.
Liesi vergaß diese Geste nie.
Wilhelm versuchte immer noch, etwas zu arbeiten, aber Ausdauer hatte er nicht mehr. Zu sehr schwächte ihn die Krankheit und er fuhr nun auch nicht mehr am Samstag die Schuhe zu den Kunden. Sie mussten sie abholen. Er machte sich große Sorgen um das Geld, denn sie mussten nun an ihr zurückgelegtes Geld gehen und das schmolz nach und nach zusammen und arbeiten konnte er dann auch bald nicht mehr. “Die Krankheit frisst mich auf…“, sagte er.
Abends spielte er noch mit Anna ab und zu Karten und mit Liesi Dame oder Mühle. Er wurde immer schwächer und bald konnte er sich nicht mehr richtig konzentrieren und regte sich auf, wenn er nicht gewann.
Gerd war mit seinen nun fast dreizehn Jahren in der Pubertät, worauf aber nirgends und bei Niemandem Rücksicht genommen wurde. Man wusste überhaupt nicht, was das war und kannte auch den Ausdruck nicht. “Nicht Fisch, nicht Fleisch” ,sagten die Leute, wenn man Absonderlichkeiten bei den Jungen bemerkte und sie kontrollierten die Betten, ob nicht Sperma auf den Bettlaken war. “So eine Schweinerei kann man nicht dulden!“, Das sind doch noch Kinder!” wurde gesagt und das Wort “Sperma“ kam nicht über ihre Lippen. Man wusste überhaupt nichts…! Die Jungen wurden nicht aufgeklärt.
Gerd war ein gut erzogener, lieber Junge und wohnte nun bei einer sehr netten Familie in der Nachbarschaft, die einen Sohn hatten, der ein paar Jahre älter war. Er half dem Jungen über die Einsamkeit hinweg. Gerd kam jeden Tag, den Vater zu besuchen aber ihm fehlte die richtige Aufmerksamkeit, die Anna nun auch Liesi nicht mehr geben konnte, weil sie unentwegt mit Wilhelms Pflege beschäftigt war und auch alle anderen Aufgaben erfüllen musste.
Der Haushalt, der Garten, die Hühner, die viele Wäsche…!
Anna war dankbar, dass Rickas Eltern, mit denen sie schon lange befreundet waren, das Angebot machten, Liesi aufzunehmen. Sie konnte die Arbeit nicht mehr bewältigen. Auch Liesi besuchte Vater und Mutter jeden Tag und Anna sagte: “Liesi spiel mal mit Vater Karten, oder Dame und Mühle.” Doch Wilhelm verlor und er, der früher immer gewann, erregte sich sehr.
Anna sagte im Nebenzimmer leise: “Liesi, Vater ist sehr krank. Er regt sich auf, lass ihn gewinnen…!“
Für Liesi war es nun ein Sport, so raffiniert zu spielen, dass er gewann und das gab ihm das Gefühl, doch noch gesund, und doch noch bei der Sache zu sein.
Er saß nun oft in der Wohnküche in einem Sessel und sah, was Anna leistete. Jetzt sagte er: “Ich weiß jetzt erst, wie viel Arbeit ihr Frauen habt! Das hätte ich nie gedacht! Es tut mir leid, dass ich das nicht früher gesehen habe, aber immer war alles fertig, wenn ich aus der Werkstatt kam. Wie hast Du das nur alles geschafft?”, und voller Verzweiflung…: “Nun kann ich gar nichts mehr machen…!”
Er sprach ganz offen darüber, dass er wohl nicht mehr lange leben würde. Anna war, wenn sie später bei Gelegenheit mit der Tochter darüber sprach, noch immer gerührt über die ehrlichen Worte, die Wilhelm zu ihr gesprochen hatte und die Anerkennung ihrer großen Leistung, während seiner Erkrankung.
Als es immer schlimmer wurde, fasste Anna sich ein Herz und fuhr mit ihm zu einem Internisten in Oberkassel. Es war ein jüdischer Arzt, der ihr sagte, dass Wilhelm wohl nicht mehr lange leben würde. Höchstens ein halbes Jahr, hatte er gesagt. Anna war völlig entnervt und weinte.
Wilhelm solle doch ins Krankenhaus gehen, sagte der Arzt, denn Anna könne die Pflege alleine nicht schaffen. Doch Wilhelm wollte nicht ins Krankenhaus. Er hatte wohl das schreckliche Lazarett im Sinn, als er nach einer Kriegsverletzung einige Wochen dort zubringen musste. Als Wilhelm aufgeregt wurde, sagte Anna: “Ich werde das schon schaffen!”
Der Arzt verlangte von Anna kein Honorar, denn die Krankenkasse hatte mal wieder ausgesetzt und Anna wusste schon jetzt nicht mehr, wie sie alles bezahlen sollte. Die kleinen Mieteinnahmen konnten gerade das Nötigste decken und nun konnte Wilhelm nicht einmal mehr alleine zum Arzt laufen. Etwas hatten sie zurückgelegt aber das schmolz weiter zusammen. Der Arzt sah Anna mitleidsvoll an und sagte: “Sie haben Beide eine schwere Zeit vor sich!” Anna erwähnte später, als alles vorbei war, wie gut ihr die Worte des Arztes getan hatten. “Wir müssen tapfer sein“, sagte sie zu Wilhelm. Das Wort “tapfer” wurde in der Familie zu einem geflügelten Wort.
Ein paar Wochen später kam der evangelische Pfarrer um Wilhelm zu besuchen. Er betete mit Wilhelm und Anna sagte: “Ich habe noch nie einen Menschen so inbrünstig das “Vater Unser” beten gehört“. Er sah, dass Anna am Ende ihrer Kräfte war und sagte: “Morgen schicke ich Ihnen die Gemeindeschwester. Sie wird Ihnen täglich beim Verbinden helfen…”
Am nächsten Tag kam die Gemeindeschwester. Eine sehr liebe Frau, die Anna in den Arm nahm und ihr Mut zusprach, aber als die Verbände abgewickelt waren, und sie die schrecklichen Wunden sah, fiel sie in Ohnmacht. Auch der Verwesungsgeruch, der alles überlagerte, hatte wohl seinen Teil beigetragen. Sie bat, als sie wieder zu sich gekommen war, Anna um Verzeihung, dass sie ihr nicht helfen könne, und fuhr
auf ihrem Fahrrad davon. Sie kam nie wieder.
Nun aber war Anna froh, dass Frieda, die inzwischen ihren Familiennamen gewechselt hatte, da war. Endlich eine mitfühlende Seele aus der Jugendzeit!
Frieda, die einmal Annas Bruder Hermann geliebt hatte, war nun verheiratet mit Franz, einem Obersteiger. Er war einer der Nachkommen von polnischen Gastarbeitern, die in den schlechten Zeiten ins Ruhrgebiet kamen, um im Bergwerk zu arbeiten und sie hatten natürlich polnische Namen.
Franz hieß Zilinsky, ein guter polnischer Name, aber nicht für die Gelsenkirchener Bevölkerung. Die Polen waren zwei Generationen zuvor ins Ruhrgebiet gekommen, weil sie zu Hause absolut keine Arbeit fanden und nahe dem Verhungern waren.
Die Verdienste in den Ruhrgebiet-Zechen waren gering, doch besser als gar nichts, sagten sie sich.
Viele Bergarbeiter aus dem Ruhrgebiet waren entlassen worden, weil die Polen noch billiger arbeiteten als die Einheimischen. Aus eben diesen Gründen waren viele Bergarbeiter aus dem Ruhrgebiet nach Amerika ausgewandert, weil sie in Deutschland fast nichts verdienten und schwere Arbeit leisten mussten. Da bot sich Amerika als Auswanderungsland an.
Noch zwei Generationen später sagten die Einheimischen, dass die Polen ihnen die Arbeit weggenommen hätten und das Wort POLLACK blieb eine Art Schimpfwort.
Frieda erzählte Anna, dass die Bergarbeiter aus dem Ruhrgebiet bei den ersten Auswanderern nach Amerika gewesen wären. “Es gibt eben immer noch Ärmere, die für noch weniger Geld arbeiten, ehe sie verhungern“ sagte sie, aber die Zeiten sind ja nun vorbei!
“Wir haben ja auch nicht viel“, aber Hunger haben wir nicht, sagte sie. Von Hitler, der Autobahn und den Nazis sprachen sie nicht, denn Franz als “Obersteiger” hatte immer Arbeit gehabt und ihnen war die Politik unwichtig. Da sagten die Leute: “Wes Brot ich esse, des Lied ich singe!” Doch Anna sagte: “Das haben wir zur Kaiserzeit auch schon gesagt…!”
Frieda hatte eine Tochter, Ilse, ein sehr nettes Mädchen. Sehr zart. Ein schönes Kind!” Sie war so alt wie Gerd und hatte in der Schule große Schwierigkeiten wegen des polnischen Namens. Immer rief man ihr: “Pollak…, Pollak…, Pollak…”, nach.
Das Kind weinte und so beantragte Franz eine Namensänderung. Nun hießen sie Zillmann und dann war alles gut. Frieda sagte: “Warum sind die Menschen nur so blöd? Wir sind doch immer noch dieselben!”
Doch dann sprachen sie von “früher” und Anna war froh, mal an etwas Schönes zu denken. Sie besprachen die Kommunion, die eine Woche nach Ostern stattfinden sollte und Frieda versprach, für Anna Kuchen zu backen, und ihr zu helfen…
Frieda erschrak, als sie Wilhelm sah, so abgemagert und krank! Gar nicht mehr er selbst. So schlimm hatte sie sich seine Erkrankung nicht vorgestellt.
Sie sah’ Anna bedeutungsvoll an und sagte: “Wilhelm muss ins Krankenhaus, es geht doch nicht mehr…! Das müsst Ihr doch einsehen!”
“Das muss er selbst entscheiden”…, sagte Anna.
Vorsorglich und frühzeitig wurden alle Verwandten mütterlicher - und väterlicherseits eingeladen, denn Anna wollte auch nach Außen zeigen, dass die Kinder eine große, zusammenhaltende Familie hatten. Das war gut für das Ansehen in der Nachbarschaft. Man hörte: “Die hatten bald zwanzig Personen da…, ”oder: “Deren Familie hat einen guten Zusammenhalt!” Vor allen Dingen wollte Anna zeigen, dass sie nun, da ihr Ehemann gestorben war, nicht alleine da stand, aber leider klappte das alles nicht.
Die Verwandten aus Kleve sagten ab und die Großmutter Wilhelmine war krank. Sie konnte nicht alleine mit dem Zug kommen. Die Geschwister hatten sich untereinander wegen der Erbgeschichten zerstritten und hatten es Anna übel genommen, dass sie sich nicht an der Erbauseinandersetzung beteiligen wollte. Der jüngste Bruder, Bernd, sollte nach dem Testament alles erben. Doppelhaus, Laden und den großen Garten. Dafür sollten er und seine Frau, die Mutter bis an deren Lebensende versorgen und…, sie sollten den kleinen Lebensmittelladen weiterführen. Mutter Wilhelmine war nicht mehr in der Lage, alles alleine zu bewältigen und es steckte so viel Mühe darin. Sie war so stolz darauf gewesen, dass sie so viel geschafft hatte, aber niemand wollte das anerkennen und sie arbeitete noch immer weiter. Sie war jetzt sechzig Jahre alt und immer noch hatte sie Schweine und Hühner im Stall, die sie alleine versorgte.
In den letzten Ferien war Liesi in Kleve gewesen und da hatte die Oma sie mit auf den Schweinemarkt genommen. Liesi hatte gesehen, mit wie viel Sachverstand sie die kleinen Ferkel aussuchte und wie anerkennend die Händler mit der Oma umgingen. Liesi war stolz auf die Oma, die so gut mit den Händlern verhandelte.
Füe sie und Ricka, die auch dabei war, waren das wunderschöne Ferien gewesen. Sie durften wieder in dem Zimmer wohnen, in dem Anna schon geschlafen hatte, als sie noch ein Kind war. Wieder war der betörende Lindenduft im Zimmer. Das Buch vom Märtyrer Willibrodus war auch noch da und sie konnten mit ihren Vettern und Liesis Bruder über die Felder laufen.
Sie erzählten auch von den die letzten Herbstferien, als die Felder schon kleine Eiskrusten hatten und es unter den Schuhen knirschte. Sie hatten in den abgeernteten Feldern Kartoffeln gesucht und sie in Feuersglut gebraten. Da waren die Schalen ganz schwarz und trocken und musste sie von der einen Hand in die andere schleudern. Man brach sie auseinander und nie hatte man bessere Kartoffeln gegessen. Das erzählte auch Ricka zu Hause und Rickas Vater sagte: “Das ist was für Proletarier!” Liesi fragte Anna: “Was sind Proletarier?” Anna sagte: ”Wenn wir nicht bald zu etwas Geld kommen, zählen sie uns auch dazu, aber dazu lasse ich es nicht kommen.”
“Ist Geld denn so wichtig“?, fragte Gerd, “Wir haben doch alles, was man braucht!”
“Es dreht sich immer um Geld, oder um um reiche Bauern und Kaufleute, alten Adel oder um solche mit langen Studien, Doktoren und Apothekern und um die reiche Kirche!”, sagte Anna. Jeder will mehr sein als der Andere und viele blicken auf die ärmeren Leute herunter. Egal, ob du gut, oder schlecht, fleißig oder faul bist, ob du selbst Schuld hast - oder - ob dir das Schicksal einen Streich spielt: “Geld regiert die Welt!” Ohne Geld bist du nichts. Das hat Euer Opa auch schon immer gesagt.”
“Ja, aber der Pastor betet doch: “Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich…!”
“Damit meinen sie die Dummen!“, sagte Anna. “Und zu denen gehören wir nicht! Wir haben eine schwere Zeit vor uns, aber so lange wir gesund sind und uns gern haben, werden wir nicht untergehen. Ihr müsst viel lernen und später einen Beruf haben, damit es Euch nicht so geht wie mir! Wenn Vater noch lebte, wäre es viel leichter für uns, aber es muss weiter gehen! Man darf die Flinte nicht ins Korn werfen!”
Das mit der Flinte hatte Liesi überhaupt nicht verstanden, aber Gerd sagte: ”Wer die Flinte ins Korn wirft, hat Wut, weil er den Hasen nicht getroffen hat!”
“Du hast es erfasst!”, sagte Anna und sie hatten etwas zum Lachen.
Seit Großvater Wilhelm tot war, ging alles in der Familie in Kleve bergab. Bernds Ehefrau, aber auch die junge Frau von Aloys hatten keine Lust im Laden zu helfen, obwohl sie alle noch kostenlos im Elternhaus wohnten. Sie wollten Hausfrauen sein und Wilhelmine konnte nicht alles alleine machen. Es wurde viel getratscht, und immer gab es irgendeinen Disput zwischen den Ehefrauen der Brüder. Die Zeiten, Mode und Lebensweisen, hatten sich geändert. Es herrschte zwar immer noch hohe Arbeitslosigkeit, aber Annas Brüder hatten Arbeit und verdienten der Zeit entsprechend, ganz gut, aber “große Sprünge“ konnten sie nicht machen. Und Urlaubsreisen konnte sich, trotz Arbeit, niemand leisten. Die meisten Leute kannten das Wort: “Urlaub” überhaupt nicht. Urlaub hatte man beim Militär und im Krieg, aber sonst? Die Männer hatten ein paar Urlaubstage, aber meistens verwendeten sie diese, wenn es ging, zu Kirmes oder Fastnacht. Selbständige Handwerker, wie der Vater und der Opa, hatten nie Urlaub gemacht, denn dann hätten sie in der Zeit kein Einkommen gehabt.
Es gab Schulferien, aber das war nur was für die Kinder und die fuhren nicht in Urlaub. Höchstens, wenn sie Glück hatten, zu Verwandten, wo es nichts kostete.
Anna wusste um das Testament der Eltern und fand es eigentlich nicht richtig, dass nur der jüngste Bruder erben sollte, denn bis jetzt hatte er noch nicht viel für die Mutter getan, um des Alleinerbes würdig zu sein, aber da sie ja nicht in Kleve wohnte und das Zusammenspiel der Familie nicht kannte, schwieg sie zu den Streitigkeiten. Sie wollte sich den Zugang zu ihrer geliebten Heimat erhalten und für die Kinder war es gut, dass sie die Ferien dort verbringen konnten.
Später aber hatte Anna es der Mutter doch übel genommen, dass sie ihr nicht das Geschäft zur Weiterführung angeboten hatte. Anna war geschäftstüchtig und hätte etwas daraus gemacht und ihre Existenz wäre gesichert gewesen, denn nach Wilhelms Tod blieb ihr nichts mehr zum Leben. Alles hatte die Krankheit aufgefressen und nur das Haus war ihr geblieben, zwar immer noch schuldenfrei, aber die Mieteinnahmen waren klein…, zu klein…, um davon leben zu können. Aber sie wäre nie auf die Idee gekommen, das Haus zu verkaufen. Es war ihr einziger Rückhalt. Das “Dach über dem Kopf…!” Es gab ein Gefühl der Sicherheit, vor allem für die Kinder, die im eigenen Haus wohnen konnten und es war gut für ihr Selbstbewusstsein… “Nie zu unterschätzen…!”
Am Ende konnten Bernd und seine Frau das Geschäft nicht mehr halten. Es war ihnen zu viel Arbeit und Bernds Ehefrau hatte kein Interesse an dem “Laden.” So hatte zum Schluss niemand etwas davon. Es wurde geschlossen
Es waren Osterferien und Gerd war zur Oma nach Kleve gefahren. Er fühlte sich dort wohl und Anna brauchte sich keine Sorgen zu machen.
Dort waren die drei Söhne von Bruder Hermann, mit denen er zusammen sein konnte.
Inzwischen hatte Frau Stein das Kommunionkleid für Liesi genäht und auch das weiße Kränzchen mit den Rosen lag in der Kommode. Eine Nachbarin hatte für Liesi ein weißes Jäckchen gehäkelt und Onkel Aloys hatte ihr schwarze Lackschuhe aus Kleve mitgebracht. Doch es konnte keine rechte Freude aufkommen.
Anna kam wegen der Krankenpflege überhaupt nicht mehr aus dem Haus und sie sah schrecklich verhärmt aus. Sie wurde im Juli sechsunddreißig Jahre alt und sie sagte: “Ich fühle mich wie Hundert!”
Wilhelm war nun so schwer krank, dass er beim leisesten Geräusch zusammen schreckte und als Liesi kam, um ihn zu besuchen, sagte Anna: “Sei leise, Vater schläft“.
Viele Jahre später hatte Liesi diesen Tag, und ihren letzten Besuch bei ihrem sterbenden Vater beschrieben, denn er hatte nun selbst danach verlangt, ins Krankenhaus zu gehen.
Dieser letzte Besuch bei dem Kranken und die Tage danach, waren in ihrem Gedächtnis bildhaft verankert. Sie konnte diese Bilder abrufen, wann immer sie wollte, aber es war auch ein Abschluiss…. , eine Erlösung und kein Schock, als der Vater gestorben war. Das neunjährige Kind sah nun mehr als andere Kinder dieses Alters und war doch… ganz Kind…
Das Kind lernte, eine heile Welt zu träumen.
Anna setze Liesi das weiße Kränzchen mit den glänzenden Rosen auf und sagte: “Das musst Du Vater zeigen…! Geh’ setz Dich zu ihm.”
Als sie an das Bett des totkranken Vaters trat, beugte sie sich über ihn und sah ihn lange und intensiv an. Er lag ganz still da, und Liesi dachte: “Ist er schon beim lieben Gott?”
Er, der einmal ein kräftiger, großer Mensch gewesen war, sah ganz klein aus und Mutter konnte ihn hochheben wie ein Kind, wenn sie ihn bettete. Er trug ein weißes Hemd, was seine Blässe noch unterstrich und er hatte die Augen geschlossen. Liesi schaute ihn an, als wollte sie in seinen Kopf sehen, wollte wissen, was in ihm vorging und hatte dabei auch ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht mit gefalteten Händen bei ihm saß und betete, wie die Mutter ihr geraten hatte.
Es war eine seltsame, merkwürdige Stimmung. Als er die tief liegenden Augen aufschlug, sie erkannte, und als er das weiße Kränzchen mit den seidenen Rosen auf Liesis Kopf sah, das sie schon längst vergessen hatte, hob er die Arme und schlug die Hände zusammen.
Erstaunt und beglückt sagte er leise und schwach:
“So schön, Kind!“
Sie neigte sich zu ihm und sah in seine nun blassblauen Augen, die doch einmal so übermütig und strahlend blau waren, wenn er sang:
“Es liegt eine Krone im tiefen Rhein,
gezaubert von Gold und von Edelstein,
und wer sie erhebet aus tiefem Grund,
den krönt man in Aachen, zur selbigen Stund.”
Liesi fühlte eigentlich nichts. Keine Trauer, keinen Schmerz, nur Mitgefühl.
Sie dachte: “Vielleicht ist das der Tod, vor dem alle eine so große Angst haben, aber Vater hat keine Angst, das fühle ich. Sie streichelte seine Hand, die einst so stark war, wenn er sie, wie eine Feder hoch hob und herumwirbelte.
So sah sie ihn, nun so, zum letzten Mal…
Am selben Tag wollte er ins Krankenhaus, was er vorher immer abgelehnt hatte. Doch nun wollte er dort hin. Er wurde untersucht und der Arzt sagte voller Mitgefühl zu Anna: “Und ihn haben sie drei Jahre gepflegt?”
Vater kam dann in das Sterbezimmer, wo er allein sein konnte und als er die reinweißen Wände und das schwarze Kruzifix sah, sagte er:
“Nun bin ich zu Hause!”
Er hatte keine Schmerzen mehr. Der Körper gab kein Sekret und er schlief für immer ein.
Anna, die fast ein Jahr das Haus nicht mehr verlassen hatte, kam sich vor wie in der Fremde, als sie nach Hause ging und sah auf einmal voller Erstaunen, dass die Sonne schien, und eine Frau sagte: “Guten Tag Frau Grüber…, wie geht es ihrem Mann…?” “Nachher wurde ihr bewusst, dass sie gesagt hatte:
“Danke, gut…!”
Sie ließ Liesi und Gerd rufen und als Liesi hereinkam, wollte Anna sie auf den Schoß ziehen, aber das war Liesi unangenehm, weil sie in den letzten Jahren solcher Zärtlichkeiten entwöhnt war, doch sie wusste, dass die Mutter sie sehr liebte. Sie nahm ihr das Wort aus dem Mund und sagte: “Vater ist tot!”
Anna fragte: “Woher weißt du das?”
“Das weiß ich schon seit gestern, als ich Vater das Kränzchen gezeigt habe!”, sagte Liesi. Die Mutter schloss sie in die Arme und sagte leise:
"Nun ist es gut!"
Gerd kam herein und der zwölfjährige Junge sagte: “Ist Vater erlöst?“ Und Anna zog ihn an sich. Sie weinten nicht und dann sagte Anna: “Geht nur wieder eine Weile zu Ricka und Theo und kommt heute Abend wieder, es wird alles wieder gut werden.”
Sie war am Ende ihrer Kräfte.
Liesi ging noch einmal in die Werkstatt und nahm den Geruch nach Leder wahr.
Sie dachte daran, wie schön es war, wenn sie bei Vater in der Werkstatt sitzen und ihm zusehen konnte, wie er die Holzpinne in das Leder trieb und ihr eines seiner Lieder aus dem Gesangverein vorsang. Er hatte eine schöne Stimme…!
In dieser Stimmung lief sie zu ihrer Freundin Ricka. Sie stand an dem Geländer im Hausflur, auf der mit rotbraunem Lack gestrichenen, nach Bohnerwachs riechenden Treppe und ihre Hand umfasste die glatten, hellbraunen, glänzenden Treppenstangen. Sie fühlte sich verpflichtet, zu weinen, wenn sie Rickas Eltern von Vaters Tod erzählen müsste. Doch sie konnte keine Tränen hervorbringen und schämte sich, weil Rickas Eltern sie doch trösten wollten, aber sie waren auch erleichtert, das spürte Liesi…, dass sie…, so…, wie sie sagten…., vernünftig reagierte.
Das weiße Plakat: “Vorsicht, frisch gebohnert!” blieb hinfort in Liesis Gedächtnis, wenn sie an Vaters Tod dachte. Eigentlich spürte sie gar nichts, denn sie hatte sich schon lange von ihrem Vater verabschiedet.
Nun kam auf Anna noch die Beerdigung zu und eine Aufregung folgte der anderen. Liesi wollte unbedingt einen kleinen Kranz, der rundum mit Primeln geschmückt war, tragen und diesen Vater selbst aufs Grab legen. Vater war aufgebahrt, aber er sah gar nicht mehr aus, wie der Vater. Sie hatte noch nie einen Toten gesehen. Doch hätte Anna ihn nicht aufbahren lassen, hätte sie sich einen schlechten Namen gemacht. Die Nachbarschaft hätte das nicht verstanden. Es war so üblich…
Mutter sagte, Liesi solle ihm ein Küsschen auf den weißen Ärmel seines Hemdes geben. Zum Abschied…, und Liesi tat es, aber sie fühlte nichts. Nur war sie darauf bedacht, dabei ein gutes Bild abzugeben. Das war sie Vater schuldig. So sah sie es, und als endlich alles vorbei war, gingen sie mit Gerd und Onkel Aloys nach Hause.
Onkel Aloys fuhr dann auch schnell wieder nach Kleve, denn seine Frau hatte schon ein paar Mal angefragt, wann er denn endlich nach Hause käme und dann waren sie allein, aber es war friedlich und still.
Leider hatte Liesi allergisch auf den Primelkranz reagiert, denn ein fast unerträgliches Brennen machte sich mit Hautrötung und Pickeln auf ihrem Handrücken und Arm bemerkbar. Das Wort Allergie war in ihren Kreisen noch nicht bekannt und so fürchtete Anna einen schlimmen Ausschlag und machte sich erneut Sorgen.
Bevor Liesi einschlief, hatte sie ihr noch einen kühlenden Verband auf den Arm gelegt, aber am nächsten Tag war die Haurötung zurückgegangen und alles wurde wieder gut.
Was aber in Gerd, dem Jungen, vor sich ging, darüber sprach eigentlich niemand. Gerd würde ja ein Mann werden und Männer hatten härter zu sein als Frauen. Dass Männer genau so sensibel wie Frauen sein können, darüber sprach niemand. Auch das Wort “sensibel” war nicht in ihrem Wortschatz!
“Du bist ein Junge, und Jungen weinen nicht!”, sagten sie und so war auch Anna groß geworden. Die Mädchen hatten nichts zu sagen. Das sind Heulsusen, sagten die Jungen und waren stolz darauf, hart wie Männer zu sein. Ihre Gefühle hatten sie zu verstecken, denn sie sollten ja mal “echte Männer” und Soldaten werden.
Doch diese Theorie kam sie irgendwann teuer zu stehen, denn ihr Gemüt war gefesselt und um ein Leben zu meistern, mussten sie immer den “starken Mann” mimen, auch wenn ihnen nicht danach zu Mute war. Wenn ein Mann weinte, war er ein Schlappschwanz und wer wollte das schon sein? Also Zähne zusammen gebissen und durch! Egal was kommt…!
Weinen gestatte man nur, wenn die Mutter oder der Vater, oder wenn die Ehefrau oder ein Kind gestorben war. Aber das, auch nur kurz…
Frauen gestatte man auch nicht, viel zu weinen. Man musste sich “zusammennehmen” Gefühlsausbrüche nur heimlich, hinter verschlossenen Türen… Da sagten die einfachen Leute: “Das Leben geht weiter…, man darf sich nicht gehen lassen.
Die Gebildeten sagten: “Contenance!”, so, Rickas Vater, der französisch sprach, und das beeindruckte Liesi sehr. Ich werde auch mal französisch lernen, dachte sie…, das klingt so schön…!
Jetzt sollte erst einmal Liesis Kommunion vorbereitet werden und wieder war es Aloys, der Anna half, die Wohnung zu renovieren, denn während Wilhelm krank gewesen war, konnte Anna überhaupt nichts machen. Aloys war der Einzige, der Anna in der schweren Zeit beigestanden hatte und Anna war ihm sehr dankbar. Er sagte: “Wenn Wilhelm katholisch gewesen wäre, dann wären die anderen Verwandten sicher auch gekommen.”
Es war eine kleine Gesellschaft, die sich da zusammen gefunden hatte und Anna bedauerte, dass so wenige Verwandte von Wilhelm dabei waren, denn zu allen traurigen Erlebnissen der letzten Zeit, war in der Woche nach Ostern, Wilhelms fromme, protestantische Mutter, im Alter von siebenundachtzig Jahren, gestorben und Wilhelms Geschwister waren zur Beerdigung gefahren. So hatte sie ihren Sohn noch überlebt. Die Verwandten konnten deshalb nicht zur Kommunionfeier kommen, aber Liesi war sehr zufrieden und glücklich. Ihr war die erste Kommunion heilig und das Fest war so schön für sie.
Ein besonderes Erlebnis war, dass der Vater einer Schulfreundin, der einzige Autobesitzer in weiterer Umgebung, Anna, Liesi und Gerd von der Kirche abholte und nach Hause fuhr…, und Liesi war das einzige Kind, das mit dem Auto abgeholt wurde. Das war ein Ereignis…! Anna war dem Herrn Direktor von der Plattenfabrik,
dessen Tochter in Liesis Klasse war, sehr dankbar und fühlte sich geehrt.
Die Kommunionfeier verlief ohne Probleme. Alles war sehr feierlich und die wildesten Jungen gingen brav mit der brennenden Kerze in der Reihe, als sie in die Kirche einzogen. Die Eltern und Geschwister der Kinder saßen, schön angezogen, in den Bänken und sahen gerührt zu.
Zuschauer beobachteten, welche Kleider die Kinder trugen und überlegten, was die Kleider wohl gekostet hätten und wie sich die Leute das leisten konnten. Die Glocken läuteten lange und der Kirchenchor stimmte einen Choral an. Der Pfarrer predigte liebevoll und schleuderte nicht wie sonst, den sündigen Gläubigen Strafpredigten um die Ohren. Dann kam das Wichtigste: Die Kommunion.
Die Messdiener klingelten mit ihren Glöckchen und der Pfarrer segnete die Hostie, bevor er sie selbst nahm. Die heilige Hostie wurde aus dem goldenen Kelch auf die Zunge der Kinder gelegt. Danach gingen sie mit gesenktem Kopf und gefalteten Händen zurück auf ihre Plätze, knieten dort nieder um zu beten.
Das Einzige, was Liesi bedrückte, war…, dass die trockene Hostie… Liesi am Gaumen klebte und diese wollte nicht geschluckt werden und das war schrecklich, denn so musste sie längere Zeit auf der Bank knien. Sie hielt die Hände vor die Augen und tat, als ob sie betete. Es dauerte lange, bis sie es geschafft hatte. Sie fürchtete, dass Jesus nun nicht in ihr war, aber Anna sagte: “Das ist Quatsch! Gott ist immer bei Dir!”
Liesi bekam wenig Geschenke, denn die sparsamen Verwandten waren wahrscheinlich froh, dass sie nichts ausgeben mussten, weil sie ja nicht zur Feier kommen konnten und wer nicht mitfeiert, braucht auch nichts zu schenken…
Sie schickten Glückwunschkarten und ein paar Nachbarn schickten Blumen. Der Kaufmann von der Ecke schenkte Liesi Gebäck.
Anna ärgerte sich über die Verwandten und sprach von “Geizhälsen”, aber Liesi bemerkte das nicht. Sie war einfach glücklich und zufrieden.
Ihr schönstes Geschenk war ein Papposterhase, dem man den Kopf abnehmen konnte. Er war gefüllt mit vielen bunten Zuckereiern. Onkel Aloys hatte ihr diesen Hasen mitgebracht. Eigentlich passte das ja nicht zum Kommunionsfest, aber für Liesi war es wunderbar und sie stellte den Hasen auf ein Wandbrett. Zwischendurch sah sie immer wieder zu ihm hin, als ob sie mit ihm sprechen könnte.
Für Anna war das eigentlich unverständlich, denn Liesi hatte von ihr ein wunderschönes, goldenes Kettchen mit Kreuz bekommen, ihr eigenes, das sie zur Kommunion bekommen hatte. Es passte ja auch besser zur Kommunion, aber in Erinnerung an diesen Tag, kam Liesi immer wieder dieser Papphase ins Gedächtnis.
Gerd nannte den Hasen despektierlich: “Pappkamerad…! ”
Er hatte für Liesi einen Schrank für die Puppenküche gebastelt, ein paar Bleisoldaten und zwei Totenköpfe gegossen und bemalt. Anna meinte, das sei nicht passend für die Kommunion, aber Liesi freute sich sehr, denn sie wusste ja, wie viel Arbeit es war. Der Kater Mohrchen war auch bei der Feier und durfte auf einem Hocker neben Liesi sitzen. Dieser Kater war überaus possierlich und Liesis Spielkamerad. Ihm hatte sie sogar in den Ferien aus Kleve eine Ansichtskarte geschrieben, und ihre Mutter grüßen lassen. Liesi behauptete, dass der Kater mit ihr sprechen könne. Auf ihre Fragen würde er mit Miau antworten.
Anna sagte: “Liesi, es ist nicht passend, was du mit dem Kater anstellst!” ,aber Liesi bestand darauf. Anna sagte scherzhaft: “Ein Glück, dass die Hühner nicht so brav sitzen bleiben, sonst hättest du die auch eingeladen!” Das würde ich Dir nicht antun,” sagte Liesi, “denn die Hühner stinken etwas und lassen oft etwas fallen.”
“Ja,” sagte Gerd, ”aber keine Eier!”
Etwas ernüchternd war, dass zwei Hunde auf der Straße, direkt vor ihrem Fenster kopulierten und nicht voneinander loskamen, “Und das auf der Kommunion..!”, sagten die Leute naserümpfend und schauten dem Schauspiel zu. Sie machten blöde Bemerkungen. Da ging Gerd, der Tiere sehr liebte, hinaus, holte einen Eimer Wasser und übergoss die Hunde, die sich nun trennen konnten, und schon war der Spuk vorbei. Man hatte wieder Gesprächsstoff.
Doch Liesi maß alledem keine Bedeutung bei. Das war ihr Tag und sie genoss es, einmal die Hauptperson zu sein.
Liesi hatte später an die Kommunion sonst keine Erinnerungen, außer, dass Tante Friedel aus Gelsenkirchen dabei war und am Tag zuvor, von Anna bewundert, ganz besondere Biskuitrollen gebacken hatte.
Ricka, ihre Freundin und ihre Eltern waren auch Gäste und Liesi bekam von Rickas Vater zwei Bände von “Trotzkopf“ und Blumen. Freundin Ricka schenkte ihr Schokolade. Liesi war vollkommen glücklich und zufrieden. Anna aber war schrecklich müde, als alles vorbei, und gut gelungen war…
Anna aber musste sehen, wie sie jetzt zu Geld kommen sollte. Sie hatte ja nichts gelernt, außer Kochen, Haushaltführung, Gartenarbeit, Krankenpflege, Handarbeiten, Flicken, Stopfen und Nähen und das Haus verwalten. Das galt nicht viel, denn es brachte ja kein Geld ein.
Niemand half ihr. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als eine Putzstelle zu suchen, denn in die Fabrik arbeiten gehen, zu all’ den ordinären Frauen, das wollte sie nicht. Sie war immer noch stolz, aber es wurde alles zur Zwangsarbeit, wie sie sagte, und dazu schlecht bezahlt. Die Stunde fünfzig Pfennige Lohn und mit einem gewissen Unterton…, “Putzfrau” genannt zu werden. Der Mensch zählte überhaupt nicht! Was nutzten nun ihre guten Deutschkenntnisse, ihre schöne Schrift, und rechnen konnte sie auch…
Putzfrau war fast ein Schimpfwort in ihren Ohren, aber sie musste Arbeit annehmen. Sie hatte nichts mehr, außer den kleinen Mieteinnahmen und eine kleine Rente, denn Wilhelm war ja zu jung gestorben, um eine höhere Rente zu bekommen. Die Kinder bekamen eine Waisenrente von fünfzehn Mark im Monat…, aber was sind fünfzehn Mark für heranwachsende Kinder? Sie war froh, dass sie das Geld bekam und umgerechnet waren es ja auch dreißig Arbeitsstunden.
Es begann die “Tassen - Kassenführung”…, wie Anna scherzhaft sagte. Um niemals Schulden zu haben, wurden die Tassen für die monatlichen Ausgaben oben auf den Küchenschrank gestellt. Für jede der monatlichen Ausgaben eine:
Strom,
Gas,
Wasser,
Kanal,
Sterbekasse - Für sich, für Gerd und für Liesi, je 0,50 Pfennige = eine Mark fünfzig,
“Alte Leipziger Versicherung” - Vertretung: “Herr Erdmann “,
Müllabfuhr,
Kohlen,
Gebäudeversicherung.
Alle diese Ausgaben wurden akribisch in diesen Tassen gesammelt und Anna war stolz, wenn sie am Monatsende alles zusammen hatte.
Taschengeld bekamen die Kinder nicht. Mal hier und da einen Pfennig für Salmiakpastillen und Gerd für die Volksbücherei. Dort konnte er Bücher ausleihen. Anna gönnte sich auch nichts extra und sie arbeitete viel und lange.
Einmal hatte Liesi zwei Pfennige bekommen und wollte sich bei Fräulein Dornseifer “Lieb Kind” machen. Sie wollte etwas für die Heidenkinder geben, um die Zuneigung der Lehrerin zu gewinnen. Sie hatte gesehen, dass diese zu den Kindern, die Geld spendeten, freundlicher war, als zu ihr. Gnädig holte diese den kleinen Chinesen aus dem Klassenschrank. Liesi warf das Geld in den Schlitz, den der “kleine Chinese” auf dem Kopf hatte, und der “kleine Chinese” nickte zweimal dankend. Dann war das Geld weg. Es gab auch einen nickenden Neger und Liesi hätte gerne das Geld aufgeteilt, aber vielleicht war ja auch ein Pfennig für jeden zu wenig.
Trotz dieser Spende, hatte Fräulein Dornseifer nicht vergessen, Liesi zu rügen, weil sie an Karneval ein Rotkäppchenkostüm angehabt hatte, obwohl doch das Trauerjahr für ihren Vater, der Ostern vor einem Jahr gestorben war, noch nicht zu Ende war.
Eigentlich war es nur ein rotes Kopftüchlein gewesen, das Anna Liesi umgebunden hatte. Sie wollte ihr die Freude nicht verderben, als alle Kinder auf der Straße Fasnacht feierten und Liesi sehnsüchtig am Fenster stand.
Am Rosendienstag hatte Fräulein Dornseifer gefragt, wer ein Kostüm angehabt hätte und Liesi sollte, wie Anna immer verlangte, nicht lügen. Darum zeigte Liesi auf und gab zu, dass sie ein Rotkäppchen war. Sie dachte, diese Ehrlichkeit würde gelobt werden, aber es erregte den Zorn der Lehrerin, obwohl sie wusste, dass einige der Kinder nicht aufgezeigt hatten und doch kostümiert gewesen waren.
Sie sagte: “Dein Vater ist gestorben, und du feierst Fastnacht!” Liesi schämte sich sehr und nahm sich vor, in Zukunft nicht mehr die Wahrheit zu sagen. Wenn man die Wahrheit sagt, wird man bestraft, dachte sie. Die anderen Kinder grinsten und lachten über sie.
Anna ärgerte sich als sie das hörte und sagte zu Frau Frau Krieger: “Warum gönnt diese Frau dem Kind nicht diese kleine Freude!“ Haben wir nicht schon genug mitgemacht?
Sie, die doch so kirchentreu gewesen war, fing an, über die Institution Kirche nachzudenken. Trotzdem hielt sie am sonntäglichen Kirchgang fest und ermunterte auch die Kinder, das zu tun. Immer noch stand sie zu dem Spruch: “Wenn die Not am größten ist, ist Gottes Hilfe am nächsten.”, aber es war wie das “Pfeifen im Walde“! Von ihren Bedenken sagte sie nichts, aber sie war traurig, dass sie ihren Kinderglauben verloren hatte. Ihre Enttäuschung war groß!
“Niemand aus diesen Kreisen hat mir geholfen, weder während Wilhelms langer, schwerer Krankheit, noch in der schwierigen Situation danach.” “Hilf Dir selbst, dann hilft Dir Gott!”, wurde zu ihrem Wahlspruch. Sie ging nicht mehr jeden Sonntag in die Kirche.
Zu allem Überfluss kam Wilhelms Bruder Karl, um die achtzig Mark, die er Wilhelm für das Leder geliehen hatte, zurückzufordern. Anna gab ihm das letzte Geld, das sie hatte und fragte: “Hättest du damit nicht noch ein paar Tage warten können, jetzt wo ich die ganzen Kosten für die Beerdigung habe?” Es war ihm peinlich, zu sagen, dass ihn seine Frau geschickt hatte. Er nahm das Geld, ohne zu fragen, wie es Anna ging.
Sie nahm die Putzarbeit an und schleppte die Wäschekörbe der Leute bis auf die Speicher und putzte die Fenster und die Wohnungen, die Treppen und Flure und ihre Hände wurden rau und rissig. Sie rieb sie mit Glyzerin ein, aber sie schaffte es, am Monatsende ohne Schulden durchzukommen. Es war sehr schwer und manchmal war sie traurig, aber sie liebte die Kinder und hatte das Glück, sich entspannen zu können.
Dann hatten sie, trotz aller Arbeit auch manchen Spaß zusammen und es wurde viel gelacht. Anna sang wieder bei der Arbeit, wenn sie zu Hause war und dann tat sie etwas, was sie sonst verurteilte: Sie machte einen Ratenkauf… sie kaufte ein Radio…, einen Volksempfänger…, ein wahres Wunderwerk…, und bezahlte nun monatlich ab, doch der Kauf hatte sie nie gereut, wenn auch die Rückzahlung schwierig war. Es war eine Tasse mehr auf dem Schrank…!
Den Volksempfänger nannte man im Volksmund:
“Goebbelsschnauze”
“Der Goebbels ist ein “Redner vor dem Herrn”! Der redet wie ein Maschinengewehr!”, sagten die heimlichen Nazigegner. Das durften die Parteianhänger aber nicht hören, denn die verstanden keinen Spaß und man wäre ganz schnell abgeholt worden. Josef Goebbels war Propaganda- und Kulturminister. Er stammte aus Mönchengladbach und war von einfacher Herkunft. Er hatte einen Klumpfuß, war klein von Gestalt. Goebbels hatte einen ungeheuren Ehrgeiz, war sehr intelligent, und hatte als Redner großen Erfolg. Mit seiner durchdringend hellen Stimme, formulierte er seine Sätze. Seine Stellung nutzte er aus, um sich in einige Liebschaften mit Künstlerinnen einzulassen. Er formulierte den viel kolportierten Satz: “Früher gingen die Schauspielerinnen durch die Betten der Regisseure, heute sind WIR da!” Er war ein treuer Vasall Hitlers, des Führers und Reichskanzlers. Man sagte ihm große Fähigkeiten nach. Anna nannte Goebbels “Schreihals”, aber sie konnte nicht ahnen, wozu der “Schreihals“ fähig war. Ihrem Wahlspruch treu, sprach sie nicht mit Fremden über ihre Ansicht. Auch Adolf Hitler schleuderte über den Volksempfänger seine Tiraden ins All und er hatte Erfolg bei den Volksgenossen. Großen Erfolg!
Doch sonst war es ein großes Vergnügen, die Sendungen anzuhören. Schon morgens wurde Musik gesendet. Oft hörte man „Dichter und Bauer“ und „Mutterl, unterm Dach ist ein Nesterl gebaut!“. In der Adventzeit ging man schon nach dem Frühstück mit Adventsmusik, und Weihnachtsliedern im Ohr aus dem Haus. Durch das Radio wurde das Leben schöner. Man war nicht mehr allein und nicht mehr ausgeschlossen von den politischen Ereignissen, wenn auch nicht über alles berichtet werden durfte. Alles war zensiert und doch sickerte manches durch. Vieles war vage und niemand traute sich, etwas zu sagen.
Anna “machte” neben ihrer Arbeit immer noch den Garten und war schon um fünf Uhr auf. Auch die Hühner und Kaninchen mussten gefüttert werden. Der Stall musste sauber sein. Saatgut holte sie bei der Darlehenskasse und sie schleppte auch die Saatkartoffeln nach Hause. Gerd und Liesi halfen manchmal beim Kartoffellegen, oder beim Zwiebelstecken, aber da fehlte es doch oft an der Ausdauer. Unkrautjäten war schrecklich und die Kinder drückten sich, wo sie konnten.
“Es sind doch Kinder“, sagte Anna, wenn Rickas Mutter sagte, dass die Kinder mehr helfen müssten. Frau Krieger hatte es als Älteste in dem kinderreichen Haushalt auch tun müssen, aber Anna wollte, dass die Kinder nicht ausgenutzt würden.
Sie dachte an ihren Zorn, als sie bei Schulende den Keller, der voll Wasser gelaufen war, ausschöpfen musste und wie sie ihre Mutter in dem Moment gehasst hatte, weil sie nicht mit den anderen Kindern feiern durfte. Hinzu kam, dass Ricka auch nicht helfen musste, so, als ob Ricka etwas Besseres wäre als Annas Kinder.
Die Freundschaft mit Ricka war eine Bereicherung für Liesi. Rickas gebildeter Vater erweiterte ihren Wortschatz, und durch Ricka erfuhr sie manches, das in der Volksschule nicht gelehrt wurde.
Dann aber bot sich Anna eine Stelle als Haushälterin, weil die Ehefrau des Handwerkers, es war ein Maler- und Tapezierergeschäft, im Laden stehen musste. Eine Verkäuferin konnten sich die Handwerker mit den kleinen Läden nicht leisten. Die Frau des Handwerkers war eine sehr verständnisvolle und liebe Frau. Sie schätzte Annas Arbeit. Sie erzählte Anna, dass auch ihre Mutter so früh Witwe geworden sei, und wie schwer es die alleinstehende Frau, mit Kindern hatte.
Auch half sie Anna, wenn Waschtag war, und trug mit ihr die schweren Körbe auf den Speicher. Sie hatte in dem Handwerksbetrieb ihres Mannes schlechte Zeiten erlebt und wusste, was Anna zu leisten hatte. Anna gab das neuen Mut.
Eine Hilfe im Haushalt war billiger als eine Verkäuferin, doch für Anna war die Stellung eine Aufwertung ihrer Person. Sie konnte unter Beweis stellen, dass sie fähig war, den Haushalt zu führen und bekam Lob für Ihre Kochkunst und ihren Umgang mit den Kindern der Arbeitgeber, denen sie bei den Schulaufgaben helfen konnte. Sie machte sich nur Sorgen um ihre eigenen Kinder, die nun alleine zu Hause waren.
Liesi aber fand es gar nicht so schlimm, hauptsächlich alleine zu Hause zu sein. Ja, sie genoss es sogar, nicht mehr aufgefordert zu werden, doch an die frische Luft zu gehen, weil sie nun im Winter ihrer Leselust frönen konnte.
Der Vater von Annemarie…, zwei Häuser weiter…, der wegen multiple Sklerose gelähmt in einem Rollstuhl saß, besaß die gesamte Ausgabe der Romane von Alexandre Dumas und dessen Sohn. Er verbrachte die meiste Zeit im Wintergarten mit Lesen, weil der Rollstuhl so schwer war, dass ihn keiner schieben wollte. Annemarie und deren Eltern waren “Freidenker” und Annemarie war nicht getauft. Ihr älterer Bruder war Kommunist, doch das durfte er nun nicht mehr sagen, dann wäre er von den Nazis eingesperrt worden und die SA hätte ihn zusammen- geschlagen. Alle, die anders dachten als die Nazis, wurden verfolgt, wenn es herauskam.
Freidenker zu sein, war ein Makel in den Augen der Katholiken. Annemarie war etwa drei Jahre älter als Liesi und ging in die “Freidenkerschule“! Diese Schule lag gegenüber der katholischen Schule, aber es war eigentlich ein Schulhof, der durch einen hohen Bretterzaun vom katholischen Schulhof getrennt war.
Liesi ging oft mit Annemarie zusammen, aber kurz vor der katholischen Schule mussten sie sich trennen. Im Jahre 1937 waren die Ungläubigen in den Augen der Katholiken verdammenswert. Es war die Rede davon, dass die Heiden niemals in den Himmel kommen könnten und dass sie von Gott gestraft würden. Der Pausenhof der Freidenkerschule, im Sprachgebrauch, die “Heidenschule”, war durch einen hohen Bretterzaun vom katholischen Schulhof getrennt. Fräulein Dornseifer sagte: “Diese Heiden müssen unter sich bleiben…!”
Die katholischen Kinder, auch Liesi, gingen an den Zaun und schauten in der Pause durch die Astlöcher. Sie dachten, dass die Heiden Teufelshörner hätten. Doch wurden diese Unterstellungen uninteressant, weil die Kinder genau so aussahen wie sie selbst und da war ja auch Annemarie, die ganz normal aussah, und deren Vater im Besitz von interessanten Büchern war. Heiden oder nicht, eine einmalige Gelegenheit…
Liesi kam so in den Genuss etlicher Romane von Alexandre Dumas und dessen Sohn. Der Graf von Monte Christo, die drei Musketiere und vom jüngeren Dumas, sechs Bände über die französische Revolutionsgeschichte mit unzähligen abgeschlagenen, blutigen Köpfen auf dem Schafott! Liesi fand eigentlich die Geschichte um die drei Musketiere schöner, aber sie war empört, dass die Frauen mit ihren Strickstrümpfen in den Händen zur “Enthauptung” gingen und dieses Morden als Schauspiel genossen. Sie las vom Pöbel und von Henkersknechten, vom Adel und vom König und der Königin und von deren Verschwendungssucht,
vom Schloss in Versailles und der großen Revolution.
“Kopf ab!”, schrieen da die Leute und Liesi weinte im Stillen mit den armen adeligen Fräuleins, denen man die Haare abgeschnitten hatte und die im Büßerkarren zum Schafott gefahren wurden. Die Köpfe wurden in Säcken abtransportiert, so schrieb es Dumas Sohn. Sogar die Königin und der König mussten dieses Schicksal erleiden.
Eigentlich war das keine Literatur für ein zehnjähriges Mädchen, aber auch hier wurden die Seiten auf Geruch überprüft und es roch etwas nach Blut. Sie wurde ja nun auch bald elf Jahre alt…
Es gab noch eine andere Bücherquelle. Eine Mieterin hatte von ihrem Bruder, der zur Militärausbildung musste, Bücher von Tolstoi: “Anna Karenina” und sieben Bände “Krieg und Frieden”. Bücher von Dostojewski und Gogol hatte sie auch zur Aufbewahrung. Mit dem “Mantel” von Gogol machte Liesi erneut Bekanntschaft, als viele Jahre später, der große Marcel Marceau im Düsseldorfer Schauspielhaus gastierte. Kaum hatte er die Bühne betreten, wusste Liesi, wen der Pantomime darstellte, obwohl es so lange her war, dass sie das Buch, “Der Mantel”, gelesen hatte.
Eine Fundgrube für Liesi: Ein surrealistisches Buch vom Leben im Kühlschrank war auch dabei, mysteriös, aber spannend. Liesi las das Buch über den Kühlschrank und über eine Krawatte, deren Farbe und Glanz eine besondere Bewandtnis hatte, mehrmals. Die Krawatte konnte selbständig töten. Anna sagte: “Das ist großer Quatsch und hat überhaupt keinen Sinn!“
Sie sagte, besser wären für Liesi auf jeden Fall die Bücher von Karl May und die Hefte über Artisten und fremde Welten wie Terra X, die Gerd las.
Gerd las auch: “In achtzig Tagen um die Welt” von Jules Verne. Gerd sprach dessen Namen, wie den eines Heiligen aus, so begeistert war er von diesem Buch und Liesi las es dann auch, nachdem sie ihre Schulaufgaben gemacht, und das Essen gewärmt hatte.
Sie saß dann in der Wohnküche und der Herd verströmte Kohlenhitze. Liesi legte ihre Füße auf die Klappe des Backofens, neben sich die schwarze Katze, die vor Wohlbehagen schnurrte und dann war sie in einer anderen Welt!
… L e s e n …!
Bevor sie ein Buch neu begann, klappte sie das Buch auseinander und steckte ihre Nase zwischen die Seiten, so als ob von da ein geheimnisvoller Duft käme, der ihr großes Vergnügen bereitete. Eigentlich roch das Papier etwas muffig und nach Suppe, aber gerade das erhöhte den Lesewert. Es war ein Geruch von Blut und Tränen.
Die Quelle, aus der Liesis Lesestoff kam, hatte auch Bücher für Anna, die Liesi aber nicht lesen durfte, denn das wäre keine Kinderlektüre, sagte Anna, was eigentlich ja auch Liesis Lesestoff nicht war, aber sie hatte ein untrügliches Gespür dafür, wo Anna ihre Lektüre versteckte und so fand sie unter der Matratze von Annas Bett,
M e s s a l i n a, die Geschichte einer Kurtisane, und diese spielte im Palast des Papstes.
Obwohl Liesi eigentlich überhaupt noch keine sexuellen Gefühle hatte, trotz der Geschichte mit Rosie, war sie aber doch sehr erstaunt, über das, was dort beschrieben war. Es war aufregend…
Nackt war ja eigentlich Sünde und man hatte sich immer bedeckt zu halten. Nackt war immer Sünde und nun das! Mutter liest s o w a s !
Es waren Bilder darin…, in Farbe…! Da krochen nackte Frauen vor den Esstischen der Männer herum. Zwischen brennenden Kerzen…! Die Männer an den Tischen waren mit edlen Stoffen bekleidet und Gold blitzte überall. Sie tranken aus großen Bechern Wein. Die abgenagten Knochen warfen sie den Hunden zu. Diese Szenerie war doch sehr erregend für Liesi, die so etwas noch nie gesehen hatte. Sie las und las und auf einmal stand Gerd in der Türe und fragte: “Was liest du da?” “Ach das ist ein Heiligenbuch”, sagte Liesi und klappte das Buch zu. “Das sieht dir ähnlich, du Betschwester,” sagte Gerd, “gleich kommt Mutter nach Hause und du hast nicht einmal deinen Teller gespült!“ Liesi huschte ins Schlafzimmer und stopfte das Buch unter die Matratze.
Gerd war mittlerweile in der Lehre in einer Fabrik in der Nähe. Ihm gefiel das alles gar nicht. Wohl wollte er Handwerker werden, aber boxen wollte er nicht. Dort arbeitete ein “schwerer Nazi” als Ausbilder und der wollte die Lehrlinge “schleifen”, damit sie einmal gute Soldaten und Volksgenossen würden.
“So ein Hundertprozentiger” sagte Gerd. Wie der Führer es wollte: “Hart wie Kruppstahl, zäh’ wie Leder und flink, wie die Windhunde!” Das schrie Hitler jeden Tag.
“Wir müssen immer mit Heil Hitler grüßen und dabei die Hand zum Gruß heben. Jedes Mal, wenn wir einen Meister treffen - oder auch - wenn wir ein Büro betreten, muss die Hand nach Oben fliegen.”
“Das sind Zeiten…”, sagte Anna, als sie nach Hause kam und das hörte. Sie war verunsichert, was sie dem Jungen raten sollte. Sie sagte: “Gegen solche Leute kommst du nicht an.” Sie bemerkte die blauen Flecken, die Gerd hatte.
“Hast Du Dich geprügelt?” fragte sie. “Nein, wir müssen boxen“, sagte Gerd und Anna war ratlos. “Soll ich mal hingehen und mit dem Ausbilder sprechen?“, fragte sie. “Nein“, sagte Gerd, “tu’ das nicht, dann sagen sie, ich wäre ein Schlappschwanz und ein Muttersöhnchen!“ Es war für Anna ein unlösbares Problem.
Liesi, die das hörte, war wütend, dass man da nichts machen konnte. “Lebte Vater noch, dann würde er schon eine Lösung finden“, dachte sie, “aber so?” Der fehlende Vater war auch für sie zu einem Problem geworden, denn bei einem Streit mit einer Mitschülerin sagte diese: “Was willst Du denn…? Du hast ja nicht einmal einen Vater…!” Dem konnte sie ja nichts entgegensetzen und sie sagte es der Mutter nicht, denn dann wäre diese noch trauriger geworden, weil sie ihre Kinder nicht beschützen konnte, in dieser Männerwelt.
Gerd sagte: “Unser Ausbilder, der hat selbst überhaupt keine Muskeln. Der hat einen dicken Bauch und einen dicken Kopf und der hat überhaupt keine Ahnung!” Anna sagte: “Leg’ dich nicht mit dem an, dann hast du nur Nachteile. Der kann Dir sehr schaden!” Aber Gerd grinste nur böse und sagte nichts mehr. und stromerte mit seinen Schulfreunden herum. Er räumte auf und er hielt auf Ordnung im Haushalt und schimpfte mit Liesi, weil die gar nichts machte. Immer saß sie da mit ihren Büchern, oder sie hing an der Turnstange. Er hätte einen Vater gebraucht, aber er sollte immer der brave Sohn sein und litt doch sehr unter dem Alleinsein, ohne männliche Unterstützung.
Aufgeklärt war er immer noch nicht. Anna half ihm auch nicht, aber wie konnte sie auch! Sie war immer darauf bedacht, den “Guten Ruf” zu wahren und wer wusste schon etwas über Pubertät? Wie sollte sie einen Jungen aufklären, als Frau und als Mutter?
Für sie hatte ihre Arbeit einen neuen Wert, denn hier fand sie Anerkennung und sie verdiente auch mehr. Sie hatte das Mittagessen mit den Leuten zusammen, und sie fühlte sich anerkannt. Ihre Arbeit wurde geschätzt.
Sie war nicht mehr “Unsere Putze!“
Eines Tages kam sie nach Hause und hatte wunderschöne, weiche Frottiertücher gekauft und zeigte sie den Kindern, aber die fanden nichts Besonderes daran, weil sie immer noch, wenn auch alte, welche gehabt hatten. Anna aber war stolz auf ihre Leistung und dass sie es geschafft hatte, ihre Kinder zu versorgen und einmal etwas vom selbst verdienten Geld zu kaufen.
Abends war Anna oft müde und traurig, dass sie nun für die Kinder nicht da sein konnte, doch sie hielt durch und sie war froh, dass die Kinder immer wieder zur Oma in die Ferien nach Kleve fahren konnten. Die letzten Ferien waren für Gerd und Liesi in besonderer Erinnerung. Die Bahnfahrt war teuer und Anna musste an allen Enden sparen. So fuhren sie nicht im Abteil dritter, sondern vierter Klasse.
Anna bedauerte das, aber für die Kinder, auch Liesis Freundin Ricka war wieder dabei, war das ein ungeheurer Spaß. Die Abteile vierter Klasse waren doppelt so groß wie die Holzbankabteile und ziemlich nahe an der Lokomotive, die dicke Dampfwolken ausstieß. Etwas von dem Dampfgeruch geriet auch in diese Abteile und mischte sich mit den Gütern, die die Leute in den großen Abteilen transportierten. Da fuhren Bauern und Händler. Alles wurde dort transportiert: Lebende Hühner und Kaninchen, Pflanzgut, Kisten mit Äpfeln, Gemüse und Kartoffeln. Die Leute hatten Thermosflaschen mit Malzkaffee und dicke Butterbrote aus Vollkornbrot, und manche hatten auch eine Flasche Korn dabei. Da wurden gekochte Eier gepellt und Kartoffelsalat verspeist. So etwas hatte Liesi noch nie gesehen. Sie hörten den Gesprächen der Leute zu und jeder sprach einen anderen Dialekt. Vor allen Dingen wenn die Stationen ausgerufen wurden, war es interessant. Je näher sie Kleve kamen, desto melodiöser wurden die Rufe, die mit holländischem Unterton, lang gezogen und melodisch ausgerufen wurden, wie: “W e e z e“ - V o r s i c h t - an der
B a h n k a n t e …!”
Dann wurden jeweils Körbe gerückt, Abschiedsrufe ertönten und es wurden scherzhafte Bemerkungen gemacht. Sie sprachen darüber, wie sie das Heu trockneten und Anna lachte, als einer sagte: “Ek don et op Reukes!” Nie wieder waren sie so vergnüglich mit dem Zug nach Kleve gefahren, aber Anna meinte, in einem richtigen Abteil wäre es doch viel besser.
Rickas Vater meinte auch, dass das Reisen in einem anständigen Abteil besser wäre, als mit den primitiven Leuten zu fahren. Diesen Dünkel wollte Anna nun doch nicht gelten lassen und sagte: “So ein Angeber!” Gleichzeitig ermahnte sie Liesi, ihren Ausspruch nicht weiter zu sagen. Sie hatte auch einen Wahlspruch der lautete: “Das Sagen ist nicht schlimm, aber das Weitersagen…!” Anna hatte ein Arsenal von Sprichwörtern und für Liesi waren sie geläufig wie Gedichte!
In diesen Ferien blieben sie sechs Wochen in Kleve. Die ganzen langen Ferien, und es war wunderbar. Anna war wieder nach Hause gefahren, denn sie musste arbeiten. Einmal nahm Onkel Aloys Ricka und Liesi, nach der Messe am Sonntagmorgen mit in das Lokal, in dem Annas Brüder früher Billard gespielt hatten, als diese noch nicht verheiratet waren. Für die Mädchen war das eine geheimnisvolle Welt…
Onkel Aloys traf dort ein paar Männer, mit denen er sonntags Frühschoppen machte. Es war nicht üblich, dass die Frauen mit zum Frühschoppen gingen. Sie hatten ja ihren Haushalt zu machen und für ein leckeres Mittagessen zu sorgen. Ricka und Liesi waren noch nie in einer “Wirtschaft” gewesen und schon gar nicht mit fremden Männern, die Bier tranken und Zigarren rauchten. Sie durften bei ihnen am Tisch sitzen und Onkel Aloys kaufte ihnen Limonade und schenkte ihnen eine Tafel Schokolade. Es war eine entspannte und gemütliche Atmosphäre.
Alle waren freundlich und leutselig zu ihnen und sagten, dass sie schöne Mädchen seien und sie scherzten mit ihnen. Das machte die Beiden sehr stolz und sie kicherten. Nach einer Stunde sagte Onkel Aloys: “Jetzt müsst Ihr aber nach Hause gehen, sonst macht Oma sich Sorgen! Sagt ihr, ich komme pünktlich zum Mittagessen”. Das taten sie dann auch und waren ganz stolz auf dieses Erlebnis, aber welch ein Aufstand herrschte, als sie zur Oma nach Hause kamen!
Onkel Aloys Frau, die Tante, war beleidigt, dass Onkel Aloys die Mädchen mit in die Kneipe genommen hatte. Das wäre doch nichts für Kinder, sagte sie eifersüchtig und Oma dachte, die Mädchen wären dem Teufel begegnet. Sie fragten sie aus und es hörte sich an, als hätten die Männer den Mädchen unsittliche Anträge gemacht, und auch noch Schokolade geschenkt. Ricka und Liesi lachten und die vorlaute Ricka sagte: “Die denken, die Schokolade ist vergiftet!” Sie waren begeistert über ihr Abenteuer, denn es musste ja eins sein , sonst hätten sich nicht alle so darüber aufgeregt. Den Geruch von Bier und den gesamten Kneipengeruch hatte Liesi nie vergessen. Immer, wenn sie in ihrem späteren Leben eine Kneipe betrat, kam die Erinnerung an diesen Sonntagmorgen zurück, aber niemals mehr war es so ein außergewöhnliches Erlebnis wie damals in Kleve
Seit Annas Vater tot war, hatte sich das friedliche Leben in der Familie und in ihrem geliebten Kleve verändert. Ihr Vater hatte alles zusammengehalten und nun war jeder gegen jeden und wie so oft, ging es um die Erbschaft, um Geld und Besitz…
Zum Schluss ging es noch um die Obstbäume im Garten und wer die Erträge in Anspruch nehmen könne. Inzwischen redeten und stritten Schwiegertöchter und Enkelkinder mit und Oma hatte fast nichts mehr zu sagen.
Anna war durch Wilhelms lange Krankheit so mürbe und ernüchtert, dass sie überhaupt keine Lust hatte, sich an den Auseinandersetzungen zu beteiligen.
Sie nahm sich vor, deswegen mit ihren Brüdern zu sprechen. Schwester Dora hatte sich der Klage auf Erbauszahlung gegen Bernd angeschlossen, aber Anna scheute die Auseinandersetzung um ihr Erbe, weil sie ja schon in der Inflationszeit etwas für das Haus bekommen hatte und nun alle anfangen würden, ihr das vorzurechnen, wenn sie nun noch etwas für sich beanspruchen würde.
Sie verzichtete, um nicht noch mehr Streit zu schüren, aber auch das nahmen die Geschwister übel und Anna machte es traurig. Waren diese Menschen doch die einzigen, zu denen sie gehörte und die sie immer noch liebte. Sie vermisste Gespräche mit den Brüdern, so wie es früher gewesen war, als Wilhelm noch lebte, und auch die Geschwister von Wilhelm fehlten ihr. Nur zu seiner frommen Schwester Johanna, die inzwischen Mitglied einer religiösen Gruppe, “die zwölf Apostel” war, hatten sie Kontakt.
Liesi fuhr jede Woche einmal zu Tante Johanna und Onkel Hans…, dem aus Posen…, und half beim Putzen. Bei ihnen hatte sich nichts verändert. Da lief tagein, tagaus derselbe Film ab und nur wenn Tante Trautchen zu Besuch kam, war etwas mehr los. Dann sangen die beiden Schwestern zweistimmige Lieder. Immer wieder gingen sie auch zum Garten, der in der Nähe war, denn sie lebten ausschließlich von ihrem selbst gezogenen Gemüse, den Kartoffeln und dem Obst. Alles wurde eingeweckt und zubereitet. Doch war das ja für Liesi nicht Neues, denn zu Hause war das nicht anders. Da wurden die Stangenbohnen mit der Mühle geschnibbelt oder zu Brechbohnen verarbeitet, Erbsen ausgepuhlt und Möhren geschrabbt, Obst in allen Variationen eingekocht und Kräuter getrocknet. Die Kartoffeln kamen in die Kartoffelkiste im Keller. Alles wurde in Einkochgläsern eingeweckt. Es war viel Arbeit, aber man lebte gesund.
Anna lehnte die Verwendung von Kunstdünger ab und manchmal, wenn das Pferd von Brot Döres Pferdemist gemacht hatte, kehrte sie diesen auf und tat ihn zu dem Faulhaufen im Garten. Liesi fand das eklig, aber Anna sagte: “Das darf erst im Winter in die Erde, damit der Frost dadurch geht, sonst bekommt man Würmer.”
Trotzdem mussten sie hin- und wider “Manna” nehmen (Johannisbrot), auch gegen Würmer…, vorsichtshalber… Irgendwie wirkte das Mittel abführend, aber Anna ließ sich nicht beirren. “Das ist gesund”, sagte sie.
Und sie kaufte für die Kinder Lebertran oder Emulsion. Davon mussten sie täglich einen Löffel schlucken. Anna behauptete, auch sie hätte früher Lebertran nehmen müssen. “Ein Schutz vor Rachitis“, sagte sie, und Kinder bekämen gesunde Knochen. Sie hatte es auch mit Haferflocken. Die wurden auch öfter zu süßer Suppe verarbeitet. “Was gut ist für die Pferde, ist auch gut für die Menschen!”
Einmal schickte sie Liesi und Gerd auf die Rheinwiesen. Sie bekamen einen alten Marmeladeneimer mit und eine Wäscheklammer, mit der sie die Schaafköttel aufsammeln sollten. Das passte Liesi, die die Jungmädchenbücher für die höheren Kreise gelesen hatte, gar nicht, aber Anna sagte: “Du bist doch keine Prinzessin!” Aber Liesi dachte: “Das bin ich doch!…, nur verwunschen!”
Zu der Zeit bekam Liesi ihr erstes eigenes Buch geschenkt und zwar: “Aus Tälern und Höhen” von Johanna Spyri. Diese Geschichten hatten es ihr angetan und sie las sie immer wieder. Noch vierzig Jahre später, bei einer Fahrt durch die Schweiz, suchte sie die kleine Brücke, die die Autorin in der Geschichte: “Die Elfe von Intra”, so genau beschrieben hatte. Diese Geschichten versetzten Liesi in eine andere Welt. Da siegte stets das Gute über das Böse.
Auch Freundin Ricka war einmal dabei, als sie zu Tante Johanna fuhr, aber Ricka war den Tanten zu vorlaut. Trautchen sagte: “Dummheit und Stolz, wachsen auf einem Holz!” Den Spruch hatte Liesi noch nicht gehört und erzählte es Anna, die darüber lachte. Den Spruch muss ich mir merken, sagte sie, und fortan benutzte sie ihn mit einem Augenzwinkern und sie dachten dabei an die Tanten und ihren Ehrencodex.
Tante Johanna war sehr fromm und Mitglied in einer neuen Sekte, aber Onkel Hans sagte immer noch: “Scheiß Pfaffen!” Das fand Ricka ordinär. Das war ein Wort, das Liesi noch nicht kannte. Anna sagte: “Das hat sie von ihrem Vater! Der meint, er ist was Besseres.”
Ab und zu musste Liesi für Onkel Hans in einer Kneipe einen Flachmann füllen lassen, doch damit kam er, wie er sagte, vierzehn Tage aus. “Lügen haben kurze Beine“, sagte die Tante. Onkel Hans lachte gutmütig und die Spitzen seines Schnurrbarts zitterten. Liesi wurde von den Tanten bewundert, weil sie ganz allein mit der Straßenbahn fuhr, wenn sie zu ihnen kam und das machte Liesi stolz auf ihre Selbständigkeit. Für die Politik und Hitler interessierten sie sich nicht. “Hauptsache, das Geld stimmt!”, sagte Onkel Hans, denn er war pensionsberechtigt bei der Rheinbahn. Wenn Tante Johanna in die Stadt fuhr, um etwas einzukaufen, war das so, als ob sie eine Weltreise machen würde, dabei fuhr die Linie 16 genau bis zum Wilhelm-Marx-Haus in Düsseldorf. Das war gegenüber von Tietz, später Kaufhof. Man konnte sich nicht verlaufen.
Sie nahm auch einmal Liesi mit und wollte ihr Stoff für ein Röckchen kaufen, aber Liesis Geschmack war ihr zu teuer und das billige wollte Liesi nicht. So kaufte sie am Ende nichts… Liesi fiel auf, dass die Tante immer dann, wenn die Rede auf den Preis kam, Daumen und Zeigefinger mit der rechten Hand aneinander rieb, so als ob sie Geld zählte. Letztlich konnte sie sich nicht vom Geld trennen und es reichte dann zum Schluss nur für Apfelkuchen mit Schlagsahne in der Imbissabteilung. “Aber immerhin…, meine Lieblingsspeise!”, sagte Liesi, als sie Anna von dem Ausflug erzählte.
Manchmal durfte Liesi bei ihnen schlafen. Sie hatten ein kleines Gästezimmer. Hier erlebte Liesi, wie sie später erfuhr, einen frühkindlichen Orgasmus, doch zum Zeitpunkt des Geschehens, wusste sie noch nichts über diese Erlebniswelt.
Es war eine Vollmondnacht im Hochsommer und es war heiß gewesen an diesem Tag. Bei geöffnetem Fenster waren die Vorhänge zurückgezogen und plötzlich wurde Liesi von einem unsagbaren Gefühl geweckt. Sie schaute in den vollen Mond und etwas wie Angst befiel sie. Ein Schauer überlief ihren Körper und ein seltsam ziehendes Gefühl überraschte sie. Da war auch ein Gefühl von Angst, das sich in einer unendlichen Entspannung löste. Sie dachte: ”Das kommt vom Mond.” Und dann beschlich sie wieder ein Gefühl von Angst. Sie stand auf , lief ins Schlafzimmer der Tante, und schlüpfte zu ihr ins Bett.
Tante Johanna wurde wach und fragte: “Was willst Du hier? Geh’ in Dein Bett und schlaf…!” Liesi sagte: “Ich habe Angst. Ich habe so gezittert und da war der Mond!”
Da sagte Tante Johanna: “Du Schwein, schlaf’ jetzt…!” Doch diese Beschimpfung
war Liesi unerklärlich und sie schlief auf der Stelle ein.
Niemals hatte sie diese Nacht und den Vollmond vergessen. Es wurde am nächsten Morgen nicht darüber gesprochen, aber dieses Erlebnis hatte später noch Folgen.
Warum die Tante “Du Schwein” gesagt hatte, konnte Liesi sich nicht erklären, aber wer weiß, warum die Tante das gesagt hatte?
Ein halbes Jahr später erlebte sie diese Sexualität im Schlaf, Anna bemerkte es. In ihrer Angst vor Krankheiten, die sie nach Wilhelms Krankheit und Tod hatte, meinte sie, Liesi hätte Krämpfe gehabt, aber Liesi hatte davon überhaupt nichts gemerkt. Vielleicht hatte sie einen Traum, jedoch war sie sich dessen nicht bewusst.
Anna ließ direkt einen Arzt kommen, der konnte nichts feststellen und sagte, Liesi würde wohl zu viel träumen und denken, aber er sprach nicht aus, was er vermutete. Liesi aber hatte gesehen, dass der Arzt Anna irgendwie bedeutungsvoll angesehen hatte. Als es dann einige Wochen später noch einmal passierte, regte Anna sich auf und wollte Liesi mit einem kalten Waschlappen den Rücken waschen. Neun Striche von Oben nach Unten, das hatte ihr eine Frau geraten…, die sich mit homeopathischen Methoden auskannte. Der Frau hatte sie von Liesis Krämpfen erzählt, und das ärgerte Liesi, die sich absolut wohl fühlte und Annas Jammern blöd fand. Sie sagte konsequent: “Mach’ Dir keine Sorgen, das passiert nicht mehr!“
Anna, in ihrer Naivität in diesen Dingen sagte später: “Du warst so willensstark und hast es nie wieder bekommen…!” Diese Willensstärke aber, hatte aber negative Folgen, wie sich später herausstellte. Doch für den Moment waren Krankheitsbilder ausgeschlossen und es kehrte Ruhe ein. Man konnte sich also wieder dem Radio widmen. Eine Quelle großer Freuden!
Liesi durfte nun auch in den Turnverein, in dem Gerd Mitglied war. Da sie ja sportlich und schon etwas weiter als andere Kinder war, wurde ihr angeschlagenes Selbstbewusstsein gestärkt. Hier war von dem fehlenden Vater keine Rede. Jeder stand jeder für sich selbst. Im Sommer gab es einen großen Sportplatz und immer gab es Kinder, mit denen man reden konnte, aber Ricka blieb ihre wirkliche Freundin.
Dann kam der Tag, an dem Max Schmeling gegen Joe Louis boxte. Von den vorangegangenen Kämpfen wussten sie nur durch die Zeitung. Schmelings Erfolgskarriere wurde von den Jungen diskutiert und sie konnten dank Volksempfänger alles direkt erleben. Wegen der Zeitverschiebung wurde der Kampf erst in den ersten Nachtstunden übertragen und so kamen zwei Freunde, Heinz und Mathias Bloser, um mit Gerd den Boxkampf aus Amerika zu erleben.
Sie waren aufgeregt und diskutierten über den Ausgang des Kampfes. Zu ihrer Überraschung verlor der bis dahin ungeschlagene, schwarze Boxer, Joe Louis, durch einen Knockout, in der zwölften Runde.
“Unser Max Schmeling hat gewonnen, und wir haben es gehört…! Wir waren dabei!!” Das war eine Aufregung…!
Die Nazipropaganda aber feierte den Sieg, als Beweis arischer Überlegenheit. So wurde die “Goebbelsschnauze” zum Nazisprachrohr.
Eigentlich verlief die Zeit nun etwas ruhiger. Anna verdiente ganz gut und endlich zog diese unmögliche Familie aus, die nun schon seit Jahren keine Miete gezahlt hatte. Sie hatten den Prozess, den die Stadt Düsseldorf geführt hatte, verloren. Anna bekam einen Titel auf den Betrag, den das Gericht errechnet hatte und nun konnte man auch an die Renovierung der Wohnung gehen, um sie wieder zu vermieten.
In einer Familie wurde ein Hochzeitsfest vorbereitet. Ein Sohn heiratete. Das war ein Ereignis für die Straße, denn die Braut wohnte gegenüber. Zur Hochzeit bekam jedes Brautpaar das Buch “Mein Kampf” geschenkt und einen Glückwunsch der Ortsgruppe. Das Buch hat aber kaum jemand gelesen, es stand bei den Meisten nur im Buffet, hinter Glas, wenn es überhaupt einen Platz fand. So wusste auch niemand, dass alles, was später kam, vorgeplant war. Adolf hatte schon alles gründlich vorbereitet, nur das Volk hatte noch nichts begriffen. Im Radio gab es die immerwährenden Propagandareden. Den Hörern wurde alles mögliche eingehämmert und hier und da, fiel auch der Begriff: “Volk ohne Raum!”
Damit konnten die Meisten nichts anfangen. Man war froh, wenn man Arbeit hatte und ein wenig mehr konsumieren konnte. Die Menschen waren im Allgemeinen bescheiden und freuten sich über Kleinigkeiten. -
Anna pflegte Wilhelms Grab, aber für einen Grabstein hatte es bisher nicht gereicht. Sie hatte sich wohl schon bei einem der Grabsteinhersteller nach dem Preis erkundigt aber der Preis war Anna zu hoch und Schulden: … Nein…!
Der Mann hatte aber davon gesprochen, dass er auch zurückgenommene Grabsteine wieder aufarbeiten würde und sie solle sich doch einmal etwas ansehen. Anna nahm Liesi mit und sagte: ”Das ist ein netter Mann, der hat Verständnis für eine Witwe mit wenig Geld.“ Dort angekommen, kam ihnen der Besitzer des Grabsteingeschäftes schon entgegen und er war sehr aufmerksam und freundlich. Er nahm einen von Liesis Zöpfen in die Hand und sagte: “Du hast aber schönes Haar!” und streichelte ihre Wange. Anna unterhielt sich mit ihm und er sagte: “Ich komme mal bei Ihnen vorbei, dann kann ich Ihnen auch sagen, was die Angelegenheit kostet!”
Anna sagte: ”Ach nein, ich komme dann lieber noch einmal vorbei“, denn sie wollte keinen Herrenbesuch zu Hause. All zu sehr wurde sie von der Nachbarschaft beobachtet und ab und zu auch gefragt, wann die Kinder denn nun einen neuen Vater bekämen. Sie hatte keinen Sinn für neue Beziehungen, denn ihr stand immer noch die schreckliche Erkrankung von Wilhelm vor Augen. Sie sagte: ”Welcher Mann will schon eine arme Witwe mit zwei Kindern?” Außerdem hatte sie gar keine Gelegenheit Männer kennen zu lernen, die auch ihren Ansprüchen genügten.
Doch eines Tages stand dieser Grabsteinmann, wie Anna ihn später nannte, vor der Türe. Er sagte: “Sie gehen mir nicht aus dem Sinn und es muss doch eine Möglichkeit geben, Ihnen zu helfen!” “Ja, und…?” fragte Anna, der es gar nicht recht war, dass er bei ihr aufkreuzte.
Er sagte dreist: “Wir können uns doch etwas näher kennen lernen, dann wäre Ihnen und mir geholfen! Sie sind doch eine schöne, junge Frau. Wollen Sie auf ewig versauern? Wofür haben sie das denn?” und sah sie mit einem frechen Blick, auf ihren Busen gerichtet, an. Anna war empört und sagte: “Das meinen sie wohl nicht im Ernst! Ich soll mich für einen Grabstein verkaufen? Wenn ich nicht so wütend wäre, würde ich denken, das ist ein Witz!“, und was sagt Ihre Frau dazu?”
“Die braucht das nicht zu wissen, die hat sowieso keine Lust!”, sagte er. Das hätte ich auch nicht, wenn ich ihre Frau wäre” sagte Anna und öffnete die Türe. ”Ich kann ihre Frau gut verstehen und, danke, ich brauche keinen Grabstein!”
Als Liesi sie später fragte, was aus der Sache mit dem Grabstein geworden wäre, sagte sie: “Ach Kind, Vater hätte nicht gewollt, dass ich so viel Geld für einen Stein ausgebe. Vielleicht machen wir das später.“
Gerd kümmerte sich um diese Dinge überhaupt nicht. Er war voll in der Pubertät. Das Verhältnis zwischen ihm und Liesi war getrübt, denn er hatte etwas getan, das Liesi mit Entsetzen wahr genommen hatte. Zuerst hatte er dem Teddy, den Liesi seit ihrer Kindheit hatte, mit Farbe Kränze um die Augen und den Mund gemalt. Farbe, die man nicht mehr entfernen konnte. Eines Tages sah Liesi, dass Gerd auf der Wiese ein Feuer angezündet hatte.
Er sagte: “Das ist ein Scheiterhaufen!” Neugierig ging sie hin und sah, dass ihre Lederpuppe, die mit dem echten Haar, die immer zu Weihnachten neue Kleider bekam, da lag und brannte, das Leder krümmte sich.. Entsetzt starrte sie auf die Puppe, ihre Puppe, die sie so liebte. Die langen, echten Haare, die sie so oft gekämmt hatte, standen in Flammen und der Geruch nach verbranntem Haar war schrecklich. Liesi schrie nicht, sie starrte nur in das Feuer und dann lief sie weg. Sie warf sich auf den Boden in das Gras und weinte. Sie wollte nicht wahr haben, dass der Bruder, den sie so gern hatte, ihr das angetan hatte. Gerd war sich wohl auch nicht bewusst, was er da getan hatte und grinste verlegen, als Anna nach Hause kam, und von dieser schlimmen Sache erfuhr.
Anna dachte, dass Gerd eifersüchtig auf Liesi war, weil sie mit Liesi besser über alles sprechen konnte, und sie hatte auch ein schlechtes Gewissen, weil sie Gerd nicht aufgeklärt hatte. Sie fühlte, dass der Junge litt, aber sie brachte es nicht fertig, die Dinge anzusprechen. Sie schob es immer wieder hinaus, mit Gerd zu reden, aber sie hatte auch niemanden, dem sie sich anvertrauen konnte. So blieb die Sache, wie sie war, aber die Kinderfreundschaft zwischen Gerd und Liesi hatte eine Bruchstelle.
Gerd hatte das Gefühl, dass Anna Liesi vorzog und nahm ihr das übel. Anna wusste nicht, wie man mit einem angehenden Mann umgehen musste. Sie litt darunter sehr, aber dem Jungen muss das auch alles sehr weh getan haben.
Liesi fuhr in die Kinderlandverschickung. Das hatten die Nazis organisiert.
Sie kam zu einer Familie in einem Dorf, in der Nähe von Offenbach. Die Familie war wohl organisiert. Der Familienvater war Schulrektor der Volksschule und Nationalsozialist. Das musste er sein, denn sonst hätte er die Rektorenstelle nicht bekommen und samstags ging er immer in Uniform. Seine Frau war Hausfrau und sie hatten einen Sohn, der die höhere Schule in Offenbach besuchte.
Liesi gefiel besonders, dass sie einen braunen Kurzhaardackel hatten, den Liesi sofort ins Herz schloss. Die Hausfrau wollte, dass Liesi sie Tante nennen sollte, aber das brachte Liesi nicht fertig, denn die Frau war machte einen sehr strengen Eindruck. Sie wollte nett sein, aber es war ihr unmöglich, Wärme zu verbreiten. Frau Heinkel war eine sehr gute Köchin und Liesi lernte die hessische Küche kennen. Knödel aus gekochten Kartoffeln kannte Liesi nicht, und zuerst schmeckten sie ihr nicht aber nach einiger Zeit, in Verbindung mit dem Braten, war sie begeistert und schrieb Anna eine Knödelkarte. Wer nicht um Punkt zwölf Uhr am Tisch saß, musste sich mit den Resten begnügen, da kannte die Köchin keine Gnade.
Sonntags gab es zum Frühstück frisch gebackenen Hefekuchen mit Heidelbeeren. Das schmeckte wunderbar, aber vorher ging es in die Kirche. Dort wurde registriert, wer einen neuen Hut auf hatte und der neueste Dorfklatsch wurde nachher am Frühstückstisch verbreitet. Neben dem kleinen Hund interessierte sich Liesi besonders für das Klavier, das wohl für den Sohn angeschafft worden war, der aber nie darauf spielte und Liesi versuchte Melodien zu spielen. Mit einem Finger versteht sich, aber die Lehrersfrau gab Liesi zu verstehen, dass es ihr Kopfschmerzen bereitete, wenn Liesi versuchte die Tonleitern zu spielen. Liesi dachte: “Das wohl deshalb auch der Sohn nicht spielte”, und ließ den Deckel unten.
Liesi schlief bei einer anderen Familie, die auch ein Ferienkind aus Düsseldorf hatte. Die Ferienmutter war eine warmherzige, liebe Frau, von rundlicher Gestalt und ihr Mann, ein freundlicher Handwerker, der sehr schöne Handtaschen herstellte. Da waren auch noch zwei Töchter, etwas älter als Liesi, die sie in ihren Kreis aufnahmen. Das Ferienkind, die kleine, dunkelhaarige Theresina war ein sehr liebes, kleines Mädchen. Sie hatte ausdrucksvolle, schwarze Augen und sie war sehr schüchtern. Liesi aber war inzwischen darauf gekommen, dass man mit Angeberei weiter kam. Nach dem Spruch: “Haste was, dann biste was”, erfand sie sich neu und fantasierte dem Kind vor, dass sie aus einer reichen Familie stamme und zu Hause ein Schwimmbad hätten. Alles großer Quatsch, aber sie wurde dadurch in den Kreis derer eingelassen, die im Ort wohnten und dort das Sagen hatten. Zu der Zeit war es noch ein kleines Dorf und einer sah dem anderen in den Kochtopf.
Die Angeberei zeigte Wirkung. Liesi fand auch Anschluss bei denen, die wirklich eine Villa, und eleganten Wohnraum hatten. Das waren Fabrikanten. Ihre Kinder besuchten die höhere Schule in Offenbach. Liesi freundete sich mit der Tochter an, die in Offenbach Klavieruntericht hatte und ihr erzählte, dass sie die Träumerei von Schumann üben sollte, aber eigentlich gar keine Lust zum Klavierspielen hätte.
Sie hatten einen wunderschönen, weißen Flügel und Liesi konnte nicht verstehen, dass man so eine wundervolle Musik nicht spielen wollte. Andererseits erfuhr sie hier Dinge, die sie in ihrem einfachen Leben nie gesehen und gehört hatte. Die Rektorfrau dagegen fand den Umgang von Liesi mit diesem reichen Mädchen nicht gut. Sie sagte: “Das weckt den Neid und lenkt vom einfachen Leben ab!
Du willst doch sicher auch einmal eine gute deutsche Hausfrau und Mutter sein. Du liest zu viele Bücher! Du solltest besser mehr Handarbeiten machen und lernen, wie man Monogramme in die Wäsche stickt. Das brauchst du für die Aussteuer.”
Liesi hatte gelernt, nicht zu viele Widerworte zu geben und schwieg, und
aus diesem Gerede machte sie sich nichts, denn sie hatte überhaupt keine Lust auf das “Einfache Leben”, und wollte lieber auch gebildeter sein, als die braven
Hitlerjungmädel und Hitlerjungen. Mehrfach hatte sie schon gehört, dass die Erwachsenen, die es zu etwas gebracht hatten, sagten: “Man muss mit den Wölfen heulen!, wenn man in diesen Zeiten vorankommen will!“
In diesem Dorf war man ehrgeizig. Die Taschenfabrikation und Portemonnaie- herstellung erfolgte in Heimarbeit und man arbeitete manchmal die Nacht hindurch. Es wurde erzählt, dass die Leute die Füße in kaltes Wasser steckten, um sich wach zu halten. Ein großer Ehrgeiz hatte sie erfasst, und der Neid und die Missgunst war noch schlimmer als in Liesis Straße zu Hause. Liesi wurde erzählt, dass die Leute nach dem Weltkrieg 14/18 völlig verarmt gewesen wären, weil es keine Heimarbeit gegeben hätte, von der sie doch immer gelebt hätten. Die Lederwarenindustrie in Offenbach hätte völlig brach gelegen und die Leute wären fast verhungert. Eine Familie hatte einen großen Stoffballen Schlafanzugstoff ergattert und es wurde erzählt, dass die Leute nur einen Schlafanzug hätten. Den würden sie reihum tragen. Das kam diesen Leuten zu Ohren und dann wusch die Hausfrau alle acht Schlafanzüge und hängte sie auf die Leine. Da haben sie aber gestaunt, die Klatschmäuler! Es gab immer irgendwas zu erzählen und Liesi sperrte die Ohren auf.
In diesen Ferien hatte Liesi nur mit Messer und Gabel gegessen und es kam ihr zu Gute, dass sie das zu Hause immer geübt hatten, denn die meisten Kinder konnten das nicht. Sie bekamen das Fleisch geschnitten und aßen nur mit der Gabel. “Ellbogen vom Tisch“, sagte Mutter und klemmte ihnen eine Zeitung unter die Arme, damit sie nicht so breit am Tisch säßen. Gerd sagte dann: “Da kommt Mutter wieder mit der Zeitung und bringt uns Manieren bei!”
Das war ja lästig gewesen, aber nun war Liesi froh, dass sie so gut erzogen war, wie die Lehrersfrau sagte, und das Essen mit Besteck war ja auch viel bequemer als das Stochern mit der Gabel.
Der in Wald eingebettete Ort, in dem Liesi die Ferien verbrachte, lag mitten im Wald und das war ein großes Erlebnis, für die zwölf-, bald dreizehnjährige Liesi, die nun zum ersten Mal richtige Maikäfer erlebte, die in hellen Scharen über sie hinwegsausten.
Sie hatte nun eine Menge Freundinnen gefunden, die ihre Gesellschaft suchten
- auch - weil sie so eine gute Turnerin war, denn sie zeigte ihnen das Radschlagen, den Kopf- und Handstand, die Brücke und sonstige Verrenkungen. Eine Turnhalle gab es in diesem Dorf nicht.
Nach einigen Tagen sagte eines der Mädchen: “Du hast da Blut…!”
“Blut…? Ich Blut…? Ich bin doch nicht verletzt“, sagte Liesi. Und dann sah sie es: Blut an der Unterwäsche…!
Ein eisiger Schreck durchfuhr sie, aber dann fiel ihr ein, dass Mutter gesagt hatte:
“Solltest du einmal Blut am Unterleib haben, dann sag’ es der Frau, bei der du einquartiert bist.“ Am Unterleib, das war der Bauch und der Bauchnabel…
Liesi untersuchte sich, aber da war nichts. Das musste wohl tiefer liegen. Was tun?
Der streng blickenden Lehrersfrau konnte sie das nicht sagen, aber es hörte nicht auf. Liesi verbrachte eine Zeit auf dem Klo und machte sich große Sorgen. War sie krank? War das normal? War das das Blut am Unterleib? Hatten das alle Menschen? Fragen über Fragen…!?
Das Blut ließ sich auch nicht mit Wäschestücken stillen, doch die Lehrersfrau hatte eine Vermutung und sprach Liesi darauf an, weil sie bemerkt hatte, dass Liesi alle paar Minuten die Toilette aufsuchte. Es war dann ganz einfach, und nachdem Liesi in der Drogerie Camelia gekauft hatte, war nach drei Tagen alles vergessen.
Doch Liesi konnte nicht verstehen, dass die Mutter nicht vorgesorgt hatte und eigentlich war sie ihr böse, denn sie kam sich lächerlich vor. Erst Jahre später sprachen sie darüber und Anna litt darunter, dass sie es nicht fertig gebracht hatte, ihre Kinder über den Fortpflanzungsvorgang aufzuklären. Anna hatte diese Blutung erst mit vierzehn Jahren erlebt und nicht geglaubt, dass es auch schon mit zwölf passieren könnte Sie hatte das alles vor sich her geschoben. Unglaublich, das sie, die so viel gelesen hatte, hier so versagte. Doch in allen Büchern, die sie gelesen hatte, wurde nicht offen gesprochen. Alles war wie hinter einer Nebelwand. Die Auswirkungen von natürlichen Vorgängen im weiblichen Organismus, von gelebter Sexualität, von Schwangerschaft und Geburt wurden in Romanen verschleiert, oder gar nicht dargestellt. Was in den Männern vor sich ging, wurde schon gar nicht erklärt. In den Romanen “gingen sie zu den Frauen”! Ja, aber was machten sie bei den Frauen? Waren das andere Frauen als ihre Mütter? Das Wort Bordell war bei den Backfischen nicht bekannt. Und “Puff”, ja, was war das? Hier und da schnappte man ein Wort auf, aber aufklärend war das alles nicht.
In den Büchern sprach man romantisch von dem Kind unter dem Herzen und klagte über die Schwere der Geburt. Alles geschah hinter geschlossenen Türen. Die Väter wurden ausgeschlossen. Sie bekamen das Kind, fein gepflegt und gewickelt, präsentiert. Wenn große Komplikationen eintraten, und es um Leben oder Tod ging, musste der Vater entscheiden, ob das Kind, oder die Mutter leben sollte. Nach Ansicht der Kirche, hatte das Kind das Vorrecht zu leben. War großes Vermögen da, und es war der ersehnte Sohn, ließ man die Mutter sterben, denn man brauchte den Stammhalter.
Bei den kleinen Leuten ließ man das Kind sterben und rettete die Mutter, denn die Familie brauchte die Mutter für vorher geborne Kinder und den Haushalt.
Die Autoren hatten vorausgesetzt, dass ihre Romane von aufgeklärten Menschen gelesen wurden, denen man die Vorgänge nicht zu erklären brauchte.
Wie sie als Mädchen vor der Hochzeit nicht aufgeklärt wurden, konnten die Mütter ihren Kindern auch nicht beistehen. Gewiss gab es Ausnahmen, aber die waren selten. Viel wichtiger schien es für die Eltern zu sein, dass ihre Kinder gute Schüler und dass die Mädchen sittsam und fromm waren, so wie die Poesiealbenblätter sagten, und dass sie wenig Probleme machten. Hauptsache, sie kriegten einen Mann, der sie heiratete. Wenn die Backfische”, so nannte man die jungen Mädchen, flügge waren, kam bei manchen Eltern der Spruch: “Komm mir bloß nicht mit einem Kind nach Hause!” Wie…? Kind…? Woher…?
Sei wie das Veilchen im Moose,
bescheiden, sittsam und rein,
nicht wie die stolze Rose,
die immer bewundert will sein!
Sei liebreich und bescheiden,
vor allem treu gesinnt,
dann wird dich Gott begleiten,
als sein geliebtes Kind.
Heiter wie ein Tag im Lenze,
Fließe deine Jugend hin,
Unschuld sei, die dich umkränze,
Jugend deine Führerin.
Auch der Kaplan hatte Liesi einen Spruch ins Album geschrieben:
Von Streckfuß
Freiheit ist der Zweck des Zwanges,
wie man eine Rebe bindet, dass sie,
statt in Staub zu kriechen,
Frei sich in die Lüfte windet,
Kaplan Kaufmann war der Lieblingkaplan aller Kinder. Dieser gut aussehende, junge, große, dunkelhaarige Mann hatte eine seltsame Ausstrahlung auf die nun fast dreizehnjährigen Mädchen, die insgeheim in ihn verliebt waren. Liesi fand ihn außergewöhnlich. In den gegeneinander ankämpfenden Parolen der Nazis, für Volk und Vaterland und andererseits, gebunden an die Religions- und Glaubensbindung der Kirche, waren die jungen Menschen verunsichert. Es war ein ständiger Widerstreit in ihrer Gefühlswelt. Liesi glaubte noch immer, dass auch die Geistlichen verheiratet seien, wie die evangelischen Pastoren, von denen Ricka erzählte.
Einmal hatte ein Pfarrer Liesi zu seiner Wohnung geschickt um dort ein Buch abzugeben. Eine junge Frau öffnete die Türe, und Liesi sagte: “Guten Tag, Frau Pastor, ich soll Ihnen das Buch bringen!” Die Frau lächelte freundlich und sagte: “Sag’ Herrn Pastor, ich hätte mich gefreut!” Als Liesi zu Hause erzählte, dass der Pastor eine sehr nette Frau hätte, sagte Anna: “Das ist nicht seine Frau, katholische Priester dürfen nicht heiraten!”
“Warum?, fragte Liesi”.
“Katholische Priester sollen nur für die Gemeinde da sein!”
“Ja, aber da war doch die Frau von dem Pastor“, sagte Liesi.
“Das ist nicht seine Frau, das ist die Haushälterin“, sagte Anna.
Liesi konnte sich nicht erklären, dass Rickas Pastor heiraten durfte, und ihr Pastor nicht. Aber auch Ricka wusste nichts, denn auch sie war nicht aufgeklärt, trotz des gebildeten Vaters
Beim Religionsunterricht nahm nun Kaplan Kaufmann das Thema sechstes Gebot in Angriff. “Was sagt Ihr zur Übertretung des sechsten Gebotes?” fragte er die Schülerinnen. Die Finger flogen hoch. Es waren fast immer dieselben Mädchen, die das Wort hatten, und alle waren bekannt für ihre katholische Religionstreue, die aber nur aufgesetzt war. Die Antworten waren: “Das Schlechteste, das Böse, das Unkeusche, das Gemeine, das Unsittliche und immer mehr“, aber der Kaplan gab keine zustimmende Antwort und wollte immer mehr hören. Liesi hatte, nachdem alle schon etwas zu dem Gebot gesagt hatten, angefangen zu träumen. Sie dachte überhaupt nicht mehr an das Sündige, was die Übertretung des Gebotes bedeutete, und nahm die Sache, weil der Kaplan immer weiter fragte, aber keinen Kommentar zu den Antworten abgab, fast wie ein Ratespiel. Alles was man an Verwerflichen sagen konnte, war schon gesagt. Er riss Liesi aus ihren Träumen und fragte: “Und Du?” Liesi fuhr ganz verstört auf und dachte, das Thema hätte sich schon gewandelt. Sie sagte: “Das Schönste!”, ohne sich der Tragweite bewusst zu sein.
Darauf dann brüllendes Gelächter der Klasse und ein total verblüfftes Gesicht des Kaplans. Gleich darauf beendete er den Unterricht und sagte: “Bleib’ hier!”, als Liesi beschämt und total verwirrt hinausgehen wollte. Sie schämte sich sehr, weil die Mitschüler über sie lachten. Böse war man ihr auch, weil sie Doktorspiele nicht mitmachen wollte und weggegangen war, als ein paar Kinder sie aufforderten, mit zu Hansi Weimann zu gehen. Doch hatte sie Anna auch hiervon nichts erzählt, weil die anderen Kinder sie bedroht hatten, wenn sie etwas verraten würde. Dieser Hansi war auch böse auf sie, weil sie sich wehrte, als er sie küssen wollte. Sie war wütend, nahm ihren Schultornister und schleuderte den Tornister an den Riemen haltend und, indem sie sich um sich selbst drehte, dem Hansi um die Ohren. Der war wohl viel stärker als sie und wollte sich rächen, aber da lief sie nach Hause, denn sie war schneller als er. Ab da, betrachtete er sie als Feindin, weil die Anderen über ihn gelacht hatten, wegen der Niederlage.
Der Kaplan hielt sie also zurück und er fragte sie, wie sie das gemeint hätte. “Das Schönste…!” Liesi hatte überhaupt nichts gemeint, sie hatte nur etwas gesagt. Er aber hatte etwas anderes erwartet und vielleicht ein Auge auf sie geworfen.
Doch nach der Frage, was sie mit dem Schönsten gemeint habe, weinte Liesi bitterlich und konnte nicht antworten. Es war eine große Enttäuschung, dass der Kaplan, den sie so verehrte, nun so einen schlechten Eindruck von ihr hatte.
Der Mann muss sich geschämt haben wegen seines Verhaltens und der Fragen, denn seine Stimme wurde auf einmal weich und er sagte: “Das ist doch nicht so schlimm.., hör’ auf zu weinen, und geh’ nun nach Hause!” Er berührte sie nicht…! An eine schlechte Absicht des Kaplans hätte Liesi niemals geglaubt. Ein Pfarrer oder Kaplan war für sie eine absolut außergewöhnliche, anständige Person, aber was weiß so ein Kind schon von den Abgründen in den Menschen?
Eines Besseren wurde sie belehrt, als ein Mädchen, das zur Kommunion gegangen war, erzählte, dieser Kaplan hätte es unsittlich berührt und gestreichelt.
Er war bei der Kommunionfeier Gast gewesen und hatte unter dem Vorwand, dem Kind noch gute Nacht zu sagen, das Zimmer betreten und unter die Bettdecke und unter ihr Nachthemd gegriffen. Das hatte das Mädchen der Mutter erzählt. Die Mutter erzählte es Nachbarn, die ihr das ausreden wollten. “Das könnte gar nicht sein“, sagten sie. “Kinder hätten manchmal seltsame Fantasien. Das käme bei katholischen Priestern nicht vor“. Aber die Mutter des Mädchens, sie war auch Witwe, erzählte Anna davon und sagte: “Das lasse ich nicht so stehen. Ich werde bei entsprechenden Stellen etwas vorgetragen!”
Kurze Zeit später hörte man, dass der Kaplan sein Amt aufgegeben hätte. Man hatte auch später nichts mehr von ihm gehört. Die Mutter des Mädchens hatte darüber nicht mehr gesprochen und der Kaplan wurde nie mehr erwähnt. Immer, wenn Liesi später in ihrem Poesiealbum blätterte, kam ihr die Szene mit dem Kaplan in den Sinn und sie dachte: “Was wird wohl aus ihm geworden sein?”
Liesi meldete sich in einer Gemeinschaftsschule an, die in der Nähe war und Anna konnte ihr diesen Plan nicht ausreden. Sie war wohl auch durch die einsetzende Pubertät sehr schwierig, zog hohe Schnürschuhe an und ließ sie mit Hufeisen und dicken Nägeln beschlagen. Anna sagte, das wäre doch nichts für ein junges Mädchen. Doch Liesi wollte lieber wie ein Junge sein. Die hatten ihr immer schon imponiert, weil sie viel mehr durften und mehr zu sagen hatten, wie sie meinte. Anna machte sich echt Sorgen um das Kind, das nun ständig einen missmutigen Eindruck machte und allen gegenüber misstrauisch war. Die Nachbarn beschwerten sich, dass Liesi nicht grüßte.
Ein besonders trauriges Erlebnis war, dass ihre kleine, schwarze Katze am Abend nicht nach Hause kam. Sonst hörte sie immer auf Annas Stimme, wenn sie:
“M O H R C H E N !”, rief. Mohrchen konnte auch nicht kommen, denn sie war tot. Liesi suchte sie heimlich überall und fand sie endlich auf einer wilden Müllkippe mit eingeschlagenem Kopf und erloschenen Augen, zwischen Glasscherben und anderem Müll. Eine Zeit lang stand Liesi still da und starrte auf die tote Katze. Aber sie berührte sie nicht. Sie wollte nicht wahr haben, dass es ihr Mohrchen war, das da lag und ging nach Hause. Auch Anna, die immer noch glaubte, dass die Katze wiederkäme, sagte sie nichts.
Im tiefsten Inneren aber wusste Liesi, dass es ihre Katze war, die da gelegen hatte. Es war eine sehr schmerzliche Erfahrung und es war das erste Mal, dass sie ein Tier, das sie so liebte, verlor, aber sie weinte nicht und verschloss ihren Schmerz.
In der neuen Schule war es dann auch nicht besser als in der alten Schule. Nur mit anderen Vorzeichen. Die Lehrer und Lehrerinnen waren entweder Nazis oder kurz vor der Pensionierung. Die Turnlehrerin machte überhaupt nichts mit den Kindern. Es gab hier auch keine Turnhalle. Nur einen eisernen Barren und eine Sandgrube und selbst Leichtatletik ging nicht. “Rechts Füßchen vor, linkes Füßchen vor“, sagte die kleine, weißhaarige Frau, die den Turnunterricht leitete und Liesi führte diese Übungen nur halb aus, oder gar nicht.
Sie, die doch schon im Kino als Reklamefigur für den Turnverein posiert hatte. “Schulterstand auf dem Barren!” Das fand sie unter ihrer Würde.
Ihr widersprüchliches Verhalten trug ihr im Zwischenzeugnis eine Vier ein, wo sie doch in der alten Schule mit einer Eins gegangen war, aber dahin zurück, wollte sie auch nicht, das verbot ihr der Stolz.
Es war zum Kotzen, aber nun mußte sie dadurch. In diesem einen Jahr lernte sie mehr über menschliches Verhalten, als in den Jahren zuvor in der alten Schule und es sollte noch schlimmer kommen, als sie erfuhr, dass einer der Lehrer das Nachbarkind, ein Mädchen von elf oder zwölf Jahren geküsst hatte. Das hatte dieses Mädchen Liesi erzählt, was diese aber gar nicht glauben wollte, denn dieser Lehrer war schon alt, dachte sie, bestimmt schon fünfundfünfzig…! Später erfuhr Liesi noch viel mehr in dieser Angelegenheit, aber auch hierüber erfuhr Anna nichts. Über diese Dinge sprach sie nicht mit der Mutter, der diese Art Gespräche peinlich waren.
Was das Küssen betraf, machte Liesi nach Hansi Weimann noch eine Erfahrung. Liesi war zum Geburtstag einer Freundin eingeladen und dort machten sie auch Pfänderspiele. Auch Erwachsene waren dabei und auch Liesis Mutter war eingeladen. Eigentlich alles eine harmlose Angelegenheit. Es wurden Pfänderspiele gemacht und dabei auch Küsschen eingehandelt. Es hieß zum Beispiel in Platt: “Ich ston ich ston am Krüzke, wer mich leev hätt, jöft, mich e Bützke!” (“Ich stehe am Kreuz und wer mich lieb hat, erlöst mich mit einem Küsschen!”) Dann bekam man einen Kuss auf die Wange und der Nächste war dran. So auch Liesi. Der Vater einer Freundin kam, um Liesi zu erlösen und Liesi hielt ihm die Wange hin. Aber der Mann küsste sie blitzschnell auf den Mund und sie spürte plötzlich etwas kaltes. spitzes in ihrem Mund, zwischen ihren Lippen und außerdem roch es plötzlich unter ihrer Nase so eklig. Er hatte die Spitze seiner kalten Zunge in ihren Mund gestoßen…! Das war ekelhaft undt Pfänderspiele machte Liesi nicht mehr mit, wenn “alter” Männer dabei waren und von diesem Mann hielt sie sich besonders fern. Wenn sie ihre Freundin besuchen wollte, ging sie nie in die Wohnung, wenn ihrVater alleine zu Hause war. Zungenküsse waren auch später für sie gewöhnungsbedürftig.
In diesem Jahr entwickelte Liesi einen Beschützerinstinkt.
In der Schule, in der sie nun war, gab es auch eine so genannte Hilfsschulklasse.
Dort waren hauptsächlich Kinder mit dem Downsyndrom oder Kinder mit Kinderlähmungserkrankungen.. Unter Anderen war dort ein Junge, der in der Pause von anderen Kindern, hauptsächlich von größeren Jungen, gehänselt wurde. Dieser Junge war dick, und hatte diese typischen vorquellenden Augen. Die Mutter kam immer zur Pause an den Schulhofzaun, um den Jungen zu beschützen, aber an einem Tag war sie nicht da. Der Junge stand mit seinem Schulbrot am Zaun und wartete sehnsüchtig auf die Mutter.
Als die Jungen merkten, dass die Mutter nicht da war, schubsten sie den Jungen hin- und her, und lachten ihn aus. Das Kind hatte furchtbare Angst und schrie. Derweil schritten zwei Lehrer, später höhere Nazigrößen, nebeneinander über den Schulhof und kümmerten sich nicht um die Sache. Der arme Junge war diesen Bengeln ausgeliefert. Da ging Liesi hin und schubste die Jungen weg und schrie sie an, sie sollten das Kind in Ruhe lassen. Sie muss so wild ausgesehen haben, dass die frechen Jungen, nachdem Liesi damit gedroht hatte, sie beim Rektor zu melden, verschwanden.
Die Mutter des Jungen bedankte sich bei Liesi und weinte, weil sie die Bahn verpasst hatte und ihr Kind nicht beschützen konnte. Liesi hatte nun während der Pause immer ein Auge auf den Jungen aber mit diesen Massnahmen machte Liesi sich nicht beliebt. Sie sollte sich nicht einmischen, sagten sie.
Hinzu kam, dass sie einmal den Lehrer belog. Eine Mieterin im Hause hatte ein Kind bekommen und wollte in der Stadt etwas besorgen. Sie bat Liesi mit ihr zu fahren, weil sie ihre Kinder, also auch das Baby mitnehmen musste, und eine Hilfe brauchte.
Liesi nahm das als Gelegenheit, einmal die verhasste Schule zu schwänzen und sagte am nächsten Tag in der Schule, die Nachbarin hätte ein Baby bekommen und sie hätte helfen müssen, was dem Rektor, der gerade Unterricht hatte, ziemlich unwahrscheinlich vorkam. Eine Zwölfeinhalbjährige und helfen…! Lächerlich…!
Zu allem Überfluss kam an diesem Tag eine andere Frau, die im Hause wohnte um sich nach den Erfolgen ihres Söhnchens zu erkundigen und verriet, dass das Baby, das im Hause geboren wurde, schon zwei Monate alt wäre. Peinlich für Liesi und sehr schmerzhaft, als dieser Rektor, Liesi mit Daumen und Zeigefinger ins Ohrläppchen kniff, kräftig mit den Nägeln zudrückte, und sagte: “Du hast gelogen…!, das Kind ist ja schon zwei Monate alt…!” Das war vielleicht ein Reinfall und Liesi war wütend, denn das war der küssende Lehrer, von dem mir Anneliese erzählt hatte. “Was machen die nur alle, diese alten Männer…!”, dachte Liesi und hatte Tränen in den Augen vor Schmerz, aber sie sagte nichts. Sie biss die Zähne zusammen und wollte nicht, dass die Mitschüler sahen, wie der Mann sie wegen der Lügerei bestrafte. Doch der aufkommende Hass gegen diesen Mann war groß und sie sah’, dass es ihm Spaß machte, sie zu quälen. Ihre wütenden Blicke sprachen Bände, aber sie musste es ertragen.
Für die Schulabschlussfeier musste Liesi ein Riesengedicht aufsagen, das vom Führer und der Partei handelte, und bei dem es sich um schwülstige Lippenbekenntnisse zu Heimat und Volk handelte. Von Müttern und Vätern und heldenhaften Soldaten war auch die Rede. Es war schrecklich! Sie vergaß eine Strophe und Anna, die auch bei der Abschlussfeier war, stand bald das Herz still, weil sie dachte, dass Liesi stecken bliebe. Die aber redete einfach mit großer Geste weiter. Niemand hatte was gemerkt, weil alles so belanglos war und alle waren froh, als diese Feier endlich zu Ende ging.
In den letzten Jahren war sehr viel passiert. Die Ausstellung “Schaffendes Volk” im Nordpark und im Ehrenhof zog Reisende aus der ganzen Welt an und zeigte interessante Technik. Anna verzichtete darauf, die Ausstellung zu besuchen und gab Gerd das Geld für die Eintrittskarte und für die Straßenbahn, denn als Junge von 16 Jahren, war er sehr daran interessiert, alle die neue Technik und Erfindungen zu sehen. Der schöne Nordpark in Düsseldorf wurde zu der Ausstellung eröffnet und außerdem wurde die Siedlung in Golzheim fertig gestellt. Sehr nette kleine Einfamilienhäuser mit kleinen Grünflächen für Arbeiter, und Angestellte. Damit konnte man den ausländischen Besuchern imponieren. So leben nationalsozialistische Arbeiter, tönte es und es sah auch so aus, als ob alles besser
Würde.
Die ganze Stadt feierte sich als moderne Metropole. Fahnen wehten überall… Feststimmung…, Parteiglanz und Aufmärsche begleiteten das Geschehen. Gerd war begeistert, als er nach Hause kam, und davon erzählte.
Auch die vorangegangen Olympiade in Berlin, im Jahre 1936, hatte den Nationalsozialismus, und den Führer mit seiner SA berühmt gemacht. Alle verfolgten die Sportwettkämpfe in den Zeitungen oder sie sahen die Wochenschau. Deutschland hatte viel Medaillen gewonnen und ein großer Film wurde gedreht. Es wurde viel diskutiert und vor allen Dingen, wurde im Turnverein darüber gesprochen und alle waren begeistert.
Es gab Zigarettenbildchen auf denen die Sportler und Sportlerinnen zu sehen waren, und auf der Rückseite war aufgedruckt, welche Leistungen ihnen zuzuschreiben waren. Alle waren mächtig stolz auf das Vaterland und manch einer wurde zum Nazi, weil Deutschland nun wieder berühmt war. So schlecht kann der Hitler nicht sein, wenn er es fertig gebracht hat, uns wieder Geltung zu verschaffen. Politiker reisten hin- und her und es wurden Verträge abgeschlossen. Alles ging in rasender Geschwindigkeit vor sich.
Anna sagte besorgt: “Mir gefällt nicht, dass so viele Politiker aus England und Frankreich kommen…, das war 14/18 auch so…!” Im Radio hatte man von der Achse Berlin-Rom gehört. Deutsche Truppen marschierten in Österreich ein und Großbritannien stimmten, nachdem Österreicher und Deutsche dem Anschluss zugestimmt hatten, ebenfalls zu, weil sie dachten, dass damit Kriegsgefahren ausgeschlossen seien.
Hitler ließ ins Sudetenland einmarschieren. Es tauchten Namen, wie: Litauen, Memelland, Böhmen und Mähren auf und Jubel überall, weil doch durch den Versailler Vertrag, Deutschland so viel Unrecht getan worden war…
Nun waren viele Menschen, auch außerhalb Berlins vom Führer begeistert. “DER bringt uns den Frieden, sagten sie. Wir machen mit…! Der Deutsche Michel hat ausgeschlafen…! In Spanien haben wir es DENEN gezeigt…! UNSERE Legion Condor…!” Warnende Stimmen wurden nicht gehört und sie verstummten mit der Zeit, denn wer zu laut sprach, fand sich in irgendeinem Folterkeller wieder, wie auch einige Künstler aus der Vereinigung “Junges Rheinland…”, Wegen “entarteter Kunst…“, wurde da gesagt.
England und Frankreich taten sich zusammen und wollten weitere Kriege verhindern. Hitler wollte Polen militärisch niederwerfen. Der Deutsch-Sowjetische Nichtangriffspakt wurde geschlossen. Hier war vereinbart worden, Polen zu unterwerfen, und das Land zwischen sich aufzuteilen. Eine Nachricht jagte die andere und die einfachen Bürger wussten überhaupt nichts von den schrecklichen Plänen. Eine ungeheure Aufrüstung wurde weiter geführt.
Die Judenhetze war nun auch öffentlich geworden. Viele Juden verließen das Land, unter Zurücklassung ihrer Häuser und Geschäfte. Sie versuchen Grundstücke billig zu verkaufen, gegen Gold und Schmuck. Dinge die man leicht mitnehmen und im Ausland verkaufen konnte. Doch wurde den kleinen Leuten davon nicht viel bekannt, denn sie hatten keinen Schmuck oder tragbare Wertgegenstände. Die ärmeren Juden, die zur Miete wohnten und vom Ertrag ihrer Arbeit lebten, mussten ausharren. Die jüdischen Kinder durften nicht mehr in die Schule und gewachsene Freundschaften zerbrachen. “Es muss schrecklich sein“, sagte Anna. Zwar wohnten in ihrer Umgebung keine Juden aber die allgemeine Hetze drang doch durch. Bücher, die zur besten Deutschen Literatur gehörten, wurden verbrannt, und deutsche Literaten, die sich dagegen auflehnten, wurden verfolgt. Kästner und Tucholsky gehörten zu denen, deren Bücher verbrannt wurden. Tucholsky nannte sich dann “Peter Panter”.
Nun hatten die Nationalsozialisten damit begonnen, jüdische Bürger, auch die mit deutscher Staatsbürgerschaft, auszusortieren, und Aussiedlungspläne für sie gemacht. Die normalen deutschen Bürger erfuhren darüber wenig, aber es ging ein Geraune um, dass die Juden, die Deutschen ausplündern wollten. Gemunkel hatte es ja schon immer gegeben, aber nun wurde es offensichtlich, es wurde Hetze betrieben. Viele Juden, das erfuhr man später, wollten nicht glauben, dass man ihnen die Heimat nehmen wollte und konnten sich nicht entscheiden, das Land freiwillig zu verlassen. Sie lebten zum Teil schon über Generationen in Deutschland und pflegten friedlich ihre Kultur.
Viele hatten auch im ersten Weltkrieg als Soldaten und Offiziere “Ihre Pflicht” getan, waren ausgezeichnet worden, und viele waren gefallen oder wurden verletzt. Doch alles das zählte nicht, wenn die Mütter jüdisch waren. Das waren dann “Volljuden”, doch den Unterschied zwischen “Volljuden” und “Halbjuden” kannten normale Deutsche Bürger nicht, denn “Halbjude” war man, wenn der Vater jüdisch und die Mutter Arierin war. Das Wort Arier war den kleinen Leuten bis dahin nicht geläufig, wurde aber immer öfter verwendet.
Die Jugendlichen kümmerten sich nicht viel um diese Begriffe, denn in ländlichen Gebieten, in denen jüdische Händler immer schon ihre Kundschaft hatten, waren sie genau so angesehen wie die anderen deutschen Vieh- und Futterhändler. Viele Ausdrücke aus der jüdischen Sprache hatte Eingang in den deutschen Wortschatz gefunden. Auch jiddische Witze wurden erzählt und man versuchte, den Sprachgebrauch im Klang nachzuahmen. Verhasst waren die Juden bei den einfachen Bürgern nicht. Sie waren eben Händler wie alle anderen auch, aber nach- und nach wurde versucht, die jüdischen Händler aus dem Geschäft zu drängen.
Das Volk ist verführbar und manche glaubten denen, die es verstanden, sie auszuspielen, indem sie die jüdischen Händler als Verbrecher darstellten. Informiert über die hetzerischen Eskapaden waren eigentlich nur die Menschen in Berlin. In den Ballungszentren, wo noch viele Bürger, Juden und Deutsche, in Armut und schlechten Wohnverhältnissen lebten. Hier sah man auch, wie die SA die jüdischen Bürger drangsalierten und wie mit Plakaten, die jüdischen Geschäftsleute verunglimpft wurden. Natürlich gab es, wie in jeder Gesellschaft auch verbrecherische Elemente unter den Juden aber SIE wurden zu den Prügelknaben der Nation gemacht.
Ausbeuter seien sie, wurde in den Zeitungen verbreitet und man schürte den Neid und Hass auf die Erfolgreichen unter ihnen. Hinzu kam, dass auch in jüdischen Kreisen darauf geachtet wurde, dass die Zugehörigkeit zur jüdischen Glaubensrichtung erhalten blieb. Katholiken und Protestanten wollten viele Juden nicht in ihren Familien dulden und manches Liebesverhältnis musste aufgelöst werden, weil die Religionszugehörigkeit nicht stimmte. Doch auch umgekehrt waren die Verbindungen manchmal unerträglich. Religionen sollten eigentlich die Menschen verbinden und nicht trennen. Jüdische Traditionen festigten das Zusammenleben der jüdischen Bürger und ein gewisser Neid auf ihre sprichwörtliche Geschäftstüchtigkeit, förderte die sich langsam entwickelnde Wut der kleinen Leute auf die Juden.
Hinzu kam, dass es sehr erfolgreiche Schriftsteller, bildende Künstler und Intellektuelle gab, die man beneidete.. Auch verstanden es die jüdischen Bankkaufleute, sich große Namen zu machen und das weckte das Misstrauen und den Neid der Bürger, die sich immer noch in einem Armutszustand befanden, und auf bessere Zeiten warteten. Für Hitler und seine Kampfgenossen war das eine manipulierbare Masse, die sich von dem Nationalsozialistischen Regime beeindruckt fühlte, und Verbesserungen ihrer wirtschaftlichen Lage erhoffte. Doch wer wusste schon von seinen Plänen?
Anna bemerkte von den politischen Machenschaften nicht viel. Sie ging ihrer Arbeit nach und versuchte, für sich und die Kinder eine heile Welt zu bauen. In ihrer Umgebung gab es keine Juden und wenn jemand davon erzählte, glaubte sie denen nicht, denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass es so schreckliche Dinge wie Deportation und Ausgliederung gäbe, zumal sie nur einige jüdische Geschäfte, und den Arzt, der Wilhelm untersucht hatte kannte, und dieser nicht einmal Geld genommen hatte.
Sie kannte auch niemanden, mit dem sie darüber sprechen konnte, außer Familie Krieger. Die Menschen waren im allgemeinen nur mit ihren eigenen Geschichten beschäftigt und darauf bedacht, von dem “kleinen Kuchen”, der verteilt werden sollte, etwas abzubekommen. Es gab ja wieder etwas Arbeit und mehr Verdienst. Volkswagen wurden gebaut und einige Leute machten Sparverträge für den VW. Nobelautomarken wie Mercedes - Benz, Bugatti oder Wanderer waren für die “Oberen Zehntausend”, für Parteibonzen, oder bekannte Filmschauspieler.
In der Straße gab es immer noch keine Autobesitzer. Wohl zwei Motorräder. Der Vater von Anneliese hatte ein Motorrad mit Beiwagen, und als die Kinder noch kleiner waren, fuhr er mit seiner Frau auf dem Rücksitz und Anneliese und zwei Brüdern im Beiwagen zum Zelten. Da sahen Gerd und Liesi etwas neidvoll zu, aber Anna sagte: “Das ist nichts für gut bürgerliche Leute! Das ist ist was für Buschvolk!” Liesi hätte sich die Mutter auch nicht gut vorstellen können, mit Männerhosen und einer Ledermütze auf dem Beifahrersitz. “Schlafen im Zelt…!“ Außerdem hätte sie wohl Angst gehabt. “Aber was ist Buschvolk…?”, fragte sich Liesi. “Vielleicht so etwas wie Zigeuner, die jedes Jahr im Sommer auftauchten.”
Wenn die Zigeuner kamen, wurden die Kinder immer schon gewarnt. “Zigeuner entführen Kinder…! Haltet die Türen zu, denn die klauen wie die Raben…!” Doch irgendwie war das, was gesagt wurde, für die Kinder besonders erstrebenswert zu sehen. Die Zigeuner durften immer nur ein paar Tage bleiben, dann mussten sie weiterziehen. So folgten sie dem Zigeunerwagen bis zu einer abgelegenen Wiese, wo sie ihre Pferde ausspannten, und eine Art Lagerfeuer machten, auf dem sie kochten. Die neugierigen Kinder standen dann in gebührendem Abstand, um die Lagerstelle herum und sahen zu, wie die alte Zigeunerin, in einem Riesentopf ein Essen zubereitete.
Liesi bewunderte eine junge Zigeunerin sehr, als diese, stolz, mit einem unnachahmlich graziösen Gang, mit einem Kind auf der Hüfte, durch die Straße ging. Sie trug Zigeunerkleidung. Am Saum ihrer Kleidung waren goldene Bordüren und Münzen aufgenährt und um die Schultern hatte sie ein ebensolches Tuch geschlungen. Ihr schwarzes Haar war zu einem Knoten aufgesteckt und sie trug lange, goldene Ohrringe. Sie verkaufte Nähseide und Nadeln, aber auf dieser Straße hielten alle die Türen zu.
Es waren auch junge Männer bei dieser Zigeunertruppe, die aber blieben bei der alten Frau, die wohl das Sagen hatte. Wenn die Männer nicht auf dem Lagerplatz waren, verkauften sie in einem anderen Ort irgendwelche Waren und Teppiche. Doch abends waren sie immer um den Kochtopf versammelt. Die Kinder mussten zu einem bestimmten Zeitpunkt zu Hause sein, dann hatten die Zigeuner vor ihren neugierigen Blicken Ruhe.
“Wart ihr bei den Zigeunern…?” ,fragte Anna. “Nein, da gehen wir nicht hin!”, sagte Liesi…, genauso, wie sie Anna nicht erzählte, dass sie in der Zementfabrik mit den Untersätzen der Kieskippwagen fuhren und kurz vor dem Abgrund absprangen. Das war wohl weit gefährlicher, als den Zigeunern zuzusehen, aber es war außergewöhnlich spannend.
Die Deutschen sangen an Kirmes, Karneval und bei privaten Feiern: “Lustig ist das Zigeunerleben, fariah, fariah, ho..! Brauchen dem Kaiser kein Steuer zu zahlen, fahriah ho…!” Doch die Kinder sahen eigentlich nie, dass die Zigeuner lachten.
Das Lied sangen die Deutschen immer noch, obwohl sie nach und nach die Zigeuner verfolgten und vertrieben und später versuchten, sie auszurotten, wie die Juden…
Doch nun, nachdem Liesi diese unsägliche Schule verlassen hatte, kam der der so genannte “Ernst des Lebens!” Sie war im Arbeitsamt registriert, denn sie musste ja eine Lehrstelle finden. Dort machte sie einen Eignungstest, der darin bestand, “Mit einer langen Kordel, auf einem Brett mit Nägeln ein Muster anzufertigen. Damit wollte man Kunstfertigkeit und handwerkliche Fähigkeit prüfen.
Es waren Rechenaufgaben, wie Dreisatz, zu lösen. Hitlers Geburtsdatum zu nennen, Viereck, Rechteck und Würfel zu berechnen, Geschichtsdaten, wie den ersten Weltkrieg, und arische Merkmale auf einem Plakat zu zeigen. Außerdem sollten sie einen Aufsatz schreiben. Möglichst über die Partei und Hitler, aber Liesi schrieb ein Märchen. Leider kam sie nicht dazu, das Märchen zu Ende zu schreiben, denn sie hatte nur eine Stunde Zeit. Der edle Ritter, der die schöne Jungfrau retten sollte, wurde gehindert, den Berg zu erklimmen, weil feindliche Truppen den Berg belagerten. Der Ritter strauchelte und dabei blieb es, denn die Zeit war um. “Ein unfertiges Produkt…!” Das war vorerst das Ende ihrer Schriftstellerei und hatte auch nichts gebracht. Der Eile wegen, taugte auch das Schriftbild nichts. Sie hatte in der Eile und im schriftstellerischen Drang geschludert.
Liesi wollte eine Lehrstelle im Büro, aber die Leiterin der Eignungsprüfung fand, dass Liesis Kordelbild eher darauf hindeutete, dass sie einen handwerklichen Beruf ergreifen sollte, z.B. Schneiderin. Das wollte Liesi aber gar nicht, denn Cousine Ilse wurde Schneiderin und Liesi hatte gesehen, wie mühselig das war. Außerdem musste Onkel Franz noch fünfundzwanzig Reichsmark Lehrgeld für Ilse bezahlen und das konnte er nur, weil er Obersteiger war und “Gutes Geld” verdiente. Anna, mit ihrer Haushälterinnenstelle, hätte das gar nicht aufbringen können und so sollte Liesi sich für eine Verkäuferinnenlehre, eingeschlossen Dekoration, entschließen. Drei Jahre Ausbildung zu Kaufmannsgehilfin. Das war eine Stufe tiefer als Vollkaufmann, aber mit dem Kaufmannsgehilfenbrief durfte man ein Geschäft eröffnen und Lehrlinge ausbilden.
Das sagten Alle, die von Liesis Lehre sprachen. Es klang ja auch bedrohlich nach Zucht und Ordnung. Liesi musste sich bei der Westdeutschen Kauhof AG, früher TIETZ, vorstellen. Krieg, oder nicht, man muss einen Beruf haben.
Anna, als Vormund musste mit. Der Hintergrund sollte geprüft werden, aber sie stellten keine Fragen über die politische Meinung.
“Nun sei nicht so eigenwillig“, sagte Anna, als Liesi alleine in den Vorstellungsraum musste und Liesi war froh, nicht mehr von Anna beobachtet zu werden. Dann war aber alles ganz locker und gar nicht schwer. Der Personalchef unterhielt sich mit den Berufsanfängern ganz normal und stellte seine Fragen. Keine Fragen zur Politik, zu Hitler und dergleichen. Später erfuhr Liesi, dass der Personalchef mit einer Halbjüdin verheiratet war.
TIETZ war ein jüdisches Geschäft gewesen, aber die Inhaber waren enteignet worden und hieß jetzt: “Westdeutche Kaufhof AG”, aber in der Bevölkerung sagte man immer noch, TIEZ.
Liesi musste wieder einen ähnlichen Test machen, wie beim Arbeitsamt, nur hier noch die fünf Erdteile benennen, aber keinen Aufsatz schreiben. Sie kam in die “Putz” Abteilung, was ihr zuerst Schrecken einjagte, denn sie dachte, dass sie Putzmittel verkaufen müßte, jedoch war die Putzarbeilung, vor Konfektion, die eleganteste Abteilung, nämlich die Hutabteilung. Putz…, kam in dem Fall von.., sich putzen…, schön machen…!
Ohne Hut ging gar nichts. Weder bei Männern, noch bei Frauen, oder vor allem für Frauen. Männer konnten auch Schlägermützen tragen. Eine Dame geht nicht ohne Hut und ohne Handschuhe.
Es war eine Pracht, wie die Abteilung ausgestattet war. Da gab es einen Verkaufsraum für Massenware und den Salon. Hier gab es sogar Kabinen, nur um einen Hut aufzuprobieren und überall Spiegel und Edelhölzer. Meist Mahagoni und auf das Feinste poliert. Glasvitrinen und Stühle oder Hocker, damit die Damen sich beim Auswählen setzen konnten. Die vornehme Kundschaft wollte nicht beobachtet werden, wenn sie Hüte probierte.
Die Hutabteilung war im ersten Stock und über eine Riesenfreitreppe zu erreichen. Für die Abteilung gab es ca. fünf Verkäuferinnen und zwei für den Salon. Die Verkäuferinnen waren hübsch und gepflegt. Die im Salon elegant gekleidet und frisiert. Die Leiterin der Hutabteilung war die Einkäuferin. Dazu gab es noch eine Substitutin und eine Lehrverkäuferin, denn mit Liesi zusammen, wurden noch zwei Lehrmädchen eingestellt. Elfriede und Sophi. Beide sehr bescheiden und einfach.
Liesi, weil etwas selbständiger und freier, kam in den Salon, wo die anspruchsvollen Kunden bedient wurden. Die Hüte, die hier angeboten wurden, waren um ein Vielfaches teurer als in der anderen Abteileung. Da konnte es vorkommen, dass ein Hut um die hundert Mark kostete, oder bei einer Anfertigung noch mehr. Wenn die Frauen die Hüte an einer anderen Person sehen wollten, musste Liesi als Model dienen, wenn die Frauen sich nicht die Frisuren verderben wollten.
Die Salonverkäuferinnen sagten, Liesi hätte ein Gesicht für Hüte. Sie könnte alles tragen, sogar einen Kochtopf. Liesi hatte lange, blonde Haare mit Naturwellen, worauf Anna besonders stolz war. Liesi hätte gerne einen Pferdeschwanz getragen, aber das durfte sie nicht. Also lange Haare und Locken, sehr gepflegt.
Viele Frauen trugen auch Kopftücher, unter dem Kinn zusammengebunden. Einerseits, weil ihnen Hüte zu teuer waren, andererseits der Wärme wegen und im Winter sowieso, doch für besondere Gelegenheiten, Kirche oder Festlichkeiten hatte jede Frau einen Hut oder eine Kappe.
Es waren Haarfilzhüte, die im Salon verkauft wurden, oder solche aus besonderem Stroh, wie Paratuntal oder Panama. Um einfache Strohhüte einzukaufen, fuhr die Einkäuferin nach Sachsen, wo es große Hutfabriken gab. Dort wurden Hüte aus Wolle oder Strohbordüren hergestellten.
So genannte “Haarfilzstumpen” aus Kaninchen oder Hasenhaar, wurden im eigenen Atelier zu eleganten Hüten verarbeitet.
Die Hüte waren Meisterwerke, nach Zeichnungen oder Bildern. Die Atelierleiterin im Kaufhof war eine bekannte Meisterin. Den jeweiligen Hut gab es immer nur
einmal. Kopieren galt nicht! Das wäre ein Skandal gewesen. Wie hätte es ausgesehen, wenn eine Dame der Gesellschaft auf dem Rennplatz Grafenberg mit dem gleichen Hut aufgekreuzt wäre, möglichst in Begleitung eines bekannten Geschäftsmannes…! Die Kunden hätten sich lächerlich gemacht und die Modistin hätte nie mehr einen Auftrag bekommen.
Liesis Traum war, Einkäuferin in einem großen Warenhaus zu werden oder einen Hut Salon zu führen. Reisen.., die Welt der Mode sehen…, schöne Sachen einkaufen und einer Abteilung vorstehen, das war es, was sie erträumte.
Doch nun musste sie von der Pike auf lernen. Im ersten Lehrjahr hatte sie aber auch dafür zu sorgen, dass die Spiegel- und Mahagonischränke immer glänzten und keine Fingerflecken darauf zu sehen waren. Alles nahm sie in Kauf, für das Ziel…!
Am Besten gefiel Liesi die Schaufensterdekoration oder die Dekoration der Vitrinen im Lichthof, die man ihr dann schon im zweiten Lehrjahr übertrug. Die Ausbildung umfasste auch die Lagerhaltung. Ein halbes Jahr wurde sie auch in der Konfektionsabteilung ausgebildet, so dass sie, entsprechend der Kleidung, die Kunden auch im Bezug auf die Kopfbedeckung beraten konnte. Höflichkeit und natürliche Freundlichkeit waren selbstverständlich. Auch im Büro mussten sie lernen. Es waren Listen zu addieren, oder verloren gegangene Umtauschzettel zu suchen. Man schrieb noch nicht Büro, sondern Bureau, da war man sehr konservativ. Rechenmaschinen für die einfachen Arbeiten gab es nicht. Alles im Kopf…, und rechnen konnte sie gut. Auch lernte sie Kalkulation und Etiketten zu drucken. Von der Kleidung der Lehrlinge erwartete man nicht viel. Sportlich und sauber musste sie sein. Saubere, blank geputzte Schuhe und gepflegte Hände waren selbstverständlich. Keine Schminke oder Lippenstifte, aber gepflegtes Haar.
Verdienst im ersten Lehrjahr fünfzehn Mark, im zweiten Lehrjahr zwanzig und im dritten Lehrjahr fünfundzwanzig Mark. Aber immerhin, auch damit könnte sie die Mutter unterstützen, dachte Liesi. Die Fahrkarte von sechs Mark abgezogen, blieben noch neun Mark. Jede Woche fünfzig Pfennige Taschengeld. Blinddarmknicksitz im Kino, kostete vierzig Pfennige, und zehn Pfennnige ein Eis. Der Turnverein kostete für Lehrlinge und Schüler keinen Beitrag und Liesi fuhr jeden Abend nach sieben hin, um entweder in der Halle, oder auf dem Sportplatz zu trainieren.
Hier waren Jungen und Mädchen zusammen. Die meisten Jungen waren vom Gymnasium oder der Mittelschule und sie waren meist sehr zurückhaltend erzogen. Ein wenig wurde schon geflirtet, aber da waren dann die Leiter der Gruppen, die aufpassten, dass keine Dummheiten gemacht wurden. Da war man sehr streng mit den Jugendlichen. Die Leiter des Turnvereins forderten keinen Lohn und taten alles für den Verein, nur aus Liebe zum Sport. Hier wurde nicht viel über den Nationalsozialismus gesprochen und auch nicht über Krieg.
Die Arbeitszeit im Kaufhof galt von acht Uhr bis neunzehn Uhr. Mittagspause für Lehrlinge zwei Stunden. Achtundvierzig Stunden die Woche. Die Ausbildung war intensiv. Alles lag in den Händen der Ausbildungsstätte.
Warenkunde, Herkunft der Materialien, Wolle Baumwolle und Seide, wurde groß geschrieben. Die Herstellung von Kunststoff für Kleidung, Lavabel z.B…, wurde durch Ingenieure aus der Industrie erklärt. Auch wie Tierhäute gegerbt, Seiden- und Brokatstoffe, Samt und Pelz verarbeitet wurden. Denn alle diese Materialien fanden auch in der Hutherstellung ihren Platz. Alles das, waren neue Erkenntnisse und sehr interessant.
Man lernte, wie man mit Kunden umzugehen hatte. Wie man einfachen Leuten mit Respekt und Freundlichkeit etwas verkaufte und wie mit reichen- und anspruchsvollen Leuten umzugehen war. Kundenberatung, auch im Bezug auf Mode. Das freundliche, aber auch selbstbewusste Auftreten, den Kunden gegenüber. Dazu bedurfte es der Fachkenntnisse, denn Beratung wurde groß geschrieben. Mit der Zeit lernte man, ob die Kunden kaufen, oder nur etwas ansehen wollten.
Die älteren Verkäuferinnen sahen sofort, was die Kunden wollten und nannten einige
ironisch “Seh-Leute!” Gute Verkäuferinnen, die großen Umsatz machten, erhielten Prämien.
Manchmal kamen auch Männer mit ihren Frauen oder Geliebten und begutachteten, was sie dann bezahlten. Es wurde mit diesen Kunden auch gescherzt, denn sie gaben sich locker und selbstbewusst, und sie schienen über Geld zu verfügen.
Ratenkäufe gab es nicht, auch nicht in den anderen Abteilungen. Man konnte für einen gewissen Zeitraum etwas zurück legen lassen, aber es musste bar bezahlt werden. Sonderanfertigen wurden auf Wunsch ins Haus geliefert. Es war nicht üblich, mit Scheck zu bezahlen. Auch prominente Leute zahlten in bar oder schickten ihre Bediensteten zum Abholen der Waren. Vornehme Männer trugen keine Pakete, und deren Frauen schon gar nicht.
Freundlicher Umgang mit Kindern und Beratung, zu welchen Gelegenheiten man welchen Hut oder Mütze tragen konnte, ohne aufzufallen.
In der Berufsschule lernte man Buchführung, Bilanz- und Kalkulation, Rechnen, Deutsch und Geschichte und…, das war von der Regierung vorgeschrieben, alles über den Nationalsozialismus, den Führer, Göring, Goebbels und die Anderen. Berufsschule war zweimal, pro Woche, von zwölf bis achtzehn Uhr, doch musste man, sogar für eine halbe Stunde, noch einmal ins Geschäft zurückkommen, denn die Arbeit dauerte bis neunzehn Uhr, da gab es kein Pardon. Vormittags war nicht frei, man musste um neun Uhr da sein.
So lernte man, sich diszipliniert zu verhalten. Das war nicht immer einfach und oft hatte Liesi Wut, wenn sie von einer Verkäuferin gemaßregelt wurde, wegen irgendwelcher Kleinigkeiten, oder wenn sie sich zu lange im Atelier aufgehalten hatte, denn dort sperrte sie die Ohren auf, wenn die Putzmacherinnen sich über ihre Liebesangelegenheiten unterhielten, und wenn es irgendwie spannend wurde, Liesi raus schickten. Das Atelier war im sechsten Stock und als gute Sportlerin, rannte sie mindestens zwei mal pro Tag die vielen Treppen hoch, um sich den Umweg über den Personalfahrstuhl zu ersparen, der in einem anderen Gebäudeteil lag. Denn so ging es bedeutend schneller.
Alle Angestellten hatten einen Spind im Keller, wo sie ihren Mantel und Taschen oder Sonstiges ablegen konnten. Wenn sie das Haus verließen, mussten sie immer vor dem Portier ihre Tasche öffnen, um ihm zu zeigen, dass sie nichts mitgenommen, also gestohlen hatten. Der Portier lächelte immer freundlich, und er trug einen Schnauzbart wie Onkel Hans. Liesi fand ihn nett, weil er immer freundlich lächelte, während er in die Taschen blickte. Es war ihm sichtlich peinlich, aber es gehörte zu seinen Aufgaben.
Anna war froh, dass nun ihre beiden Kinder in Berufen Platz gefunden hatten. Gerd machte seinen Führerschein. Damit konnte er schon kleine Lieferwagen fahren. Er eignete sich nicht für die Fabrikarbeit und wollte lieber im Zulieferdienst als Fahrer arbeiten und später, wenn er die anderen Führerscheine hätte, wie Onkel Aloys Lastwagen fahren.
“Es ist Krieg” !, sagte Anna aufgeregt, als sie zur Türe herein kam, wo Liesi soeben ihre Sportsachen anzog, denn es war der Geräte-Sporttag in der Oberkasseler Mädchenoberschule, wo sie eine wunderbare Turnhalle hatten.
“Wie, es ist Krieg? Woher weißt du das?“, fragte Gerd, der auch gerade nach Hause gekommen war. Man hatte wohl etwas munkeln gehört, aber das war ja in den letzten Tagen immer schon so gewesen und man wollte auch nicht glauben, dass solche Pläne bestanden. In den Nachrichten hörte man nichts Genaues und man war sich eigentlich sicher, dass es keinen Krieg geben würde, wo sie doch den “Nichtangriffspakt” mit Russland hatten.
“Ja, ich habe es eben gehört”, sagte Anna, und schaltete den Volksempfänger ein und da war es schon: Sie sangen: “Deutschland, Deutschland, über alles in der Welt…”, und Anna weinte.
Liesi und Gerd wussten überhaupt nicht, was los war und warum die Mutter weinte. Sie sagte: “Krieg ist das Schlimmste, was uns passieren kann, warum machen die so etwas? Sie sind in Polen einmarschiert und nun geht das wieder von vorne los…!
Die Polen haben uns doch überhaupt nichts getan und wir haben doch auch mit denen einen Vertrag auf zehn Jahre geschlossen. Die verdammten Nazis…, das konnte ja nicht gut gehen…! Kaum sind wir Kleinen etwas zu Blut gekommen, und aus dem Dreck heraus und schon fangen die Großen wieder an…!”
Gerd sagte: “Mutter, sag’ das nicht so laut…! Du weißt, der von gegenüber!”
Der von gegenüber, vor dem musste man sich in Acht nehmen, der hatte schon einen vor die Gestapo gebracht…
Bis dahin hatte Anna ihre Ansicht über die Nazis nie so deutlich gemacht, aber Gerd sagte: “So schnell kriegen die uns nicht klein! Wir haben die besten Waffen und die besten Soldaten…! In der Tschechei ist es doch auch gut gegangen!”
Gerd hatte auf der Ausstellung “Schaffendes Volk” viel von den neuen Ideen, Waffen und der ganzen Propaganda verinnerlicht, dass er sofort auf der Seite der Vaterlandsverteidiger war, obwohl es bisher nichts zu verteidigen gab. Er war ja erst siebzehn und eigentlich ein ganz sensibler Junge, aber die großsprecherischen Reden hatten ihm imponiert und er sagte: “Ich melde mich zum Arbeitsdienst, wenn es nötig ist, das Vaterland zu verteidigen!”
“Solche Reden habe ich vor dem Weltkrieg auch gehört”, sagte Anna: “Und dann kamen dauernd die Todesmeldungen und die Männer kamen mit abgeschossenen Armen und Beinen nach Hause, oder gar nicht mehr…! Hör’ bloß auf mit diesen Redensarten!” Und aufgebracht: “Wer hat Dir das alles eingetrichtert…?”
“Reg’ dich nicht so auf“, sagte Gerd, “es ist ja noch nicht so weit, wir sind ja nur in Polen einmarschiert…!”
“Du wirst schon sehen…!”, sagte Anna.
Liesi sagte: “Mutter, ich geh’ dann mal zum Turnverein, reg’ dich nicht so auf, das wird schon gut gehen, genau wie in der Tschechei und in Österreich…!”
“Ja, aber die gehen zu weit. Das geht nicht gut, das lassen sich die Anderen nicht gefallen! Die Franzosen haben es sowieso auf uns abgesehen, und die haben einen
Pakt mit Polen gegen uns! Du kannst Dir nicht vorstellen, was da alles auf uns zukommt. Ich hab’ das alles mitgemacht, und der letzte Krieg ist immer noch nicht überwunden. Wir werden nie gefragt und glaub’ mir, Hochmut kommt vor dem Fall, und die kleinen Leute müssen es wieder ausbaden…!”
Liesi hörte im Turnverein, dass die Erwachsenen darüber sprachen, aber das war ja alles ziemlich weit weg und in Düsseldorf wollte man ja erst mal leben. Die Jugendlichen machten sich darüber keine Gedanken. Eher dachte Liesi an ihre Lehre und das was die Erwachsenen gesagt hatten. Wie schwer das alles, und wie eklig manche Lehrherren wären. Sie würden die Lehrlinge piesacken, wo sie nur könnten und ihre Wut an ihnen auslassen. Manche Chefs würden auch ihre Finger nicht bei sich behalten können und die Mädchen sollen möglichst gewissen Abstand halten.
“Das sind ja Aussichten…!”, dachte Liesi, aber ich werde das schon hinkriegen. Ein
wenig Bammel hatte sie doch, aber das würde sie niemals zugeben.
Viel mehr Sorgen machte sie sich, weil die Mutter geweint hatte und wie aufgeregt sie war. Sie, die nie klagte und immer voller Mut und Zuversicht war, zeigte nun ein anderes Gesicht. “Mutter hat keine Ablenkung und kein Vergnügen“, dachte Liesi. “Sie ist nur immer für uns und das Haus da, und nun auch noch Krieg…!”
Die im Allgemeinen so geduldige Anna, war bitter enttäuscht. So hatte sie sich ihre Zukunft nicht vorgestellt, als sie mit Wilhelm, nach ihrer Hochzeit, mit so viel Mut, Kleve verließ. Zwar hatte sie sich auf Lebenskampf eingestellt und wusste, dass es nicht einfach sein würde, die Zukunst zu gestalten, aber dass es so schlimm kommen würde, das hatte sie doch nicht gedacht. Nach dem ersten Weltkrieg die Armutszeit, die Lebensmittelknappheit und dann die schreckliche Inflation, die finanzielle Bedrängnis, der langwierige Hausausbau, die beengten Verhältnisse, die schweren Geburten der Kinder und das Schlimmste, Wilhelms furchtbare Krankheit. Die lange Zeit der Pflege, die sie aufgerieben hatte, und dann sein Tod. Sie wollte schier verzagen und hatte niemanden, dem sie sich anvertrauen konnte.
Nur die Sorge um ihre Kinder und ihre lebensbejahende Einstellung ließ sie durchhalten. Sie hatte immer das Beste aus allen schwierigen Situationen gemacht, dieser Krieg in Polen schürte ihre Angst. Sie hörte Radio und las Zeitung, aber es waren alles verschlüsselte Nachrichten. Wie sich nachher herausstellte, auch Unwahrheiten, mit denen man das Volk betrog und das Volk war auch gierig auf beruhigende Nachrichtern und schluckte die Lügen gern, um das drohende Unheil klein zu reden.
Die Propaganda bildete betäubende Blüten. Es wurden wieder schwülstige Reden geschwungen. In Polen aber wurde gestorben. Hitler behauptete in einer Rede, dass die Polen Deutschland angegriffen hätten, und dass nun zurück geschossen würde. Erst viel später würde man etwas über die Zusammenhänge erfahren, aber für den Moment, war der Volkszorn mobilisiert. Nun waren auch die Zauderer dafür, dass man zurückschlagen müsse. “Das brauchen wir uns ja auch nicht gefallen zu lassen. Da müssen wir aufräumen“, sagten ein paar Männer in der Straßenbahn, mit der Liesi zur Arbeit fuhr.
Im Rheinland merkte man von den kriegerischen Auseinandersetzungen im Osten Deutschlands nichts. Alles ging seinen Gang. So, als ob es überhaupt keinen Krieg gäbe und an die lautstarken Reden hatte man sich schon gewöhnt. “Das geht schnell vorüber“, sagten die Leute, mit den Polen werden wir schon fertig!“ und dann ging man wieder zur Tagesordnung über.
Im Osten Deutschlands war das ganz anders. Da sah man die Truppenaufzüge und die Panzer. Es wurde gekämpft und es gab viele Tote und Verletzte. Wie sich später herausstellte, sind in dem Polenfeldzug 10.500 Deutsche Soldaten gefallen und 30.000 Soldaten wurden verletzt Die Polen hatten sich heftig gewehrt und zum Schluss noch höhere Verlustzahlen erlitten. Warschau wurde bombardiert und Tiefflieger beschossen die Städte. Hier begann dann auch die Judenverfolgung im großen Stil und die polnische Intelligenz wurde rücksichtslos hingerichtet. Einfach so…! Von der anderen Seite kamen die Russen. Alle vorher getroffenen Vereinbarungen waren, wie sich später herausstellte, gebrochen. Aber all’ das war ja weit weg und betraf die West- und Norddeutschen, die Süddeutschen und die Österreicher nicht… “Führer befiehl, wir folgen!”, hörte man überall. Man ging ins Kino, sah Revuefilme mit Marica Röck, Filmoperetten und Kriegsfilme, in denen immer die Deutschen die Oberhand gewannen. “Hitlerjunge Quex” war ein Hit für das “Jungvolk” und die “Hitlerjugend.”
WIR, WIR, WIR! Den Parteigenossen schwoll der Kamm.
Anna und Liesi besuchten Tante Johanna und Onkel Hans. Der Onkel aus Posen hatte Post aus der Heimat bekommen und sie schrieben von diesen Exessen. Auch der Bruder von Onkel Hans, der in Warschau lebte, wurde erschossen. Sie hatten sich schon lange nicht gesehen. Die Frau des Bruders war eine Jüdin und sie hatten die Deutschen verschleppt. Ihre Kinder hatten sich in Sicherheit bringen können. Wo sie nun waren, wusste niemand.
Man wollte das gar nicht glauben. “Unsere Soldaten sollen so etwas getan haben?” sagte Anna. “Das glaub’ ich nicht…!”
Onkel Hans sagte in seinem polnisch gefärbten Deutsch: “Waren nicht nur Soldaten, war auch SS. Die Russen sind gekommen von andere Seite, haben alle Leute kaputt gemacht, die Schweine…! Alle einfach erschossen…! Arme Polen…! Bin froh, dass ich da weg bin…!”
“Es ist alles so traurig“, sagte Anna und schweigend gingen sie nach Hause.
Gerd sagte: “Ich glaube, ich gehe zum Arbeitsdienst, wenn ich achtzehn bin!“
“Wie kommst du denn auf so etwas?“, sagte Anna. “Du wirst doch wohl nicht freiwillig zum Miltär gehen! Die holen dich schon wenn die Zeit reif ist!” Und ärgerlich: “Wenn es dem Esel zu gut geht, geht er aufs Eis!”
“Ja, aber ich will auch etwas für das Vaterland tun und jetzt wird der Westwall gebaut. Das ist zum Schutz, wenn die Franzosen uns überfallen und außerdem kann ich nach einer gewissen Zeit, kostenlos den Führerschein machen!”
“Mit meiner Erlaubnis nicht!”, sagte Anna, und: “Wer hat Dir das denn eingeredet!” Das ging dann eine Weile hin- und her und Liesi hörte zu. Sie war ja erst im Dezember vierzehn aber sie fand es grotesk, dass ihr Bruder, der doch Natur und Tiere liebte, nun für das Vaterland an den Westwall wollte.
“Willst du vielleicht auch schießen und Uniform tragen, wie der Stein?” rief sie.
“Nein, beim Arbeitsdienst kriegst du einen Spaten und eine grüne Uniform!”
“Woher weißt du das?”
“Ich hab’ mich erkundigt!”
“Wo?”
“Bei der Ortsgruppe! Und die haben gesagt, dass ich beim Arbeitsdienst auch Funken lernen kann, und damit kann ich später auch beruflich etwas anfangen!”
“Was willst Du denn beruflich machen? Ich denke, Du willst Lastwagen fahren, wie Onkel Aloys?” sagte Anna, und dazu brauchst du nicht Funker werden.
“Ja, aber als Funker kann ich auch zur Marine oder zum Militär. Der Sohn vom Ortsgruppenleiter ist Panzerfahrer und die brauchen auch Funker.
Anna machte sich große Sorgen, aber sie wusste, dass sie gegen diese Argumente nicht ankommen konnte und letztendlich, würde Gerd doch tun, was er wollte und im November würde er achtzehn. Alles sprach gegen ihre Argumente. Sie fand Gerd noch zu unreif, um wegzugehen und in einer Kaserne zu leben. Andererseits hatte er dort vielleicht männliche Unterstützung. Doch wie alle Mütter, fürchtete sie ein Entfremdung zur Familie und zum Elternhaus. Sie hatte so viel für ihre Kinder geopfert und so viel Kraft eingesetzt, um sie zu anständigen Menschen zu erziehen, als dass sie nun leichten Herzens zustimmen konnte, dass ihr Sohn zum Arbeitsdienst ging. Letztendlich konnte sie aber nichts dagegen tun, sie würde ihn ziehen lassen müssen.
Es blieb ja noch ein wenig Zeit und er sollte das Gefühl behalten, dass er ein zu Hause hatte und sie immer für ihn da sein würde.
Liesi merkte, dass Gerd weg wollte, denn er fühlte sich von Anna in ihrer Besorgnis zu sehr eingeengt.. Sie machte ihm zwar nicht viele Vorschriften, aber er sehnte sich nach mehr Freiheit. Er befand sich in der verdrängten Pubertät. Anna hatte Sorge, dass Gerd in falsche Gesellschaft käme und er hatte sich beobachtet gefühlt.
Da kam ihm die Aussicht auf Arbeitsdienst gerade recht. Er interessierte sich für Mädchen und Anna hatte ihn immer noch nicht aufgeklärt. Andererseits war er aber auch zu gut erzogen, um irgendeinen Menschen auf das Problem anzusprechen.
Er war sehr scheu in diesen Dingen, doch das betraf nicht nur Gerd. Es gab auch eine Menge anderer Männer die nichts wussten und sie glaubten dass sie sich beim Militär gewisse Freiheiten erlauben könnten. “Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt!”, sagten die Schlaumeier und Verführer, und man sah beim Militär die meisten Freiheiten in Sachen “sexuelle Erlebnisse”, aber sie hatten eigentlich keine Ahnung von Frauen. Man sprach auch nicht von Sex, sondern von “freier Liebe”, was immer das auch sein sollte. In Gegenwart von “anständigen” Frauen und Mädchen wurde natürlich geschwiegen. Es war eine ganz und gar verlogene Gesellschaft, die sich gegenseitig etwas vormachte.
In diesen Tagen wurde im Radio von Polen berichtet und immer wurde gesagt, dass die Polen nun heftigen Widerstand leisteten, obwohl sie doch einsehen müssten, dass Hitler, und die tapferen Soldaten Deutschland schützen müssten.
Anna sagte: “Sie lügen uns wieder die Hucke voll! So war das 14/18 auch. Alle waren begeistert vom Kriegspielen und hinterher waren sie krank oder tot. Die vielen Verluste, die Deutschland erlitten hatte, wurden verschwiegen und Zahlen wurden nicht genannt!”
Gerd schnitt wieder das Thema Arbeitsdienst an und sagte schmeichlerisch: “Mutter, das wird schon nicht so schlimm werden! Ich muss doch sehen, dass ich noch etwas Neues lerne und Du hast dann auch nicht so viele Sorgen mehr um mich…!” “Na gut“, sagte Anna, “es ist ja auch noch nicht so weit, aber darüber müssen wir noch mal sprechen, und nun kannst Du mir helfen, Vaters Grab in Ordnung zu bringen. Da müssen wir noch neue Erde aufbringen und etwas pflanzen, damit das Grab wieder in Ordnung ist.“
Als sie nach Hause kamen, begegnete ihnen Herr Schäfer, aus dem Nachbarhaus und er sagte: “Die haben mir einen Bescheid geschickt! Ich bin Dienstverpflichtet und muss ein paar Monate zum Westwall.”
“Und was müssen Sie da“, fragte Anna.
“Lehm graben”, sagte er lachend … “So ein Quatsch! Da sollen Tunnel und Bunker gebaut werden!”
“Wo?”
“An der Grenze zu Belgien und Frankreich!”
“Siehst Du, Mutter, dahin kann ich auch, wenn ich zum Arbeitsdienst gehe. Die Älteren werden bald zum Militär eingezogen. Wenn ich Funker werde, brauche ich nicht zur Infanterie, dann kann ich zu den Panzern!”
“Aha,” sagte Anna, ich denke, wir hätten Friedensverträge mit denen, nach dem Krieg 14/18, wozu brauchen wir da noch Bunker?”
“Alles Taktik“, sagte Herr Schäfer, der noch zu jung war, um Anna zu verstehen. “Es soll uns da nicht so gehen, wie an der polnischen Grenze, wo die Polen uns überfallen haben!”
Leise sagte er: “Ich war eben in der Ortsgruppe, und da hat man mir einiges anvertraut. Ich bin ja Parteimitglied.und werde auch hier einen leitenden Posten bekommen“.
“Ja“, sagte Anna, mir können sie das ja sagen, aber erzählen Sie es nur nicht weiter, denn die Wände haben Ohren. Es könnt für Sie gefährlich werden. Die Menschen sind oft so klatschsüchtig, aber von mir erfährt keiner was!” Der junge Mann war selbst erschrocken, dass er in der Begeisterung etwas ausgeplaudert hatte, denn er wusste, dass man mit Verrätern kurzen Prozess machte.
“Siehst Du!“, sagte Gerd, ”Da ist was los!”
Anna sagte: “Versprich mir, dass Du nichts über den Herrn Schäfer sagst. Das ist noch ein so junger Mann, der weiß gar nicht, wie gefährlich das alles ist. Es gibt immer Neider, die ihm den Posten, den er bekommen soll, nicht gönnen.”
Liesi erzählte dann vom Kaufhof und was sie alles erfahren hatte. Ihre Welt war ja so klein gewesen, und nun kam sie mit einer Menge Menschen zusammen, die alle so verschieden waren. Sie waren eigentlich alle sehr nett zu ihr und sie lernte so viele neue Dinge kennen. Nichts von wegen Piesacken und so, aber sie mußte viel arbeiten und immer schön den Mund halten. Hätte sie das nicht getan, wäre das Leben als Lehrling viel schwerer gewesen und sie konnte die Mutter verstehen, die sagte: “Sorg immer dafür, dass niemand sagen kann: “Liesi, hat dies gesagt, und Liesi hat das gesagt!” Du bist am Ende immer die Dumme, wenn was weiter erzählt wird!”
Liesi behielt alles für sich, wenn man ihr etwas anvertraute und so hatte sie dann eine Menge Freunde unter den Lehrlingen, so, wie auch im Turnverein.
Der Turnverein hatte ein Stammlokal in einem sehr guten Restaurant. Der kleine Saal war bis auf wenige Ausnahmen für den Verein reserviert. Große Gesellschaften gab es nicht mehr und das Speiselokal war nicht immer ausgebucht. So konnten sie sich dort immer treffen, und ab und zu hatten sie auch einen Vereinsabend, zu dem Heinz Bloser Akkordeon spielte. In dem Saal konnte getanzt werden, wenn es ein Vereinsfest gab. Heinz konnte auch Couplets vortragen.
Peter Igelhoff war im Apollo aufgetreten und sang: “Ich wollt ich wär’ ein Huhn, ich hätt’ nicht viel zu tun, ich legte jeden Tag ein Ei, und Sonntags auch mal zwei…
Oder: “Ach, verzeihen Sie meine Dame, Gottfried Schulze ist mein Name, und ich liebe Sie, ganz bestimmt ich liebe Sie, ausgerechnet Sie. Und ich frage Sie ganz unverbunden, schenken Sie mir ein Paar Stunden, für ein Rendezvouz, und Ihre Sympathie. Das waren ganz neue Töne für Liesi, denn so etwas hatte sie noch nie gehört. Ganz anders als Operette, aber gut.
Walzer hatte Liesi gelernt, indem sie sich auf Gerds Füße stellte. Gerd war sehr musikalisch und er machte die die richtigen Tanzschritte. Das übten sie, wenn im Radio Walzer gespielt wurden. Der “Schieber” war leicht zu tanzen und hin- und wieder kam auch noch einmal, “Unser Oma ihr klein Häuschen” dran. Für Tanzkursus war Liesi noch zu jung und Anna hätte einen Kurs auch nicht bezahlen können und es ging ja auch so. Sie hatten viel Spaß dabei. Alkohol war vom Turnwart für die Jugendlichen verboten, und sie hatten ja auch kein Geld.
Mit Ricka ging Liesi zum ersten mal ins Operettenhaus. Eine Vorstellung gab es immer am Sonntagnachmittag. Das war wunderbar…! Für zehn Pfennige kauften sie sie Librettos zu den einzelnen Operetten und konnten bald alle Arien und den Text für den Chor auswendig. Ricka hatte eine sehr schöne Stimme. Viel heller als Liesi, aber es klang gut, wenn sie zusammen sangen: “Lippen schweigen, s’ flüstern Geigen, hab’ mich lieb!” Dazu tanzten sie durch die Wohnung oder im Garten und kamen sich vor, wie Prinzessinnen. Es war eine Pseudo-Romantik aber ohne sie, wäre das Leben für so junge Menschen doch sehr langweilig gewesen.
Manchmal fuhren auch Arno Assmann und seine Frau, beide Hauptdarsteller
mit der Straßenbahn in die Stadt. Der Schauspieler Arno Assmann hatte fast immer die Bufforolle und seine Frau war Balettmeisterin. Die Beiden wurden natürlich von den Jugendlichen angehimmelt. An den Krieg und die Partei dachten sie überhaupt nicht. Sie waren jung und übermütig und sehr romantisch. Besonders Ricka und Liesi, die durch Literatur beeinflusst waren. Dabei spielte Johann Wolfgang von Goethe eine große Rolle, denn seine Liebesgedichte verschlangen sie wie Konfekt.
Es waren gewisse Lebensweisheiten, eng zusammen gefasst, die Liesi begeisterten. Es bedurfte keiner großen Gespräche und Erklärungen, um zu verstehen, was gemeint war.
Einer von den eifersüchtigen Jugendlichen sagte: “Mein Vater hat gesagt: “Der Goethe war ein Sittenstrolch…!”
Anna sagte manchmal mahnend: “Ihr werdet noch einmal sehr enttäuscht sein, denn die Welt ist nicht so, wie ihr glaubt! Macht Euch nicht zu viele Illusionen!” Dann lachten die Beiden und sagten später, “Die alten Leute können sich überhaupt für nichts begeistern!” Da war Anna vierzig.
Doch Ermahnungen von alten Leuten konnten bei den Backfischen nichts ausrichten. Ricka behielt ihre Mädchenhafte Kindersprache bei und ließ sich vom Papa verwöhnen, wie sie es in den Mädchenbüchern gelesen hatte und Liesi machte gerne mit, aber in Wirklichkeit dachte sie ganz anders. War sie doch schon sehr früh mit den Unwägbarkeiten des Lebens konfrontiert worden. Die schwierigen, wirtschaftlichen Verhältnisse, der Tod des Vaters und die Aufgaben, die innerhalb der Lehre zu bewältigen waren. Doch sie genoss es, sich auch einmal so zu bewegen, wie Ricka, die noch zur Schule ging und sich mit ganz anderen Dingen beschäftigte.
Liesi war eine Idealistin und meinte, dass in jedem Menschen ein guter Kern sei und sie hatte eine lebenserhaltende Einstellung. Sie konnte nicht hassen, doch zog sie sich zurück, wenn sie bemerkte, dass andere Menschen sie nicht mochten, aus welchen Gründen auch immer.
Ricka nahm alles so leicht und unbeschwert, aber Liesi beneidete sie nicht. Sie hätte auch nicht so leben wollen wie sie, aber es war doch schön, mal einzutauchen in eine so unbeschwerte Welt mit Lachen und Dummheiten. Rickas Vater half bei den Schularbeiten und Ricka sagte einmal, als sie mit ihrem Vater sprach: “Vater, wir haben eine vier in französisch.” Das war dem Vater in Liesis Gegenwart sehr peinlich, wo er doch immer sagte, dass er gerade in französisch so gut gewesen wäre.
Dann bekamen sie einen Aufruf von der Ortsgruppe. Sie sollten vereidigt, und Luftschutzhelferinnen werden. Das war eine seltsame Sache. Etwas ängstlich gingen sie mit ihrem Ausweis zu dem entsprechenden Büro. Sie waren bis dahin dem BDM (Bund Deutscher Mädel) entgangen und dachten, jetzt werden wir da reingepresst. Ricka wollte auch nichts mehr davon wissen, obwohl sie ja als kleines Mädchen bei den Jungmädeln war. Doch welch eine Szenerie, als sie das Zimmer der Parteigenossin betraten. Ein Schreibtisch, hinter dem eine kleine schwarzhaarige Frau saß. Sie hatte eine gelbliche Haut, trug Mittelscheitel und hatte das Haar zu Zöpfen geflochten, und im Nacken zu einem seltsamen Gebilde zusammengesteckt.
Am Fenster hing eine Gestell, auf dem ein grüner Papagei tronte und neugierig seinen Kopf hin- und her wendete, aber er schwieg. Die Frau nahm die Personalien auf und sprach laut Anschrift und Alter aus. Sie sagte: “Da ihr keine Aufgaben beim BDM wahrnehmt, bekommt ihr nun andere Aufgaben zugeteilt. Deutschland wird sich auf alle möglichen Dinge vorbereiten müssen und Ihr werdet zu Luftschutzhelferinnen ausgebildet. Alles für den Notfall!”
“Ich lese nun die Eidesformel vor, und ihr sprecht nach: Ich…, usw. schwöre…, dass ich meinen Verpflichtungen als Nationalsozialistin nachkommen werde!
Für Führer und Vaterland…!” So standen sie mit erhobenen Schwurfingern, und sprachen alles nach.
Währenddessen schrie plötzlich der Papagei: “Mama, Küsschen!”
Die Frau schaute sehr streng drein und sagte: “Lasst euch nicht ablenken und seid ernst!“ Doch es fiel ihnen schwer, ein Lachen zu unterdrücken denn der Papagei rief: “Alter Sack…, r a u s!“
“COCO…, a u s” rief die Frau
Sie hielten die Luft an und lachten nicht, denn das hätte sie teuer zu stehen kommen können. Danach erhielten sie eine Urkunde und ein Blatt Papier, worauf stand, was sie im Ernstfall alles wissen mussten. und Ernstfall war Bombenangriff und Verdunkelung. Sie verließen die “heiligen Räume” und hielten sich den Bauch vor Lachen, weil hinter der Tür, inzwischen auch der Papgei wieder zu kreischen begann. Liesi sagte: “Der spricht jetzt die Eidesformel!”
Danach hatten sie aber niemals mehr etwas von ihrem Aufgabenbereich gehört, selbst da nicht, als es ernst wurde mit dem Fliegeralarm, und das sollte nicht mehr lange dauern. Rickas Vater sagte, die Frau hätte ihnen in ihrem Alter die Eidesformel gar nicht abverlangen dürfen. So geriet alles in Vergessenheit. Wahrscheinlich hatte die Frau ihre Befugnisse überschritten und vom Ortsgruppenleiter einen Rüffel bekommen.
In Polen ging der Eroberungsfeldzug inzwischen weiter Hier und da, las man von gefallenen Sioldaten, aber bis jetzt war noch kein Bekannter von ihnen dabei. Die Zahlen wurden auch bewusst heruntergespielt. Die Zustände in Polen, die Vernichtung ganzer Volksgruppen, von Juden, Roma und Sinti war, wie man später erfuhr, unvorstellbar.*
*Lother Nettelmann, Im Schatten der Geschichte 1989 - Die Mahnung des 1.September 1939.*
Es hätte sich auch wohl niemand vorstellen können, was dort angerichtet wurde… Eines der traurigsten Kapitel des Jahrhunderts.
Gerd hatte sich durchgesetzt und ließ sich mustern. Das war der Beginn seiner langen Soldatenlaufbahn, doch vorerst ließ sich das alles noch sehr harmlos an.
Er kam zum Arbeitsdienst in die Hocheifel, zum Bunker bauen, und dort war auch die Kaserne. Schnell kam er auch in Urlaub und fand das mit dem Drill gar nicht so schlimm. Er erzählte von allerlei Abenteuern. Es ging um Wildschweine in der rauen Eifel, die über die Dächer der Baracken gelaufen wären, erzählte er. Sie lachten und hatten mächtig Spaß. Der zurückhaltende Gerd, war nun Hauptperson
und es wurde viel gelacht. Gerd spielte auf der Mundharmonika komplizierte Stücke. Er war wirklich begabt und er hatte eine schöne Stimme. Nun hatte er auch Unterricht im Funken und das machte ihm viel Freude. Er war nun viel aufgeschlossener als früher und Anna dachte: “Es war doch gut, dass er zum Arbeitsdienst gegangen ist!
Dennoch machte sie sich große Sorgen. Sie sagte: “Wenn das so weiter geht, wird sich das zu einem größeren Krieg ausweiten. Jetzt bombardieren sie schon England und wenn die erst zurückschlagen, wird es uns schlecht gehen. Man erfuhr nicht viel von den Bombardements über England. Immer nur hörte man: “Denn wir fahren, denn wir fahren, denn wir fahren… gegen Engeland.
Ein Ereignis überschlug das andere. Hermann Göring verkündete lautstark: “kein feindliches Flugzeug wird die deutsche Grenze überfliegen. Unsere Jagdflieger werden das zu verhindern wissen und unsere Flak wird Einhalt gebieten!”
Göring trat in Fantasieuniformen auf: einmal in weiß und einmal in grau oder blau,
da er auch viele Orden trug, machte man Witze über den Operettengeneral.
Zum Beispiel den: Göring besuchte eine Fabrik, die Panzer herstellte und dort gab es schon Vorrichtungen, die mittels Magneten Metallteile transportierten. Es wurde erzählt, Göring hätte die Fabrik besichtigt und da hätten die Magnete ihn nach oben gezogen, weil sein Lametta so schwer gewesen sei. Diese Witze ließ man aber durchgehen. Das seien Beruhigungspillen fürs Volk und man könne ja Spaß verstehen. Der Göring war ziemlich dick und verheiratet mit Emmi Sonnemann, einer blonden, üppigen, verhinderten Schauspielerin, mit Gretchenfrisur.
Göring besaß ein großes Gut mit Namen “Karin Hall” und er machte mächtig Wind. Doch ihm, der so volkstümlich tat, nahm man nichts übel. Er sammelte Kunst. Später stellte sich heraus, dass er sich vieles angeeignet hatte, was man den Künstlern wegen “Entarteter Kunst”, abgenommen hatte und was den Flammen entgangen war.
Über Hitler machte keiner Witze, denn das hätte Folgen gehabt.
Liesi traf in der Straßenbahn ihren alten Schulrektor. Den, der sie so schmerzhaft ins Ohr gekniffen hatte. Er fragte, was denn Liesis Bruder mache…?
Liesi sagte notgedrungen: “Er ist freiwillig beim Arbeitsdienst, aber ich finde das nicht gut…!”
Der Lehrer plusterte sich auf und sagte: “Du solltest stolz auf deinen Bruder sein! Er ist ein tapferer Junge! Solche Männer braucht das Vaterland!” Als Liesi das der Mutter erzählte, sagte diese: “So ein Schwätzer, der braucht ja nicht mehr in den Krieg und hat leicht reden! Das ist auch einer von den Aufschneidern! Sag’ das aber keinem weiter!”
Sonst hatte sich nicht viel verändert. Sie gingen ihrem Beruf und ihren
Freizeitbeschäftigungen nach. Anna arbeitete noch als Haushälterin und Liesi kam nun bald ins zweite Lehrjahr. Ricka und Liesi gingen, so oft es ging, ins Theater. Sie sahen eine Menge Operetten, wie: “Den Zigeunerbaron“, “Das Land des Lächelns“, “Die lustige Witwe”, und Aufführungen von Lehar, Strauß, Millöcker und anderen Komponisten. Außerdem gab es nun auch noch Revuefilme von der UFA. Filmoperetten und Unterhaltungsfilme. Manchmal gingen sie während der Vorstellung rein, und konnten dann praktisch einen Film zweimal sehen.
Liesi ging in der Woche fast jeden Abend, nach der Arbeit zum Turnverein, entweder im Sommer zum Training auf den Platz, oder in die Turnhalle. Sie spielte nun auch Handball in der Verteidigung und später im Tor.
Wenn die Männermannschaft ein Auswärtsspiel hatte, fuhren sie alle mit, um zu jubeln, aber diese Spiele konnten bald nicht mehr stattfinden. Die jungen Männer wurden nach und nach eingezogen. Im Jahr 1940 fuhren sie noch mit zum Kaiserbergfest in Duisburg. Dort fanden die Leichtathletik Meisterschaften statt. Doch allein wegen der Bombengefahr waren solche Wettkämpfe nicht mehr möglich.
Die Operettennachmittage am Sonntag waren für die Jugendlichen eine schöne Zeit. Luftangriffe fanden meist in der Nacht statt. Inzwischen waren die Luftschutzkeller in allen Privat- und Miethäusern ausgebaut und die Keller mit Feldbetten übereinander und mit Strohsäcken ausgestattet. Auf den Treppenabsätzen standen große Eimer mit Sand und jeder hatte eine Tasche mit dem Notwendigsten im Keller. Vor den Kellerlöchern hatte man Vorbunker gebaut. Das waren Sperrungen aus Sand und Beton und es wurden Kellerwände zum Nachbarhaus gebrochen, so dass man einen Fluchtweg hatte, wenn der Weg nach Oben versperrt sein sollte. Jeder bekam eine Gasmaske.
Doch man nahm den Krieg zuerst noch gar nicht als Realität wahr. Das waren ja alles nur Vorsichtsmaßnahmen, wurde gesagt. Wer keine Rolladen hatte, und die hatten nur die Reichen, musste schwarze Papierrollen von Innen anbringen und es mußte alles dicht sein, damit die Feinde keinen Lichtschimmer wahrnehmen konnten. Normale Übergardinen reichten da nicht aus.
Damit man auf der Straße im Dunkeln nicht zusammenprallte, trug man kleine, mit Phosphor behandelte Nadeln an der Kleidung oder auch an den Schuhen. Das sah ganz lustig aus, wie Glühwürmchen, die sich durch das Dunkel bewegten. Manche Jungen, die wussten, wann die sie interessierenden Mädels nach Hause kamen, nutzten das aus, und stellten sich ihnen in den Weg, um in gewisse Körpernähe zu kommen. Ein Gelächter und Hallo, wenn man einander erkannte. Wenn es die Falsche war, gegen die sie stießen, murmelten sie Entschuldigung, aber es kam auch vor, dass so Bekanntschaften entstanden. Die jungen Männer, oder Schüler, die sonst sehr schüchtern waren, hatten alle möglichen Tricks drauf, um Kontakte zu bekommen, ohne sich zu blamieren.
Hier und da wurden aber auch Verbrechen verübt. So manche Vergewaltigung ist nicht angezeigt worden. Zu dem Zeitpunkt wurden solche Delikte nicht verfolgt, weil Frauen und Mädchen die Verbrechen nicht anzeigten. Meistens wurden solche Taten mit der Bereitwilligkeit der Frauen erklärt und selten wurde ein Mann deswegen verurteilt. Es wurden sogar Witze darüber gemacht. Man sagte, die Frauen hätten die Männer verführt. Auch brutale Schläger wurden nicht verfolgt, wenn sie ihre Ehefrauen und die Kinder verprügelten. Vergewaltigung in der Ehe galt nicht.
Frauen durften sich auch, nach dem Kirchengesetz, nicht verweigern. Außerdem wollten Männer nur unschuldige Frauen heiraten. Mitleid hatte da keiner. Noch schlimmer, wenn es nach einer Vergewaltigung zu einer Schwangerschaft kam. Die Mädchen konnten sich überhaupt nicht erklären, denn die Täter waren verschwunden. Oft waren es auch eigene Familienangehörigen, die solche Taten verübten. Väter, Großväter und Brüder. Wie sollten sich die Frauen dagegen wehren?
Alles musste unter der Decke gehalten werden. Eine absolut verlogene Gesellschaft, was die Moral betraf. Doch hatte es das in früheren Zeiten auch gegeben und es würde wohl noch lange dauern, bis an der Gesetzgebung etwas geändert würde.
Deshalb versuchten die Frauen, zusammen zu gehen, wenn sie aus der Straßenbahn stiegen und stockdunkle Straßen passieren mussten.
Es fuhren nur wenige Autos und diejenigen, die auf einen VW gespart hatten, mussten ihn bald wieder abgeben, weil alles für die Wehrmacht gebraucht wurde. Da hatte man sich gefreut, dass man endlich alles zusammen gespart hatte und schon war das wunderbare Stück wieder weg. Der dazugehörende Mann wurde eingezogen, um noch einmal für den “Großen Kampf” gedrillt zu werden. Spötter sagten: “Großen Krampf”, aber das durften nur Eingeweihte hören.
Nun kam auch die große Stunde für den gegenüber, den Denunzianten, der schon einen an die Gestapo verraten hatte. Der war nun offiziell “Luftschutzwart!”
Wenn er irgendwo einen Lichtschimmer wahrnahm, klopfte er wie besessen mit dem Karabiner gegen die Haustüre und machte Terror. Er beschimpfte die Leute als Kriegsverbrecher drohte mit Anzeige, sollte das noch einmal passieren… Vor dem
hatten alle Angst
Den ersten Bombenangriff empfanden sie noch als harmlos. Ein Haus war an einer Seite, wie wegrasiert und man konnte in die Zimmer hineinsehen. Eine Art Wanderung zur Aachener Straße in Düsseldorf setzte ein, um dieses zerstörte Haus zu besichtigen.
Ricka und Liesi fuhren auch in die Stadt, um sich das anzusehen. Die Leute waren sehr nachdenklich, als sie das sahen und schüttelten die Köpfe.
In dieser Nacht war eine andere Stadt bombardiert worden, und die Bombe in Düsseldorf war wohl vorzeitig ausgelöst worden. Man hatte eigentlich noch gar keine Angst und die noch nicht eingezogenen Männer standen draußen auf den Höfen und schauten sich die “Christbäume” an. Die feindlichen Flugzeuge schafften sich mit den Leuchtkörpern einen Überblick über das entsprechende Gelände. Diese Leuchtkörper sahen wie Feuerwerk aus und so, als ob Sterne vom Himmel fielen.
Krankenhäuser hatten auf dem Dach ein großes rotes Kreuz und wurden auch zumeist verschont, aber die Kranken mussten trotzdem immer in die Keller gebracht werden. Das war für die Patienten und für das Personal jedes Mal eine Tortour und eine furchtbare Aufregung. Das Wort STRESS war zu dieser Zeit noch gar nicht geläufig. Man hatte für diese Zustände noch gar keinen Namen.
Das Krankenhauspersonal war total überfordert, denn von nun an gab es oft Alarm und auch die Hausbewohner trafen sich im Luftschutzkeller. Es war vor allen Dingen schlimm für die Frauen mit kleinen Kindern, die weinten, wenn sie aus dem Schlaf gerissen wurden.
Doch zwischen all’ den unangenehmen Dingen gab es Feste, die gefeiert wurden. Es wurde gebacken und gekocht und wenn ein Soldat in Urlaub kam, wurde alles dargeboten, was man hatte und es wurden Kinder gezeugt. Viele Kinder…!
Es gab noch nicht die Pille und Kondome wurden in einfachen Kreisen nicht verwendet, oder nur sehr selten. Da hieß es… a u f p a s s e n…!
Zu Beginn des Krieges war das alles noch erträglich. Es gab noch fast alles zu Essen und zu Trinken, so man Geld hatte. Damit aber war es bei den kleinen Leuten schlecht bestellt. Durch die Kriegsbereitschaft wurde manche Ausbildung unterbrochen. Noch konnten die jungen Männer das Abitur machen oder die Lehre beenden, bevor sie eingezogen wurden. Aber das sollte nicht mehr lange dauern.
Das Weihnachtsfest stand bevor und Anna ergatterte einen Weihnachtsbaum, dem “im Rücken” etwas fehlte, aber dafür war er preiswert. Es machte auch nichts, denn er stand in einer Ecke, wo das nicht auffiel. Der Baum wurde von Liesi und Anna mit Hingabe geschmückt. Viele Geschenke gab es nicht, aber sie hatten gebacken, Plätzchen und Stuten. Und ein Kaninchen wurde geschlachtet. Gerd bekam keinen Urlaub, er sollte Sylvester kommen. Anna hatte für Liesi einen Pullover gestrickt und Liesi schenkte Anna eine weiße Bluse. Textilien waren noch immer zu haben und auch Schuhe, aber oft reichte das Geld nicht, um modische Anschaffungen zu machen. Es war ein friedlich schönes Weihnachtsfest. Der Krieg war weit fort, Gerd ging es gut und sie waren gesund. An den ersten größeren Luftangriff im September wollten sie jetzt auch nicht denken und hofften, dass die Feinde Weihnachten keine Angriffe starten würden.
So waren Anna und Liesi allein. An einem Tag waren sie bei Rickas Eltern eingeladen. Verwandte sahen sie nicht, es war ja auch wirklich alles nicht so einfach. Telefon gab es schon, jedoch reichte die Leitungskapazität noch nicht aus und außerdem war ein Privatanschluss zu teuer. Das konnten sich nur Geschäftsleute leisten und diese mussten auch bereit sein, das Telefon für wichtige Telefonate bereit zu halten. Da kostete dann ein Gespräch ca. fünfzig Pfennige. Man benutzte es, wenn man einen Arzt brauchte, oder wenn ein Unfall passiert war, auch um Verabredungen zu treffen.
Liesi lernte im Turnverein ein sehr liebes Mädchen, mit Namen Lena kennen. Sie hatte schönes kastanienbraunes Haar und dunkle Augen. Für Liesi schon eine wirklich Erwachsene, denn sie war Sekretärin in einem Büro, was Liesi sehr bewunderte. Lena hatte die Handelsschule besucht, konnte Steno und Schreibmaschine. Für damalige Verhältnisse verdiente sie sehr gut.
Lena war sehr natürlich und unkompliziert, sie war schon länger Mitglied im Turnverein und eines Abends, nach dem Turnen, lud sie alle Freunde in das Stammlokal ein, um ihren neunzehnten Geburtstag zu feiern. Sie war sehr freigiebig, und Liesi, die solche Einladungen nicht kannte, war begeistert. Sie genoss die lockere Stimmung. Es wurde viel gelacht und gesungen. Liesi war überrascht, dass Lena fünf Runden Bier und einen Stiefel ausgeben konnte, aber dann hörte sie, dass Lena auch noch nebenbei etwas verdiente. Sie trug nämlich, mit ihrer Mutter zusammen, jeden Abend Schreibmaschinen in den Luftschutzkeller. Den Auftrag hatten sie durch ein Mitglied des Tennisclubs, der Anwalt war und ein großes Büro mit mehreren Angestellten hatte. “Die Arbeit wird gut bezahlt“, sagte Lena. “Eine Stunde Arbeit, das nehmen wir uns mit!”
Lenas Vater war Platzwart auf dem vornehmen Tennisplatz und versorgte das Clublokal. Außerdem bespannte, er mit viel Sachverstand, Tennisschläger. Lenas Mutter war Hausmeisterin in dem großen, vornehmen Miethaus in dem sie auch eine komfortable Wohnung hatten.
“So können Kleine, auch zu was kommen!”, sagte die resolute und geschäftstüchtige Mutter Johanna. “Man muss nur ein bisschen Glück haben und gerne arbeiten!”
An Lenas Geburtstagabend lernte Liesi Werner Heimann kennen, einen Flieger der Luftwaffe, der Urlaub hatte. Er war fünfundzwanzig, blond, gut gewachsen und sportlich, und in seiner Uniform sah er hinreißend aus. Er flirtete mit Liesi und es gab Wortgefechte, was ihm gefiel und für sie war es sehr aufregend, von einem erwachsenen Mann so aufmerksam beachtet zu werden. Sie fühlte, er nahm sie ernst. Werner erzählte, dass er in einer Ausbildung zum Navigationslehrer bei der Luftwaffe sei. Es war ein aufregender Abend und irgendwie schwamm Liesi in Glück und Freude. Dieser Werner wurde ihr Dauerbrieffreund während der ganzen Kriegszeit.
Es ergab sich, dass bei Werners nächstem Urlaub auch Gerd für ein paar Tage zu Hause war, denn er war nun zum Militär einberufen worden und wartete auf den Gestellungsbefehl. Panzerfunker sollte er werden, so, wie er es sich gewünscht hatte. Die Kriegsmaschinerie hatte sich in Gang gesetzt, und nach und nach wurden immer mehr junge Männer eingezogen,
Während dieser wunderbaren, aufregenden Tage war ein Tanzabend in einem Tanzlokal und Liesi wurde von Werner und Gerd ausgeführt, denn sie war ja noch minderjährig. Es gab zu dem Zeitpunkt noch Getränke, wie Wein, Bier und Likör und sie tanzten von sieben bis Mitternacht. Liesi war glücklich und bekam den ersten Kuss. Ganz brav und mit einer diesmal warmen Zungenspitze, was ihr aber immer noch nicht sonderlich gefiel. Irgendwie ein fremdes Gefühl. Doch insgesamt war sie sehr froh und glücklich über diesen Freund, der so wunderbare Briefe schreiben konnte.
Diese Freundschaft nahm sie sehr ernst und war empört, als der Pastor, der ihr die Beichte abnahm, sie ausfragte. Er wollte wissen, ob sie einen Freund habe und sie sagte: “Ja”. Er fragte: “Habt ihr euch geküsst…?” Zögerlich sagte sie “Ja”…! “Auch mit der Zunge?”, fragte er und sagte dann: “Das solltest du nicht zulassen, daran wollen sich die Männer nur aufgeilen!“
Liesi war beschämt und empört, denn sie meinte, dass sie Werner liebte und vertraute. Das Wort aufgeilen hatte sie noch nie gehört, schon gar nicht bei der braven Anna, der Liesi nichts davon erzählte. Das musste wohl was ganz Fieses sein!
Doch von da an, ging sie nicht mehr zur Beichte. Der Pastor hatte sie erschreckt und ihre Gefühle verletzt. In Wirklichkeit war Liesi aber eine so genannte “Spätzünderin”, was Sexualität betraf. Das Leben war für sie so aufregend und schön… Das Gefühl einen Freund zu haben, der so gescheit war, wog all’ ihre Benachteiligungen, die sie wegen des fehlenden Vaters erlitten hatte, auf. Es stärkte ihr Selbstbewusstsein ungemein und ihre Ausstrahlung verstärkte sich, zumal sie von den anderen Mädchen um diesen attraktiven Freund beneidet wurde.
Liesi war in einer Art Operettenseligkeit, während andere Mädchen gleichen Alters vielleicht schon bestimmte Erfahrungen gemacht hatten. Doch ihre Zurückhaltung machte sie in den Augen der Männer attraktiv, denn ihr Aussehen und ihr Gang waren, wie ihr öfter versichert wurde, aufregend. Die Jungen scharten sich ziemlich oft um sie und sie genoss die Aufmerksamkeit, aber sie verliebte sich in keinen der jungen Männer. Sie schrieb Briefe… an Werner, doch die berühmten Schmetterlinge tanzten nicht… Diesbezüglich war sie keine Ausnahme. Die meisten Mädchen in diesem Alter hatten noch keine sexuellen Erfahrungen und sprachen nicht über ihre Gefühle und schon gar nicht über Sex. Das Wort Sex, und miteinander schlafen war überhaupt noch nicht so gängig. Da sagte man in Mädchenkreisen: “Ganz zusammen”, oder: “Ich habe nicht nein gesagt, denn er muss wieder ins Feld”!
“Wir haben es gemacht!” Wenn gefragt wurde: “War es schön?”, sagten die Erfahrenen:
“Er hat das auch gefragt, doch da war nicht viel. Er war sehr glücklich”.
Liesi dachte: “Wie mag das sein, wenn ich…?”, aber dann dachte sie, dass sich alles um dieses Thema drehte. Egal wovon man sprach oder sich Gedanken machte, immer kam zum Schluss das Thema auf, und niemand wollte mit der Sprache raus.
Inzwischen hatte der Luftkrieg gegen England begonnen.
“Denn wir fahren gegen Engeland…!”
Man hatte tatsächlich vor, eine Invasion vorzubereiten und England zu besetzen, doch die Engländer konnten die deutschen Flugzeuge abwehren. Die Deutsche Bevölkerung erfuhr von den Einsätzen sehr wenig. Es sei denn, man konnte eine Sondermeldung hören, wonach einige Städte bombardiert worden waren, aber letztendlich war es nicht gelungen, englisches Terrain zu erobern und der Bombenkrieg - Deutschland gegen England - war erfolglos geblieben. Dreißigtausend Menschen verloren durch die Bombenangriffe ihr Leben.
Die Deutsche Bevölkerung erfuhr über diese Ereignisse nur so viel, wie die oberste Führung gestatte, und das waren Sondermeldungen, die nur deutsche Erfolge meldeten. Hier war die deutsche Luftwaffe immer hoch gelobt. Auch Ritterkreuze wurden verliehen. Doch England in dieser Weise zu besetzen, war erfolglos geblieben und man hörte nichts mehr von diesen Plänen.
Die Deutschen Soldaten wurden inzwischen auf Einsätze vorbereitet und nun wurde überall von Russland gesprochen. Einerseits war eine große Spannung in der Zivilbevölkerung, andererseits musste auch das zivile Leben weiter gehen.
Die Luftangriffe nahmen zu. Die jungen Soldaten bekamen wenig Urlaub. Vielleicht jedes halbe Jahr für ein paar Tage. Die Frauen und Mädchen zu Hause hatten die Geschäfte der Männer weiter zu führen und die Familie zusammen zu halten. Da war nicht viel mit Liebe, Plänkeleien und Sex, wenngleich auch hier immer einige bereit waren, gewisse Grenzen zu übertreten. Sie nahmen den schönen Spruch: “Im Krieg und in der Liebe…., für sich in Anspruch.
Für die freien jungen Menschen unter achtzehn, hatten diese Veränderungen im Leben noch keine Auswirkungen. Sie waren, wenn sie nicht selbst nach irgendwelchen Aufgaben in der Partei strebten, ziemlich frei. Liesi wurde zwar verpflichtet, mit jungen Mädchen, die noch die Schulen besuchten, für “Glaube und Schönheit”, das war eine Unterorganisation des BDM, zu trainieren. Die Mädels waren nicht interessiert aber sie mussten erscheinen und Liesi musste mit ihnen etwas machen. Das hatte ihr die Frau mit dem Papagei eingebrockt, die den nicht erlaubten Eid abgefordert hatte. Es kamen ca. zehn Mädchen vom Luisen Gymnasium, die das Turnen öde fanden. Sie sangen alle zusammen ein paar Volkslieder und beim nächsten mal kamen nur noch fünf. Als keiner von der Partei nachhackte war diese Aktion gestorben und der Auftrag für “Glaube und Schönheit” war beendet. Spötter sagten: “Mehr Glaube als Schönheit”.
Doch nun drohte für viele Mädchen das so genannte “Pflichtjahr”. Man hatte dann auf einem Bauernhof zu arbeiten oder einer Kinderreichen Mutter zu helfen, wenn man nicht in der Schule, oder in einer Lehre war. Also Zwang, überall…
So drohte auch der weibliche Arbeitsdienst ab Achtzehn...
Aber Manche gingen auch freiwillig, denn es gab durchaus Mädchen, die sich in dem Naziregime wohl fühlten und gewisser Weise dort ihre Heimat suchten. Der weibliche Arbeitsdienst bot ihnen Unterkunft, Arbeit, Essen und Achtung derer, denen sie untertan waren. Nur selbst denken durften sie nicht. Sie lebten unter mächtigem “Drill”. Doch manche Menschen mögen es, wenn andere für sie denken.
Liesi aber machte Augenspiele und genoss die viel sagenden Blicke der jungen Männer. Sie machte bei diesen Spielchen keine Ausnahmen und genoss es, begehrt zu sein. Ein wunderbares Gefühl, wenn man noch keinem “Ja” gesagt hatte und frei war von jedem Zwang. Man musste nicht treu sein, denn man hatte nichts versprochen. So tanzte Liesi, im Geist, trotz aller Widerlichkeiten, durch das Jahr 1940. Mit Sport, Goethe, der Bibel und Romanen, Filmen und Operetten und trotz des ständigen Bunkerlebens, fand sie das Leben schön. Doch dieser Zustand von reinem Glück sollte nicht lange dauern. Die Realität holte alle ein.
Peter Meyer, der Nachbarssohn, er hatte vor einem halben Jahr das Abitur bestanden.
Peter, der einmal, als sie noch Kinder waren, Liesis Bräutigam war und mit dem Liesi - in Mutters weißer Gardine als Schleier, Hochzeit gefeiert hatte - war in Polen gefallen. Sein Bruder Theo wurde just zum Arbeitsdienst einberufen. Das Leid der Eltern und der Verlust des Jugendfreundes hatte eine große Wirkung auf Liesi. Seit ihres Vaters Tod war sie nicht mehr so aufgewühlt und traurig gewesen, wie nach dieser Nachricht.
Kurz darauf kam der zweite Bombenangriff auf Düsseldorf, aber trotz des Angriffs musste man am nächsten Morgen zur Arbeit. Die Straßenbahn kam zwar mit Verspätung, aber sie kam! Rauch stieg auf, und einige Häuser waren beschädigt. Auf dem Hindenburgwall, wo das nun eingemottete, mit einem Lattenverschlag geschützte Denkmal von Kaiser Wilhelm II stand, hatte am Tag zuvor noch das Denkmal von MOLTKE, dem General gestanden. Nun lag es zertrümmert am Boden.
Die Menschen liefen kopflos an all’ diesen Betonbrocken vorbei, auf dem das Denkmal gestanden hatte. Der Kopf des Generals lag neben dem Körper, doch Liesi sah, dass auf der Stirn des Generals in unschuldigem Weiß ein DIN A 4 - Blatt
Lag, und das weckte trotz der Trümmer ihre Neugier.
In schöner Plakatschrift und schwarzer Farbe stand darauf:
“Wat brukst Du och immer he so zu stonn…?
Du moss och schön in der Keller jonn…!”
(“Was brauchst du auch immer hier so zu stehen, du musst auch schön in den Keller gehen…!“
Trotz des ganzen Elends musste Liesi lächeln und sie nahm dieses Blatt Papier mit, aber für diese Art von Galgenhumor hatten die Leute in der Hutabteilung kein Verständnis. Eine Verkäuferin sagte: “Liesi hätte überhaupt kein Gefühl für den Ernst der Lage…”
Liesi fand, dass dies eine Unterstellung sei und fast gab es Streit. Der Kaufhof und das daneben stehende Parkhotel hatte nichts abbekommen.
Sie legte dieses Blatt in ihre Briefmappe, wo sich nun auch die Briefe von Sportkameraden sammelten, die in irgendwelchen Ausbildungslagern waren, und zu den Briefen von Werner, jedoch war sie in keinen der Freunde verliebt. Sie meinte, dass sie verpflichtet sei, ihnen aus der Heimat zu berichten und freute sich über die viele Post. Anna meinte, ihr Idealismus würde sie noch einmal teuer zu stehen kommen, aber diese gut gemeinten Worte schlug Liesi “In den Wind.”
Verliebt aber war Gerd, verliebt in Lena. Die Lena, die vor einem halben Jahr
ihren neunzehnten Geburtstag gefeiert hatte… Gerd kümmerten weder Bomben noch Krieg. Er hatte nur Augen für Lena und Anna sagte: “Gerd ist wie elektrisiert, den hat’s erwischt!” Aber sie war von Lena begeistert. “So ein liebes Mädchen” sagte sie. “Der Gerd hat Glück! Es könnte alles so schön sein, wenn nur dieser verdammte Krieg nicht wäre!”
Anna mochte die jungen Mädchen sehr. Sie dachte an ihre eigene Jugendzeit und wie harmlos sie die Zeit genossen hatte. Es hatte ihr immer an Freundinnen gefehlt und so freute sie sich, dass Lena so natürlich, und ihr auch sehr zugetan war. Sie sagte: “So fröhlich wie Lena, war ich auch!“ Anna war nicht eifersüchtig, und das machte ihr das Leben leicht.
Wie fast alle Mädchen war Lena im katholischen Sinne erzogen und ihre dominante Mutter schwebte in ihrem Elternhaus über allem. Lena fühlte sich bevormundet, aber gegen die allmächtige Mutter hätte sie nicht ankommen können. So genoss sie es, bei Anna zu sitzen, weil sie dort Anerkennung fand und sich aussprechen konnte, was bei ihr zu Hause nicht möglich war.
Dort ging es fast immer nur ums Geld verdienen. So blieb es auch nicht aus, dass ihre ehrgeizige Mutter, Hanne, über ein ganz schönes Bankkonto verfügte. Sie war herrschsüchtig, aber auch entgegenkommend und sie hatte Mutterwitz. Liesi mochte sie gerne, weil sie schlagfertig und gastfreundlich, wie Anna, ihre Mutter war…, was ja eine der besten Eigenschaften ist, die ein Mensch haben kann.
Diese Frau hatte, wenn man zufällig kam, immer Zeit für ein kleines Schwätzchen und Zeit für ein paar witzige Bemerkungen. Sie gab einem das Gefühl, ein wichtiger Mensch zu sein. Bescheiden war sie nicht…! Das glatte Gegenteil von Anna, die immer und überall Zurückhaltung übte. Auf gute Kleidung legte Hanne besonderen Wert und auch Lena war immer sehr gut gekleidet.
Nach sechzehn Jahren hatten Lenas Eltern noch einen Sohn bekommen. Peter, den die ganze Familie liebte. Ein pfiffiger, zweieinhalbjähriger Junge, mit dunklem Lockenkopf und braunen Augen. Einmal war er bei Anna zu Besuch und Anna gab ihm eine Suppe mit Reis, die er gerne mochte. Er saß vor dem Suppenteller, schaute die Reiskörner an und sagte: “Feindliche Flugzeuge überfliegen die Reisgrenze!” Ja…, er hatte die Sondermeldung vom Tag zuvor gespeichert. Reis? - Reich?…
Er hatte es jedenfalls registriert und für Anna war es ein kindlicher Witz. Sie lobte ihn.
Für die sehr katholisch erzogene Lena kam die Ausübung von Sex nicht in Frage. Unehelich schwanger zu werden, war so ziemlich die größte Schande, die man sich vorstellen konnte und bei ernsthaften Gefühlen und Heiratsabsichten, legten die jungen Männer auch Wert auf Jungfräulichkeit. Liesi hörte einmal, dass einer der jungen Männer sagte: “Ich will keine heiraten, an der schon einer dran war!”
Liesi empörte dieser Ausspruch. “Bin ich eine Ware?”, fragte sie sich.
Gerd hatte wahrscheinlich auch noch keine richtigen Erfahrungen mit Frauen. Die jungen Männer halfen sich selbst, denn irgendwie musste doch der Drang ausgelebt werden aber davon hatten wiederum die Mädchen keine Ahnung, und was diese taten, davon wussten die Männer nichts. Es ging also nur mit dem Trauring.
Gespräche über Sex nannten sie “Thema eins.” Dabei grinsten sie alle einverständlich, aber Genaues wusste keiner. Wer weiß, was sie sich alles ausgedacht hatten. Die Heirat war am Ende doch die einzige Möglichkeit, Sexualität zu erleben. Die jungen Leute hatten im Allgemeinen auch keine Möglichkeit alleine zusammen zu kommen.
Liesis Freund Werner hatte seine Ansichten über “diese Sache“ und er sagte:
“Die meisten meiner Kameraden machen es mit ihren Freundinnen!“
Liesi war jedoch noch nicht bereit und Anna hatte ein Auge drauf. Sie bat Werner, Liesis Jugend zu beachten. Sie war ja gerade erst sechzehn. Werner sagte: “Die Einen tun es für Geld und die Anderen für den Ehering!” Das waren Töne, die Liesi nicht gefielen und sie sagte: “Ich dachte aus Liebe!”
Im Stillen dachte sie an Hochzeit und Kinderkriegen, Familienleben und Glücklich sein. Sie sah in Werner ihren zukünftigen Ehemann, denn auch er sprach von Kindern und Wohnung. “Wenn alles vorbei ist!”
“ALLES”, das war der Krieg, und das könnte dauern!
Es war eine seltsame Mischung von “Gebundensein” und “Freiheit” und Liesi schwebte trotz Bombenkrieg und Naziherrschaft in höheren Regionen und flirtete, auf Teufe komm raus, mit den jungen Männern, denen sie auf Schritt und Tritt begegnete, doch wollte sie sich auch gerne ernsthaft unterhalten und Meinungen austauschen. Das gelang aber nur bei den Männern, die älter und gebildeter waren als sie. Sie diskutierte auch gerne mit Mädchen, aber sie vermied das alberne Gekichere.
Werner, der die jungen Mädchen beim Handarbeiten beobachtete meinte, dass er als erwachsener Mann eine Beurteilung der Freundinnen abgeben könne. Er sagte, dass Ricka sich verhalte wie ein junges Füllen und Liesi, die aufrecht saß, und ernsthaft arbeitete, wie eine englische Lady. Liesi wusste nicht, ob sie das als ein Kompliment ansehen sollte oder ob er meinte, dass sie ihm langweilig erschien. Liesi legte Wert auf Haltung und überließ Ricka die Rolle des unbeschwerten Kindmädchens.
Ein Hunger nach richtigem Erleben hatte sie erfasst und doch war sie darauf bedacht, souverän zu bleiben. Sie bewunderte Menschen mit echtem Humor und hörte Nuancen aus Wortgebilden, die von anderen Jugendlichen nicht bemerkt wurden und schrieb heimlich Gedichte, die sie später wieder vernichtete.
Eine “nachpubertäre” Zeit, wie ihr später gesagt wurde, aber auch eine sehr schöne Zeit.
Du gehst wie auf Wolken“, sagte Anna, die sich Sorgen machte. Die Mädchen aber machten sich lustig darüber, wenn die Eltern vom “Ernst des Lebens” sprachen. Ricka bestand “Die Mittlere Reife” und ging zur Konfirmation. Sie meinte, nun sei sie erwachsen. Sie wollte Kindergärtnerin werden und steckte voller Ideale, aber das hinderte sie nicht daran, wie alle jungen Mädchen, an Liebe zu denken.
Ein junger Flak-Soldat, der bei Krieger einquartiert war, weil die Flakstellung noch nicht eingerichtet war, hatte sich in Ricka verliebt. Er wollte ihr an die Wäsche, aber das lehnte Ricka ab. Sie fand ihn zwar attraktiv, aber das…, nein…, das wollte sie nicht. Er sagte: “Ich bin Künstler und habe darin meine eigenen Ansichten,. aber Ricka ließ sich nicht erweichen, denn sie war nicht reif für solche Spielchen.
Rickas Mutter hatte das massive Werben des hübschen, dunkelhaarigen jungen Mannes bemerkt. Sie passte auf die Tochter auf und legte ihre Einkäufe immer auf die Zeitpunkte, wo der junge Mann im Dienst war. Aber eines Tages, Liesi und Ricka waren zusammen in der Wohnung, kam der Flaksoldat früher vom Dienst und begann sofort mit Ricka zu flirten. Er fasste sie um die Taille, sah ihr tief in die Augen und er schenkte ihr ein Aquarell, das er für sie gemalt hatte. Doch auch das machte sie nicht zugänglicher, denn seine leidenschaftliche Art war ihr unheimlich.
Um ihn loszuwerden sagte Ricka: “Liesi, ich muss dir was zeigen.“ Sie nahm sie mit in das Elternschlafzimmer, schloss die Türe ab, und der junge Mann stand draußen.
Ricka sagte: “Der wird mir langsam zu aufdringlich!” Und rief ihm, der hinter der Türe stand, zu: “Verzieh’ dich!” Das hatte er wohl auch wütend und verletzt getan..
Eine Nachbarin hatte Frau Krieger geheimnisvoll gesagt, dass Heinz, so hieß der junge Soldat, bei Ricka sei. Diese Auskunft versetzte Rickas Mutter in heftige Erregung. Ricka allein mit einem Soldaten, und dann auch noch mit DEM…!
Mit hochrotem Kopf stand sie vor der verschlossenen Schlafzimmertüre und rief: “Aufmachen…, und rüttelte an der Klinke. Dann stürmte sie in ihr Schlafzimmer und rief:
“Was habt ihr gemacht? Wo ist er?”
Sah dann aber, dass die Mädchen alleine waren.
“Was ist passiert?” fragte sie aufgebracht.
.
“ “Was soll denn passiert sein?“, fragte Ricka…, und wütend…: “Was denkst du von mir?”
“Es ist schneller passiert als man denkt“, sagte ihre Mutter. “Ein paar Minuten genügen, um ein Kind in die Welt zu setzen…!” Ihr rotes Haar sprühte Feuer…!
Ricka sagte später zu Liesi:: “Die machen alle so ein Theater um die Sache und dann soll das alles in ein paar Minuten vorbei sein…, aber wie man es macht, sagen sie nicht!”
Und nun fiel Liesi ein, was ihre Mutter Anna gesagt hatte, als die Rede auf Rickas Geburtsdatum kam…, nämlich: “Er hat sie ehrlich gemacht und sie geheiratet!”, womit sie Rickas Vater gemeint hatte. Sie hatten es also… “gemacht!” Sie hatten Ricka gemacht…!
Rickas Mutter aber hatte wohl aus der Not eine Tugend gemacht und Rickas Vater geheiratet, obwohl sie in seinen Augen nicht die Frau war, die seinem Bildungsniveau entsprach, und sie deshalb von seinem Vater, dem Geheimrat, keine Anerkennung fand.
Nun verstand Liesi auch, warum Rickas Vater so oft an ihrer Mutter herumnörgelte.
Trotzdem…, er musste, notgedrungen, mit ihr zusammen bleiben, denn Fremdgehen, das hätte er sich nicht erlauben können.
Ehen, einmal geschlossen, mussten zusammen bleiben und so schlecht war es dann ja auch nicht, denn sie war eine gute Hausfrau und was sonst zwischen ihnen war, ging keinen etwas an. Schließlich hatte der verehrte J.W. v. Goethe auch die kleinbürgerliche Christiane Vulpius geheiratet, weil sie ihm einmal das Leben gerettet hatte, was diesen allerdings nicht gehindert hatte, sich im Geheimen in allerlei Liebesgeschichten zu verstricken.
Andererseits: “Hätte er das nicht getan, wie hätte er die wunderbaren Liebesgedichte schreiben können und, ohne eigenes Erleben, den “Faust?”, an dem er fast sein ganzes Leben gearbeitet hatte. Wie…? Ohne eigenes Erleben? Er war eine Ausnahmeerscheinung, für den in ihren Augen andere Regeln galten.
Die Mädchen dachten hin und her und die Jungen wussten nicht, wie sie mit ihrer Sexualität umgehen sollten. Es muss eine furchtbare Quälerei für die jungen Männer gewesen sein, aber das konnten sich die Mädchen nicht vorstellen. Für sie war vorerst alles nur Tändelei und aufregender Spaß, in aller Unschuld.
Trotz des nun immer stärker werdenden Bombenkrieges wurde noch Theater gespielt und sie gingen nach wie vor ins Operettenhaus aber auch in die Oper. Lena hatte ein
Opernabonnement und besuchte jeden Monat eine Vorstellung.
Die Eltern der jungen Männer aber fürchteten den Moment, in dem ihre hoffnungsvollen, geliebten Söhne von der Kriegs Mechanisierung erfasst würden.
Noch warteten die Meldeämter, bis die jungen Männer achtzehn waren, aber dann musste man mit allem rechnen.
In Düsseldorf gab es noch eine Menge funktionierender Kinos und auch Tanzlokale, wie die Tonhalle und Liesi wurde von Turnvereinfreunden eingeladen, ins Kino und zum Tanzen mitzugehen. Egon, ein sehr hübscher Junge, der gerade sein Abitur bestanden hatte, lud sie ein mitzukommen, und es war das erste Mal, dass sie einer solchen Einladung folgte. Im dunklen Kino nahm er ihre Hand und suchte ihren Puls. Seltsam war ihre Reaktion… So etwas hatte sie noch nie gespürt…, nicht einmal bei dem Kuss von Werner, mit der warmen Zungenspitze. Dabei war dies doch nur eine Art von Händedruck und…, wie vom Blitz getroffen, entzog sie ihm schnell ihre Hand… Er beugte sich vor, um ihr ins Gesicht zu sehen und sie tat ganz harmlos und lächelte, aber ihre Hand steckte sie in die Manteltasche. Es war, als hätte sie sich den Puls verbrannt.
Von dem Film wusste sie nachher so gut wie gar nichts und bei dem anschließenden Tanzvergnügen war sie sehr verlegen. Er aber hakte sich beim Weg nach Hause bei ihr ein und wollte sie wieder sehen.
Sie aber befand sich in einem Widerspruch und meinte, dass sie doch mehr oder weniger mit Werner, dem Navigationslehrer, befreundet sei, aber es war doch sehr reizvoll, wie dieser Egon mit ihr umgegangen war. Da war etwas, was sie noch nicht empfunden hatte. Da musste noch mehr sein!
Doch kurz darauf wurde er eingezogen und sie sah ihn, den hübschen Jungen, mit dem lockigen Blondhaar und der zarten Haut, nicht wieder. Er fiel schon nach der Ausbildung als einer der Ersten. Er war der einzige Sohn der leidgeprüften Eltern und Liesi besuchte die für ihn stattfindende Messe in der evangelischen Kirche. Es war schrecklich! Doch die Hand an ihrem Puls, das berauschende Gefühl…, den schönen jungen Mann mit den himmelblauen Augen, vergaß sie nie.
Nach und nach verschwanden alle die jungen Menschen, die sie in der Turnhalle bewundert hatten. Turner, die am Reck, Barren und Pferd wirklich wunderbar turnten und auch gute Leichtathleten oder Handballspieler waren, verschwanden nach und nach zur militärischen Ausbildung und für die Reserve. Einige sollten die Reserveoffiziers-Laufbahn ergreifen.
Was war aus der “heilen Welt” geworden?
Liesi hatte war nun im zweiten Lehrjahr und die Arbeit, in der Schaufensterdekoration, und in den Lichthof - Vitrinen machte ihr immer noch Spaß.
Der Krieg beherrschte die ganze westliche Welt. Von Afrika und Rommel wurde berichtet. Gerüchte um Russland kamen auf, und im Rundfunk waren täglich Sonderberichte. Zwischendurch immer wieder die Sirenen mit Vorwarnung. Dieser hohe, gellende Ton der durch Mark und Bein ging, und die Hauptwarnung mit dem leiernden Heulton.
Mittlerweile kannte Liesi alle Bunker, die auf dem Weg lagen und auch in der Nacht wurde man aufgeschreckt und rannte in den Luftschutzkeller, aber alles war für junge Menschen, die noch die Kraft der Jugend hatten, auszuhalten. Für die Älteren und die Alten war das der reinste Horror. Viele Leute lehnten es auch ab, in den Keller zu gehen. Im Rundfunk immer wieder Reden vom Führer und von Goebbels,
Parolen von Vaterland und Sieg.
Der Krieg hatte sich ausgebreitet. “Zu Lande, zu Wasser und in der Luft!”
Das waren die Sprüche, die einem immer wieder in die Ohren geblasen wurden.
“Wir siegen! Unsere sieghafte Armee! Unsere tapferen Helden…!
Und wirklich, im Jahr 1940 triumphierten Hitler und die Minister, die Partei und auch die Militäreinheiten von SS, Luftwaffe, Marine und dem gesamten Heer.
Zwar waren die Luftangriffe, welche über England durchgeführt wurden erfolgreich, aber die angestrebte Luftlandeaktion war fehlgeschlagen.
Jedoch hörte man in den Nachrichten nur von deutschen Erfolgen.
“Denn wir fahren gegen Engeland!”
Heimlich abgehörte Berichte bei BBC sprachen von Vergeltung und das bekamen die Deutschen auch unentwegt zu spüren. Die normale deutsche Bevölkerung wusste nichts Genaues.
Hinzu kam auch im Jahr 1940 die Nachricht von der Achse - Berlin - Rom - Tokio. Die Nachrichten berichteten von Verträgen zwischen Nationen, über die sie bisher kaum etwas gehört hatten. und wurden nicht verstanden, aber es war allen bewusst, dass nun die ganze Welt in das Kriegsgeschehen eingebunden war.
„Und wir und unsere Soldaten mitten drin!“ , sagte Anna. Ob wir das überleben?
Alle Nachrichten berichteten von Erfolgen und es gab sie ja auch in Wirklichkeit, denn nach und nach kamen aus allen Richtungen Nachrichten von deutschen Soldaten, die nun ihren Angehörigen mitteilen konnten, wo sie sich befanden. Die genauen Daten der Einmärsche nach Norwegen und Dänemark, Belgien, Frankreich, Niederlande, hatten die normalen deutschen Bürger nicht im Kopf, denn die Ereignisse überschlugen sich.
Gerd war in Frankreich und dort ging es ihm noch gut. Er war in der Funkerausbildung in Nord - Frankreich und lernte dort auch mit Pferden umzugehen, die von den Offizieren geritten wurden. Das machte ihm, dem Tierfreund, große Freude. Er durfte die Pferde bewegen und bekam Reitstunden, weil der Offizier, dessen Pferd er pflegte, ihm zugetan war. Der Umgang mit den Pferden machte Gerd große Freude. Das drückte sich in allen Briefen, die er schrieb, aus.
Bis dahin hatte Gerd nur geringe Kriegserlebnisse, denn der Einmarsch in Frankreich war schon vor sich gegangen, als er nach Frankreich zur Funkerausbildung versetzt wurde. Doch bei einem Heimaturlaub erzählte er, dass sie bei dem Vormarsch in Frankreich ein Schlösschen eingenommen hätten. Dort hätten die Soldaten wie verrückt zugeschlagen. Sie hätten die Schränke umgekippt, Glas und Spiegel zerschossen und die Polstermöbel aufgeschlitzt. Wörtlich sagte er: “Mutter, kannst Du Dir das vorstellen? Alle die schönen Sachen! Es hätte doch genügt, wenn das Haus besetzt worden wäre, aber sie haben gehaust wie die Räuber!” Anna antwortete: “Das ist der Krieg, der macht die Menschen verrückt!”
Kurz darauf wurde er zu der Panzertruppe abkommandiert und war nun Soldat zur Ausbildung. Sie wurden “geschliffen!”, wie er schrieb und er sollte in ein paar Monaten zum Einsatz kommen, doch dann hatte er noch einmal Urlaub bekommen.
Lena und Gerd wollten sich verloben und nun war Hanne, Lenas Mutter, auf Hochtouren. Sie hatte nun das Heft in der Hand. Obwohl die Lebensmittel schon rationiert waren, Sie hatte alles, was man braucht, um ein Fest zu feiern. Sie war wirklich eine sehr tüchtige Frau und konnte alles. Es wurde gebacken und gekocht und alles war auf Hochglanz poliert. Da blieb kein Kupfertopf und kein Stück Silber unpoliert. Mit ihrer etwas rauen Stimme trieb sie alle an, und an dem betreffenden Tag war alles so, wie sie es sich vorgestellt hatte und selbstverständlich mussten neue Kleider her.
Selbst Wein hatte Lenas Vater aufgetrieben. Die reichen Tennisclubmitglieder hatten natürlich alles zur Verfügung und Lenas Vater war sehr beliebt, weil er alles tat, um die Leute in ihrem Clubleben zufrieden zu stellen.
Hanne hatte eine große Tafel gedeckt. Wunderschöne Tischwäsche und echtes “Rosenthal weiß”, für mindestens zwanzig Personen hatte sie im Laufe der Zeit angeschafft, und alle waren eingeladen. Auch Ricka war dabei. Sie hatten gerade das Hauptgericht genossen und wollten singen: “Das ist der Tag des Herrn!”, da gab es Alarm.
Man war schon ein bisschen beschwipst, denn Alkohol war man kaum gewohnt und jetzt waren alle etwas aufgelockert und folgten Lenas Vater in den Luftschutzkeller. Sie sagten: “Es wird schon nichts passieren!” Doch das war ein Trugschluss, denn die Bomber waren sehr schnell da, und sie hatten den englischen Sender, der Angriffe schon früher ankündigte, nicht abgehört. Es war verboten, diesen Sender zu hören und wer erwischt wurde, der wurde streng bestraft. Ängstlich hörten sie das Brummen der Kampfverbände mit ihrer tödlichen Fracht… und hofften, dass sie über sie hinweg fliegen würden, doch dann passierte es:
Ein Sausen und dann ein Bersten und Krachen, ein furchtbares Getöse in der Nähe. Das übernächste Haus war zusammengekracht. Eine Bombe hatte das Haus voll getroffen, aber die Bewohner des zerbombten Hauses waren verschont geblieben, weil sie im Bunker waren, doch hatten sie alles verloren. Der Bombenangriff war nur kurz, und eine halbe Stunde später kam mit einem langen Heulton, die Entwarnung…
Die Verlobungsgesellschaft war froh, alles überstanden zu haben und Hanne, die sich so eine große Mühe gemacht hatte um das Fest schön zu gestalten sagte: “Jetzt wird weiter gefeiert, ich hab’ das nicht alles umsonst gemacht!” Lenas Vater bot eine
Runde “Schmittmans Korn” an. “Zu Beruhigung“…, sagte er.
Zu der Zeit wurde wenig geraucht, zumal mehr Frauen als Männer da waren und die Parole war: “Eine deutsche Frau, raucht nicht!” Nur Lenas Vater, der viel rauchte, nahm eine Zigarre und Gerd ein Zigarillo.
Es war zwar nun etwas ruhiger und niemand hatte mehr Lust, den Tag des Herrn zu singen, aber der Nachtisch und alle sonstigen Genüsse wurden nun noch dankbarer entgegengenommen. Das Gefühl, noch einmal verschont geblieben zu sein, machte die Verlobungsfeier zu einem ganz besonderen Fest und sie blieben noch lange zusammen. Das Brautpaar war glücklich und zufrieden.
Ein paar Tage noch, und Gerd musste als Panzerfunker zu seiner Einheit zurück. Er wurde versetzt und bei seiner nächsten Nachricht hörten sie, dass es wahrscheinlich mit der Einheit in Richtung Rumänien gehen würde.
“Wir siegen!” Ja, das wurde verkündet, aber im Kino sahen und im Radio hörten sie, wie weit sie davon entfernt waren. Das machten ihnen die Bombenangriffe, die nun von den Amerikanern und Engländern durchgeführt wurden, klar.
Im Jahr 1941 begann der zweite Weltkrieg im Pazifikraum. Japaner hatten den US-Flottenstützpunkt Pearl Harbor bombardiert und japanische Kamikaze-Flieger stürzten sich mit ihren Flugzeugen in den Tod. In der Wochenschau sah man die zum Tode entschlossenen, japanischen Flieger vor ihrem Abflug. Für die Deutschen unvorstellbar, dass man so weit gehen könnte.
“Das sind Fanatiker, die ihr Leben für die Idee hergeben“, sagte Herr Krieger.
Die Ereignisse überschlugen sich, denn der Russlandfeldzug hatte im Juni begonnen. Mit einem Riesenaufwand an Menschen, Pferden, Waffen und Munition, Flugzeugen, Bomben und Panzern waren die deutschen Truppen und ihre
Verbündeten in russisches Gebiet vorgedrungen.
Gerd hatte kurz zuvor noch begeistert von der wunderbaren Krim geschwärmt und dann schrieb er, kurze Zeit später, von dem Vormarsch auf Moskau.
Längere Zeit hörten sie nichts von ihm und machten sich große Sorgen, denn im Radio wurde von einer Schlacht gesprochen, in der die Deutschen gewonnen hätten. Doch war der Vormarsch ins Stocken geraten, weil die Soldaten auf beiden Seiten in Matsch und Schlamm versanken. Das Herbst- und Winterwetter würde weitere Kämpfe unmöglich machen. Wegen dieser Pause bekam Gerd Urlaub und kam nach einer langen Fahrt nach Hause.
Total übermüdet kam er mit seinem Gepäck herein und sagte, noch bevor er Anna und Liesi begrüßen konnte: ”Fasst mich nicht an, meine Sachen sind total verlaust und verwanzt.”
Er trat auf den Balkon und warf sein Gepäck, den Rucksack und die Decke, seine Stiefel und dann seine ganze Kleidung hinunter auf den Hof, vor die Waschküchentüre. Anna füllte Wasser in den Einkochkessel, damit Gerd sich ausgiebig waschen konnte, denn ein Badezimmer hatte das Haus noch nicht.
Gerd machte ausgiebig davon Gebrauch und sagte: “Ein Glück, dass die Wanzen und Flöhe mich nicht mögen, nur meine Kleidung, die mögen sie!” Es stellte sich heraus, dass er noch nie einen Stich abbekommen hatte. Das musste wohl an seinem Blut und seinem Körpergeruch liegen. Er sagte: “Meine Kameraden kratzen sich kaputt, aber ich kann mich, wenn wir eine Schule erobert haben, an die Heizung oder an den Ofen legen. Mir tun die Biester nichts, aber die Andren meiden jeden warmen Ort, denn da sind sie besonders aktiv. Er sah sehr müde und blass aus, erzählte kurz von seinen letzten Aufenthalten, den Kämpfen, dem Dreck und den toten Kameraden. Aber dann, nun in Zivilkleidung, nichts wie ab zu Lena.
Anna und Liesi machten sich über seine Uniform und sein Wäsche her. Er hatte auch eine Menge Fußlappen dabei. Alles wurde gewaschen und getrocknet. Die Uniform und der Mantel blieben in der Waschküche, damit kein Ungeziefer in die Wohnung kam. Die Stiefel wurden geputzt und Anna sorgte für das Essen am nächsten Tag.
Karl Grüber, Liesis Cousin, der begabte Schüler, schrieb eine Karte: “Liebe Tante Anna, Gott sorgt dafür, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen! Euer Karl.“ Sonst nichts! Es war eine Fotografie in Postkartengröße. Karl saß in einer Uniform auf einem Pferd. Anna sagte: “Rätselhaft, was will er nur damit sagen?”
Die Sportfreunde schrieben aus allem möglichen Gegenden. Von Städtenamen, die man bis dahin noch nie gehört hatte. Es wurde von dem Marsch auf Moskau gesprochen und heroische Bilder sah man in der Wochenschau von der Front.
Die Ukraine war eingenommen und Gebiete in Richtung Moskau und es ging in einem ungeheuren Tempo, wenn man bedenkt, dass sich alles innerhalb eines halben Jahres vollzog.
“Das kann nicht gut gehen“, sagte Rickas Vater. “An Moskau und dem russischen Winter ist schon Napoleon gescheitert!“ Doch solche zersetzenden Sprüche durfte man nicht laut äußern. Da hätte man sich schnell in einem Gestapokeller wieder finden können.
Ricka hatte sich unbeliebt gemacht, weil sie in der Schule eine so genannte Botschaft, die man in einer Klostermauer gefunden hatte, ihren Mitschülerinnen zum Lesen gegeben hatte. Darin stand, dass Deutschland den Krieg verlieren würde. Dass die Nazis Verbrecher wären und Unheil über die ganze Welt brächten. Ein Fluch läge über dem Land. Sie bekam einen dienstlichen Bescheid von der Gestapo und hatte einen Meldetermin. Sie hatte Angst, aber das half ihr nicht, sie musste sich dort melden und das tat sie dann auch. Als sie wieder nach Hause kam, war sie sehr aufgeregt und bleich. Sie sagte: “Es war unheimlich! Alle die leeren Gänge, eine Türe neben der anderen, und an jeder Türe eine Nummer und keine Namen.”
Die Gestapoleute wollten wissen, vom wem sie dieses Weissagung hätte und sie sagte, dass der Zettel in ihrem Hausflur gelegen hätte. Sie bedrohten sie und sagten: “Wenn du noch einmal solche Parolen verstreust, sperren wir dich ein. Du hast nur Glück, dass du noch minderjährig bist, sonst wärst du dran!” Sie fragten noch, was ihr Vater sei, und ob er Kommunist oder Sozialdemokrat wäre, oder ob sie Verbindung zu Juden hätten und welcher Religion sie angehörte. Sie war wirklich sehr aufgeregt und sagte: “Nie mehr werde ich so etwas machen! Ich hatte große Angst!”
Und dann wieder ein einschneidendes Erlebnis. Ein Bombenangriff…!
Anna und Liesi waren bei Vollalarm mit ihren Koffern unterwegs und liefen über das ehemalige Kirmesgelände um schneller zum Bunker zu gelangen. Das Brummen der feindlichen Bomber war schon über ihnen, als sie das Sirren einer Bombe oder einer Luftmine hörten. Sie ließen ihre Koffer fallen und warfen sich mit dem Gesicht nach unten ins feuchte Gras. Da kam auch schon der Aufschlag, ziemlich nah, hinter ihnen, meinten sie.
Ein Dröhnen und eine Erschütterung, und sie dachten, dass nun auch ihr Haus getroffen sei. Der Geruch des Grases war so intensiv, dass Liesi ihn ihr ganzes Leben lang, immer wieder in Erinnerung rufen konnte.
Danach sprangen sie auf, liefen in Richtung Bunker und dort drängten sich die Leute durch ein kleines Holztor. Die Nachbarin mit ihren Kindern, eines lag noch im Kinderwagen, der sich verklemmt hatte, schimpfte, weil zwei Männer über den Kinderwagen gesprungen waren, um schneller in den Bunker zu kommen. Im Bunker war ziemliche Aufregung, weil der Alarm so spät ausgelöst wurde. Die Luft war zum Schneiden, denn es hatte vorher geregnet und die Mäntel der Leute und ihre Haare waren nass geworden. Die Kinder weinten.
Da sagte Liesi: “Ich erzähle Euch ein Märchen, ja…?” Eines der Kinder kletterte auf ihren Schoß und sie erzählte das Märchen vom Wolf und den sieben Geislein. Das hatte ihr als Kind auch sehr gut gefallen. Die Kinder beruhigten sich und die Mütter hörten auch mit zu… Liesi hatte ein großes Publikum und auch sie hatte sich ganz in die Geschichte eingelassen, so dass auch sie sich beruhigte. Doch den Geruch des saftigen, duftenden Grases, hatte sie noch immer in der Nase.
Nach diesem Luftschutzabend gewöhnte sie sich an, in den Bunkern nach verängstigten Kindern Ausschau zu halten und wenn nötig, erzählte sie den Kindern Märchen. Das tat allen gut, auch den Erwachsenen.
Nach der Entwarnung kam die Sorge um das, was sie nun zu Hause erwartete. Doch sie hatten Glück. Anna blieb stehen, sah Liesi an, und sagte beglückt: “Kind, es steht noch..!”
Ihr Haus stand noch, doch es war kein Glas mehr in den Fenstern. Durch den Druck, den die Explosion ausgelöst hatte, waren alle Fensterscheiben zerstört worden und etliche Dachziegel lagen auf der Straße. Noch war Sommer und so war es erträglich, aber in den Tagen darauf ging die Suche nach Glas los, das aber nirgendwo aufzutreiben war.
So wurden im Löricker Wäldchen, welches schon Vater Wilhelm für seine Abenteuer mit den Zwergen gedient hatte, Bäume freigegeben und Anna und Liesi fuhren “ihre Bäume” zu einem Sägewerk, wo die Bretter geschnitten wurden. Sie besorgten sich in der Nachbarschaft Sägeböcke und wurden bewundert, als sie sich mit einer ziemlich stumpfen Handsäge daran machten, die Bretter auf Maß zu schneiden. Das war eine harte, ungewohnte Arbeit, aber es musste sein, denn es sah nach weiterem Regen aus. Alles nahmen sie gerne auf sich, denn sie waren glücklich, sich abends ins eigene Bett legen zu können.
Müde und abgekämpft hatten sie die Bretter zugeschnitten und nun fehlte noch die Hilfe eines Handwerkers. Ein älterer Nachbar erklärte sich bereit, die Bretter anzunageln. Nun kam kein Regen mehr durch, doch dafür war es stockdunkel und man hatte ständig das Licht an. In solchen Zeiten wird man sehr bescheiden. Das Leben lief einfach so weiter. Arbeiten, Bunker laufen, Lesen, Spaziergänge am Rhein, immer wieder Sport in allen Variationen, Theater, Operette, Briefe an die Sportfreunde, die sich immer über Post freuten.
Hauptsächlich war aber die Arbeit sehr wichtig. Liesi hatte gute Zeugnisse und sogar eine Belobigung von der Berufsschule wegen guten Allgemeinwissens und
in Warenkunde, Aufsatz und Buchführung. Die Belobigung wurde bei der jährlichen Zusammenkunft der Betriebsangehörigen im Lichthof des Geschäftes
vom Bürodirektor vorgelesen, und Liesi war mächtig stolz, als plötzlich ihr Name fiel und alle sie ansahen. Sie dachte: “Vielleicht wird das doch noch mal was mit der
Einkäuferin.”
Liesi hatte immer noch Kontakt zu der Familie, bei der sie in der Kinderlandverschickung gewesen war und diese boten ihr an, im Kaufhof Offenbach das dritte Lehrjahr zu beenden, denn ihr Sohn war eingezogen, und sein Zimmer in der Mansarde war frei. Liesi fuhr mit dem Zug nach Offenbach, um sich dort im Kaufhof anzumelden und die Familie Heinke zu besuchen. Sie waren stramme Edel - Nationalsozialisten und sie meinten die Hilfe ehrlich. Im Ort genossen sie großen Respekt. Der Hausherr war ja Schulrektor und wenn ein Soldat Urlaub hatte, kam er zu seinem früheren Rektor, um guten Tag zu sagen, und von seinem Dienst zu berichten. Jeder bekam ein Päckchen Attika - Zigaretten, eine besondere Marke. Es wurde erzählt, die Urlauber kämen nur deswegen, denn ein Päckchen solcher Zigaretten war schon etwas Besonderes, und der Sold war gering. Der Dienst am Vaterland wurde schlecht bezahlt. Als Nationalsozialisten fühlte sich das Ehepaar Heinke verpflichtet, Liesi als Bombengeschädigte aufzunehmen. Vielleicht hatten sie aber auch eine Quote zu erfüllen…
Jedenfalls war das Wasser auf die Mühlen von Liesis Abenteuerlust und sie sagte begeistert zu. Das letzte halbe Lehrjahr also dort… Es versprach Abwechslung und bis dahin, waren in dem kleinen Ort noch keine Bomben gefallen.
Ein besonderes Erlebnis stand noch bevor. Rickas Cousin von der Mosel, SS-Offiziers-anwärter, hatte Geburtstag und er hatte die ganze Verwandtschaft und Bekanntschaft eingeladen. Er war zur Ausbildung auf der Ordensburg Vogelsang. Der Zufall wollte es, dass auch Werner, Liesis Brieffreund Urlaub hatte, und selbstverständlich eingeladen war. Er war inzwischen Unteroffizier und hatte seine Ausbildung als Navigationslehrer bei der Luftwaffe beendet.
So fuhren sie mit dem Zug nach Koblenz, was für Liesi schon etwas ganz Besonderes war, denn bisher war sie nur bis Kleve und in die Eifel gekommen, wo Tante Dora, Mutters Schwester wohnte. Sie waren übermütig und entspannt und machten allerlei Späßchen. Werner ließ seinen ganzen Charme sprühen. “So einen Freund zu haben, ist einfach wunderbar“, dachte Liesi.
Doch dann kam eine Situation auf sie zu, mit der sie nicht gerechnet hatte und auch nicht glauben wollte, dass ihr Freund Werner, der so gebildet war und den sie so sehr bewunderte, sich so rüde verhalten konnte. Sie standen auf dem Perron am Ende des Zuges und als der Zug an einer Station hielt, trat Werner an die Türe und half galant einer Dame in den Waggon. Danach hörten sie eine kreischende, laute Stimme, die schrie: Weg mit euch, weg hier…!”
Liesi und Ricka standen am Fenster und sahen, dass drei junge Mädchen, Fremdarbeiterinnen mit weißen Kopftüchern, draußen standen. Sie waren schlecht gekleidet und hatten abgetragene Schuhe an und sahen verständnislos nach Oben. Liesi schaute sich empört um, woher diese grässliche Stimme kam, aber da war niemand, nur Werner stand da. Der Zug fuhr an, die armen Mädchen, wahrscheinlich Ukrainerinnen, standen traurig draußen und kamen nicht mit.
Werner dreht sich um und wollte die vorhergegangene Plänkelei wieder aufnehmen. Liesi und Ricka sahen sich an und wussten nicht, was sie sagen sollten. Einige Fahrgäste um sie herum, sahen Werner vorwurfsvoll an und Liesi war peinlich berührt. Es war doch so schön gewesen und nun das? Werner schien überhaupt nicht zu merken, welchen Eindruck er gemacht hatte. Wer hatte ihn so beeinflusst? Solche Entgleisungen hatte sie bisher an ihm nicht bemerkt, denn er war immer freundlich und respektvoll gewesen.
Sie mussten nun in Koblenz in die Moseltalbahn umsteigen und fuhren nach Alf an der Mosel, wo Rickas Cousin wohnte. Ricka konnte dort übernachten, aber für Liesi und Werner hatten sie Zimmer in einem nahe gelegenen Hotel reserviert. Natürlich Einzelzimmer und etwas anderes wäre auch nicht erlaubt gewesen. Es war das erste Mal, dass Liesi in einem Hotel übernachtete, aber die Freude über dieses Erlebnis war gedämpft, weil ihr die Szene in dem Zug vor Augen war. Wie würde diese Nacht enden? Liesi war hin- und her gerissen und sie war sehr aufgeregt. Sie bezogen ihr Zimmer und Werner holte Liesi ganz gelassen ab, um mit ihr zur Geburtstagesfeier zu gehen. Geküsst wurde nicht und es wurden auch keine Zärtlichkeiten ausgetauscht, was Liesi auch angenehm war, denn sie war verwirrt.
Liesi lag noch immer die Szene in dem Bummelzug im Magen und sie konnte, obwohl die Festtafel reich gedeckt war, kaum etwas essen. Unerklärlich auch, woher alle diese Köstlichkeiten kamen, die für die normale Bevölkerung nicht mehr zur Verfügung standen. Es war für vierzig Personen gedeckt und es gab Kaffee und Wein, Kuchen, Wurst und Schinken. Später erfuhr sie dann, dass schon ein ganz flotter Schwarzhandel mit Wein im Gange war und an der Mosel saß man ja an der Quelle. Besonders, wenn man einen eigenen Weinberg besaß..
Hier hatte es auch noch keine Bombenangriffe gegeben und man feierte fröhlich vor sich hin. Allmählich verschwand ihre Bedrücktheit und sie wollte doch auch einmal wieder unbeschwert fröhlich sein. So gingen sie um Mitternacht zu ihrem Hotel und Werner sagte: “Ich bringe Dir noch etwas zu lesen, lass’ die Türe auf.”
Liesi dachte: “Bin gespannt, welche Geschichte er mir bringt!”
Es war eine wirklich aufregende Situation. So etwas hatte sie ja noch nie erlebt, aber eigentlich war es auch perfekt. “Es ist wie im Film,” dachte sie und sie kam sich verrucht vor. Sie dachte: “Ob er wohl zärtlich ist?” Und wirklich, eine viertel Stunde später ging leise die Türe auf und da war er. Er machte kein Licht, und bald war er neben ihr. Das erste Mal, dass ein Mann, oder überhaupt eine Person, außer Ricka, neben ihr lag. Irgendwie aber auch unheimlich, denn vor lauter Aufregung gab es keine Reizentwicklung als er sie küsste und streichelte. Es ging alles viel schneller als sie dachte, so schnell…, fast sachlich, denn plötzlich nahm er ihre Hand und küsste sie. Sie dachte: “Was kommt nun…?” Er legte ihre Hand auf sein erigiertes Glied. Sie hatte noch nie so ein Körperteil in diesem Zustand gesehen, geschweige denn angefasst, und zuckte zurück…, als wäre es ein gefährliches Insekt.
Eine erfahrene Frau hätte sich vielleicht gefreut, aber ein unschuldiges Mädchen…? Er lachte und fasste erneut nach ihrer Hand.
Ihr schlug das Herz bis zum Hals, und sie wusste nicht, was sie machen sollte, was er wiederum reizvoll fand, näher rückte, und fest den Arm um sie schlang. Ihre Zweifel schwanden und es hätte vielleicht lustvoll enden können, wenn sie nicht plötzlich einer Entscheidung enthoben worden wäre, denn plötzlich ertönte mit fürchterlichem Getöse die Luftschutzsirene, die auf dem Dach des Hotels angebracht war. Liesi sprang aus dem Bett und rief: “ALARM!” und begann sich anzuziehen. Er bezog das Wort ALARM auf seinen Zustand und lachte.
Es muss auch wirklich komisch gewesen sein, denn Liesi, wenn sie sich daran erinnerte, lachte noch Jahre später über diese Episode.
Sie war so auf die Signale der Sirene fixiert, dass sie sich immer in Windeseile anzog und das machte Liesi jetzt auch, aber nicht nur deswegen. Es war die ganze Situation. Er sagte: “Komm’ das wird nichts, ist ja nur “Voralarm”, die überfliegen das Mosel-Tal. Die Bomben fallen woanders.”
Liesi sagte: “Nein, das kann ich nicht!” Bei ihm hatte die Reizentfaltung wohl auch nachgelassen und ihm war sicher auch die Lust vergangen. Er schloss leise die Türe hinter sich, damit man im Hotel nichts merkte, und kurz darauf kam schon Entwarnung. Liesi hatte das Gefühl, entkommen zu sein, aber sie schlief tief und fest den Schlaf der Jugend, nach diesen außergewöhnlichen Tagen.
Das waren aufregende Ereignisse und Werner sagte am nächsten Tag, dass es gut sei, dass es so gekommen wäre, denn Liesi wäre wohl noch nicht reif für die Liebe, das sagte er mit etwas Ironie, aber Liesi war froh, dass es so ausgegangen war. Er sagte wirklich LIEBE, aber er hatte noch nie gesagt, dass er sie liebe. Wahrscheinlich hatte er selbst noch nicht so vollendete Erfahrungen, sonst wäre er mit Liesi gefühlvoller umgegangen. Doch er musste wieder zu seinem Fliegerhorst in Österreich, aber dieses halbe Liebesverhältnis ging weiter. Liesi war zwar um eine Illusion ärmer, doch nicht weniger neugierig auf das, was noch auf sie zukommen würde. Sie dachte: “Ich habe mir viel zu viel von diesem Tag versprochen, aber es war doch schön!” Liesi wollte Werner an seinem Standort Linz besuchen, bevor sie ihre Lehre in Offenbach beenden würde.
Der Koffer aus japanischem Stroh musste nun wieder seine Dienste tun und Liesi fuhr mit einem Personenzug nach Offenbach am Main. Das war an sich schon ein Abenteuer, das sie genoss. Endlich mal andere Luft genießen. Vor allen Dingen, frei nach eigenem Empfinden handeln zu können.
Sie lebte sich schnell ein, denn sie kannte ja von ihren Kinder - Land - Verschickungsaufenthalten schon einige Leute und war gespannt, wie sich alles entwickeln würde.
Im Kaufhof Offenbach lernte sie die Vorgesetzten kennen. Dem kaufmännischen Direktor musste sie sich vorstellen, das war üblich. Er fragte: “Wie geht es Herrn Doktor Schreiber?” Ihm konnte sie dann den Spruchwieder geben den ihr der Bürochef in Düsseldorf bei der Verabschiedung aufgetragen hatte. Sie sollte ihm sagen: “ Die Umstände machen uns nur stärker!”, aber sie sollte das nicht aufschreiben. Der Vorgesetzte in Offenbach freute sich und sagte: “Das bleibt aber unter uns!”
Liesi war stolz, dass sie so viel Vertrauen genoss. Später stellte sich heraus, dass beide Männer mit Jüdinnen verheiratet waren. Deren Kinder waren schon in Amerika, in Sicherheit. Liesi verriet nichts. In Düsseldorf war man in diesen Dingen sehr viel verschwiegener als in Offenbach. Hier, in diesem Kaufhof hatte man noch nicht so viel von der Gestapo und dem Ausspruch: “Feind hört mit!”, zu tun gehabt. Liesi lernte dort einen jungen Mann kennen, der unter seinem Revers einen Judenstern hatte und sehr sorglos mit diesem umging, denn als Liesi etwas in der Dekoration abholen sollte, drehte er eine Ecke seines Revers um und zeigte ihr den gelben Stern. Dabei lachte er. Liesi erschrak und sagte: “Zeig das Keinem, das kann gefährlich werden““, aber er schien überhaupt keine Angst zu haben und wenn sie Luftschutz-Nachtdienst hatte, war er auch immer dabei. Es wurde erzählt, dass er auch im Kaufhof-Keller wohnte. Niemand nahm Anstoß daran und wenn Liesi Nachtdienst hatte, wurde viel gelacht. Es war auch immer ein Abteilungsleiter dabei und Liesi lernte hier das Schachspiel. Im Nachtdienst hatten sie aufzupassen, dass kein Brand entstand und versteckten sich in den Schaufenstern hinter den Kleiderpuppen, einzig aus Sensationslust und wenn späte Spaziergänger vorbei kamen und meinten, dass sich in der Dekoration etwas bewegt hätte, nahmen sie Schaufensterpuppen-Positionen ein und hielten die Luft an. Das war ein aufregendes Spiel.
Liesi arbeitete nun in der Stoffabteilung und in der Konfektion. Die Hut Abteilung war in diesem Geschäft nicht von der Bedeutung wie in Düsseldorf und ihr machte es viel Freude, mit den schönen Stoffen umzugehen. Das war ein Genuss für sich. Es gab hier noch sehr schöne Kleidung, weil das Geschäft enge Beziehungen nach Wien unterhielt und dort wurde noch anspruchsvolle Kleidung produziert. Die so genannte “Wiener Mode!” Liesi kaufte dort ein wunderschönes, weißes Leinenkostüm und einen sportlichen Mantel. Das Personal hatte zum Einkauf hohe Rabatte und alle waren gut gekleidet.
Den Frauen Kleider und Mäntel zu zeigen und sie bei der Anprobe zu beraten, war ein Vergnügen für sich. Hier lernte sie die verschiedensten Kunden-Typen kennen.
Solche, mit viel eigenem Geschmack und solche, die überhaupt nicht wussten, was zu ihnen passte. Unangenehm war, dass manche Frauen stark nach Schweiß rochen. Es gab ja noch keine Selbstbedienung und man musste den Frauen in den Kabinen in die Kleidung helfen. Es wurden noch viele Häkchen und Druckköpfe verwendet, die auf dem Rücken zu schließen waren. Deodorants, außer Körperpuder, kannte man noch nicht und manche Stoffe waren auch schweißfördernd und geruchbildent. Kleidung aus Wolle müffelte, weil sie zu lange getragen wurde und weil sie gereinigt werden musste, um nicht einzulaufen und Reinigungskosten waren hoch. Die ersten Kunststoffe waren ziemlich luftundurchlässig. Sie verbreiteten bei Erwärmung Extra - Gerüche. In den Kleidern waren Schweißblätter eingenäht, denn bei Feuchtigkeit bekamen die Stoffe unter den Achseln Ränder.
Die Frauen bemerkten das natürlich selbst und die Scham und Aufregung ließen sie dann noch mehr ins Schwitzen kommen. Wenn man aber bemerkte, dass die Käuferinnen unsauber waren, ließ man sie nicht anprobieren, denn man befürchtete, dass man dann die Kleidung nicht mehr anbieten könne. Man musste viel Fingerspitzengefühl haben, um die Kunden nicht zu vergrätzen, denn man wollte sie ja doch als Kunden nicht verlieren. In dem Warenhaus gab es ja auch viele andere Sachen, die man verkaufen wollte.
Die Kolleginnen und Kollegen waren sehr entgegenkommend und Liesi fühlte sich wohl. In der Berufsschule ging alles seinen Gang und man bereitete sich auf die Abschlussarbeiten vor. Auch mit Familie Heinke kam sie gut zurecht, jedoch hatte Liesi das Gefühl, total auf dem Lande zu leben. Die Menschen waren ziemlich engstirnig und nur mit sich selbst beschäftigt. Jeder arbeitete, so weit wie möglich, in die eigene Tasche. Kritik an der Politik hätte keiner zu äußern gewagt.
Erst hier bemerkte sie, dass das Leben in Düsseldorf viel freizügiger war, obwohl sie selbst ja eigentlich noch immer an der Peripherie in der alten Straße wohnten. Die Stadt hatte trotz der Bombenschäden immer noch etwas von dem Glanz der früheren Zeit. Liesi begann sich nach Düsseldorf zu sehnen. Auch fehlte ihr die Mutter, der Turnverein und die Sportfreundinenen und Freunde, wenn auch viele nun im Krieg waren.
Doch nun, kurze Zeit vor den Abschlussprüfungen, erhielt Liesi einen Einberufungsbefehl als Nachrichtenhelferin zum Dienst bei der Kriegsmarine. Sie sollte sich in Kiel melden. Damit hatte sie überhaupt nicht gerechnet. Sie hatte schon die Zusage, nach bestandener Prüfung, im Kaufhof Düsseldorf, einen Posten als Verkäuferin zu bekommen und nun das…
Doch zuerst die Prüfung! Leider fiel das Mädchen, das neben ihr saß, bei der Buchführungs- und Bilanzierungsprüfung vor Aufregung ohnmächtig aus der Bank.
Später stellte sich heraus, dass das Mädchen schwanger war. Für sie war danach die Prüfung zu Ende und das arme Kind war nun von den frömmelnden Eltern, Verwandten und Bekannten verachtet. Sie musste die Lehre abbrechen, hatte die Prüfung versäumt und war todunglücklich. Erschwerend kam hinzu, dass der Kindsvater, ein neunzehnjähriger Junge, im Russlandfeldzug war. Im Überschwang der Gefühle und der Abschiedsszenerie war das Kind gezeugt worden. Der Verantwortung war der junge Mann nicht gewachsen. Seine Eltern wollten auch mit dem Mädchen nichts zu tun haben und sagten, sie hätte das nicht zulassen dürfen, und dafür trügen sie nicht die Verantwortung.
Liesi wollte diese junge Frau besuchen, die kreidebleich und weinend in ihrem kleinen Zimmer saß, wohin ihre Eltern sie verbannt hatten. Sie fertigten Liesi an der Türe ab, aber Liesi kletterte durch ein offenes Fenster im Erdgeschoss und verschaffte sich so Zutritt. Die Mutter zeterte und schrie: “Das ist Einbruch! Ihre Tochter hat Schande über sie gebracht!…”
In der Nachbarschaft wurde das herumerzählt und Liesi kam in den Geruch einer Einbrecherin, was wiederum die Lehrers Leute auf den Plan brachte. Liesi hatte eine “Sauwut” auf diese penetranten Fieslinge, aber sie konnte nichts für das Mädchen tun.
Frau Heinke sagte, Liesi hätte ihrem Ruf geschadet, aber das nahm Liesi nicht zur Kenntnis und sie dachte: “Bald ist alles vorüber und ich bin wieder zu Hause!”
Doch das Problem mit der Marine machte ihr zu schaffen.
Sie behielt die Nerven und beendete ihre Prüfung mit einer guten Note und auch alles andere gelang. Nur bei der mündlichen Prüfung hatte sie Probleme mit Führers, Görings, und Goebbels Geburtsdaten und mit der Machtergreifung. Dafür hatte sie aber Erfolg mit Warenkunde und Verkaufstechnik. Also alles gut…
Nur bei der Kochprüfung war ihr ein Fehler unterlaufen. Sie hatte vergessen, dem Kuchenteig das Backpulver beizugeben. Die Lehrerin sah interessiert zu, als Liesi, das Päckchen Backpulver in der Hand haltend, den Teig betrachtete aber Liesi machte kurz entschlossen aus dem Teig Düsseldorfer Törtchen, indem sie Teigplatten ausstach und mit Marmelade füllte. Das brachte ihr eine eins im Kochen ein und Frau Heinke hatte nichts mehr gegen ihre Hausfraueneigenschaften einzuwenden. Nachdenklich fragte sich. Liesi warum sie hier in Offenbach eine Prüfung im Kochen ablegen mußte. In Düsseldorf war dieses Fach nicht vorgesehen.
Es schadet ja nicht, dachte sie aber vielleicht wollte man schon Mädchen für das Mutterkreuz heranzüchten.
Tag der Veröffentlichung: 13.10.2011
Alle Rechte vorbehalten