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Bevor ich meinen Mantel anziehe, spreche ich noch einmal mit der Krankenschwester. Meine kleine Tochter Betty ist schwer krank und sie wünscht sich nichts sehnlicher als Prinzessin Angela an ihrem Bettchen zu begrüßen. Prinzessin Angela ist eine Puppe, besser gesagt eine Marionette. Heute habe ich beschlossen ihr diesen Herzenswunsch zu erfüllen und mit Jonny, dem Puppenspieler zu sprechen.

Ich kenne Jonny schon sehr lange, sogar länger als meinen Mann Alexander. Jonny und ich gingen am gleichen Ort in die Schule. Es war eine kleine Stadt in der wir aufwuchsen und jeder kannte jeden, so ähnlich wie hier an diesem Ort, an den uns das Schicksal nun zufällig wieder beide hingespült hat.

Ich trete hinaus auf die Straße. Es ist ein herrlicher Frühlingsnachmittag. Die Schwester würde noch eine ganze Weile da bleiben und außerdem gibt es noch ein Kindermädchen, das Betty schon einige Jahre kennt. Ich habe trotzdem ein schlechtes Gewissen eine Weile in der Frühlingssonne spazieren zu gehen, aber auch ich brauche mal frische Luft und außerdem habe ich ja ein Ziel und das heißt, die Puppe für Betty zu besorgen.

Seit Alexander gestorben ist und ich Witwe bin, habe ich die ganze Verantwortung und alle Entscheidungen alleine zu tragen. Nur gut, dass wir beide finanziell keinerlei Sorgen haben müssen, aber trotzdem komme ich mir oft einsam vor. Ich will das Beste für mein Kind und jetzt ist sie schwer krank. Die Angst sie könnte nun auch noch sterben schnürt mir des Öfteren die Luft ab, aber ich will nun nicht mehr daran denken. Ich gehe einen Schritt nach dem anderen. Vorbei an den imposanten Häusern dieses Viertels. Dann entlang an dem Neubaugebiet mit den Ein- und Zweifamilienhäusern, weiter an den Schrebergartensiedlungen und dann irgendwann komme ich zu den kleinen alten Häuschen am Rande unserer Stadt. Ich kann schon die Waldluft riechen und das kleine alte Fachwerkhaus sehen, das aussieht wie ein Hexenhäuschen mit einem kleinen verwilderten Garten davor. Das gehört Jonny. Ich war noch nie dort, aber Betty und die anderen Kinder besuchen ihn oft.

Aus Bettys Erzählungen weiß ich, dass Jonny Hasen hält und eine Schildkröte hat. Seine Tür steht immer offen für kleine und große Besucher. Es ist ein merkwürdiges Leben das er da führt. Er scheint selbst ein Kindskopf geblieben zu sein. Seine Eltern haben ihm ein Vermögen hinterlassen und jetzt ist nichts mehr übrig. Alles ist durch seine Hände geflossen. Er hat es für Feste, falsche Freunde und Kunstwerke ausgegeben. Nun verdient er sein Geld selbst als „Künstler“ mit seinem Puppentheater.

Ich stehe vor der Gartentür und frage mich, ob ich tatsächlich eintreten soll. Mir ist nicht ganz wohl bei der Sache, denn Jonny und ich sind nicht nur alte Bekannte. Wir haben eine eigene Geschichte miteinander. Jonny war mal sehr verliebt in mich, in der Zeit als ich Schönheitskönigin war. Eine Puppe in seinem Theater wurde mir nachempfunden und die Leute sagen er habe aus Liebe zu mir nie eine andere Frau angesehen.- Gerüchte wahrscheinlich, in der heutigen Zeit kann kein Mann so weltfremd sein. Die Leute reden dummes Zeug. Tatsache ist allerdings, dass ich es eine ganze Weile vermieden habe ihm zu begegnen, weil er in der Jugend ziemlich übertrieben um mich geworben hat. Sogar meine Freunde und meine Familie wurden mit einbezogen von ihm. Er setzte eine Weile alle Hebel in Bewegung, aber das kam für mich nie in Frage. Warum auch, ich kannte ja schon Alexander und der war es eben für mich, schon vom ersten Moment an.

Ich mache mir Mut – mehr als nein sagen kann er ja nicht. Und andererseits warum sollte er? Er kennt Betty und liebt Kinder. Es wäre sehr herzlos da abzulehnen. Allerdings ist die Prinzessin Angela die berühmteste und schönste Puppe in seiner Sammlung. Sie wurde nach mir benannt. Mir wird schon wieder ein wenig schwach, wenn ich daran denke. Was mache ich nur? Wie wird er reagieren wenn ich nach so vielen Jahren vor seiner Tür stehe?

Meine Nerven liegen blank, schon seit Wochen. Früher hätte ich gar nicht darüber nachgedacht. Also ich suche den berühmten Klopfer an seiner Tür. Betty war so beeindruckt, weil er gut erreichbar für die Kinder angebracht ist und eine Kasperlkopfform hat.

Die Tür geht auf und noch bevor er ganz aufgemacht hat ruft er „Hallo und herein spaziert“. Dann sehen wir uns. Es ist immer wieder erstaunlich, wenn Männer so groß gewachsen sind. In diesem speziellen Fall ist der Eindruck noch verstärkt, denn mit einem 1,90 großen Kerl rechnet man nicht, wenn man an ein winziges Hexenhäuschen klopft, selbst wenn man vorbereitet ist.

Er sieht mich mit großen dunklen Augen erstaunt an. Ich schaue ebenfalls genauer hin. Um die Augen herum hat er Lachfalten bekommen und der Mund kommt mir noch voller und fröhlicher vor als früher. Er strahlt eine Zufriedenheit aus, die ich nicht erwartet hätte. Wie kann man mit so einem Leben glücklich sein? Er wohnte früher in einer riesigen Villa mit vielen Angestellten und allem Luxus der Welt.

„Angela!“ Er ist erstaunt, reicht mir nach kurzem Zögern aber die Hand. „Angela, wie schön, dass Du gekommen bist. Das ist aber lieb, dass Du Dir Zeit genommen hast. Komm bitte herein, es ist hier alles ein wenig kleiner als Du es gewöhnt bist, aber für mich und meine kleinen Besucher genügte es bisher.“ „Nein bitte es ist wunderschön.“ Wir stehen direkt in der Küche. Alles wirkt ein wenig zusammen gewürfelt und putzig, aber passend zum Hexenhäuschenstil. Es ist blitzsauber, meine Nase erfasst noch einen anderen zarten Geruch von Seife aus der Richtung von Jonny. „Bitte komm weiter. Möchtest Du gerne in meinem Wohnzimmer Platz nehmen? Oder vielleicht das ganze Häuschen sehen?“ Und nach kurzem Überlegen: „Entschuldige bitte, dass ich so gedankenlos bin, ich weiß ja, dass etwas Wichtiges vorgefallen ist, denn sonst wärest Du nicht hier, wo Betty so krank ist. Wie geht es ihr?“ Dabei führt er mich mit Bestimmtheit zum hinteren Teil des Hauses, in das gemütliche Wohnzimmer. Er bietet mir einen Platz in einem ausladenden Ohrensessel an, der nahe an einem Wintergarten steht und viel Licht und Sonne hat.

Als ich sitze, bricht es aus mir heraus:„Oh Jonny sie kränkelt immer noch und ich weiß mir keinen Rat mehr.“ Er zieht sich einen großen Stuhl zu mir hin und setzt sich.
„Betty ist ein tapferes, starkes Mädchen. Ich denke sie wird kämpfen und die Krankheit vertreiben.“ „Aber sie ist ihrem Vater so ähnlich und der starb ja schon so früh.“
„Alexander ist immerhin 50 Jahre alt geworden und an einem Herzinfarkt gestorben, ich denke das kannst Du nicht miteinander vergleichen.“
„Du hast Recht“.
Ich werde etwas ruhiger.
„Sie ist nur das Letzte was mir geblieben ist von ihm.“
„Ja, sie ist ihm sehr ähnlich, aber auch einiges von Dir kann ich gut an ihr erkennen. Sie wird sich durchsetzen und am Ende ein schönes, glückliches und langes Leben genießen.“
“Meinst Du Jonny?“
„Nun sieh Deine Großmutter an. Ist sie nicht steinalt geworden? Und Deine ganze Familie galt als äußerst zäh und langlebig.“ Er blinzelt mir zu.
„Ja, das stimmt, sogar Onkel Friedrich, der sein Leben lang alleine lebte und ein wenig seltsam und verschroben war, lebte länger als es seinen Erben lieb war.“
Ich muss bei der Erinnerung lächeln, dann fällt mir aber ein, dass er das auf sich beziehen könnte. „Entschuldige bitte, so habe ich das nicht gemeint.“
„Nun wer sagt denn, dass jeder alleine lebender Mann seltsam und unleidlich wird?“
„Nein, nein, ich weiß und Du hast ja auch immer viele Besucher und Freunde, so dass man wohl nicht von alleine leben reden kann,“ sage ich hastig und ein wenig ratlos, denn etwas verschroben kommt mir sein Leben schon vor. Zu meiner Erleichterung bleibt er gelassen und freundlich, vielleicht ist er einfach nur ein wenig naiv, denke ich.

„Ich mache Dir einen Vorschlag. Ich koche uns beiden jetzt einen guten Tee und serviere Dir ein paar von Betty`s Lieblingskeksen oder auch ein Stückchen von Paulchens Geburtstagskuchen, den er mir gestern großzügig vorbei gebracht hat. Was sagst Du dazu?“
„Gerne, ist Paulchen der kleine Junge, der immer mit Betty im Kindergarten gespielt hat?“
Jonny steht auf und sagt im rausgehen, „der jüngste der Pfarrersbuben. Ja, könnte vom Alter her hinkommen.“

Ich sehe mich im Wohnzimmer um. Da stehen zahlreiche Fotos von Verwandten, befreundeten Familien, und Ausflügen mit Freunden. Das große Zimmer wird ausgefüllt mit einem Schreibtisch, mit vielen Papieren, einem Computer mit Drucker, einem Bücherschrank, zwei Schaukelstühlen, einem Servierwagen, mehreren passenden Stühlen für große und kleinere Besucher, einer Couchgarnitur, einer Essecke und einem Geschirrschrank. Alles mehr oder weniger zusammen gestückelt und doch einer nicht gleich fassbaren Ordnung unterliegend. Ich kann es nicht besser beschreiben, in mir entsteht der Eindruck, dass dieser Mann dem Chaos in seinem Haus eine gewisse Struktur gegeben hat. Das Ganze macht einen hellen und freundlichen Eindruck.

Jonny kommt wieder und stellt das Angekündigte auf den Servierwagen. Das Service ist blütenweiß mit einer zarten Struktur durchbrochen, die an frühere Zeiten erinnert. Jonny gießt den honiggelben Tee in die Tassen. Ich nehme mir mit der silbernen Zuckerzange zwei Stückchen Zucker und ein wenig von der Milch dazu. Jonny sitzt mir wieder gegenüber. Er lehnt sich mit seiner Tasse genüsslich zurück, zunächst am Tee nur schnuppernd und die Tasse mit beiden Händen umschließend, dann daran nippend. Er genießt sichtlich das Gefühl der Wärme von der Tasse in den Fingern und Handballen und sein Blick schweift zufrieden durch die Glasscheibe des Wintergartens über den hinteren Garten. Es ist als ob die Zeit anhält während wir beide da sitzen.

Ich spüre ein stilles Glück. Meine Augen sehen durch seine. Ich blicke auf seine Welt, die ihre ganz eigene befriedigende Ordnung hat und weiß auf einmal, dass er sich einen besonderen Platz geschaffen hat, der Trost und Vertrauen spendet. Das Verzücken darüber fließt von ihm zu mir. Die Stille ist erholsam und wohltuend für meine seit Wochen angespannten Nerven. Langsam gleitet die Angst aus meinem Körper hinaus und eine leise Befreiung macht sich breit.

Wir sprechen von alten Zeiten und gemeinsamen Bekannten. Jonny kann gut zuhören und er gibt mir das Gefühl verstanden zu werden. Ich erzähle von meinem Leben mit Alexander, von den gemeinsamen Zukunftsplänen, dem plötzlichen Tod, dem alleine gelassen sein, der Sorge um Betty, der Verwaltung des Vermögens und und und. Mit wachsendem Vertrauen sprudelt es aus meiner Seele hinaus und scheint sich, mit jedem Wort das ich heraus lasse, zu klären und aufzuhellen.

Draußen wird es dunkel, die abendliche Kälte dringt durch die Scheiben und Jonny geht Feuerholz für den Kamin holen. Ich telefoniere mit zu hause. Betty schläft schon meint die Schwester, mein Kind habe sich heute Nachmittag gut erholt. Ich bin beruhigt und beschließe trotz schlechten Gewissens noch da zu bleiben. Jonny bringt das Feuer zum Brennen und wirft Holzscheide hinein. Bald prasselt es und das Zimmer wird von einer angenehmen Wärme durchdrungen. Nach einem gemütlichen Abendessen will ich, nun neugierig geworden, mehr über das Leben von Jonny erfahren. Nachdem ich all die Fotos betrachtet habe, fällt mir auf, dass es keine Frau in seinem Leben zu geben scheint. Jonny lacht über meine Frage und meint ich wüsste doch, dass ich schon lange einen Platz in seinem Herzen hätte. Er sagt das so locker und selbstverständlich und ich wundere mich, dass es mir nicht peinlich ist darüber zu sprechen.

„Aber Jonny, Du hast mich doch nie richtig kennen gelernt. Es kann doch nicht mehr als eine Schwärmerei sein, für eine Frau die in Wahrheit gar nicht existiert.“ Jonny grinst in sich hinein. „Was immer es ist, Angela, es war die Jahre über stark und hat mir einen ganz anderen Weg im Leben gewiesen, als ich ihn sonst genommen hätte. Ich habe hier mehr bekommen als ich durch Reichtum und einen erfolgreichen Job erhalten hätte. Ich weiß das erscheint den meisten sehr fremd und unglaublich. Ich habe mich von einem völlig irrationalen Gefühl zu Dir tragen lassen, das ist wohl wahr. Ich habe im Laufe der Jahre oft darüber nachgedacht. Mir ist klar, dass jeder Psychologe davon reden würde, dass die Lösung des Rätsel alleine in mir liegt und mit Dir gar nichts zu tun hat, aber nichts desto trotz fühle ich so. Ich habe dabei mich selbst und mein ganz individuelles Glück gefunden. Das ist mir mehr Wert als all der Reichtum, den ich früher hatte und wenn Du auch nichts damit zu tun haben willst, bin ich Dir, oder wenn Du so willst, auch der Macht, die mich geleitet hat, sehr dankbar.“

„Jonny willst Du nicht eine Frau zum Anfassen haben, mit der Du glücklich sein kannst und Deine Liebe zu Kindern durch eine eigene Familie erfahren?“ „Oh ich habe hier eine eigene Familie und bin gleichzeitig sehr frei. Manch ein Zeitgenosse hat mir schon zu verstehen gegeben, dass ich Bindungsängste habe und mich so heimlich aus der Verantwortung gestohlen hätte“, dabei blinzelt er mir amüsiert zu. „Eine Familie ist sicher auch eine schöne Sache, aber mein Leben gefällt mir so und nun glaube nicht, dass ich nicht die ein oder andere Beziehung mit Frauen gehabt hätte, aber das hat nicht funktioniert.“

Ich erinnere mich an mein Anliegen und wechsele das Thema. „Jonny ich weiß, dass Du keinen Grund hast mir einen solchen Gefallen zu tun, aber Betty wünscht es sich so sehr und ich hoffe, dass sie dadurch wieder munterer wird und schneller gesund werden kann. Sie schwärmt immerzu von der Prinzessin Angela und wird bei dem Thema so glücklich. Sie wünscht sich nichts mehr, als dass die Prinzessin kommt und mit ihr spricht. Könntest Du mir helfen ihr diesen Herzenswunsch zu erfüllen?“

Jonny sitzt mir gegenüber. Er ist in einem Moment noch ganz vergnügt und strahlend und plötzlich wird er still und blass. Sein Blick geht nach unten auf den Boden und ich fragte mich, ob er wohl doch mehr zeitliche Verpflichtungen hat, als es mir erschienen war, oder ob es einen anderen Grund gibt aus dem er so in Verlegenheit gerät. „Oh bitte lieber Jonny mach es möglich, ich bin sicher es täte ihr so gut. Ich hätte nicht gefragt wäre ich nicht davon überzeugt.

„Angela, nichts täte ich lieber“, sagt er sehr traurig und langsam,“ ich habe Betty sehr gerne und wünsche mir auch, dass sie bald wieder so gesund und munter ist, wie ich sie kenne, aber leider gibt es die Prinzessin nicht mehr.“
„Jonny, ich verstehe nicht?“
Er scheint mit sich und seinen Gefühlen zu kämpfen. Er legt die Hand vor die Augen und sagte leise. „Ich habe sie heute Abend in den Kamin geworfen, um es hier warm und gemütlich für uns beide zu machen.“
Ich kann meinen Ohren nicht trauen und das Zimmer dreht sich plötzlich. Ich halte die Armlehnen fest, um mehr Halt zu finden. „Warum, verfeuerst Du Deine berühmteste und schönste Puppe?“
„Ich hatte nichts anderes da, die anderen Puppen sind ausgeliehen. Ich hatte nicht genug Holz, das wird erst wieder geliefert.“
“Oh, nein“, stöhne ich.
Er blickt mich müde an: „Es tut mir schrecklich leid, Angela. Hätte ich das gewusst.“

Nach einer Pause, in der wir uns sammeln, stehe ich langsam auf und verabschiede mich von Jonny. Trotz der Niederlage danke ich ihm und dränge darauf, dass er sich keine Vorwürfe machen soll. Der Abschied ist gedrückt, aber Jonny bittet mich um Erlaubnis mit einer anderen Puppe vorbei zu schauen. Ich gehe auf den Vorschlag ein, bin aber skeptisch, weil Betty die ganze Zeit so fixiert auf diese eine Puppe war.

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Tag der Veröffentlichung: 14.11.2010

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