Ich stehe hier und warte auf Albert. Es ist ein kalter Tag, mein Atem hinterlässt kleine Wölkchen und die Nase ist in kurzer Zeit klamm. Ich habe mich so gut es geht auf das Wetter eingestellt, ein Schal wäre jetzt allerdings praktisch, daran habe ich nicht gedacht.
Natürlich konnte ich nicht auf die hochhackigen Schuhe verzichten, denn Albert ist sehr groß und ich nicht in Stimmung, um ihm die Gelegenheit zu geben auf mich herab zu sehen. Meine Hände stecken in edlen Lederhandschuhen und ich hoffe, dass die Jacke, außer vorteilhaftes Aussehen, auch die Temperatur erträglich macht.
Die Natur kriecht ins weiße Winterbett und uns bleibt nichts anderes übrig als den Rückzug mitzumachen. Der Schnee fiel dieses Jahr üppig. Der ganze Luisenpark ist mit Pulver abgepolstert.
Wir haben uns die letzten Wochen nicht sehr oft gesehen und ich hatte bereits Zweifel ob sein Engagement für den Job nicht nur vorgeschoben ist. Heute rief er an und bat mich um ein Treffen, genauer gesagt um einen gemeinsamen Spaziergang. Albert und ich kennen uns noch nicht lange, aber es hat gepasst. Wir haben uns in einem Internetforum gefunden und ich hatte die Nase voll von einsamen Wochenenden.
Als meine Füße gerade anfangen sich über die Kälte zu beklagen, kommt er. Ich habe seine Größe unterschätzt, denn auch die Schuhe können einen gewissen Abstand nicht wegzaubern. Er umarmt mich zur Begrüßung. Ich rieche sein frisches Eau de Cologne. Sein Mantel fühlt sich wärmer an als meiner. Die Wangen sind gut rasiert, glatt, aber kalt. Ich balanciere die wenigen Stufen nach unten und warte, während er unseren Eintritt bezahlt. Ich betrachte ihn aus dem Abstand heraus, er sieht beinahe unwirklich gut aus. Ich stelle Verwunderung in mir fest, weil ich mich die ganze Zeit so sehr nach einem Treffen mit ihm gesehnt habe und nun fehlt die rechte Begeisterung.
Er erzählt von der Firma, in der er arbeitet. Albert redet gerne. Wir laufen rechts entlang des zugefrohrenen Sees. Ich kenne den Weg gut, denn ich wohne in der Nähe und war im Sommer oft hier. In der warmen Jahreszeit gibt es Enten, Schwäne und Gänse in der Nähe des Wassers, auch Schildkröten sonnen sich auf Steinen im See, nun aber ist es kahl und still. Ich lausche an den Worten vorbei, während sie sich mit der kalten Luft verbinden und mir den Kopf kühlen.
Meine Füße und Unterschenkel sind so kalt, dass ich mit den Knien in der Luft schwebe. Albert spricht nun von seiner Beförderung und Versetzung, von einem schönen Haus mit begehbarem Kleiderschrank und mich als dekorativem Teil des Inventars. Von einem neuen Leben in einer großen Stadt und davon, dass ich neue Freunde und einen guten Job dort finden werde, im Falle ich wolle nicht ganz mit dem Arbeiten aufhören, um mich unserer Haushälterin zu widmen.
Mir wird noch kälter – ich erfasse zwar die Worte, aber mir entgeht die Bedeutung. Von wem spricht er und warum eigentlich? Ich spüre meinen Körper nicht mehr. Die klare Luft trägt meinen Kopf nach oben wie einen Heißluftballon, der rasch in den kühlen Himmel aufsteigt. Unter mir scheinen jetzt zwei Figuren zu laufen, weit weg. So unwirklich wie die winterliche Märchenlandschaft. Wer hätte als Kind nicht von weißen Weihnachten und einer üppigen Bescherung geträumt? Nur was soll so ein Kind einsam inmitten all dieser Geschenke?
Nach der kurzen gemeinsamen Zeit will er ein neues Leben mit mir beginnen. Hat das nicht zu meinem Plan gehört? Ich erinnere mich kaum, denn das Denken wird langsamer in dieser eisigen Luft. Wir beide wollten nicht mehr alleine sein, das war der kleinste gemeinsame Nenner. Allmählich bringe ich die Gedanken wieder zusammen. Sein neues Leben, sein Haus, seine Haushälterin und ich, irgendetwas fehlt in diesem Bild.
Sein fragender Tonfall sagt mir, dass ich jetzt meinen Einsatz habe, also ziehe ich die Mundwinkel nach oben, schaue ihm in die beeindruckend blauen Augen und sage: „Tut mir leid, aber ich muss mal verschwinden, die Blase meldet sich bei dem Wetter öfter.“
Auf der Toilette ist es etwas wärmer. Das kleine Häuschen riecht menschlich und mir wird klar, dass noch mehr Sommer in diesem Park auf mich warten. Ich liebe meine Arbeit, meine Freunde und meine Freiheit. Ich wasche meine Hände gründlich, trockne sie ab und gestehe mir dabei ein, dass ich für eine kleine Weile bereit war, das alles für eine schöne Illusion zu verkaufen. Vielleicht begegnet mir in einem dieser Sommer ein strahlendes, leuchtendes und warmes Gefühl und ein liebendes Miteinander. Entschlossen öffne ich die Tür, um mich anschließend von Albert zu verabschieden.
Tag der Veröffentlichung: 14.11.2010
Alle Rechte vorbehalten