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Aus Carlchen wird Carl

Gleich als er die Augen öffnete kam dieses tolle Gefühl, daß es nur einmal im Jahr beim Aufwachen gibt. Es riecht ein wenig nach Weihnachten, aber es ist viel schöner! Schwups schwenkte er die Beine nach draußen und machte einen Satz aus dem Bett. ‚Autsch‘ – das rote kleine Auto war unter die nackten Füsse geraten.

Taps, taps, taps...durch das Zimmer, über den Flur in die Küche. Etwas später saß er am Tisch und plitsch, platsch spielte mit dem Löffel im Müsli. Heute darf er das, heute darf er fast alles und dann gibt es schon wieder einen schallenden Schmatz auf die Backe – Mütter alle total uncool, aber was soll`s heute gab`s Geschenke. Das Größte lag mitten auf dem Tisch – noch eingepackt.

Während das zweite Stück Schokokuchen im Mund verschwand fingerte er am Papier herum. „Machs auf“, sagte Mutti gespannt, aber er wusste was drin war und schüttelte den Kopf – „noooch nicht!!!“ Meinte er bestimmt, Mutti lachte.

Er genoss es mit den Finger abzutasten, während die Zunge den süßen Kuchen hin und her schob – da darf man jetzt zufrieden schmatzen.

Plopp, plopp unter dem Geschenkpapier befanden sich kleine Luftbläschen um das Flugzeug zu schützen. Mutti machte ein gequältes Gesicht bei dem trockenen Geräusch, aber für ihn war es das Größte alle Bläschen mit Daumen und Zeigefinger langsam zum platzen zu bringen. Als es gar zu schlimm war kitzelte die Frau das Kind durch.

„Moment mal sagte Carlchen und richtete sich zu seiner vollen Größe auf, ich bin jetzt 10 Jahre alt und damit erwachsen“, er sah seine Mutter feierlich an, „von heute an werde ich nicht mehr gekitzelt, es sei denn ich erlaube das“. „Oh, Pardon“, sagte Mama, bedeckte den Mund in einer gespielten Geste des Erstaunens. Er richtete sich noch ein wenig mehr auf und überragte seine Mutter, aber nur weil sie neben ihm in die Hocke gegangen war. Er nickte bestätigend und der kleine Körper wippte fröhlich und im Übereifer nach vorne.

„Nimmst Du das Geschenk nachher mit?“
„Hm, sagte er schelmisch, „weiß ja nicht was drin ist“
„Dann mach`s doch auf“ schmunzelte sie.
„Nein, nein“ schüttelte er den Kopf.

Das war ein Spiel zwischen ihnen. Natürlich, irgendwann musste das Flugzeug ausgepackt werden. Und dann saß er am Tisch und machte erst das rechte Auge zu und das linke auf und dann umgekehrt, immer weiter, damit das Flugzeug mal rechts von ihm und dann mal links von ihm erschien. Es war Sonntag und Carl hatte beinahe jede menge Zeit.

Mittags kam Papa und holte ihn ab. Zuvor hatte Mama noch Anweißung gegeben rechtzeitig wieder nach hause zu kommen. „Bitte Carlchen, schau das Papa es nicht überzieht“. „Mama, ich bin jetzt 10 und nicht mehr 9, Du musst mich jetzt Carl nennen“, sagte er mit einer kindlichen Ernsthaftigkeit, die die Mutter leise schmunzeln ließ. „Gut, Carl, amüsiert euch beide gut, das wird wohl ein richtiger Männernachmittag“, zog sie ihn auf, aber er nickte eifrig. „Mama Du kannst Dich auf mich verlassen, ich habe jetzt Verantwortung, ich bin 10“. „Ich weiß, ich kann mich auf Dich verlassen, und etwas leiser, mehr zu sich gewandt, „wäre Papa nur einmal so vernünftig wie mein Carl!“

Papa kam dieses Mal zu früh, manchmal war er auch zu spät und nie pünktlich, aber das gehörte dazu. Er hatte für Mama eine rote Rose mitgebracht, wahrscheinlich unterwegs aus einem Garten gepflückt. Mama war zurückhaltend, aber ein wenig freute sie sich schon über die Geste, wenn auch mit Stirnrunzeln. Papa und Mama hatten sich getrennt, das war ziemlich lange her. Papa hatte immer so einen anerkennenden Schimmer in den Augen, wenn er Mama ansah und manchmal summte Mama leise vor sich hin, wenn er gegangen war. Sie merkte es nicht einmal, irgendwie war sie heiterer nach so einem Zusammentreffen.

Dann gingen Vater und Sohn natürlich zu McDonald`s, Papa meinte immer Carl dürfe es nicht verraten, aber Carl musste gar nichts sagen, Mama wusste es schon. Bei McDonald`s saßen sie beide und besprachen den Fortgang des Nachmittags, natürlich musste man einen freien Platz finden an dem man das Flugzeug fliegen lassen durfte.

Sie gingen in den Stadtpark um das Flugzeug auszuprobieren. Es war echt Cool als es sich um die eigene Achse drehte um einen Looping zu machen. Papa durfte die Steuerung genau so oft haben wie Carl, aber nicht länger. Carl hatte seine Uhr auf Counter gestellt um das genau auszumessen. „Immer Korrekt, der Herr Sohn“, schmunzelte sein Erzeuger.

Dann erzählte er wieder seine Geschichte von wegen Familientradition. Carl hieß Carl, weil alle Männer in Papas Familie so heißen, und alle Männer hatten den gleichen Beruf. Papa kam ins schwärmen. Es klang nach Abenteuer und Freiheit. Als kleiner Junge hatte Carl das gerne gehört, aber jetzt fand er es schon irgendwie peinlich. Der große Carl redete von einer wichtigen Aufgabe, Protest und Solidarität mit den „Armen“ dieser Welt. Das kapitalistische System, daß es galt zu unterwandern.

Lange konnte es nicht mehr dauern und er kam zu der Stelle an der er von Mama sprach und da kam sie auch: „Deine Mutter war früher ganz anders, als sie noch jünger war, da wusste sie wo sie hingehört. Man kann dieses politische System nicht einfach so hinnehmen, nur weil es bequem ist. Gebt den Armen und nehmt den Reichen, das war immer unser Motto mein Sohn.“ „Ich räume das Flugzeug zusammen“, sagte Carl und hoffte, daß Papa das Thema gut sein ließe, aber es kam anders. Papa redete sich richtig in Rage. Er meinte sein Carlchen sei sehr begabt, beinahe prädesteniert für diesen Beruf, so genau und korrekt. Nur sei es jetzt an der Zeit zu beginnen. Er müsse noch vieles lernen.

Carl sagte dazu gar nichts, ja er hörte kaum noch zu. Irgendwann unterbrach er den Vater und meinte, „das Flugzeug ist klasse, aber als nächstes wäre ein Helikopter gut“. Papa ließ sich nicht ablenken.

Dann ist Carl doch erschrocken, als sich Papa nicht abbringen ließ dem Sohn eine kleine Kostprobe vom beruflichen Alltag eines Langfingers zu geben. Papa ging zu dem Kiosk an dem sie eine Stunde zuvor Eis gekauft hatten. Er bestellte sich einen Kaffee, als die alte Frau wegsah ließ er die Spendendose vom Tresen verschwinden. Carl wusste nicht was er tun sollte, die Dose war für ein Kinderhilfswerk aufgestellt worden.

Langsam und gründlich, daß war sein Charakter und er wurde nicht oft wütend. Seine besten Freunde behaupteten sogar, daß Carl gar nicht fähig war so richtig wütend zu werden, aber Mama wusste ‚das stimmt nicht‘. Und nun war er wütend und immer wütender. Es war eine leise, gerechte und nachhaltige Wut. Als Papa mit der Spendendose auf dem Fahrersitz saß verkündete Carl daneben: „Papa, ich bin jetzt 12 Jahre alt und habe mich für den Beruf entschieden, den ich mal später machen werde“. Papa sah ihn merkwürdig an.

„Ich werde Polizeichef und dann sitze ich in einem Hubschrauber und überwache die ganze Stadt und niemand, niemand klaut mehr Spendendosen in dieser Stadt, auch Du nicht!“.

Papa war ganz leise geworden und genierte sich wohl. Er brachte Carl nach hause und verabschiedete sich bald. Carl funkelte ihn zum Abschied immer noch wütend an und Papa sagte nur recht geknickt: „Ist schon recht mein Sohn, es ist schon was dran an dem was Du sagst“.

Mama hatte Abendessen gemacht und sie saßen wieder zu zweit am Tisch. Noch lagen alle Geburtstagsgeschenke auf dem Esstisch, das war so Tradition bei ihnen beiden. „Du bist so still mein Carl, war der Tag anstrengend?“ Fragte Mama und strich ihm übers Haar. „Nö“, sagte Carl und stocherte im Essen herum. „Mama, wenn ich mal Polizeichef werde, muss ich dann Papa festnehmen, wenn ich sehe, dass er etwas unrechtes tut?“

Mama sah ihn mit einem nachdenklichen Blick an. „Nun mein Carl, ich glaube Papa wollte nicht, dass Du gegen Deine Überzeugungen handeln musst.“ „Und was heißt das jetzt konkret?“ „Ich denke Papa würde sich anders verhalten, wenn Du Polizeichef wärest.“

„Mmmmh“, machte Carl und zupfte an seinem neuen Flugzeug herum. „Willst Du das denn werden, Polizeichef?“ Fragte Mama vorsichtig. Carl strich liebevoll über die Flügel des roten Spielzeugs. „Eigentlich doch lieber Pilot, aber Papa habe ich gesagt Polizeichef.“
„Mmmmh“, machte nun Mama.

Carl sah sie fragend an. „Was meinst Du wollte Papa werden als er so alt war wie ich?“ „Vielleicht auch Pilot?“ Fragte Mama zurück. Das rote Flugzeug lag jetzt nicht mehr auf dem Tisch. Carl hatte es weggenommen und betrachtete es sehr intensiv. „Und warum ist er dann nicht Pilot geworden Mama?“

„Nun er hat gemacht was sein Vater von ihm erwartete, aber das kann nicht dein Weg sein. Du musst Deine eigene Entscheidung treffen ohne auf mich oder Papa Rücksicht zu nehmen.“ „Wärt ihr noch zusammen wenn er Pilot wäre?“ „Das weiß ich nicht, das Leben ist nicht so einfach.“

„Ich werde dann doch lieber Pilot.“ „Schön, dann begeben sich der Herr Flugkapitän mal bitte ins Bad und anschließend ins Bett.“ Würdevoll stellte sich Carl vor seiner sitzenden Mutter hin und meinte: „Da ich nun schon alt bin, sollte ich aber doch meine eigenen Entscheidungen bezüglich der Bettgehzeit treffen!“ „Tut mir leid Herr Sohn, das Alter hast Du noch nicht erreicht und wenn Du einer weiteren Kitzelstrafe entgehen willst“ - Mama streckte schon die Arme nach ihm aus, während er blitzschnell auswich und weglief - „dann begib Dich ins Bad.“ Carl quiekte vor vergnügen und lag später glücklich, aber auch müde in seinem Bett. Mutti machte das Licht aus und grinste über das ganze Gesicht.

Als sie die Tür schloss drehte sich Carl auf die Seite zum Zimmer hin. Das Mondlicht fiel auf sein neues rotes Flugzeug. Und er kniff das eine Auge zu und dann im Wechsel das andere, immer schneller, so dass das Flugzeuge durch den dunklen Raum hüpfte – vor – zurück – vor – zurück. Irgendwann saß er im Cockpit und lenkte es über die dunkle Landschaft. Da unten irgendwo war sein Haus und Mutti war deutlich durch das beleuchtete Fenster zu erkennen, wie sie in ihrem Fernsehsessel saß. Als er am nächsten Tag aufwachte, wusste er allerdings, dass das nur ein herrlicher Traum gewesen war.

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Tag der Veröffentlichung: 07.11.2010

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