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Vorwort

Diese Geschichte ist inspiriert von den Bildern "Zwei Männer in Betrachtung des Mondes" (1819 entstanden)und "Mann und Frau in Betrachtung des Mondes (1830-35 entstanden) von Casper David Friedrich.


Der Kuss

David stand am Fenster und blickte hinunter in ihr blasses, kummervolles Gesicht. Bevor sie sich in diesem Zimmer trafen, hatte sie heimlich geweint. Sie saß auf ihrem Stuhl, der Oberkörper nach vorne gebeugt, die Arme stützten sich auf den Oberschenkeln ab. Ihr Blick war suchend in die Ferne gerichtet. Ihre feuchten, kalten Hände hielten das gefaltete Papier mit all den leidenschaftlichen Worten fest. Es war ein Brief, von seinem Freund Heinrich, im Jahr 1819 verfasst.

„Das alles ist lange her, Charlotte, es macht keinen Sinn darüber zu reden.“ Und doch wusste er, dass sie kein Ausweichen akzeptieren würde. Sie blickten in sein Gesicht und sagte: „Heinrich ist lange tot.“ Und dann mit einer fragenden Stimme: „Ist er das wirklich?“

Ihr Oberkörper beugte sich noch etwas weiter nach vorne, so als ob sie Krämpfe hätte und den Schmerz dadurch beruhigen wollte. Der Mann am Fenster sah hinaus in die Ferne. Er war in Gedanken nicht mehr bei seiner Frau, sondern reiste weit zurück in die Vergangenheit. Zu jener Nacht auf die sich Heinrich in seinem Brief an ihn bezog.

Heinrich und er hatten damals den Abend mit Gleichgesinnten verbracht. Die Versammlung war nur geduldet, aber die Vereinigung hatte einflussreiche Freunde. So konnten sie sich in aller Ruhe treffen und diskutieren. Erst spät in der Nacht brachen die beiden Männer auf. Heinrich wie immer gut gelaunt, fröhlich, David selbst etwas ernster und eher schweigsam.

Der Weg nach Hause führte durch den Wald. Es war eine helle Vollmondnacht, aber der zuvor genossene Alkohol hatte sie gewärmt und ihren Füßen Leichtigkeit verliehen. Sie sprachen über den Abend, die gemeinsamen Ziele, die herrschende Politik, die Zukunft für ihre geliebte Heimat. Doch was immer Heinrich auch dazu beisteuerte, er schien merkwürdig unbeteiligt. So als ob ihn das alles nur am Rande betraf. Ein Forschungsreisender, der Interesse hatte, aber lediglich beobachte, aufzeichnete und dann wieder davon zog.

Der Heimweg führte sie über einen Berg. Es ging steil bergauf. An einer Stelle, die den Blick zum Mond frei gab, blieben sie stehen. David bemerkte einen halbentwurzelten Baum, der immer noch festen Halt im Boden fand. Der Baum lehnte weit zu Seite, fast wie wenn er sich im Falle des Falles auf den darunter liegenden Felsen abstützen wollte. Er und Heinrich sahen andächtig hinauf zum Mond und auch über die ins Dunkle getauchte Landschaft. Heinrich legte verspielt seinen Arm auf Davids Schulter.

„Was für eine herrliche Nacht.“ meinte Heinrich, während David wieder einmal bemerkte wie angenehm einfach sich das Leben in der Gegenwart des Freundes anfühlte. Heinrich strahlte einen unbändigen Optimismus aus, er schien nie Zweifel am guten Ausgang des Lebens zu hegen. Er genoß alles was ihm geboten wurde in vollen Zügen, verlangte andererseits aber nie nach mehr. Ein durch und durch zufriedener Mensch. Und nun strahlten und lachten seine Augen vor vergnügen: „Ob der alte Gevatter uns sieht?“ Schelmisch deutete er auf den Mond. „Und was er sich wohl dabei denkt?“

Wie so oft in den letzten Wochen färbte Heinrichs Heiterkeit auch auf Davids Herz ab. Zwischen ihnen wuchs eine ungewöhnliche Wärme und Vertrautheit. „Mach Dir keine Gedanken lieber Freund“ sagte Heinrich nun.

Sie standen da und David merkte wie gut es tat Heinrich in nächste Nähe zu spüren. Sein ganzer Körper war plötzlich vollständig erfüllt mit Zuversicht und Sicherheit. Immer wenn Heinrichs Blick auf ihm ruhte fühlte er sich stark und wusste was zu tun war. Sie waren gerne zusammen, sie waren Freunde.

An alles in dieser Nacht Geschehene und Gesagte konnte sich David nicht erinnern. Nur das eins zum anderen führte und das er sich wie erhoben, leicht und vollkommen glücklich fühlte. Es war dann irgendwann wie selbstverständlich, daß Heinrich und er sich in den Armen lagen. Und der Freund beugte sich vor und küsste ihn. Es war ein herrliches Gefühl, überall kribbelte es und er fühlte sich voller Wärme und Energie. Zunächst war es ihm gar nicht bewusst was da geschah. Nur das es unendlich gut war und irgendwie überfällig.

Dann erschrak er. Was war geschehen mit ihm und seinem Freund? Konnte sich etwas Unnatürliches so natürlich anfühlen? Heinrich schien keinerlei Bedenken zu haben. Er machte beinahe einen routinierten Eindruck. Und David gestand es sich erst später ein – er gab sich der süßen Leere im Kopf nur allzu gerne hin und tat, was sein Instinkt ihm eingab.

Nach dieser Nacht waren sie dazu übergegangen, verstohlen glücklich miteinander zu sein. Es begann eine absolut unbeschwerte Zeit. Heinrich war um einiges jünger als David, aber dennoch in mancherlei Hinsicht erfahrener. In einer langen Nacht gestand er ihm einmal, daß er schon immer gewusst habe für ihn blieb nur wenig Lebenszeit. Er werde jung von dieser Welt gehen.

David hatte damals gedacht, der Freund sei zu betrunken und rede Unsinn. Im Nachhinein sollte es sich bewahrheiten und Heinrichs unbekümmerte Art das Leben zu genießen, bekam dadurch einen eigentümlichen Sinn.

Wo andere schwerfällig waren und Mühe hatten, schien er vom Leben begünstigt, alles ging ihm leicht von der Hand. Er war ein Glückskind. Wurde er vielleicht vom Schicksal für die kurze Lebensspanne schon im vorhinein entschädigt?

Es war schmerzhaft sich von ihm zu verabschieden. Alles erinnerte David an Heinrich. Zur Beerdigung lernte er Heinrichs Familie kennen. Selbstverständlich war er nur der gute Freund des Lieblingssohnes. Aus den gemeinsamen Erinnerungen an den Verstorbenen wurden lange Abende und Einladungen zum sonntäglichen Mittagessen. Man hatte viele Gemeinsamkeiten, gleichgerichtete Interessen für Kunst, Politik, Theater und Literatur.

Aus dem Schmerz erwuchs eine andere Art, das Leben zu betrachten. Die Wunden heilten nur allmählich. Um so eifriger entdeckte David Antworten oder auch nur Betrachtungen über den Sinn seines Daseins. Es gab eine neue Art von Tiefe in seinem Leben und manchmal hatte er den Eindruck der tote Freund stand ihm unsichtbar zur Seite.

Es dauerte einige Jahre, bis er wieder begann, sein Herz der Liebe zu öffnen. Und da war sie. Es stellte sich heraus, dass die Liebe die ganze Zeit schon geduldig auf ihn gewartet hatte. Freilich war Charlotte, Heinrichs kleine Schwester, bei dem ersten Zusammentreffen mit David noch ein halbes Kind und es dauerte einige Jahre, bis er sie überhaupt als Person wahrnahm. Zunächst fühlte er sich wie ein älterer Bruder. Er bot ihr Rat und Hilfe an, ein offenes Ohr und Unterstützung wenn es um Probleme des Erwachsenwerdens ging.

Bald wurde er zum Vertrauten und musste entdecken, dass auch er noch viel zu lernen hatte. Nie hätte er gedacht, dass aus dieser ungleichen Freundschaft, große Wertschätzung werden könnte und am Ende eine andere Art von Liebe. Eine bedächtige, tiefe, ruhige und sichere Liebe.

Charlotte saß noch immer da und ihr blasses Gesicht ließ sie zu diesem Augenblick und seinem neuen Leben zurück finden. Plötzlich war alles klar, und er wusste genau, was zu tun war. Er nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben die geliebte Frau. Seine Hand fand die ihre und wärmte sie. Er sah ihr in die Augen und sagte: „Charlotte, Heinrich lebt in unseren Herzen weiter.“

Sie zeigte ein trauriges Lächeln. Und David legte seinen Arm beschützend um ihre Schulter. Er lächelte sanft: „Ich weiß, Geschwisterliebe ist nicht immer einfach. Du musstest manchmal in seinem Schatten stehen. Deine Eltern haben Heinrich bevorzugt und sie haben Dir zu oft zu verstehen gegeben, dass Du ein Junge hättest werden sollen, aber ich bin sehr glücklich darüber, dass Du ein Mädchen geworden bist mein Liebes.“ Und während sich ihr Gesichtchen langsam aufklärte, streichelte er ihre Wange.

„Du ergänzt mich in so vielfacher Hinsicht, gerade weil Du eine Frau bist, und ich darf Dich eben deswegen als Mann ergänzen. Ich bin dankbar und glücklich darüber, dass es Dich in meinem Leben gibt. Was zwischen mir und Heinrich war, hat mit uns nur insofern zu tun, dass es mich, unter anderem auch, zu dem Mann gemacht hat, in den Du Dich dann verliebt hast. Heinrich hat seinen Platz in unserer Vergangenheit, was zählt ist das Jetzt und wir beide“.

Sie schmiegte sich an seine Brust: „Du meinst, dieser Brief ist nicht wichtig und ich soll ihm keine Beachtung schenken?“

Er streichelte über ihr Haar: „Der Brief ist ein Lichtstrahl aus der Vergangenheit, aber Du gibst soviel Wärme und Helligkeit für mich ab, daß er nicht wirklich zählt.“

Sie blickte ihm ins Gesicht:„David, habe ich überreagiert? War ich zu vorschnell?“ Er strich ihr das Haar aus der Stirn: „Du hast es klären wollen, das ist alles, und ich hoffe Du fühlst Dich jetzt leicht und kannst wieder froh sein.“

Er nahm sie in seine Arme und sie sagte: „Ja, das kann ich jetzt besser als vorher!“

„Schön, dann hat es sich gelohnt“ lächelte er und fuhr schelmisch fort: „Jetzt wo wir gerade so gemütlich zusammen sitzen, fällt mir etwas ein: Was gibt es heute bei uns eigentlich zu essen?“ Sie lachte und klopfte ihm spielerisch auf die Hände: „Und gerade hatte ich Dir geglaubt, dass es besser ist eine Frau zu sein.“

Er drückte sie an sich und sie küssten sich. Es war ein herrliches Gefühl, überall kribbelte es und sie fühlten sich voller Wärme, Energie und Hoffnung.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 24.10.2010

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