Cover

Eins

„Es war einmal ein Mädchen. Sie war wunderschön, doch sie war sich dessen nicht bewusst. Viele Typen aus ihrer Schule wollten sich mit ihr treffen und verfielen ihrem Charme, doch sie selbst hielt sich nur für Durchschnitt und wollte es einfach nicht wahrhaben. In ihrer tiefen Depression verlor sie irgendwann den Verstand und sprang aus dem Fenster in den Tod.“
Ich verdrehe die Augen und boxe meine beste Freundin Lizzy in den Oberarm. „Man, du hast doch echt ein Rad ab.“ „Au!“, ruft sie gespielt und hält sich den Arm fest. „Aber mal im Ernst Ally! Du machst mir Minderwertigkeitskomplexe, wenn du andauernd sagst, dass du langweilig aussiehst, deine Haare scheiße liegen und deine Brüste viel zu klein sind!“, weist sie mich zurecht.
„Aber du hast viel größere als ich!“, maule ich. Hoffentlich wachsen die bei mir noch…
„Selbst wenn, Süße. Guck dich doch mal an! Du hast ein wunderschönes Gesicht, einen flachen Bauch, lange Beine und tolle Haare. Was willst du eigentlich mehr? Meinst du echt, irgendein Typ würde dich nicht nehmen, weil deine Brüste ein bisschen klein sind? Du kannst sie doch alle haben!“
Oh Gott, jetzt fängt sie wieder an zu spinnen. Manchmal hat Lizzy echt einen Knall. Ich sehe zwar bestimmt nicht aus wie ein Gesichts-Elfmeter, aber auch nicht besser, als jeder andere. Ich bin einfach normal, nichts Besonderes. Auf ihren Vortrag gehe ich einfach nicht mehr ein, das ist die beste Methode. Es muss schnell ein neues Thema her.
„Woher kennst du diesen Jack überhaupt?“ Das ist der Typ, bei dem wir uns gleich mit ein paar Leuten zum Vortrinken treffen. Freundlicherweise hat er seine Bude bereitgestellt. Ich habe zwar noch nie ein Wort mit ihm gewechselt, aber was soll’s. Lizzy wird rot und schaut weg. Aha, erwischt!
„Lizzyyyy“, sage ich gedehnt mit einem breiten Grinsen. „Erzähl!“
„Ach, Henry hat den letztens angeschleppt. Sie kennen sich vom Football“, winkt sie ab. Aber das reicht mir nicht, ich will die ganze Geschichte. Sie lacht. „Ok, ok! Wir haben uns letztes Wochenende kennen gelernt, als du auf Emily aufpassen musstest.“
Aha, ich wusste es. Die besten Geschichten passieren immer dann, wenn ich auf meine kleine Schwester aufpassen muss… Man, ist das Leben fies!
„Jedenfalls waren wir im Pearls und dann hat Henry ihn irgendwie angeschleppt und allen vorgestellt. Er ist echt ein netter Typ. Aber auch ein Macho, fürchte ich.“
„Na dann ist er ja genau der Richtige für dich“, kichere ich. Lizzy streckt mir die Zunge raus.

„Hier muss es sein“, sage ich eine Stunde später nach einem letzten Blick auf mein Handy mit integriertem Navi. Seit gefühlten zwanzig Minuten irren wir in diesem Wohngebiet herum und sind auf der Suche nach Nummer 13.
„Da hinten“, kreischt Lizzy und deutet hektisch mit einem Finger auf das Haus gegenüber. So schnell es unsere High Heels zulassen, stöckeln wir auf die Haustür zu. Uns begrüßen Jack, laute Musik und der Geruch nach Tequila…. Sehr gut! Lizzy macht Jack und mich bekannt. Er sieht wirklich ein bisschen wie ein Bad Boy aus und mit seinen kurzen blonden Haaren und dem schelmischen Grinsen, mit dem er meine Freundin betrachtet, erinnert er mich an Cam Gigandet. Auf seinen herausfordernden Blick reagiert Lizzy selbstbewusst, indem sie lasziv zurückgrinst.
Ich bin froh, als Jillian auf mich zukommt und mich zur Begrüßung in die Arme schließt.
„Na komm, wir lassen die beiden Turteltauben mal alleine und gehen zu den anderen“, schlägt sie vor. Ich lache und lasse mich nur zu gerne mitschleifen.
Wir betreten ein relativ großes Wohnzimmer. Jack wohnt hier wohl mit seinen Eltern zusammen, ansonsten wüsste ich nicht, wie er sich das alles leisten könnte. Kamin, riesen Flachbildfernseher, in einem Aquarium schwimmen irgendwelche Fische rum, teure Gemälde und eine echt bequeme, ausladende Couchlandschaft. Schon alleine der Couchtisch aus Glas und dunklem Holz muss zehntausend Euro gekostet haben. Nacheinander begrüße ich alle meine Freunde. Sarah, Amy, Jessica, Henry und Joshua. Dann sind da noch ein paar Gesichter, die ich nicht kenne, vier Jungs. Das müssen wohl die Freunde von Jack sein. Sie schütteln mir die Hand und stellen sich vor, aber so viele Namen auf einmal kann ich mir wirklich nicht merken. Ethan ist der einzige, der mir hängen bleibt. Er hat ein ganz hübsches Gesicht, macht aber den Eindruck, als ob er Spaß größtenteils auf Alkohol, Sex und Gras reduziert.
Henry klopft auf das freie Stück Sofa neben sich und gießt mir für den Anfang eine Mischung aus Wodka und Cola ein. Henry ist sowas wie mein bester Freund. Leute die sagen, Freundschaft zwischen Männern und Frauen existiert nicht, lügen. Wir sind der lebende Beweis dafür.
„Na, wie war dein Tag?“, fragt er sobald ich neben ihm sitze.
„Lizzy und ich waren shoppen. Guck mal“, sage ich und deute auf mein neues dunkelblaues Kleid, das meine etwas zu klein geratene Oberweite immerhin ein bisschen größer aussehen lässt. Ich stehe kurz auf und drehe mich, um es ihm zu präsentieren, dann grinse ich ihn an.
„Dunkelblau steht dir sehr gut, Honey“, lächelt er zurück.  
Ach, wie ich ihn manchmal liebe! Er hat dunkelblonde Haare, die kurz und verwuschelt sind, und blaue Augen, bei denen manche Frauen dahin schmelzen. Henry ist zwar nicht so einer, der jedes Wochenende eine andere im Bett liegen hat, aber wenn er wollte, könnten es sogar zwei oder drei sein. Er ist ein Charmeur und ich bin mir ziemlich sicher, dass er auch weiß, wie er auf Frauen wirkt. Einfach so ein Typ, der jede haben könnte und allen das Herz bricht. Auch wenn mir die Mädchen manchmal ein bisschen leidtun, ist er einfach ein toller Freund. Ich trinke mehrere Schlucke von meinem Getränk. Mhh, da ist aber ordentlich viel Wodka drin!
„Du willst mich wohl abfüllen, was?“, frage ich lachend. Zur Antwort zwinkert Henry mir zu.
„Wer hat Lust auf ein Trinkspiel?“, fragt Sarah und dreht die Musik etwas leiser. Alle Arme schießen sofort in die Höhe und Lizzy kommt ins Wohnzimmer gestürmt.
„Trinkspiel? Ich bin sofort dabei!“, ruft sie. Hinter ihr erscheint auch Jack im Türrahmen. Lizzy hat mir gesagt, dass letztes Mal zwischen den beiden nichts gelaufen ist, aber das hat sich jetzt ja spätestens erledigt.
Jeder füllt sein Glas nochmal auf und dann hocken wir alle um den Couchtisch. Wir haben uns gerade für das Spiel „Ich hab noch nie“ entschieden, als es klingelt.
„Das wird Carter sein“, meint Jack und geht zur Tür. Wieso finden Kerle es eigentlich cool, sich beim Nachnamen zu nennen? Naja, wir anderen fangen einfach schon mal an.
„Ich hab noch nie… eine Sechs geschrieben“, steigt Jillian ein. Alle lachen. Natürlich nicht, Jillian schreibt nämlich nur Einsen, auch wenn sie keine Streberin ist. Ihr fliegt das alles irgendwie so zu. Alle, außer Ethan trinken, das heißt er ist der Einzige am Tisch, der tatsächlich schon eine Sechs bekommen hat. Also sieht er nicht nur so dumm aus, sondern ist es auch. Henry macht weiter.
„Ich habe noch nie Sex im Bett gehabt.“ Er hebt sein Glas und trinkt und ich atme scharf ein.
„Was?“, frage ich lachend. „Wo denn sonst? Wirklich noch nie?“ Was für ein versauter Junge! Aber zu meiner großen Überraschung ist er nicht der Einzige, der trinkt. Bei Jessica ist es klar, sie will nämlich bis zur Ehe Jungfrau bleiben und hat deshalb noch nie Sex gehabt. Aber Ethan und einer von Jacks anderen Freunden, der Alex heißt, glaube ich,  trinkt auch. Dieser Alex trinkt aber nur Wasser, er fährt später noch Auto.
„Jetzt bist du dran“, findet Henry und zeigt auf mich.
„Na gut. Ich hab noch nie…“, doch weiter komme ich nicht. Die Tür geht auf und Jack tritt mit seinem letzten Gast ein, den er Carter genannt hat. Er hat tolle hellbraune Haare, ein markantes Gesicht und graublaue Augen. Er trägt eine graue, verwaschene Jeans mit breitem Gürtel und ein weißes Shirt mit V-Ausschnitt und Printmuster darauf. Meine Augen weiten sich und auch er erkennt mich. Ich springe auf und laufe auf ihn zu.
„Noah! Hi! Was machst du denn hier?“ Er grinst und zieht mich in seine Arme.
„Die bessere Frage ist, was machst du hier? Ich chill hier fast jedes Wochenende. Jack ist mein bester Kumpel. Wie geht’s dir?“
„Gut geht’s mir und dir? Ich fass es ja nicht. Dass ich dich noch mal wiedersehe!“
Ihr müsst wissen, Noah Carter und ich waren früher auf einer Schule. Wir haben mit den gleichen Leuten abgehangen und öfter was zusammen gemacht. Beste Freunde waren wir zwar nicht. Dafür war er aber meine erste große Liebe, wie man das so schön sagt. Nur leider wusste er nichts davon. Ich habe mich damals einfach nicht getraut, mit ihm darüber zu reden. Das ist vier Jahre her. Damals war ich 14 und er 15. Und dann musste Noah auf eine andere Schule gehen, weil seine Familie umgezogen war und der Kontakt brach ab. Heute sieht er mindestens noch zehn Mal besser aus, als früher.
Wir setzen uns an den Tisch. Noah sitzt mir direkt gegenüber und grinst mich an. Henry will wissen, wer der Kerl ist, aber Lizzy erinnert mich daran, dass ich an der Reihe war und schnell weitermachen muss.
Ich hebe mein Glas und sage nach kurzem Überlegen: „Ich habe noch nie etwas geklaut.“ Während die meisten trinken, sagt Noah leise: „Na das stimmt aber nicht“ und grinst. Fuck, er hat recht! Es gab einen Tag, den wir beide am Strand verbracht haben. Es war total heiß und wir beide wollten unbedingt ein Wassereis haben, aber keiner von uns hatte an Geld gedacht. Also hab ich den Kiosk-Besitzer abgelenkt, ihn nach der Uhrzeit und so weiter gefragt, während Noah sich heimlich an die Kühltruhe geschlichen hat und uns zwei Eis besorgte. Das hatte ich schon ganz vergessen. Naja, im Prinzip habe ich ja nur geholfen. Als Stehlen kann man das wohl nicht betrachten. Ich strecke ihm die Zunge raus und trinke trotzdem einen Schluck.

Henry gibt sich wirklich Mühe, dass ich zu keinem Zeitpunkt ein leeres Glas in der Hand halte. „Hey du Blödi, was soll das denn?“, kichere ich inzwischen schon ein bisschen betrunken.
„Na wir wollen doch einen lustigen Abend haben, oder nicht?“ Er lächelt und ich denke mir, wie glücklich die Frau sein kann, für die er sich einmal entscheiden wird. Er ist einfach viel zu heiß. Also versteht mich jetzt nicht falsch, ich denke das nicht wehmütig oder so. Ich wünsche ihm einfach, dass er irgendwann eine tolle Frau findet und glücklich wird. Es ist nicht so, dass ich gerne diese Frau wäre.
„Kommt jemand mit eine rauchen?“, fragt einer von Jacks Freunden in die Runde. Er sitzt neben Noah. Henry steht auf. Das ist eines seiner Laster. Auch Amy, Sarah, Jack und Ethan gehen mit. Und Lizzy folgt ihnen, vermutlich wegen Jack. Ich trinke noch einen Schluck, dann will ich mich zu Jillian und Jessica setzen, doch plötzlich setzt Noah sich neben mich. „Wie, du rauchst nicht?“, frage ich ungläubig.
„Nee, ich bin Sportler“, sagt er lässig.
„Aber Jack doch auch?“
„Wir spielen in einer Mannschaft. Aber manche nehmen ihre Gesundheit ernster, als andere. Erzähl doch mal, wie läuft es so?“
„Nicht schlecht. Wir wohnen immer noch in dem Haus wie damals, Emily ist inzwischen 8 Jahre alt, in der Schule läuft es auch ganz gut…“ Ich lächele verlegen.
„Lizzy ist immer noch deine beste Freundin?“
Ich nicke. Die beiden hatten früher nicht so viel miteinander zu tun, aber auch damals waren wir schon unzertrennlich. „Und wie sieht es bei dir aus?“, will ich wissen.
„Naja… Mein Dad ist vor zwei Jahren gestorben.“
„Was?“ Erschrocken reiße ich die Augen auf. „Weshalb?“
„Er war auf Geschäftsreise und hatte einen Unfall. Es war ziemlich schlimm.“
„Oh mein Gott, das tut mir schrecklich leid!“ Der arme Noah! Ohne groß darüber nachzudenken, umarme ich ihn fest. Auch er legt seine Arme um mich und zieht mich an sich. Oh, denke ich, die Nase an seinem Hals, der riecht aber viel zu gut! Widerwillig mache ich mich von ihm los.
„Naja, Themawechsel. Ist nicht gerade was für netten Smalltalk“, lächelt er. Obwohl sein Lächeln ihn fast wie einen Engel aussehen lässt, kann es die Traurigkeit in seinen Augen nicht vertreiben. „Wieso hast du mir nie geantwortet?“, will er wissen und ich weiß, was er meint. Kurz nach seinem Umzug hat er mir bei Facebook geschrieben, ob wir uns nicht treffen wollen. Sms hat er mir auch geschickt. Ich habe darauf nie geantwortet, weil auf seiner neuen Schule anscheinend so viele Mädchen auf ihn standen. Dauernd haben irgendwelche Tanten bei ihm auf die Pinnwand geschrieben, und sie sahen allesamt besser aus, als ich. Manche haben auch Fotos von sich mit Noah gepostet und das zu sehen hat mir jedes Mal einen Stich ins Herz versetzt. Ich dachte, dass er ja mindestens auf eine unter diesen ganzen hübschen Mädchen stehen muss und hätte es nicht ertragen, nur eine gute Freundin zu sein. Ich konnte ihn damals einfach nicht wiedersehen. Aber wie soll ich ihm das jetzt erklären?
„Ähm… zu der Zeit lief es ziemlich schlecht für mich in der Schule und meine Mutter hatte mir verboten, mich mit irgendwelchen Leuten, besonders mit Kerlen, zu treffen“, stammele ich. Hoffentlich glaubt er mir.
„Na das hättest du mir doch schreiben können.“
„Ja, sie hat mir auch das Internet abgestellt, damit ich nicht abgelenkt werde.“ Wow, gut dass ich nicht Pinocchio bin, sonst wäre meine Nase jetzt schon dreimal so lang wie normal.
„Und das Handy hat sie dir auch weggenommen, nehme ich an?“, sagt er zwinkernd. Oh nein, er weiß, dass ich lüge. Ist wahrscheinlich auch nicht weiter schwer, das zu erkennen. Wahrscheinlich bin ich knallrot. Ahh, wie peinlich! Trotzdem nicke ich und zu meiner Erleichterung geht er nicht weiter auf das Thema ein.
Die Raucher kommen von der Terrasse wieder rein und Henry macht „I could be the One“ von Avicii ganz laut an. Dann zieht er mich, ohne Noah zu beachten, an der Hand auf die Füße und wirbelt mich herum. Jack tut es ihm gleich und fängt an, mit Lizzy zu tanzen.
„Wer ist der Kerl?“, fragt Henry mich flüsternd.
„Ich kenne ihn von früher“, sage ich ausweichend, aber er muss gemerkt haben, wie sich meine Wangen minimal rot gefärbt haben.
„Ich will nur, dass du auf dich aufpasst. Jack hat draußen erzählt, dass dieser Carter anscheinend ein ziemlicher Frauenheld ist und mit den meisten nicht gerade freundlich umgeht.“ Ich grinse meinen besten Freund an.
„Na, erkennst du dich da wieder?“
Gespielt empört reißt er die Augen auf. „Ich? Ein Casanova? Ich bitte dich!“ Mit diesen Worten zieht er mich ganz nah zu sich heran und küsst mich auf die Wange. Kurz lacht er, wird dann aber wieder ernst.
„Wirklich Ally. Pass bitte auf dich auf und mach nichts, was du nicht willst.“
Ich boxe ihm spielerisch gegen die Brust. „Was denkst du denn von mir? Ich mache doch nicht gleich mit dem Erstbesten rum!“ Lachend schüttele ich den Kopf. Henry murmelt „ich weiß…“ und schaut mich liebevoll an. Dann ist das Lied vorbei und ich entscheide, dass ich jetzt mal von meiner Wodka-Mischung absehe und auf Tequila umsteige. Lizzy ist ganz meiner Meinung und Jack erklärt uns, wo wir Salz und Zitronen finden können.
Während wir beide in der Küche stehen uns einträchtig kleine Scheibchen von den gelben Früchten abschneiden, will ich grinsend von Lizzy wissen: „Na, wie läuft’s mit Jack? Das war’s dann wohl mit ich küsse nie wieder jemanden vor dem dritten Date, wie?“
„Ach sei still, das hab ich doch nie ernst gemeint.“ Sie kann sich ein Lachen nicht verkneifen. „Aber du musst doch echt zugeben, er sieht wahnsinnig gut aus!“
„Mhh, da ist er aber auch nicht der Einzige…“, murmele ich.
Meine beste Freundin wirft mir einen forschenden Blick zu und grinst vielsagend. „Ist ne ganz schöne Überraschung, Noah wiederzusehen, was?“
Mit großen Augen sehe ich sie an. „Was? Sag bloß, du wusstest davon und hast mir nichts erzählt!“ Ihrem Kichern entnehme ich, dass ich ins Schwarze getroffen habe.
„Wie konntest du nur!“ Halb verärgert, halb im Scherz werfe ich sie mit einer Zitrone ab.
„Ihhh!“, kreischt sie und flüchtet sich hinter den erhöhten Küchentisch. „Du hättest dir sonst viel zu viele Gedanken gemacht. Wer weiß, ob du überhaupt mitgekommen wärst?“ Insgeheim muss ich ihr Recht geben, aber trotzdem! Sie stellt sich wieder neben mich.
„Hey, es war die Überraschung doch wert, oder? Guck ihn dir doch mal an, er sieht aus wie ein Gott!“ Ohh ja, da hat sie recht… Ich nicke leicht.
„Was meinst du, läuft da was?“, will sie neugierig wissen. „Keine Ahnung, Henry hat mir vorhin schon erzählt, dass er ein ganz schöner Aufreißer geworden ist. Entweder hat er eine Freundin oder er würde wahrscheinlich nur mit mir spielen. Eigentlich kann ich mir das auch sparen, oder?“
Bedauernd schaut Lizzy mich an. Sie weiß, wie schlimm es damals für mich war, als Noah weggezogen ist und überhaupt dieses ganze unglücklich verliebt sein. Schnell nimmt sie mich in den Arm.
„Warte doch erst mal ab, was sich so ergibt, Süße. By the way“, jetzt fängt sie wieder mit diesem schelmischen Grinsen an. „Ich glaube, Henry ist eifersüchtig.“
„Was?“, lache ich. Das kann gar nicht sein.
„Ja vorhin als wir draußen waren, wollte er unbedingt wissen, wer Noah ist, woher ihr euch kennt und so weiter. Du hättest mal seinen Blick sehen müssen! Sicher, dass ihr nur Freunde seid?“
„Klar! Was denkst du denn? Henry hat seine ganzen Frauen und wir sind einfach nur gute Freunde. Er hat vorhin auch schon mit mir darüber geredet, er ist einfach nur besorgt um mich.“
„Na dann“, meint Lizzy und zwinkert mir zu. Wir sind fertig mit dem Zitronenschneiden und schnappen uns die zwei Salzstreuer, die wir finden können.
Im Wohnzimmer werden wir von Jubelrufen begrüßt.
„Auf einen tollen Abend“, ruft Jillian, die vorsorglich schon für jeden Tequila (den silbernen, versteht sich!) eingeschenkt hat. Jeder nimmt sich eine Zitrone und befeuchtet damit den Handrücken, streut Salz darauf und dann geht es los. Alle wiederholen Jillians Trinkspruch, wir stoßen in der Mitte mit allen Gläsern an und kippen die Flüssigkeit dann herunter. „Wann wollen wir überhaupt los?“, fragt Lizzy. Es ist nämlich noch geplant, dass wir nachher ins Blue gehen wollen. „Alex fährt mit dem Auto, der Rest muss sich ein Taxi nehmen. Ich würde sagen, so gegen elf“, meint Jack. In der Zwischenzeit hat Henry allen nochmal nachgeschenkt. Auf Runde zwei folgt Nummer drei. Nach dem vierten Tequila entscheide ich, dass es genug ist. Ich bin zwar nicht betrunken, aber schon ziemlich gut dabei und ich wollte den Abend nicht kotzend in einer Ecke verbringen. Als ich aufstehe dreht sich alles.
Henry merkt das und fragt: „Na, zu viel getrunken?“
„Ach Quatsch“, wiegele ich ab.  
„Nehmen wir gleich ein Taxi?“
„Natürlich, oder nimmt Alex dich mit?“, frage ich in ironischem Tonfall.
„Nein, ich meine, nur wir beide“, flüstert Henry, der jetzt neben mir steht, in mein Ohr.
„Und was ist mit den anderen?“, frage ich und lache.
„Überleg doch mal, das geht alles nicht auf. Alex Auto ist voll und zwei Taxen auch. Also müssen zwei Leute sich ein eigenes Taxi nehmen.“
„Warum fährst du nicht mit Joshua?“, will ich wissen.
„Joshua wollte mit Jillian fahren. Guck dir die beiden doch mal an, ist es dir noch nicht aufgefallen?“
Ich folge seinem Blick und sehe meine beiden Freunde tatsächlich turteln. Jillian hat blonde Haare, die sie zu einem Bob geschnitten hat. Normalerweise mag ich kürzere Haare bei Frauen nicht, aber Jillian ist beinahe das hübscheste Mädchen unserer High School, ihr steht einfach alles. Joshua hängt auch meistens mit uns ab. Ich hätte irgendwie nie damit gerechnet, dass Jillian sich jemals auf einen Kerl einlassen würde, bisher hat sie niemanden an sich heran gelassen.
„Alles klar“, stimme ich Henry zu und lächele ihn an.

Um die Zeit zu überbrücken, bis wir losfahren, spielen wir irgendein Spiel. Man muss Karten ziehen, auf denen Aufgaben stehen. Manchmal sind es nur Fragen, aber Jack musste gerade schon einen Handstand machen.
„Schildere dein peinlichstes Erlebnis“, liest Jillian vor. Jetzt muss sie jemanden auswählen, der auf diese Frage antwortet. Sie zeigt auf mich, oh mein Gott! Ich will nicht!
Eigentlich muss ich gar nicht lange überlegen. Ich weiß, dass ich beim Erzählen knallrot werde und ich verfluche meinen Blutkreislauf dafür.
„Also, das war irgendwann im Sommer vor vier Jahren. Ich sollte Besuch bekommen und hatte ein bisschen zu lange geduscht. Ich hatte es also eilig und wollte mir noch eben schnell schöne Sachen anziehen. In meiner Hektik hab ich das Klingeln nicht gehört und meine Mutter hat ihn rein gelassen. Und plötzlich stand er da in der Tür und ich hatte nur meinen String an und sonst nichts. Ich habe mich so erschrocken, dass ich einen Schritt zurück gemacht habe, voll ausgerutscht bin und ihm genau vor der Nase gelandet bin.“
Alle lachen und auch ich muss bei dem Gedanken an die Situation schmunzeln. Ich hatte mir vor Kurzem meinen ersten String gekauft. Er war rosa und aus Spitze, richtig schön. Nichts anderes hatte ich an, als Noah damals in mein Zimmer gekommen war. Unsere Blicke treffen sich, er schmunzelt genauso wie ich. Ganz Gentleman hat er sich damals die Augen zugehalten. Vielleicht auch, weil er sich so erschrocken hat, dass meine Brüste so klein sind…

Ich habe mich bereit erklärt, die Taxen zu rufen und hole jetzt mein Handy aus der Handtasche, die ich im Flur liegenlassen hab. Es ertönen zwei Freizeichen, dann meldet sich ein Mann und fragt, wie er mir helfen kann.
„Ich hätte gerne drei Taxen zu elf Uhr in die Reagan-Street“, sage ich, während ich mich umdrehe. Vor mir steht Noah. Ich erschrecke mich total, weil ich dachte, dass ich hier alleine bin und ihn nicht kommen gehört habe. Er schaut mir tief in die Augen und ich höre dem Taxi-Mann einen Moment lang nicht zu.
„Welche Hausnummer, Miss?“, wiederholt er sich und ich löse mich aus Noahs wunderschönen graublauen Augen.
„13, Sir“, antworte ich und bestätige ihm die Adresse noch ein Mal. Noah hat sich inzwischen auf die Treppe mir gegenüber gesetzt und wartet, bis ich auflege.
„Warum war das denn dein peinlichstes Erlebnis? War doch lustig?“, grinst er.
„Ja, für dich vielleicht!“ Ich lache. „Heute finde ichs auch lustig, aber damals wäre ich am liebsten im Boden versunken, das kannst du mir glauben.“
„Du hast doch nichts zu verbergen, Ally“, schmeichelt er mir und ich werde natürlich direkt wieder rot. Was er sogar noch jetzt, Jahre später, für eine Macht über mich besitzt, wundert mich selbst. Als ich mich zu ihm auf die Treppe setze, klopft mein Herz unweigerlich schneller.
„Lass uns in den nächsten Tagen doch mal was zusammen machen, hast du Lust?“, schlägt er vor. Ob ich Lust habe? Haha! Und wie! Ich gebe ihm meine Handynummer.
„Und dieses Mal antwortest du mir auch?“, fragt er schmunzelnd. Ich senke den Kopf und nicke.
„Klar doch.“
„Du siehst so hübsch aus“, sagt er unvermittelt und ich hebe meinen Kopf sofort wieder. Dass ich ihn völlig entgeistert anstarre, fällt mir erst nach ein paar Sekunden auf, als er anfängt zu lachen.
„Überrascht dich das?“, will er wissen. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.
„Irgendwie schon“, murmele ich.
„Du bist ja immer noch genau die Selbe.“ Er lächelt mich an und hebt mein Kinn mit seinem Zeigefinger. Dann steht er auf und streckt mir die Hand hin.
„Komm, wir müssen uns langsam fertig machen. Außerdem guckt dein Freund schon so.“ Noah deutet mit dem Kopf auf die offene Wohnzimmertür, hinter der sich alle unterhalten. Henry sitzt mit Joshua und Amy zusammen, schaut jedoch offen zu uns rüber.
„Er ist nicht…“, fange ich den Satz an, aber Noah ist schon ins Wohnzimmer aufgebrochen. Also wirklich! Was haben denn alle jetzt? Erst Lizzy, dann Noah… Langsam reicht’s!

Zwei

Die Taxen kommen genau pünktlich. Lizzy und ich verabschieden uns für die zwanzig Minuten getrennter Autofahrt mit einem Küsschen, dann nehmen wir alle unsere Sachen und steigen ein.
Henry und ich nehmen auf der Rückbank unseres Taxis Platz.
„Bist du betrunken?“, will ich wissen.
„Geht so, minimal vielleicht und du?“
„Joaaaa….“, lalle ich und kichere dann. „Du hast mich ja aber auch ganz schön abgefüllt, Hase.“ Ich streichele über seine Wange und Henry nimmt meine Hand.
„Kann ich ehrlich zu dir sein?“, flüstert er auf einmal, während seine Finger meinen Unterarm auf und ab fahren.
„Klar“, flüstere ich kichernd zurück. Ein Tequila weniger wäre bestimmt nicht schlimm gewesen.
„Irgendwie gefällt es mir nicht, dich mit diesem Noah zu sehen. Ich glaube, der will dich einfach nur flachlegen.“ Überrascht schaue ich ihn an. „Henry, du kennst ihn doch überhaupt nicht! Wie kannst du sowas sagen?“
„ Na komm schon, ich bin selber ein Kerl. Ich weiß, wie sowas läuft. Und was ich von ihm gehört habe, wünsche ich mir nicht für dich.“
„Ach? Und was hast du gehört?“
„Er hat da anscheinend so eine Masche. Erst sagt er den Mädels, wie hübsch und toll sie sind, macht ihnen andauernd Komplimente, sagt ihnen, dass sie seine Traumfrau sind und manchmal auch, dass er sie liebt, aber eigentlich will er sie nur ficken. Und wenn er genug davon hat, bricht er einfach den Kontakt ab und sucht sich eine Neue.“
Ich bin echt erschüttert über das, was ich da zu hören kriege. Das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Es passt überhaupt nicht zu dem Noah von früher und jetzt gerade kam er mir auch nicht wie ein Arsch vor.
„Also ich glaube nicht, dass das stimmt. Und mal ganz abgesehen davon waren wir früher nur Freunde und ich glaube nicht, dass sich das heute geändert hat.“
„Guck dich doch mal an Schatz“, sagt Henry sanft und beugt sich zu mir rüber. „Du hast so einen tollen Körper und ein hübsches Gesicht. Er müsste schwul sein, wenn er nicht mit dir ins Bett wollen würde.“ Dabei grinst er vielsagend. Betrunken, wie ich bin, kichere ich und reiße meine Augen auf.
„Wie meinst du das?“, hake ich nach und bekomme plötzlich so ein Gefühl im Bauch…. Eine Mischung aus Aufregung, Vorfreude, Angst… oder vielleicht ist es auch einfach nur der Tequila.
Henrys Blick ist dunkler geworden, als er meinen trifft. Hungriger. Er hebt seine Hand und streicht unterhalb von meinem Schlüsselbein über den Ansatz meiner linken Brust, die von dem trägerlosen Kleid nach oben gepusht wird. Dann lässt er seine Hand wieder sinken und schaut nachdenklich aus dem Fenster.
„Henry?“, hauche ich. Seine Berührung hat eine Gänsehaut hinterlassen und meine Stimme ist rau. Als er mich  ansieht, ist sein Blick wieder normal und das freche Grinsen ist auf seine Lippen zurückgekehrt.
„Du bist der Traum aller Männer, Süße. Aber das brauche ich dir ja sicherlich nicht zu erzählen.“
Ich bin völlig verwirrt. Wieso tobt in meinem Bauch so ein Sturm? Klar, Henry ist super heiß, aber er ist schon mindestens seit zwei Jahren mein bester Freund. Wir haben uns unzählige Male getroffen, Filme geguckt und dabei auch gekuschelt, aber er hat niemals versucht, mir irgendwie näher zu kommen. Warum bin ich jetzt so unglaublich scharf auf ihn? Oh mein Gott Ally! Du bist einfach nur viel zu betrunken, rede ich mir selbst ein. Morgen ist das alles wieder weg. Henry und ich wechseln das Thema. Später kann ich mich nicht mehr daran erinnern, über was für belangloses Zeug wir geredet haben, aber einige Minuten später sind wir beim Blue angekommen.

Lizzy begrüßt mich strahlend. Die Schlange ist nicht lang, wir stehen nur eine Minute an, bis der Türsteher uns reinlässt.
Lizzy und ich stürmen gleich die Tanzfläche, denn es läuft ein Remix von Safe and Sound von Capital Cities. Die ganzen Mädels kommen zu uns. Jillian ist eine wahnsinnig gute Tänzerin, was ich von mir nicht gerade behaupten kann. Vielleicht lacht man sich nicht über mich kaputt, aber bei ihr sieht das so sexy aus, dass man gar nicht mehr weggucken kann. Joshua ist das offenbar auch aufgefallen, denn er stellt sich hinter sie und tanzt mit ihr.
Jack und seine Kumpels sind an der Bar. Henry ist nicht bei ihnen. Ehrlich gesagt habe ich seit wir ausgestiegen sind auch gar nicht mehr auf ihn geachtet. Ich lasse meinen Blick suchend über die tanzende Menge schweifen, bis ich ihn in einiger Entfernung von mir sehen kann.
Ich weiß nicht, warum es mich erschreckt, denn es ist das normale Bild von Henry an einem Freitagabend. Er ist mitten auf der Tanzfläche und tanzt eng mit einem blonden Mädchen. Sie ist klein und trägt riesige High Heels, trotzdem ist er noch einen Kopf größer. Als ich nach ein paar Minuten noch mal einen Blick riskiere, küssen die beiden sich leidenschaftlich. Ich schüttele den Kopf und konzentriere mich wieder aufs Tanzen. Nach zwei Jahren ist es das erste Mal, dass es mich stört, dass mein bester Freund so ein Weiberheld ist. Irgendwie ist mir die Lust am Tanzen ein bisschen vergangen.
„Ich geh mir mal was zu trinken holen“, kündige ich an. Niemand will mitkommen, aber das ist auch okay so. Ein, zwei Minuten alleine sein schaden mir sicherlich nicht. Also kämpfe ich mich durch die ganzen Leute und muss manchmal sogar meine Ellenbogen einsetzen, weil die einfach nicht aus dem Weg gehen wollen. Die Bar ist an einer langen Wand aufgebaut und die Flaschen und Gläser werden von hinten hellblau beleuchtet. Endlich angekommen, bestelle ich einen Shot Roten und eine Wodka-Cola.
„Machen Sie bitte zwei draus“, befiehlt eine Stimme hinter mir dem Barkeeper. Ich drehe mich um und sehe mich Noah gegenüber.
„Hey, du hast mich aber erschreckt“, stammele ich. Er bedeutet mir, mich auf einen Barhocker zu setzen. Er nimmt mir gegenüber Platz.
„Als wir vorhin reingegangen sind, musste ich daran denken, wie wir uns früher Persos von allen möglichen Leuten ausgeliehen haben und kein einziges Mal damit reingekommen sind“, lächelt er. Bei der Erinnerung daran muss ich spontan auflachen.
„Genau und der Türsteher hat mich immer gefragt, wie oft ich es eigentlich noch versuchen will, aber ich habe nie zugegeben, dass das nicht mein Perso ist.“
„Obwohl du fast jede Woche einen anderen hattest“, schmunzelt Noah.
„Na komm, wir haben uns auch ohne Disco super amüsiert.“ Früher haben wir immer bei Jillian gechillt, Trinkspiele gespielt und zur Not unsere eigene Tanzfläche gemacht, wenn es wieder mal nicht geklappt hatte. Letztendlich sollte es nur zum Vortrinken sein, aber es mündete fast jedes Mal in einer wilden Hausparty. Das ein oder andere Mal sind sogar Sachen zu Bruch gegangen, doch Jillians Eltern fiel das nie auf. Das Haus ist einfach viel zu groß.
Der Barkeeper stellt uns unsere Getränke hin. Noah und ich wechseln einen Blick, nehmen den Shot in die Hand, stoßen an und kippen ihn runter.  
Unvermittelt beugt Noah sich vor und fragt mich: „Warum hast du damals wirklich den Kontakt abgebrochen? War dir unsere Freundschaft nichts mehr wert?“ Sein Blick ist nicht so vorwurfsvoll, wie seine Stimme. Es sind ja auch ein paar Jahre vergangen seitdem. Aber anscheinend muss ihn das ja wirklich beschäftigt haben.
„Wie kommst du denn darauf?“, frage ich nervös und hickse. Oh Gott, hab ich etwa schon so viel getrunken?
„Naja, wie soll ich es sonst interpretieren, dass du mich auf ein Mal wie Luft behandelt hast? Ich will es nur verstehen, weißt du? War es meine Schuld? Habe ich etwas falsch gemacht?“
Mhh…. Ich muss ihm die Wahrheit sagen, sonst wird er niemals lockerlassen. Dafür bin ich viel zu schlecht im Lügen. Ich nehme einige kräftige Schlucke von meinem Wodka, um mir Mut anzutrinken. Mein Herz klopft auf einmal so schnell. Soll ich es ihm wirklich sagen? Es ist schon so lange her, was hätte ich denn zu verlieren?
„Also, das ist eine komplizierte Geschichte“, murmele ich. Schon alleine bei dem Gedanken daran, dass ich es gleich aussprechen könnte, werde ich rot und kann ihn nicht mehr angucken.
„Ally?“, fragt Noah belustigt. „Wir haben ja Zeit. Ich mag komplizierte Geschichten.“
„Ich nicht“, beschließe ich. Trotzdem führt jetzt wohl kein Weg mehr darum herum.
„Weißt du… Damals haben wir ja ziemlich viel miteinander gemacht“, fange ich an. Scheiße, wie beichtet man seiner Jugendliebe von seinen Gefühlen? Hilfeeee! Ich leere mein Getränk mit einem einzigen Zug.
„Ally!!“, schreit Lizzy in dem Moment und stürmt auf mich zu.  Gott sei Dank!!! Erleichtert schaue ich sie an.
„Hier bist du! Du hast gesagt, du gehst nur eben was trinken und dann bist du nicht wiedergekommen und wir dachten schon, irgendein Typ hätte dir was ins Glas getan und dich mitgenommen…“, sprudelt sie hervor und atmet erstmal durch.
„Keine Sorge, ich habe auf sie aufgepasst“, sagt Noah in ruhigem Ton.
„Du musst jetzt mit aufs Klo kommen. Da sind die anderen gerade, die machen sich auch alle Sorgen“, bestimmt Lizzy und zieht an meinem Arm.
Entschuldigend sehe ich Noah an. „Ich erzähl‘s dir ein anderes Mal, versprochen.“

Die aufgeregte Lizzy schleppt mich hinter sich her und textet mich auf dem Weg zur Toilette zu.
„Weißt du, du bist schon seit mindestens 20 Minuten weg. Das kannst du doch nicht einfach machen. Wir haben dich angerufen und dir Sms geschrieben – guckst du eigentlich nie auf dein Handy? Für diesen ganzen Stress musst du uns mindestens einen ausgeben. Den armen Henry habe ich von so einer Blondine weggeholt, damit er dich sucht.“ Sie kichert. Ach wie süß, denke ich ironisch. Hat er mich also doch nicht vergessen.
„Jetzt bin ich ja wieder da“, stelle ich fest. Wir sind bei den Toiletten angekommen. Nicht gerade der schönste Ort in dieser Einrichtung. Vor dem Eingang zum Frauen-WC steht Henry.
„Treffen im Frauenklo? Hast du eigentlich ein Rad ab?“, fährt er Lizzy an, dann sieht er mich. „Alles gut bei dir? Wo warst du?“
„Ach“, sagt Lizzy, „sie hat einfach nur mit diesem Noah einen getrunken.“
Henrys Augen weiten sich. „Ernsthaft? Ich hätte meine Zeit auch sinnvoller verschwenden können!“
Ohne mich noch eines weiteren Blickes zu würdigen rauscht er an mir vorbei. Soll er doch wieder zu seiner scheiß Blondine gehen! Mir doch egal! Mal im Ernst, warum stört mich das plötzlich so sehr? Lizzy schnaubt und zieht mich durch die Tür.
Ans Waschbecken gelehnt steht Amy, neben ihr Sarah, Jessica und Jillian.
„Endlich, da bist du ja! Schnucki, guck doch mal bitte auf dein Handy demnächst“, meint Jillian. Ich entschuldige mich und habe ein ziemlich schlechtes Gewissen, weil sich alle so einen Stress gemacht haben. Irgendwie hat sich mein Gehirn ausgeschaltet, als Noah kam…
„Gut, dass du mich da weggeholt hast“, flüstere ich Lizzy zu. „Ich hätte sonst glaube ich ein paar ziemlich peinliche Dinge gesagt.“

Um vier Uhr machen wir uns schließlich auf den Rückweg. Lizzy, Jillian, Joshua und ich wohnen im gleichen Wohngebiet nur ein paar Straßen voneinander entfernt und so können wir alle den gleichen Bus nehmen. Zwischen Henry und mir herrscht ein eisiges Schweigen. Er scheint sauer auf mich zu sein und irgendwie bin ich auch sauer auf ihn. Wir sind alle kaputt und müde, und keiner redet viel. Meine Füße tun von den Absätzen ziemlich weh und ich lege die Beine hoch auf einen anderen Sitz. Noah habe ich überhaupt nicht mehr gesehen, aber vielleicht ist das auch besser so. Ich habe keine Ahnung, was ich von ihm halten soll. Ich wünschte, ich hätte mich vorhin irgendwie rausgeredet, damit ich ihm niemals von früher erzählen müsste…
Schließlich kommt unsere Haltestelle. Als ich von meinem Sitz aufstehe, ist mir immer noch ein bisschen schwindelig, aber es geht. Die Nachtluft ist angenehm, nicht zu kalt und nicht zu warm. Ich muss jetzt in die andere Richtung, als die anderen und verabschiede mich von ihnen.
Ich will mich schon umdrehen, da nimmt Henry überraschend meine Hand und sagt, dass er mich nach Hause bringt, damit ich nicht ganz alleine im Dunkeln herumlaufe.
„Es wird mich schon kein Vergewaltiger ins Gebüsch zerren“, scherze ich, doch Henry besteht darauf. Also laufen wir die fünf Minuten schweigend bis zu meiner Haustür. In der Ferne geht schon die Sonne auf und verdrängt die Dunkelheit. „Hattest du einen schönen Abend?“, fragt er.
„War ok“, murmele ich. „Dich brauche ich ja nicht fragen.“
Verwirrt und fragend schaut er mich an.
„Na, du hattest doch deinen Spaß.“ Verlegen sehe ich auf den Boden. Warum habe ich das jetzt gesagt? Aber ich kann mich nicht bremsen. „Wieso hast du sie eigentlich nicht mit nach Hause genommen?“
Er zuckt gelangweilt die Schultern. „Nach dieser Suchaktion nach dir war mir irgendwie nicht mehr danach.“
Erstaunt hebe ich die Augenbrauen.
„Du bist ja auch nicht mit zu Noah gegangen“, erwidert er.
Empört öffne ich den Mund. „Das ist doch nicht sowas zwischen uns. Wir haben uns vier Jahre nicht gesehen und waren früher gute Freunde.“
„Mhh, genau“, meint er ironisch.
„Der ist doch auch nur ein Kerl. Ich glaube nicht, dass der irgendwelche anderen Absichten hat, als dich zu ficken.“
Mir fällt die Kinnlade herunter. „Henry! Bist du jetzt völlig bescheuert? Was ist denn mit dir? Willst du mich auch nur ficken weil du ein Kerl bist?“ Zornig sehe ich ihm in die Augen. Warum hat er denn solche Vorurteile?
„Nein“, flüstert er und zieht mich nahe zu sich. Fast flehentlich schaut er mich an. „Ich habe nur Angst, dass er dir irgendwann mehr bedeuten könnte, als ich.“
„Oh Hase“, sage ich und nehme ihn ganz fest in den Arm. Wir sind zwar beste Freunde, aber so was Süßes sagt Henry nur selten. Eigentlich nie. „Du bist seit zwei Jahren mein bester Freund und Noah habe ich heute zum ersten Mal wiedergesehen. Ich habe keine Ahnung, ob ich ihn überhaupt noch mal wiedertreffe und wenn ja, wohin das führt. Aber du bist mir doch zehn Mal wichtiger!“ Lächelnd küsse ich ihn auf die Wange.
„Du bist das einzige Mädchen, mit dem ich mich öfter als zwei Mal getroffen habe, weißt du das?“, grinst er, nun wieder ganz der Alte.
Ich verdrehe die Augen und boxe ihm gegen die Schulter. „Danke, dass du mich nach Hause gebracht hast.“
„Willst mich wohl loswerden, was?“, lacht er. Dann gibt er mir einen Kuss auf die Wange und verabschiedet sich. Als ich die Tür hinter mir schließe, lächele ich immer noch.
Henry ist einfach der Beste. Ich hoffe, dass er für immer mein bester Freund bleibt.

Drei

Als ich am Montag in die Schule komme, bin ich ein bisschen enttäuscht. Noah hat sich nicht bei mir gemeldet. Natürlich hätte ich das auch machen können, aber irgendwie ist er ja der Kerl.
Andererseits… so ist das ja gar nicht zwischen uns.
Ein bisschen beneide ich Lizzy, weil sie jetzt so was Aufregendes mit Jack hat. Mein letztes Date ist bestimmt schon ein Jahr her und eine Beziehung hatte ich sowieso noch nie…
„Mir ist so warm“, informiert mich Lizzy, sobald sie sich auf ihren Platz neben mir hat plumpsen lassen. Ich kann ihr nur zustimmen. Es ist Hochsommer, eine Woche vor den Sommerferien.
„Es wird noch viel wärmer heute, hab ich gehört.“ 30° Mindestens.
„Ich freue mich schon soo auf die Ferien! Unser erster gemeinsamer Urlaub!“ Lizzy strahlt. Wir haben mit der kompletten Clique (das heißt: Lizzy, Joshua, Jessica, Henry, Amy, Sarah, Jillian und ich und Henry nimmt noch zwei Freunde mit) geplant, nach Miami zu fahren. Mit dem Auto sind das von unserer Heimatstadt Jacksonville in etwa sechs bis sieben Stunden Fahrt. Für eine Woche wohnen wir in einem am Strand gelegenen Hotel. Wie wir uns das leisten können? Jillians Vater gehört das Hotel! Natürlich müssen wir ein bisschen was bezahlen, aber längst nicht so viel, wie alle anderen Gäste. Wir fahren mit zwei Autos hin. In dem Moment vibriert mein Handy in der Hosentasche. Eine Sms.

Noah um 09:15
     
Na, hast du nicht Lust, heute an den Strand zu gehen? :*

Ich grinse. Natürlich hab ich Lust! Aber der soll mal schön auf eine Antwort warten. Lizzy klaut mir das Handy aus der Hand und wirft einen neugierigen Blick darauf. Dann grinst sie.
„Soso, und hast du?“
„Vielleicht“, lächele ich. „Wir haben uns so lange nicht mehr gesehen. Er hat sich ein bisschen verändert.“
„Aber hallo! Zum Positiven nehme ich an, wenn ich dein Schwärmen von gestern richtig interpretiere?“ Gestern haben wir bei einem gemütlichen Tee in meinem Zimmer über die Ereignisse der Samstagnacht geredet. Lizzy wollte alles wissen. Das Problem war, dass ich nicht mehr alles wusste. Aber meistens konnte sie mir auf die Sprünge helfen. Zum Beispiel kam mir auch wieder in den Kopf, dass ich Noah versprochen hatte, ihm wegen früher alles zu erklären. Dass ich das vergessen hatte, nennt man wohl Verdrängungsmechanismus. Freud lässt grüßen. Ich muss grinsen.
Lizzy zeigt mit dem Finger auf mich. „Da! Du bist ja schon halb verliebt!“
In diesem Moment kommt Henry in den Klassenraum. Normalerweise fahren wir zusammen zur Schule, aber heute musste er seinen Wagen in die Werkstatt bringen. Während er seine Tasche auf den Platz in der Reihe neben uns fallen lässt, fragt er: „Wer ist verliebt?“
„Ally“, antwortet Lizzy und will anscheinend schon erzählen, doch ich verspüre den plötzlichen Drang, ihr auf den Fuß zu treten und sie zu unterbrechen.
„Jaa, in diese neuen Schuhe, die ich letztens gesehen hatte. Du weißt schon, 12 Zentimeter, blaue Sohle…“ Henry weiß nicht, aber das ist nicht weiter schlimm.
„Frauen und Schuhe. Das werde ich wohl nie verstehen“, lacht er und kratzt sich am Hinterkopf.
Liz wirft mir einen bösen Blick zu. „Aua!“
„Sorry“, flüstere ich ihr zu.
Lange böse ist sie aber nicht, denn als es zum Unterrichtsbeginn klingelt, befiehlt sie: „Du musst unbedingt den königsblauen Bikini anziehen! Der pusht deine Brüste so schön.“ Au, jetzt muss sie auch noch Salz in die Wunde reiben. Wo ich doch eh schon so Komplexe habe. Sie bemerkt es und verdreht stöhnend die Augen.
So war das nicht gemeint. Deine Brüste sind super. Aber wir wollen doch mal sehen, was dein Jugendfreund für Augen macht.“ Sie kichert bei dem Gedanken, doch ich muss sie in ihren Plänen unterbrechen.
„Lizzy, ich hab‘s dir doch schon gesagt. So ist das nicht zwischen uns.“
Sie lacht. „Jaa, genau.“ In dem Moment marschiert unser Englisch-Lehrer in den Klassenraum und der Unterricht beginnt.

Ich antworte Noah in der zweiten großen Pause.

Ally um 11:54
     Klar, warum nicht. Wann und wo treffen wir uns?

Postwendend kommt die Antwort

Noah um 11:55
      Ich hol dich um drei von zu Hause ab

Lizzy grinst wissend, als sie sieht, dass ich Sms schreibe. Wir sitzen in der Kantine, aber ich hab irgendwie keinen richtigen Hunger. Auch wenn ich es niemals zugeben würde, bin ich ein bisschen aufgeregt. Ich knabbere an meinem Apfel, da knallt Henry sein Tablett neben mich. Er grinst von einem bis zum anderen Ohr. Dann fängt er an zu singen: „Ratet mal, wer eine Eins in Mathe hat, ohhhh, es ist Henry Parker, ohhh yeaah!“
Damit beendet er sein kleines Ständchen und setzt sich neben mich. Ich lache über ihn, manchmal hat er echt einen Schaden. Allerdings kommt er mindestens zwei Mal im Halbjahr mit diesem Ständchen an, immer dann nämlich, wenn er seine Mathe Klausur zurück bekommt. Henry ist einfach ein Ass in Mathe, was man von mir einfach überhaupt nicht behaupten kann. Die letzte Klausur habe ich glaube ich echt total vergeigt. Und obwohl wir es schon gewohnt sind, will Henry sich jedes Mal feiern lassen. Der Scherzkeks.
Nachdem er von jedem einzelnen Menschen an unserem Tisch ganz persönliche Glückwünsche eingefordert hat, sieht er mich schräg an.
„Was machst du heute?“ Innerlich verziehe ich das Gesicht. Ich hatte gehofft, er würde mich das nicht fragen. Warum weiß ich nicht, aber irgendetwas in mir sträubt sich dagegen, ihm die Wahrheit zu sagen. Natürlich tue ich es trotzdem. „Ich gehe mit Noah zum Strand.“
„Oh.“ Seine Gesichtszüge werden hart und das Lächeln erlischt. „Ich hatte gehofft, wir könnten uns mal wieder einen Film ansehen.“
„Ich dachte, du hast heute Training?“
„Fällt aus“, sagt er gleichgültig und zuckt die Achseln.
„Lass uns morgen was machen“, schlage ich vor.
„Ja, mal schauen.“ Henry weicht mir aus. Na toll. Er sollte nicht eifersüchtig auf mich sein, sondern mich verstehen. Wütend beiße ich in meinen Apfel.

Meine schlechte Laune verfliegt spätestens um kurz vor drei, als ich in meinem Zimmer vor dem Spiegel stehe. Nur mal so probeweise habe ich Lizzys Tipp befolgt und den königsblauen Bikini mal wieder hervorgekramt. Natürlich habe ich nicht vor ihn wirklich anzuziehen… obwohl er meine Oberweite echt schön formt. Aber das ist ja überhaupt nicht die Richtung, in die dieser Nachmittag führen soll…oder?
Nach kurzem Überlegen entscheide ich, dass der Bikini meine Augenfarbe so schön zum Strahlen bringt und behalte ihn einfach an. Es wird schon nicht schaden. Drüber ziehe ich eine schwarze Shorts und ein weinrotes Top. Ich packe ein Strandhandtuch, Sonnenmilch und was man nicht alles so braucht ein und laufe gerade die Treppe herunter, als es klingelt. Schnell verabschiede ich mich von meiner Mutter in der Küche und öffne dann Noah die Tür.
„Hi“, sage ich und kann ein doofes Grinsen nicht vermeiden.  Er umarmt mich zur Begrüßung, so wie früher, und ich atme seinen wundervollen Duft ein, der sich seit damals nicht verändert hat. Noah bringt mich zu einem dunkelblauen Audi und erklärt, dass sei sein Wagen. Er hält mir sogar ganz Gentleman die Beifahrertür auf und schließt sie, als ich Platz genommen habe. Als er schließlich neben mir sitzt und mich schief anlächelt, macht mein Herz einen Sprung. „Schön, dass du Zeit für mich hast. Wir haben so lange nichts mehr gemacht.“
Ich nicke und schlucke. Mir wird bewusst, dass ich ihn gleich halb nackt sehe. Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Er hatte früher schon eine gute Figur und war sportlich gebaut. Ob sich daran was geändert hat? Ich versuche, unauffällig zu ihm herüber zu sehen, doch er bemerkt es und lacht.
„Was ist?“, fragt er.
„Nichts“, sage ich und werde rot. „Du siehst zwar älter aus, aber abgesehen davon hast du dich fast nicht verändert.“ Irgendwas muss ich ja sagen! Und im Prinzip ist es die Wahrheit. Er sieht älter aus und dadurch auch total sexy und gefährlich. Hoffentlich fange ich nicht gleich an, zu sabbern. Noah parkt in der Nähe des Strands und wir müssen noch ein paar Minuten laufen. 
„Hat dein Freund nichts dagegen, dass wir was machen?“, fragt er und grinst.
„Wer?“ Ich bin verwirrt.
„Na dieser… wie hieß er noch? Henry? Der hat mich bei Jack so böse angeguckt und kein Wort mit mir gesprochen.“ Noah lacht leise. Aaah, was soll das denn!
„Er ist mein bester Freund, wir sind nicht zusammen“, erkläre ich und kann nicht verhindern, dass mein Unterton ein bisschen wütend klingt.
Noah bleibt stehen, hält mich an der Hand fest und zieht mich zu sich.
„Er ist nicht dein Freund?“ Uhh, so nah war ich ihm seit vier Jahren nicht mehr. Seine tiefen graublauen Augen halten meinen Blick fest und er lächelt. Ich muss mir Mühe geben, weiter zu atmen.
„Nein“, hauche ich unsicher. 
„Gut“, grinst er und zieht mich dann die letzten Meter zum Strand.
Gut? Was soll das denn heißen??

Wir suchen uns ein schönes Plätzchen, an dem es nicht ganz so sehr von weinenden Kindern wimmelt und breiten unsere Handtücher auf dem weichen Sand aus. Mit einer gekonnten Bewegung zieht Noah sich das Shirt über den Kopf und präsentiert mir ein Sixpack, das wie aus der Werbung aussieht. Ich muss mich sehr zusammenreißen, damit ich nicht die ganze Zeit drauf starre. Erwartungsvoll schaut er mich an und ich weiß, dass ich mich jetzt auch ausziehen sollte, aber irgendwie schäme ich mich.
„Wenn du mich so anstarrst, kann ich das nicht“, quengele ich und werde rot. Er grinst mich an.
„Wie, meinst du ich soll weggucken?“ Lachend schaut er Richtung Meer und diesen Moment nutze ich, um mich meiner Klamotten zu entledigen. Als Noah wieder hinguckt, hält er sich die Hand vor den Mund. „Du hast es ja doch getan!“ Ich kichere und boxe ihm gegen den Arm. Sein Blick scheint über jeden Zentimeter meines Körpers zu wandern und bleibt besonders lange an meinem Dekolleté hängen, bevor er mir wieder in die Augen sieht und grinst.
"Schöner Bikini!"
Aus meiner Tasche hole ich die Sonnencreme und fange an, meine Arme und Beine einzucremen.
„Könntest du wohl…“, fange ich den Satz an und halte Noah die Tube hin.
„Aber klar“, lächelt er und kniet sich hinter mich, um meinen Rücken sonnenfest zu machen. Naja, besser gesagt, er massiert mich ganze fünf Minuten lang. Und wie!
„Hast du das irgendwo gelernt?“, murmele ich. Er könnte stundenlang so weiter machen, aber es ist viel zu schnell vorbei.
„Wollen wir schwimmen gehen?“, fragt er motiviert.
„Wie, jetzt direkt?“
„Klar, warum nicht.“ Er grinst und zieht mich hoch. Ich gebe klein bei und laufe über den heißen Sand neben ihm her. Sobald das kühle Wasser meine Knöchel umspült, ärgere ich mich wie jedes Mal, dass ich nicht öfter hierher komme. Wenn man einen Strand praktisch vor der Haustür hat, gewöhnt man sich daran. Aber das Gefühl des Salzwasser auf meiner Haut ist einfach unvergleichlich. Trotzdem muss ich mich an das kühle Nass erst mal gewöhnen und wate langsam und vorsichtig vorwärts. Noah steht schon bis kurz über den Bauchnabel drin.
„Das Gesicht hast du früher auch schon immer gemacht“, ruft er mir zu und lacht. Böse gucke ich ihn an. Was denn für ein Gesicht?! Schließlich habe ich ihn erreicht und spritze ihn zur Strafe nass. Er weicht aus und spritzt zurück.
„Hey, was soll das denn? Habe ich dir irgendwas getan?“, lacht er.
„Ich mache kein komisches Gesicht! Das Wasser war einfach nur kalt!“, wehre ich mich.
„Achso, entschuldige Madame.“ Übertrieben streckt er den Arm aus und verneigt sich nach unten. Dann springt er ohne Vorwarnung mit dem Kopf voraus ins Wasser und ehe ich mich versehe, packt er meine Beine und zieht mich auf seine Schultern. Sobald er wieder auftaucht, denke ich, dass er unter meinem Gewicht zusammenbrechen müsste und quietsche. Doch er lacht nur und fängt an, sich im Kreis zu drehen. Ich klammere mich abwechselnd an seinen Haaren und an seiner Schulter fest und kreische, als er mich schließlich ins Wasser plumpsen lässt. Prustend tauche ich wieder auf und lache.
„Wer zuerst in der Höhle ist“, rufe ich und tauche los. Ich weiß, dass er die Wette nur zu gerne annehmen wird. Die Höhle haben wir früher mal entdeckt. Man muss ein Stück schwimmen. In einen großen Fels, der ungefähr 50 Meter vom Strand entfernt steht, hat das Wasser mit den Jahren ein Loch gefressen. Man kann sich sogar auf einen kleinen Felsvorsprung setzen und hat dann den wunderbaren Ausblick auf das weite Meer. Nachdem ich Noah nicht mehr getroffen habe, war ich nicht mehr dort. Irgendwie ist das unser Ort.
Ich bin erleichtert, dass es die Höhle noch gibt, als wir ankommen. Das Loch scheint sogar noch größer geworden zu sein. Ich komme als erste dort an, Noah taucht kurz nach mir auf.
„Gewonnen!“, rufe ich, während ich mich aus dem Wasser auf den Fels ziehe.
„Dass es die noch gibt“, meint Noah, während er neben mir Platz nimmt. Früher haben wir beide sehr viel Zeit hier verbracht.
„Ich weiß noch, wie einmal dieses kleine Fischerboot hier vorbeigefahren ist und uns unbedingt einsammeln wollte, weil der Kapitän dachte, wir wären Schiffbrüchig“, erinnert er mich und ich muss unwillkürlich lachen.
„Oder als das Pärchen auf der Matratze hier vorbei getrieben ist.“ Noah prustet los. Die beiden hatten sich wohl ein bisschen zu unbeobachtet gefühlt. Als sie fertig waren und zurücktrieben, kamen sie fast direkt an uns vorbei und wir haben nur freundlich gelächelt und gewinkt. Immer noch lachend lehne ich mich zurück und schaue Noah an. Seine graublauen Augen sind immer noch so tief und unergründlich wie damals. Er schaut einfach nur zurück, nimmt meine Hand und verschränkt unsere Finger.
„Wir hatten ne schöne Zeit damals“, sagt er leise. Mir wird etwas unbehaglich und ich rutsche auf dem Fels herum. Ich kann mir denken, worauf er hinauswill. Schließlich habe ich ihm versprochen zu sagen, warum ich mich nicht mehr gemeldet habe.
Beiläufig löse ich unsere Hände von einander und sage: „Puh, mir fällt gerade auf, dass ich noch gar nichts zu Mittag gegessen habe. Ich hab echt Hunger.“ Dann lasse ich mich von dem Fels ins Wasser plumpsen und schaue ihn auffordernd an. Ich glaube, dass er mich durchschaut hat, aber trotzdem folgt er mir zurück an den Strand.
An einem Strandkiosk holen wir uns jeder ein frisches Thunfischbaguette (ich LIEBE Thunfisch) und eine kalte Coke. „Was machst du eigentlich diesen Sommer?“, fragt Noah interessiert.
Zwischen zwei Bissen mampfe ich: „Wir fahren mit der Clique nach Miami. Und du?“
„Die Jungs und ich haben vorgestern entschlossen, dass wir an dem Footballcamp unserer High School teilnehmen. Zwei Wochen lang in der Nähe von New York.“
„Wow, die Cheerleader werden dich bestimmt nicht aus den Augen lassen.“ Im nächsten Moment könnte ich meinen Kopf gegen den nächsten Pfosten schlagen. Für mindestens eine Minute. Inzwischen sind wir wieder bei unseren Handtüchern angekommen und sitzen uns im Schneidersitz gegenüber. Noah grinst und ich werde rot und schau weg. „Wieso sollten sie?“, hakt er nach.
„Äh, weiß nicht“, stottere ich. „Vielleicht ziehst du ja ne pinke Sporthose an…“
Er lacht und ich könnte noch eine weitere Minute Kopf-zu-Pfosten hinzufügen. Oh mein Gott, wenn man im Lexikon unter „Fail“ nachguckt, findet man mein Foto.
„Ja vielleicht“, murmelt er und sieht mir nachdenklich in die Augen. Zum Glück lässt er das Thema damit fallen.
Nachdem wir aufgegessen haben, legen wir uns hin, sonnen uns und plaudern über früher und heute. Noah zeigt mir ein Tattoo, das er sich hat stechen lassen, als sein Vater gestorben ist. Es sind Schriftzeichen, hebräisch oder so, und es ist an der Innenseite seines Oberarms. Die Zeit mit ihm vergeht wie im Flug.
Irgendwann, als ich auf dem Bauch liege und die wunderbar warme Sonne auf meinem Rücken genieße, passiert es. „Ally…“, fängt er an und schon an seinem Ton weiß ich, was jetzt kommen wird. Verschreckt setze ich mich auf und versuche ihm telepathisch zuzusenden: frag nicht, frag nicht!, doch es scheint nicht zu klappen.
„Du bist mir noch eine Erklärung schuldig.“ Sein Ton ist ernster als vorhin aber auch viel sanfter. Gedankenverloren spielt er mit meinen Haaren, während ich nicht anders kann, als das Gesicht zu verziehen.
„Weißt du, das ist irgendwie nicht so einfach.“
Er sieht mich an und nickt. „Das habe ich schon bemerkt. Weißt du was? Wir machen eine Wette. Wenn ich zuerst im Wasser bin, erzählst du es mir. Und wenn du die Erste bist, erfährst du ein Geheimnis.“
Oh Gott. Im Schwimmen bin ich vielleicht schneller als er, aber Rennen liegt mir nicht so wirklich. Und er ist Football-Spieler, er hat also Ausdauer. Ich wäge meine Chancen ab. Wahrscheinlich werde ich es nicht als erste schaffen, aber was bleibt mir anderes übrig? Einen Versuch ist es wert. Und was hat er überhaupt für ein Geheimnis? Also nicke ich und bereite mich innerlich auf den Sprint vor.
„Eins“, fängt Noah an zu zählen und grinst herausfordernd.
„Zwei“, fährt er fort und ich sprinte los. Ich weiß, dass das fies ist, aber ohne Vorsprung hätte ich niemals eine Chance. „Hey, das ist Frühstart“, brüllt er mir hinterher, doch ich höre, dass er mir trotzdem folgt. Ich gebe alles, was ich kann, angespornt von seinen Schritten direkt hinter mir. Auf den letzten Metern lege ich mich sogar noch mehr ins Zeug und komme schließlich keuchend im knietiefen Wasser an.
„Erste!“, rufe ich laut und reiße meine Arme in die Luft. Ich weiß nicht, ob es an dem Frühstart liegt, oder ob Noah mich absichtlich gewinnen lassen hat. Jetzt kommt er zu mir, legt seine Hände auf meine Hüften und zieht mich ein Stück näher an sich heran.
„Das gilt nicht und das weißt du. Aber du musst es mir trotzdem nicht erzählen, wenn du nicht willst.“
Erleichtert atme ich auf.
„Unter einer Bedingung“, fährt er fort und ich ziehe eine Grimasse. „Du gehst morgen mit mir Essen.“
Misstrauisch schaue ich ihn an. „Das war’s? Kein Haken? Keine versteckte Kamera?“
„Klar“, sagt er und lächelt.
„Na gut. Um sieben?“ 
„Ich hol dich ab.“

Was für ein Geheimnis Noah mir erzählt hätte, weiß ich immer noch nicht, als er mich gegen halb acht wieder zu Hause abgesetzt hat. Vielleicht hat er ja auch nur geblufft. Ich weiß nicht, warum er mich morgen zum Essen eingeladen hat. Um der alten Zeiten Willen?
Meine Mutter hat Nudelauflauf gemacht und ich beeile mich mit dem Essen, denn ich habe noch was vor.

An: Henry um 20:13
     Hey Großer, bist du noch beleidigt oder hast du jetzt noch Lust, einen Film anzuschauen? XX Ally

Von Henry um 20:15
      Bin zutiefst gekränkt. Wann kommst du? XX

Ich lache und gebe Henry Bescheid, dass ich in zwanzig Minuten da bin. Ich springe noch schnell unter die Dusche und verabschiede mich von meiner Mutter, dann bin ich mit dem Fahrrad auch schon unterwegs.
Henrys Mutter Clara begüßt mich freundlich, wie immer. Ich glaube, sie ist froh, dass es wenigstens ein Mädchen im Leben ihres Sohnes gibt, das öfter mal zu Besuch kommt. Nachdem ich die dunkel geflieste Eingangshalle durchquert habe, steige ich die Treppe hinauf und klopfe an Henrys Zimmertür.
„Hereinspaziert, schöne Frau“, begrüßt er mich. „Wie war dein Tag?“
„Ganz nett eigentlich“, antworte ich zögerlich, doch er verzieht keine Miene.
„Worauf hast du Lust, Spiderman 3, Ted, ziemlich beste Freunde…“ Er fängt meinen Blick auf und verdreht die Augen. „Lass mich raten, Ted.“
Den Film haben wir mindestens schon drei Mal gesehen, aber ich finde ihn einfach urkomisch. Mit großen Hundeaugen schaue ich meinen besten Freund an. Ich weiß, dass es für ihn praktisch unmöglich ist, diesem Blick zu widerstehen.
„Na gut“, murmelt er. „Aber nur, weil du es bist.“
Er schiebt die DVD ein, während ich schon mal auf Henrys großem Bett Platz nehme. Sein Sofa ist leider letztens bei einem kleinen Luftgitarrenkontest kaputt gegangen. Ich war gerade mitten in meinem Solo, da machte es Krach und der Boden brach durch. Naja, Henry meinte, dass es eh ein billiges Ding war.
„Und lief da heute was?“, fragt Henry, als er neben mir Platz nimmt.
„Natürlich nicht. Wir haben nur geredet.“
„Sag nicht, du hattest den blauen Bikini an?“
„Woher kennst du den denn…“, versuche ich auszuweichen, doch ich werde rot. Und Henry kennt mich einfach zu gut. „Lass mich raten, er hat dich zum Essen eingeladen.“
Erstaunt gucke ich Henry an. Woher weiß er das? Er scheint meine Gedanken lesen zu können und verdreht die Augen. „Bei dir braucht es etwas mehr, um dich ins Bett zu bekommen, das wird selbst dein neuer Freund gecheckt haben. Wenn du aber mit ihm schwimmen gehst und dazu noch so ein Oberteil anziehst, dann sagst du ihm indirekt, dass du aber nichts dagegen hättest, wenn er sich ein bisschen bemüht.“
„Das stimmt gar nicht. Ich habe den Bikini nur angezogen, weil… ich habe so schnell keinen anderen gefunden und dann hat es auf einmal schon geklingelt.“
Henry grinst mich an. „Ist schon okay Kleine, aber pass auf dich auf. Und bitte sag mir später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“
Er startet die DVD und ich lehne meinen Kopf an seine Schulter.
„Was hast du eigentlich heute gemacht?“, frage ich während der Film anfängt.
„Josh und ich waren Beach Volleyball spielen und haben ein paar Mädels kennen gelernt.“
Jetzt verdrehe ich die Augen. „Oh man, kannst du eigentlich irgendwo hingehen, ohne dass du gleich ein paar neue Groupies bekommst?“
Er lacht leise und drückt mir einen Kuss auf den Scheitel. Dann widmen wir uns ganz dem Film.
Doch nach ein bisschen mehr als der Hälfte ist für mich Schluss. Ich bin total müde und die Augen fallen mir schon zu. „Lass uns im Liegen weitergucken“, schlage ich vor und gähne. Ich lege mich hin und schließe meine Augen. Der Versuch, den Film weiter zu hören, scheitert irgendwie auch. Ich merke, wie ich im Sekundentakt einnicke.
Als ich das Nächste Mal aufwache, hat Henry den Film ausgestellt und nur noch die kleine Nachttischlampe brennt. Er wirft mir eins seiner Tshirts zu.
Verschlafen frage ich: „Was soll ich damit?“
„Willst du jetzt ernsthaft noch nach Hause fahren? Ich habe Julia schon Bescheid gesagt.“
Meine Mutter ist es schon gewöhnt, dass ich ab und zu bei Henry schlafe. Und so müde, wie ich bin, schaffe ich den Weg bestimmt nicht, ohne zwischendurch einzuschlafen. Also nehme ich das Tshirt dankbar an.
Als Henry mich immer noch ansieht, befehle ich: „Na los, dreh dich um!“
Er grinst und zieht sein eigenes Shirt aus, unter dem sein durchtrainierter Oberkörper zum Vorschein kommt.
„Na wird’s bald“, schnauze ich ihn an, woraufhin er sich lachend wegdreht. Schnell ziehe ich mich um und versinke fast im Henrys Shirt. Dann lege ich mich wieder hin und kann ein Gähnen nicht vermeiden. Als Henry endlich neben mir liegt und das Licht ausgemacht hat, schießt mir etwas durch den Kopf.
„Wie viele Frauen haben eigentlich schon in diesem Bett geschlafen?“
Er scheint verwundert über die Frage, antwortet aber. „Außer dir noch keine, wieso?“
„Hä? Und wo lässt du die alle?“
„Na ich schmeiße sie raus. In meinem Bett haben die nichts zu suchen. Normalerweise tut es auch der Teppich oder das alte Sofa, aber das hast du jetzt ja kaputt gemacht.“
Ich erinnere mich an seinen Trinkspruch, er habe noch nie Sex in seinem Bett gehabt… Das ergibt jetzt Sinn, vorher habe ich ihm nicht geglaubt.
Schlaftrunken murmele ich: „Dann bin ich ja was ganz Besonderes.“
„Klar Mäuschen, das bist du sowieso“, flüstert Henry und zieht mich an seine Brust. Ich lächele und genieße seine Nähe und im nächsten Moment schlafe ich ein.

Das Weckerklingeln am nächsten Morgen ist scheußlich. Ich hasse Henrys Wecker generell. Erhört sich an wie die Sirene eines Krankenwagens, aber noch tausend Mal Schriller. Nachdem ich den ersten Schreck überwunden habe, merke ich, in was für einer verknoteten Position wir eingeschlafen sind. Henry hat seinen Arm um mich geschlungen und liegt dicht hinter meinem Rücken. Noch im Halbschlaf brummt er vor sich hin und zieht mich noch näher an sich. Da spüre ich etwas Hartes an meinem Hintern. Habe ich mein Handy im Bett liegen lassen? Im Dunklen taste ich danach, doch ich fühle nur Stoff. Ich taste weiter und merke, wie Henry hinter mir scharf die Luft einzieht.

„Ally!“, tadelt er mich. „Wenn du wissen willst, wie sich mein bester Freund anfühlt, solltest du mich vielleicht vorher fragen, findest du nicht?“

Oh Gott! Ruckartig reiße ich meine Hand weg. Ich bin noch nie so nah neben einem Jungen aufgewacht, ich habe doch keine Ahnung von sowas!

„Das war keine Absicht“, stottere ich. „Ich wusste ja nicht…“

Henry lacht leise und drückt mir einen Kuss auf die Haare. „Macht nichts, von dir lasse ich mich doch gerne befummeln.“

Dann befreit er mich aus seiner Umarmung, fährt die Rollläden hoch und verschwindet ins Bad. Ich liege immer noch wie erstarrt auf der Matratze und versuche, meinen Kopf nicht gegen die Wand zu hauen. Das ist mir so schrecklich peinlich! Fünf Minuten später kommt Henry wieder und hat sich vollständig angezogen. Ich fange sein Grinsen auf und werde sofort rot.

„Willst du nicht langsam aufstehen? Wir kommen sonst noch zu spät“, prophezeit er. Hektisch schaue ich auf die Uhr. Schon zwanzig vor neun! Um neun Uhr beginnt bei uns der Unterricht.

„Wieso stehst du denn so spät auf?“, quengele ich und hüpfe schnell in die Hose, die ich gestern Abend getragen habe. „Ich muss noch schnell rüber, mir andere Klamotten anziehen und mich schminken.“

„Na komm, wir fahren schon Mal zu dir. Ich bin eh fertig“  Dankbar nehme ich das Angebot an und wir laufen die Treppen runter. Im Vorbeigehen nimmt Henry sein Frühstück mit, das seine Mutter schon bereit gelegt hat, als sie vor einer Stunde das Haus verlassen hat.

In letzter Sekunde parken wir vor der Schule. Unsere Wege trennen sich hier, denn ich habe jetzt Mathe und er Sport. Bei dem Gedanken daran, dass wir gleich unsere Klausur zurückbekommen wird mir schon ganz schlecht. Mit dem letzten Läuten lasse ich mich auf meinen Platz neben Jillian fallen. Wie immer ist sie gut gelaunt. Meine Laune sinkt eher, als unser Mathelehrer den Raum betritt.

„Ich bin schon ganz aufgeregt“, lässt Jillian mich strahlend wissen.

„Du hast doch eh wieder ne Eins.“

„Trotzdem“, lacht sie. Wahrscheinlich würde ich mich auch so verhalten. Ich meine, wer freut sich denn schon nicht über eine gute Note? Aber ich kann nicht verhindern, dass ich ein aufgeregtes Kribbeln im Bauch habe, das sich nicht wirklich angenehm anfühlt. Nach und nach wird jeder Schüler einzeln vor die Tür gebeten. Wir gehen alphabetisch vor, also komme ich erst ziemlich weit hinten. Um mich irgendwie abzulenken, versuche ich meinen Tag zu planen, aber dann fällt mir ein, dass ich heute Abend mit Noah zum Essen verabredet bin. Das macht das grausige Gefühl in meinem Bauch nur noch schlimmer. Nervös kaue ich auf meinen Fingernägeln (ja ich weiß, das muss ich mir dringend abgewöhnen!), als ich endlich aufgerufen werde.

„So, Miss Watson“, seufzt Mr. Bloomberg und schaut über den Rand seiner Brille in die Ergebnisliste. Dann sieht er mich mit ernstem Blick an. „So geht das nicht weiter“, findet er und schiebt mir meine Klausur über den Tisch zu. Ängstlich werfe ich einen Blick auf die letzte Seite und kann mir ein Stöhnen nicht verkneifen. Schon wieder eine Fünf. In allen anderen Fächern schreibe ich Einsen und Zweien, nur mit Mathe muss ich jedes Mal kämpfen.

„Ich sag Ihnen mal was. Vor den Ferien schreiben wir noch einen Test über das gleiche Thema. Wenn Sie Ihre mündliche Mitarbeit verbessern und diesen Test mindestens drei schreiben, gebe ich Ihnen auf dem Zeugnis noch eine 3-. Überlegen Sie es sich.“

„Und wenn ich das nicht schaffe?“, frage ich niedergeschlagen.

„Dann muss ich Ihnen eine Fünf geben. Tut mir leid.“

„Alles klar, danke.“ Ich setze mich wieder auf meinen Platz im Klassenraum und denke nach. Wenn ich auf dem Zeugnis eine Fünf habe, muss ich in die Nachprüfung. Und die sind direkt in der ersten Ferienwoche, das heißt ich könnte nicht mit nach Miami fahren.

„Und, was hast du?“, fragt Jillian fröhlich. Natürlich hat sie ihre Eins schon längst bekommen.

„Ist mal wieder nicht so gut gelaufen“, erkläre ich traurig und zucke mit den Schultern. Ich werde in den nächsten Tagen einfach pauken müssen, damit ich den Stoff drin habe.

In der Mittagspause hat sich meine Laune immer noch nicht gebessert. Nicht mal, als ich eine Sms von Noah bekomme.

 

Noah um 12:23

Hey Kleine, ich freu mich auf heute Abend. Zieh dir was Schickes an. J XX Noah

 

Will er in ein teures Restaurant gehen? Hoffentlich nicht, denn ich würde allein schon daran scheitern, in welcher Reihenfolge ich das viele Besteck benutzen muss. Grüblerisch stochere ich in meinen Spaghetti herum. Ich habe heute noch nicht mal Zeit fürs Frühstück gehabt, und trotzdem habe ich immer noch keinen richtigen Appetit.

„Ally, was ist denn los mit dir?“, fragt Henry, dem das offenbar aufgefallen ist. Kein Wunder, wenn es Spaghetti gibt, bin ich immer die Erste mit einem leeren Teller.

„Ach nichts“, murmele ich, doch er lässt nicht locker.

„Sag schon“, flüstert er mir ins Ohr.

„Wir haben die Matheklausur wiederbekommen und es ist scheiße gelaufen.“ Ich versuche, Lizzys Tonfall nachzuahmen, den sie immer benutzt, wenn sie ein Thema für beendet erklärt, ohne es auszusprechen, aber offenbar gelingt mir das nicht.

„Was hast du denn für eine Note?“, bohrt Henry weiter nach. Ich erzähle es ihm, und auch, dass ich in den nächsten zwei Wochen, die noch bis zu den Ferien bleiben, richtig reinhauen muss.

„Ich hab keine Ahnung, wie ich das alles verstehen soll“, quengele ich.

„Ich kann dir doch helfen“, bietet Henry an. „Ich wette, ich kann dir alles blitzschnell erklären, und im Test schreibst du eine Eins.“ Ich lache und gucke ihn dann ungläubig an.

„Du hast doch so schon genug zu tun. Willst du in deiner Freizeit wirklich auch noch mit mir Mathe lernen?“

„Klar, warum nicht? Du wirst schon sehen, so schlimm ist das alles gar nicht. Komm einfach morgen vorbei und bring deine Sachen mit.“ Dankbar umarme ich Henry.

„Du bist echt der Beste!“

„Ich weiß“, grinst er.

 

Als ich später wieder zu Hause bin, bin ich bester Laune. Die Sonne knallt mit solcher Intensität auf die Erde, dass man es draußen fast nicht aushalten kann. Überall im Haus sind die Rollläden unten und die Klimaanlage sorgt für angenehm kühle Luft. Lizzy ist zu mir rübergekommen und jetzt macht sie für uns leckere Mango Lassies.

„Ich glaube nicht, dass er mit dir in so ein Schicki-micki-Restaurant will“, analysiert sie, während sie alle Zutaten in den elektrischen Mixer gibt. Ich sitze auf einem Barhocker am Tresen, der in unserer Küche als Raumteiler dient und blättere in einem Modemagazin.

„Ich weiß überhaupt nicht, was ich unter schick verstehen soll“, quengele ich verzweifelt. „Meint er damit einfach nur, dass ich ein süßes Kleid anziehen soll oder eher so richtig schick?“

„Weißt du was Ally, zieh einfach ein Kleid an und hör auf, dir so viele Gedanken zu machen. Mit einem Kleid machst du auf jeden Fall nichts verkehrt. Und überhaupt, ich dachte so ist das nicht zwischen euch?“ Lizzy grinst mich frech an und ich werfe ich einen bösen Blick zu.

„Er macht mir Komplimente. Das hat er früher nicht gemacht. Zumindest nicht so oft“, gebe ich dann doch klein bei. Meine Freundin schaut mich zweifelnd an.

„Hat Henry nicht gesagt, dass das seine Masche ist? Die Sache mit den Komplimenten, meine ich.“

„Aber das sind nicht solche Draufgänger-Macho-Sprüche. Er wirkt auf mich überhaupt nicht so. Und er hat vor zwei Jahren eine schwierige Zeit durchgemacht. Vielleicht wollte er sich da ein bisschen ablenken und jetzt halten ihn alle für einen Playboy.“

„Ich gönne es dir wirklich Ally, aber du musst vorsichtig sein. Du kennst das Gefühl bestimmt noch, unglücklich verliebt zu sein. Ich will bloß nicht, dass dir sowas wieder passiert. Auf mich wirkt Noah auch ganz nett und ich habe ihn Samstagabend nicht mit irgendwelchen Frauen gesehen. Aber man kann nie vorsichtig genug sein.“ Mit diesen Worten stellt sie zwei Gläser kalter Mango Lassies vor mir ab und schaut mich auffordernd an.

„Gehen wir nach oben? Schließlich müssen wir dir noch was zum Anziehen aussuchen.“

 

Pünktlich um sieben steht Noah vor der Tür. Er begleitet mich wieder zu seinem dunkelblauen Wagen und dann fahren wir los. Ich habe mich letztendlich für ein trägerloses weißes Kleid entschieden, das unten in ein angenehmes hellorange übergeht. Es ist ein bisschen luftig geschnitten, sieht aber trotzdem edel aus. Lizzy hat ein paar Wellen in meine langen hellbraunen Haare gedreht und mich geschminkt. Das kann sie echt gut und als ich in den Spiegel geschaut habe, musste ich zufrieden grinsen. Noah scheint es auch zu gefallen, denn er lässt immer wieder seinen Blick über mich gleiten.

„Wie war dein Tag?“, beginnt er das Gespräch.

„Ach naja, ich hab eine schlechte Note in Mathe bekommen, aber ansonsten war er ganz gut. Und deiner?“

„Ich musste meiner Mom heute im Garten helfen. In den nächsten Tagen soll es noch heißer werden, deshalb haben wir‘s heute gemacht. Es war aber trotzdem kaum zum Aushalten.“ Übrigens glaube ich auch, dass ich mich passend angezogen habe, weil Noah eine schwarze, verwaschene Jeans trägt und ein stinknormales Printshirt dazu. Ich brauche mir also keine Sorgen um Besteck zu machen. Wir fahren eine ganze Weile und irgendwann biegt Noah aus dem Stadtgebiet ab.

„Wo fahren wir denn hin?“, will ich wissen. Ich kenne hier in der Gegend kein Restaurant und überhaupt ist es eher ländlich.

Doch Noah grinst mich nur an und meint: „Lass dich überraschen!“ Nervös rutsche ich auf meinem Sitz herum, bis wir irgendwann auf einen Feldweg abbiegen. Ookay… Was kommt jetzt? Will er in irgendeiner menschenleeren Ecke mit mir rummachen? Unsicher linse ich zu ihm rüber, doch er verzieht keine Miene. Wir folgen dem Feldweg noch ein gutes Stück bergaufwärts. Dann kommen wir auf eine Wiese und Noah stellt den Motor aus. Er steigt aus und ich tue es ihm gleich. Als ich ein paar Schritte in Richtung Rand der Wiese mache, merke ich erst, wie hoch wir eigentlich sind. Von hier aus hat man einen wunderbaren Ausblick über die Stadt.

„Schön, nicht wahr?“, sagt Noah stolz, als würde dieses Stück Land ihm gehören.

„Ähm, wollten wir nicht essen gehen?“, frage ich verwirrt. Wozu sollte ich mir denn was Schickes anziehen?

„Klar, wir essen ja auch. Aber ich habe ja nicht gesagt, dass wir dafür ins Restaurant fahren.“ Zögerlich beobachte ich, wie er sich an der Heckklappe seines Wagens zu schaffen macht. Kurze Zeit später breitet er eine große Picknick-Decke auf dem Boden aus und bedeutet mir, mich zu setzen. Dann fängt er an, verschiedene Dosen und Tupperboxen auszuladen. Er hat sogar Kerzen dabei und stimmungsvolle Gitarrenmusik.

„Ich dachte mir, ein Picknick wäre viel schöner. Hier sind wir nur für uns. Ich bin früher immer mit meinem Dad hierhergekommen.“ Reflexartig lege ich meine Hand auf Noahs. Es muss für ihn so schrecklich sein. Auch wenn ich meinen Vater nicht oft besuchen kann, weil er in New York lebt, wäre es unvorstellbar zu wissen, dass ich ihn nie wieder sehe. Noah sieht so traurig aus, er kann gar keine bösen Absichten haben. Egal was alle anderen sagen, ich glaube nicht, dass er mich nur verarschen will.

„Na ja“, sagt er und schenkt mir ein dankbares Lächeln. „Willst du gar nicht wissen, was es zu Essen gibt?“ Und ob ich das will. Um ehrlich zu sein habe ich heute nur Lizzys Mango Lassie getrunken und irgendwie das Essen ganz vergessen. Noah hat Tomaten-Mozarella-Salat mit Balsamicodressing mitgebracht, Käse-Weintrauben-Spieße, Sandwiches mit verschiedenen Belägen und einen Nudelsalat. Dazu öffnet er eine Flasche Wein. Ich möchte am liebsten alles auf einmal essen und merke jetzt erst richtig, wie viel Hunger ich habe.  

Zwischen zwei Bissen frage ich: „Hast du das alles selber gemacht?“ Er lacht und schüttelt den Kopf.

„Ich habe nur die Spieße gemacht und den Salat. Mit dem Rest hat meine Mom mir geholfen.“

„Es schmeckt unglaublich lecker“, finde ich.  

Eine Weile essen wir schweigend, dann verlangt er: „Erzähl mir was über dich. Ich kenne dich ja kaum noch.“ Verwundert sehe ich ihn an. „Habe ich mich denn so sehr verändert?“

Er lächelt und sieht mir tief in die Augen. „Ich glaube nicht. Aber im Detail muss ich das natürlich erst noch herausfinden. Was ist deine Lieblingsfarbe?“

„Immer noch Blau“, antworte ich.

„Machst du noch Cheerleading?“

„Klar“, lache ich. Langweilig wie ich bin, kann ich wohl nicht mit irgendwelchen aufregenden neuen Hobbies á la Bungee-Jumping oder so was aufwarten.

„Was willst du nach der Schule machen?“

„Ist das ein Kreuzverhör?“, will ich lachend wissen, antworte dann aber doch. „Ich möchte mir erstmal eine Auszeit nehmen und vielleicht nach Europa reisen. So ganz genau habe ich das zwar noch nicht geplant, aber ich möchte auf jeden Fall ein bisschen was von der Welt sehen.“

„Hey, das hört sich ja cool an. Vielleicht nimmst du mich ja mit“, grinst Noah mich herausfordernd an.

„Vielleicht“, lächele ich und nehme mir noch einen Spieß. „Und was ist mit dir?“

„Ich hab da noch keinen richtigen Plan. Ich lass es erst mal auf mich zukommen. Vielleicht studiere ich irgendwas mit Finanzen, so wie mein Dad.“

„Hast du eigentlich keine Freundin?“, platze ich heraus und könnte mich im nächsten Moment ohrfeigen. Ich weiß auch nicht, warum ich das gesagt habe. Prompt fühle ich die Hitze in mein Gesicht schießen.

Impressum

Texte: geistiges Eigentum von Stefanie M.
Bildmaterialien: http://bilder.4ever.eu/liebe/paare/mann-und-frau-auf-der-couch-149272
Tag der Veröffentlichung: 15.05.2013

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