„I’m sexy and I know it!“, gröle ich. Der Bass wummert durch meinen Körper und das Glas Wodka-Cola, das ich in der Hand halte, schwappt andauernd über. Meine Finger kleben. Aber egal, wen interessiert das schon?
Ich bin im „Basement“, der angesagtesten Disco der Stadt. Heute ist Mittwoch und bei dem Gedanken daran, dass ich morgen um halb acht aufstehen muss, könnte ich jetzt schon kotzen.
Eigentlich wollte ich nur kurz bleiben, aber nach dem vierten Tequila und dem ein oder anderen Wodka-Mischgetränk habe ich eigentlich gar keine Lust mehr, zu gehen. Tanzen macht aber auch so Spaß!
Meine Schwester winkt mir aufgeregt zu. Ihre blonden Haare sind im Kontrast zu meinen glatt und kurz. Eigentlich sehen wir uns überhaupt nicht ähnlich, meine Haare sind voluminös, braun und leicht gelockt. Sie hat blaue Augen, ich hellbraune mit einem Stich ins Grüne. Nur die freche Stupsnase haben wir gemeinsam von unserer Mutter geerbt.
Überhaupt bin ich erst hier gelandet wegen meiner Schwester. Als ich von der Schule nach Hause kam, saß sie zusammen mit meiner Mutter und einem Glas Sekt am Wohnzimmertisch. Noch bevor ich die Tür hinter mir schließen konnte, fiel mir Jill schon um den Hals und verkündete, dass Darren, ihr Freund, ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte. Sie hat dann direkt angefangen, mich mit Sekt abzufüllen.
Ich mag Darren gerne, er ist lustig und nett. Deswegen freue ich mich wirklich für meine Schwester, auch wenn ich von solchen Sachen, wie der Ehe, nichts halte, und konnte auch nicht nein sagen, als sie mich dazu abkommandierte, an diesem Abend mit Feiern zu gehen.
Ich gehe zu ihr rüber, sie sitzt mit einigen ihrer Freundinnen um einen Tisch. Die Bänke sind gemütlich ausgepolstert und der Glastisch leuchtet abwechselnd in verschiedenen Farben.
„Eve, hast du gesehen, wie dieser Kerl dich die ganze Zeit anguckt?“, fragte mich Jill.
„Kerl?“ Ich drehe mich suchend um, doch Jill packt mein Handgelenk.
„Nicht so auffällig! Er steht an der Bar und ist echt heiß
!“
Ich stelle mich seitlich und versuche unauffällig, einen Blick auf die Bar zu erhaschen. Tatsächlich werde ich angeschaut. Und wow, meine Schwester hat Recht. Er ist verdammt heiß! Seine hellbraunen Haare liegen verwuschelt auf seinem Kopf, was ihn frech aussehen lässt. Er ist groß, bestimmt 1,95, und trägt verwaschene Jeans mit einem schwarzen Hemd, dessen oberste Knöpfe lässig offen stehen. Als er bemerkt, dass ich ihn ansehe (ich hoffe, ich sabbere nicht und mein Gesichtsausdruck ist nicht all zu dumm!), zwinkert er mir lächelnd zu und hebt sein Glas, als würde er mir zuprosten wollen. Ich erwidere die Geste und lächele.
„Hast du das gesehen?“, will in diesem Moment meine Schwester wissen. „Er hat dir zugeprostet! Was für eine Macho!“ Sie ist ganz empört. Klar, Darren ist da etwas pflegeleichter. Machos kann sie nicht abhaben.
„Also ich finde in heiß“, sage ich und grinse sie an. Ich exe meinen Drink und gehe wieder auf die Tanzfläche. Mein Blick schweift immer wieder zur Bar, doch zu meinem Enttäuschen ist der Kerl weg.
Meine Schwester gesellt sich zu mir und der Dj spielt Levels von Avicii. Klar, dass wir beide richtig abgehen. Nach einer Weile meint sie: „Lass uns bald mal nach Hause fahren, es ist gleich schon halb vier!“
„Ein bisschen will ich noch bleiben“, lalle ich. Wir einigen uns auf eine halbe Stunde und sie geht sich einen Drink von der Bar holen.
In dem Moment, in dem ich hochgucke, sehe ich, dass der heiße Kerl von der Bar geradewegs auf mich zukommt.
Am nächsten Tag wache ich mit einem dicken Schädel auf. Entsetzt muss ich feststellen, dass ich keinerlei Erinnerungen an den gestrigen Abend habe. Habe ich mich etwa zugesoffen? Nein, das kann nicht sein! Es ist doch mitten in der Woche!
Ein Blick auf den Wecker sagt mir, dass ich ganz schön spät dran bin. Na toll, trotz meines offenbar total verkaterten Kopfes muss ich mich jetzt in Windeseile fertig machen. Als ich eine halbe Stunde später im Bus sitze, habe ich meine Haare einfach nur lässig zu einem Pferdeschwanz hochgebunden und trage ein beige-kariertes Hemd mit einer Hotpants. Ja, ich muss mit dem Bus fahren. Ein eigenes Auto kann ich mir leider nicht leisten, denn in dem Esoterik-Laden arbeite ich nur, um meine Tante vorm Bankrott zu bewahren.
Jedenfalls drängt sich mir die Frage auf, warum meine Erinnerungen ab ca 16 Uhr einfach verschwunden sind. Ich kann doch nicht so früh schon angefangen haben, zu Trinken?! Im Posteingang meines Handys finde ich nur eine Sms von Liv, meiner besten Freundin, ob ich noch heile zu Hause angekommen bin, und an die kann ich mich noch erinnern. Ich habe ihr darauf allerdings nicht geantwortet. Vielleicht weiß sie gleich mehr?
Vor der Schule steht sie schon und wartet auf mich. Ihre langen, blonden Haare sind in der Mitte gescheitelt und fallen glatt über ihre Schultern. Sie ist wirklich eines der hübschesten Mädchen, die ich kenne und das beliebteste dazu. Sie trägt ebenfalls Hotpants.
Ich gehe direkt auf sie zu, doch sie bemerkt mich gar nicht, weil sie so vertieft in ihr Handy ist. Wahrscheinlich schreibt sie ihrem Freund, der – wie könnte es anders sein – der beliebteste Junge der Schule und natürlich Quarterback ist.
„Hi“, sage ich und lächele sie an.
„Oh, ich hab dich gar nicht kommen sehen“, lacht sie, weil sie kurz zusammengezuckt ist. „Wo warst du?“
„Ich hab verschlafen…“, murmele ich. Dann gehen wir in das Gebäude, in dem die Luft widerlich abgestanden riecht und kämpfen uns durch die Menge der Schüler.
„Sag mal, haben wir gestern Abend noch telefoniert?“, will ich neugierig von ihr wissen.
Natürlich handelt mir das einen merkwürdigen Seitenblick ein. „Ähm ja, wieso?“
„Also, das ist mir jetzt echt peinlich, aber… ich kann mich an den Abend nicht mehr erinnern“, gebe ich zu.
„Was? Hast du doch so viel getrunken? Du hast gesagt, dass du heute einen Mathetest schreibst und deswegen wolltest du eigentlich eher bei den nicht-alkoholischen Getränken bleiben!“
„War ich denn Feiern?“
„Meine Güte, wann hören denn bitte deine Erinnerungen auf? Weißt du denn wenigstens noch, dass du Brautjungfer wirst?“
Mit großen Augen starre ich sie an. „Heiratest du?“
„Nein“, lacht sie laut. „Aber deine Schwester.“
„Meine Schwester ist verlobt??“, quieke ich und mir ist es ziemlich egal, dass mich dabei alle angucken.
Liv nickt nur. „Dass du Schnapsnase auch nie die Kontrolle über dich behalten kannst.“
Beschämt schaue ich zu Boden, als wir auch schon die Klassenräume erreichen. In der ersten Stunde habe ich Biologie und Liv Mathe. Schade, denn ich hätte sie gerne noch weiter ausgefragt. Doch die Schulglocke ertönt und hinter der Tür kann ich schon die ätzende Stimme unserer Biolehrerin hören. Fuck, was habe ich denn gestern Abend bitteschön gemacht?!
Die Antwort liefert mir Liv in der großen Pause. „Also deine Schwester hat sich mit Darren verlobt und dann seid ihr abends mit einigen Leuten ins Basement gegangen. Vielleicht solltest du sie nachher mal fragen, was du so angestellt hast.“
Ein bisschen graut es mir davor, denn ich mache immer echt peinliche Dinge, wenn ich getrunken habe. Einmal habe ich Henry Erikson, der nebenbei bemerkt der größte Spießer und Langweiler unserer Schule ist, gesagt, dass ich unsterblich in ihn verliebt wäre und ob wir nicht zusammen sein wollen. Er hat es ernst genommen und am nächsten Tag war er dann ganz verwirrt, als er gemerkt hat, dass ich davon gar nicht mehr so viel wusste. Ich meine einerseits – es war Henry Erikson! Und andererseits sind Beziehungen meiner Meinung nach sowieso nur was für Weicheier. Man lässt sich gerne verletzen, vernachlässigt seine Freunde, und gibt sich für den anderen völlig auf. Was ist das denn für ein Leben? Natürlich haben Beziehungen auch ihre guten Seiten – man hat viel Sex. Allerdings auch immer nur mit ein und derselben Person, das wird ja auch irgendwann langweilig.
Außerdem ist das auch außerhalb von Beziehungen möglich – und das ist auch gut so.
Um drei Uhr bin ich echt froh, dass die letzte Stunde ausfällt. Ich bin völlig fertig und übermüdet. Den Mathetest habe ich natürlich auch versaut. Liv verabschiedet sich von mir, sie geht mit zu ihrem Freund Roy.
Im Bus muss ich die ganze Zeit aufpassen, dass ich nicht einschlafe und meine Haltestelle verpasse.
Von der Hauptstraße, wo der Bus mich absetzt, muss ich noch eine Viertelstunde bis nach Hause laufen. Mein Fahrrad ist leider vorige Woche kaputt gegangen, weil unsere blöden, kleinen Nachbarskinder meinten, es klauen zu müssen, um Downhill damit zu fahren. Ihr wisst schon, bergabwärts über alle möglichen Äste und Steine brettern. Offenbar wussten sie nicht, dass man dafür extra Fahrräder benutzen muss!
Die Sonne brennt erbarmungslos auf mich nieder und sorgt nicht gerade dafür, dass sich meine Kopfschmerzen bessern. Ich will einfach nur noch ins Bett. Ach ja, und von Jill wissen, was gestern so los war.
Nach zehn Minuten hört der unebene Feldweg endlich auf und die ersten Häuser kommen in Sicht. Die Straßen sind wie leergefegt. Eine große Wolke schiebt sich vor die Sonne und verschafft mir einen kühlen Luftzug, über den ich sehr dankbar bin. Alles ist jetzt in ein merkwürdiges graues Licht getaucht.
Ich erreiche die ersten Gebäude und gehe daran vorbei. Es ist nicht mehr weit!, rede ich mir gut zu. In diesem Moment werde ich schmerzhaft am Arm gepackt und in eine dunkle Seitengasse gezerrt. Ich will schreien, doch eine Hand presst sich auf meinen Mund. Der Versuch, um mich zu schlagen und zu treten, wird von starken Armen unterbunden. Ich spüre noch einen kleinen Stich im Oberarm, da verschwimmt alles vor meinen Augen.
Ich wache auf, weil mein Kopf immer wieder auf und ab wippt. Zaghaft öffne ich erst das eine, dann das andere Auge. Ich sehe etwas Graues, das sich bewegt. Ah, eine Straße! Irgendwie muss ich mich darauf fortbewegen. Dass mein Kopf die ganze Zeit so wippt, nervt ganz schön, deshalb versuche ich mich irgendwo festzuhalten. Ich strecke die Hände aus und bekomme Stoff zu fassen. Fühlt sich fast an… wie eine Jeans??
Wieso gehen meine Hände eigentlich in Richtung Boden, wenn ich sie über meinen Kopf hebe? Hektisch versuche ich mich umzuschauen, aber ich habe fast garkeinen Bewegungsfreiraum. Hänge ich etwa kopfüber? Und bewege mich dabei noch?? Beim Versuch, mich festzuhalten, ertaste ist etwas Weiches. Ich will mich gerade aufrichten, da höre ich eine tiefe Stimme: „Na, gefällt dir mein Arsch?“
Erschrocken quieke und strample ich, als ich merke, dass mich jemand über seine Schulter geworfen hat. An dessen Hintern meine Hände immer noch ruhen! Schnell nehme ich sie da weg.
„Kannst du mich runterlassen?“, frage ich, doch zur Antwort bekomme ich nur ein Lachen. Was soll das denn? Ich kenne diese Person noch nicht mal! Wie kommt er dazu, mich einfach zu entführen?
…
Moment, da war doch was! Was mit einer schmalen Gasse… ich wurde
entführt, wirklich und wahrhaftig! In der Sekunde, in der mir das klar wird, fange ich an, mit meinen Händen auf den Rücken meines Entführers und schreie laut um Hilfe. Leider bringt das rein garnichts, wieder lacht er nur.
„Wo bringst du mich hin? Was willst du von mir?“, kreische ich.
„Halt die Klappe, sonst tu ich dir weh!“, sagt er in einem Ton, der mich tatsächlich verstummen lässt.
Erstmal. Denn nach fünf Minuten wird es mir zu blöd. Wo sind wir überhaupt? Sind denn hier keine Menschen, die mir helfen können?!
„Okay, lass uns noch mal ganz von vorne anfangen. Wie heißt du?“, will ich wissen.
„Hast du mich vorhin nicht verstanden?“
„Doch doch. Aber Gewalt ist keine Lösung. Lass uns doch mal in Ruhe drüber reden.“
„Da gibt es nichts zu reden.“
„Also ich finde schon. Schließlich bin ich hier diejenige, die entführt wird. Ich finde, ich habe ein Recht darauf, zu erfahren, was du hier veranstaltest.“
„Ich entführe dich, hast du ja gerade selbst schon festgestellt.“
„Ja aber warum denn nur?“
Er antwortet nicht und nach kurzem Überlegen frage ich: „Hast du Probleme mit deiner Mutter?“
Mein Entführer verschluckt sich und bekommt einen heftigen Hustenanfall. Diese Gelegenheit nutze ich, um mich von ihm loszumachen. Er versucht, mich festzuhalten, aber es gelingt ihm nicht und schließlich rutsche ich von seiner Schulter, sodass ich vor ihm stehe.
Eigentlich will ich ihn richtig zusammenfalten. Hat ihm denn niemand beigebracht, wie man mit Frauen umgeht?!
Aber als ich dann meinen Blick hebe und seine Augen treffe, ist alles, was ich noch sagen kann: „Oh.“
Meine Güte, sieht der heiß aus! Seine Augen sind stechend blau und stehen im Kontrast zu den verwuschelten hellbraunen Haaren.
Er sieht mich verärgert an, während ich verwirrt frage: „Kennen wir uns?“
„Nein.“ Mit diesem Wort und mit einem unglaublich abschätzigen Blick, als hätte ich ihm was getan, packt er mich und wirft mich kurzerhand wieder über seine Schulter.
„Alter! Was soll das? Du kannst mir doch mal wenigstens sagen, was du von mir willst! Meine Familie macht sich sicherlich schon Sorgen um mich!“
Als er nichts sagt, kommt mir ein erschreckender Gedanke. Was ist, wenn er mich vergewaltigen und umbringen will?!
Okay, gegen Sex mit diesem Typen hätte ich nicht so viel einzuwenden, aber… Eve!, herrsche ich mich selbst an. Also wirklich. Ich hatte eindeutig schon zu lange keinen Sex mehr. Das letzte Mal war mit so nem Kerl, Dave, und das ist auch schon ein halbes Jahr her. Meine Güte!
Ja nein aber mal im Ernst: was ist denn, wenn er mich wirklich umbringen will? Man hört ja immer wieder von diesen Serienkillern, die die Mädchen am helllichten Tag entführen. Wobei, wenn er mich jetzt hier so durch die Gegend schleppt, ist das ja nicht gerade unauffällig, auch wenn wir bisher noch keinen Menschen begegnet sind. Also, wenn er tatsächlich ein Mörder ist, muss er eine Bindung zu mir aufbauen, damit er mich nicht mehr umbringen kann. Das hab ich zumindest mal gelesen.
Also plappere ich munter drauflos.
„Okay, es ist nicht schlimm, wenn du nicht so der gesprächige Typ bist, dann erzähle ich dir halt was von mir. Ich heiße Eve und bin siebzehn Jahre alt. Meine Schwester hat anscheinend gestern ihre Verlobung bekannt gegeben und wir waren feiern, nur leider weiß ich davon nicht mehr so viel. Heute habe ich den Mathetest verhauen. Ganz ehrlich, wer braucht schon Mathe?! Ich bin Cheerleaderin zusammen mit meiner besten Freundin. Ich habe in zwei Monaten Geburtstag und halte überhaupt nichts von Beziehungen…“
Weiter komme ich nicht. Mit einem Ruck bleibt mein Entführer stehen und stellt mich vor sich ab.
„Lady, kannst du nicht einfach den Mund halten? Wen interessiert denn deine Lebensgeschichte?“
Beleidigt schaue ich ihn an. „Du musst ja nicht so verletzend werden. Aber ich kann auch selber laufen!“
„Das konntest du aber nicht, als du noch bewusstlos warst und dich an meinem Arsch festgehalten hast“, sagt er und grinst mich anzüglich an.
Empört schnappe ich nach Luft. „Du hältst dich wohl für den Allergrößten, wie?“
„Klar“, sagt er achselzuckend. Ganz ehrlich? Er sieht nicht aus, wie ein Mörder. Er hat schon so etwas Böses an sich, aber ich glaube nicht, dass er mir wirklich was tun will. Was die Frage offen lässt, was dieser Kerl von mir will.
Er schubst mich einen Schritt nach vorne. „Na los, du hast doch gesagt, dass du selber laufen kannst, dann schlag hier keine Wurzeln!“ Grob packt er mich am Arm und schleift mich mit sich.
„Wo sind wir denn überhaupt?“, will ich wissen. Tatsächlich habe ich diese Straße noch nie gesehen. Natürlich sieht sie ganz normal aus – Bürgersteig, parkende Autos und Häuser. Aber da ich sowieso nicht den besten Orientierungssinn habe, würde ich mich wahrscheinlich sogar in meiner eigenen Westentasche verirren.
„Wo wir sind? In Florida.“
Mir stockt der Atem und ich bleibe stehen. „Und was zur Hölle machen wir in FLORIDA?!“
Ich wohne nämlich eigentlich in South Carolina. Das heißt, dass wir zwei Staatsgrenzen überquert haben müssen… Wie lange war ich denn bewusstlos? Und was hat er in Florida mit mir vor???
„Ach jetzt stell dich nicht so an. Je früher du die Fresse hältst, desto schneller erfährst du alles.“ Genervt zieht er mich weiter. Doch das hindert mich nicht daran, in Panik zu verfallen.
„Willst du Geld? Ich glaube, dann hast du die Falsche entführt! Wir sind nicht reich! Ich bin nicht Nataly!“ Die ist nämlich die Tochter unserer Nachbarn und die haben schon extrem viel Kohle. Vielleicht liegt hier eine Verwechslung vor?! Doch noch bevor ich ihn von meiner Theorie überzeugen kann, biegt er nach links in einen dunklen Hauseingang ab. Die Tür ist offen und so betreten wir einen Raum, in dem es wirklich muffig riecht. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, sehe ich auch, warum. Überall hängen Spinnenweben, von den Wänden hängen Streifen von Tapete herunter und vor den Fenstern hängen mottenzerfressene Rollos. Morsch aussehende Balken tragen die Decke, die schon leichte Risse hat. Ein ausgeblichenes, löchriges Sofa steht an der Wand und etwas weiter mittig gibt es einen langen, dunklen Holztisch.
„Nett hast du’s hier“, lüge ich, um meinen Entführer nicht gegen mich aufzubringen. Er schnaubt verächtlich und zieht mich am Arm hinter sich her. Der Holzboden knarzt ärgerlich, als wir über ihn hinweg gehen.
Ich habe keine Ahnung, wo er hinwill, doch er läuft zielstrebig auf die gegenüberliegende Wand zu. Direkt davor bleibt er stehen. Will er, dass ich seine verblichene Tapete bewundere? Gerade will ich dazu ansetzten, etwas zu sagen, als er mit geübtem Griff gegen eine noch verblichenere Stelle an der Wand drückt. Prompt entsteht ein kleiner Durchgang, durch den er mich eilig zieht. Von innen verschließt er die Schiebetür wieder. Drinnen verschlägt es mir fast die Sprache. Der Kontrast zu dem heruntergekommenen Raum von gerade ist so groß, dass ich erstaunt nach Luft schnappe.
Es ist nur ein Vorraum mit einer geschwungenen Treppe, aber trotzdem. Alles ist hell ausgeleuchtet. Von der Decke hängt ein goldener Kronleuchter. An den Wänden sind Bilder von namenhaften Künstlern und alles ist hübsch eingerichtet. Wer hält das wohl alles sauber?
Bevor ich den Gedanken vertiefen kann, schleift er mich weiter. Warum hat er es eigentlich so eilig? Das nervt langsam. Am Ende der Treppe schließt er eine Tür auf. Aha, hier läuft also nicht alles über Knopfdruck.
„Geh“, fordert er mich auf und schubst mich durch die Tür. Am liebsten hätte ich ihn angeschnauzt, dass er mal ein bisschen freundlicher zu mir sein soll, aber ich überlege es mir doch anders. Wenn ich nett zu ihm bin, tut er mir vielleicht nichts… Die Hoffnung stirbt zuletzt!
„Jason?“, ruft eine männliche Stimme aus irgendeinem anderen Raum. Wir laufen über einen Flur in ein Wohnzimmer. Genau wie in dem Vorraum ist hier alles groß, hell und sehr gut eingerichtet. Mein Entführer muss wohl ordentlich Kohle haben.
Aus einem weiteren Flur kommt ein Typ, der ungefähr im gleichen Alter wie mein Entführer sein müsste. Anfang 20, schätze ich. Blonde Haare. Groß. Muskulös. Ist das normal hier in Florida? Die Kerle bei mir zu Hause sind eher Durchschnitt, was das Aussehen angeht.
Er schaut mich an und sofort breitet sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus. „Ist das die Kleine, von der du erzählt hast?“
Momentchen mal, von der er erzählt hat? Wie lange hat er denn schon geplant, mich zu entführen?! Ah, mir fällt ein, dass ich jetzt ja auch seinen Namen kenne. Jason
.
„Die ist ja noch viel heißer, als du gesagt hast“, sagt der fremde Typ, als ob ich gar nicht da wäre. Erst starrt er mir unverhohlen auf die Brüste. Und dann besitzt er noch die Dreistigkeit, mir anzüglich zuzuzwinkern! Empört schnappe ich nach Luft.
„Naja, ist aber ganz schön zickig“, erwidert Jason. Ich starre ihn mit offenem Mund an und muss mich zurückhalten, ihn nicht zu hauen.
Der andere zuckt mit den Schultern. „Macht ja nichts. Wollen wir direkt anfangen?“
Anfangen? Womit
? Ich werde ziemlich nervös. Sind die beiden vielleicht solche, die Mädchen entführen und sie dann zwingen, in Pornos mitzuspielen?! Aber hätten sie mich dann nicht längst mit Drogen willenslos gemacht…?
„Du kannst sie ja schon mal wegbringen, ich hab noch Hunger“, unterbricht mich der blonde Perversling. Jason nickt und zieht mich zu einem Raum am Ende des Flures. Er schiebt mich in hinein und schließt die Tür dann hinter mir.
„Hey“, sage ich noch, aber er ist schon weg. Perplex bleibe ich einen kurzen Moment stehen und starre auf das dunkle Holz. Dann sehe ich mich um. Der Raum ist nicht besonders groß, hat weiße Tapete und kahle Wände. Ein Bett steht unter dem Fenster.
…Unter dem Fenster?? Mit einem Satz bin ich am anderen Ende des Raumes und habe den Fenstergriff schon fast in der Hand, da sagt eine Stimme leise hinter mir: „Versuch’s gar nicht erst. Das Fenster ist ausbruchssicher.“
Ich erschrecke mich zu Tode und fahre herum. Jason freut sich offenbar, dass er mir solche Angst eingejagt hat, denn für den Bruchteil einer Sekunde zucken seine Mundwinkel. Wow. Man ist zu Gefühlen fähig, wer hätte das gedacht!
Mit einem warnenden, aber ziemlich intensiven Blick schaut er mich an. Erst jetzt fällt mir auf, wie wenig Platz zwischen uns ist… und irgendwie wird er immer weniger?!
Tatsächlich kommt Jason mir immer näher.
Und dann ist er weg. Verwirrt blinzele ich und schaue mich im Zimmer um. Die Tür ist zu. Habe ich mir das gerade etwa nur eingebildet? Werde ich jetzt psychisch labil? Oh Gott, diese Entführung tut mir nicht gut!
Erschöpft lasse ich mich auf das gemachte Bett fallen.
Kurze Zeit später geht die Tür auf und die beiden Entführer kommen herein. Jason lehnt sich an die Wand neben dem Fenster und schaut mich finster an. Der, dessen Namen ich nicht kenne, zieht sich einen Stuhl von der gegenüberliegenden Wand heran und setzt sich direkt vor mich.
„Ich bin Steve“, stellt er sich vor. „Du brauchst keine Angst zu haben. Eigentlich ist Jason ganz nett, er kann es nur nicht jedem zeigen.“
Jason schnaubt.
„Wir, oder besser gesagt: ich muss jetzt etwas bei dir machen. Es tut nicht weh und du brauchst nichts anderes zu tun, als still zu sitzen. Schaffst du das?“, fragt er mich mit einem Ton, als säße ich beim Kinderarzt und er wollte mir gleich eine Spritze geben.
Trotzdem nicke ich zögerlich. Steve rückt mit dem Stuhl noch ein Stück nach vorne. Dann umfasst er mein Gesicht mit beiden Händen. Ich zucke zurück, doch er beruhigt mich: „Psst, alles ist gut. Dir wird nichts passieren.“
Ein merkwürdiges Gefühl der Entspannung fließt durch meinen Körper, dann fängt Steve erneut an zu reden. Dabei schaut er mich mit einem Blick an, bei dem ich Gänsehaut bekomme. Nicht, weil er so gruselig aussieht, sondern weil ich das Gefühl habe, als würde ich in seinen Augen versinken und er in meinen.
„Ich weiß, dass es schwierig für dich ist, Eve, aber erinner dich bitte für mich an gestern Abend.“
„Ich kann nicht“, erkläre ich ihm. „Ich habe zu viel getrunken und hab jetzt ein Blackout.“
Verständnisvoll nickt Steve. „Das kann ich verstehen. Aber ich bin mir sicher, dass du ein paar Teile noch weißt. Warst du in einem Club?“
Bunte Lichter zucken in meinem Kopf. Dann verschwinden sie wieder.
„Ich… ich kann mich nicht erinnern, schon möglich.“
„Weshalb hast du getrunken?“
„Meine Freundin hat gesagt, dass meine Schwester sich verlobt hat und ich werde Brautjungfer. Deswegen waren wir feiern.“
Erneut diese Lichter. Ein Bild von Jill und mir auf der Tanzfläche. Auf einer Sitzgruppe in einer Disco. Ein leuchtender Tisch… Wir waren im Basement
!
„Ich weiß wieder, wo ich war!“, triumphiere ich. „Im Basement!“
Steve tauscht einen bedeutungsschweren Blick mit Jason aus, dann wendet er sich wieder mir zu. In seinen Augen liegt eine Sanftheit, die ich ihm niemals zugetraut hätte. Seine kühlen Hände liegen immer noch an meinem Gesicht.
„Woran erinnerst du dich noch? Was waren da für Leute?“
Auf jeden Fall Jill. Auch ihre beste Freundin Tracy taucht vor meinem inneren Auge auf. Bethsy, Ava und Ginny.
Und so ein Typ. Ein Kerl war mit uns. Nein, nicht mit uns… nur mit mir! Sein verschwommener Umriss nimmt erst nach und nach Gestalt vor meinem geistigen Auge an. Schließlich kann ich ihn erkennen.
Erschrocken reiße ich die Augen auf. Ich weiche vor Steve zurück und krabbele rückwärts in die hinterste Ecke des Betts. Dabei starre ich mit weit aufgerissenen Augen Jason an.
Er war das. Er war der Kerl an der Bar, der mich die ganze Zeit angestarrt hat. Er hat mir einen Drink spendiert und mit mir getanzt. Da ist noch etwas anderes, das spüre ich ganz deutlich, doch ich kann mich nicht erinnern. Habe ich etwa mit ihm geschlafen? Nein, danach fühlt es sich nicht an. Es muss irgendwas anderes passiert sein…
„Eve“, reißt Steve mich aus meiner Überlegung. Ich kann nicht ganz auf ihn reagieren, weil ich noch zu geschockt bin. Noch nie konnte ich mich nach einem Blackout wieder erinnern. Wie hat Steve das nur hinbekommen?
„Du erinnerst dich wieder, nicht wahr?“, fragt er einfühlsam. Ich schlucke trocken und nicke.
„Was wollt ihr von mir?“
„Wir wollen dir nur helfen und dafür sorgen, dass du in Sicherheit bist. Dafür musst du aber erst wieder herkommen. Ich kann verstehen, dass du Angst hast, aber alles wird wieder gut.“
Von ihm geht so eine seltsame Ruhe aus, die macht, dass ich ihm vertraue. Ich rutsche wieder ein Stück auf ihn zu, denn ich bin auch neugierig. Erneut legt er seine Hände an mein Gesicht.
„Ich werde dir jetzt helfen, alles zu vergessen, was dich belastet. Ist das in Ordnung für dich?“, fragt er mit seiner warmen Stimme.
Eingelullt nuschele ich „Ja“.
„Also Eve, hör mir gut zu. Du wirst vergessen, dass du Jason gestern Abend gesehen hast. Du wirst vergessen, dass du mit ihm getanzt hast, dass ihr euch geküsst habt und dann rausgegangen seid. Du wirst vergessen, dass er dich gebissen hat. Du wirst vergessen, dass es Vampire gibt. Wir bringen dich zurück nach Hause und danach wirst du dich nicht mehr daran erinnern können, dass du jemals mit uns in Florida warst.“
Meine Augen sind geschlossen, meine Stirn liegt in Falten. In meinem Kopf dreht sich alles, Bilder tauchen auf und verschwinden wieder. Steves Hand scheint an meiner Wange zu kleben.
Aber was redet er da überhaupt? Dass ich Jason geküsst habe? Was für ein Schwachsinn, das stimmt doch gar nicht! Oder doch?
Und was hat er danach gesagt? Er hätte mich gebissen? Vampire
?!
Ich reiße meine Augen auf und starre Steve an. „Was zum Teufel ist hier los, gehört ihr zu irgendeiner Sekte?“ Meine Stimme schwillt an. „Habt ihr mich entführt, damit ihr eure kranken Rituale mit mir machen könnt? Von wegen Vampirismus und so?! Man sieht es euch echt nicht an, aber ihr seid ja richtig krank!“
Empört stehe ich auf, die beiden sind völlig perplex und bewegen sich nicht. Schnurstracks laufe ich auf die Tür zu, doch kurz bevor ich sie erreicht habe, steht Jason vor mir. Wie ging das denn jetzt so schnell?
„Du bleibst hier.“ Seine Stimme klingt dabei nicht gerade wirklich nett. Ich zucke zusammen und bleibe stehen. Meine Chancen, an diesem Riesen vorbeizukommen, sind relativ gering. Zum ersten Mal wird mir bewusst, wie durchtrainiert er eigentlich ist. Das dunkelblaue Shirt mit V-Ausschnitt betont seine Muskeln perfekt.
Schnell schaue ich wieder hoch und werde rot, weil er mich immer noch anschaut und deshalb meinen schmachtenden Blick mitbekommen hat. Gott, wie peinlich. Mein Entführer soll auf keinen Fall denken, dass ich auf ihn stehe. Das wäre ja noch schöner!
Er packt mich bei den Schultern und dirigiert mich wieder aufs Bett.
„Du bleibst hier“, wiederholt er und verlässt dann mit Steve den Raum. Die Tür wird von außen abgeschlossen. Auf dem Flur kann ich sie heftig diskutieren hören, auch wenn ich sie nicht verstehe.
Ich will meine Chance nutzen und gehe zum Fenster. Als ich es jedoch vorsichtig aufmache und hinaus schaue, blicke ich in gähnende Leere. Das sind mindestens fünf Meter freier Fall. Eigentlich möchte ich nicht so sterben.
Aber wahrscheinlich ist das immer noch besser, als von irgendwelchen Psychopathen, die sich für Vampire halten, ausgesaugt zu werden. Oder?
Ich überlege hin und her. Wenn ich springe, besteht wenigstens noch die Chance, dass ich mir nur was breche. Ich könnte überleben. Ich stehe schon fast auf dem Fensterbrett, da dreht sich der Schlüssel im Schloss wieder um. Mist! Mit einem Satz lande ich wieder auf meinen Füßen und schließe das Fenster. Die beiden scheinen nichts gemerkt zu haben und kommen herein. Naja, eigentlich kommt nur Steve rein. Jason steht im Türrahmen und schaut mich böse an. Was hab ich ihm eigentlich getan? Er hat mich doch schließlich entführt?!
„Okay, Eve. Wir müssen uns unterhalten. Es gibt ein Problem“, sagt Steve und stellt sich gegenüber hin. Ich stehe mit dem Rücken immer noch zum Fenster.
Verständnislos schaue ich ihn an und warte.
„Kannst du mir sagen, was du behalten hast von dem, was ich gerade gesagt habe?“
„Du meinst das, was ich vergessen sollte?“
Er nickt und ich fahre fort. „Dass ihr glaubt, dass ihr Vampire seid und er da“, ich deute mit dem Kopf auf Jason, „mich gebissen hat.“
Es tut mir wirklich leid. Über psychisch gestörte Menschen soll man ja eigentlich nicht lachen. Aber ich kann mich einfach nicht zurückhalten und fange an, zu prusten.
Steve sieht sehr genervt aus und von daher beruhige ich mich schnell wieder. Nicht, dass er mir noch was antut!
„Du kannst dich jetzt wieder an den Anfang des Abends erinnern. Was ist mit dem Rest? Wie bist du nach Hause gekommen?“
Ich schüttele den Kopf. „Weiß ich nicht.“
„Die Erinnerung wird bald wieder kommen. Wann genau, kann ich dir noch nicht sagen. Vielleicht in ein paar Tagen, vielleicht in einem Monat. Fest steht, dass du noch weißt, was ich dir gerade gesagt habe. Und das solltest du nicht mehr wissen.“
Ich verstehe nur Bahnhof. Was will der Typ eigentlich von mir?
„Deswegen bist du in großer Gefahr und kannst noch nicht zurück nach Hause.“
Meine Augen werden groß, doch mir ist noch gar nicht ganz klar, was er da sagt, als er schon weiterredet.
„Wir werden dich einweihen.“
„Aha“, sage ich skeptisch. Jetzt kommt’s. Vielleicht erfahre ich endlich, warum ich verschleppt wurde?
„Also, hier auf der Erde gibt es nicht nur Menschen. Jason und ich sind auch keine.“
Ich weiß wirklich nicht, wo ich hier gelandet bin. Warum sind solche Menschen nicht in der Psychiatrie? Die sind doch eine Gefahr für die Menschheit!
„Und was seid ihr sonst? Aliens? Komisch, ihr seid gar nicht grün“, antworte ich. Jason knurrt. Der Gute hat wohl ein kleines Aufmerksamkeitsproblem. Auch Steve scheint seine Geduld zu verlieren.
„Wir sind Vampire.“
„Das sagtest du bereits“, gebe ich trocken zurück. Naja, so genau hat er das eigentlich nicht gesagt. Nur, dass ich vergessen soll, dass es welche gibt.
Ehe ich mich versehen kann, ist Jasons Gesicht nur noch millimeterweit von meinem entfernt und er drückt mich gegen die Wand. Erschrocken keuche ich auf.
Seine Augen blitzen und er sieht wirklich sauer aus. Wie ist er so schnell zu mir gekommen…?
Mit einer vor Wut bebenden Stimme sagt er: „bist du eigentlich lebensmüde, Mädchen? Wir können dich auch gleich töten!“
Uups. Meint er das ernst? Mein Gott, ist der gereizt. Hat wohl zu wenig Sex?! Ich schlucke und halte die Luft an.
„Jason, so machst du’s bestimmt nicht besser.“
Doch er scheint das nicht so zu sehen. Ich muss aber auch sagen, dass sein Weg deutlich effektiver ist.
Er schaut mich nämlich weiterhin so furchteinflößend an und öffnet dabei leicht seinen Mund.
Oh mein Gott!
Alter, da sind Fangzähne drin!! Meine Augen weiten sich. Als ich ihm jetzt wieder in die Augen schaue, sind die auch viel dunkler geworden.
Ein gellender Schrei bahnt sich seinen Weg durch meine Kehle, doch er kommt nicht wirklich heraus, denn Jason hält seine Hand vor meinen Mund. Die Zähne verschwinden wieder und die Pupillen nehmen ihren normalen Farbton an. Dann entfernt er sich einen kleinen Schritt von mir, doch seine Hand bleibt weiterhin auf meinem Mund, während er mich mit hochgezogenen Augenbrauen anschaut.
Ich stehe vollkommen unter Adrenalin, anders kann ich mir meine Reaktion nicht erklären. Ich nehme seine Hand aus meinem Gesicht, trete auf ihn zu und gebe ihm eine Backpfeife, die so laut klatscht, dass sogar Steve zusammen zuckt. Jason schaut mich völlig überrascht an.
„Habt ihr beiden euch jetzt vielleicht wieder eingekriegt, damit wir endlich mal zum Punkt kommen können?“ Steve grinst mich an. Ich setze mich wieder aufs Bett und in dem Moment scheint mein Adrenalinpegel wieder zu sinken.
Die beiden hier mit mir im Raum sind anscheinend echte Vampire. Es gibt Vampire wirklich auf unserer Welt! Die entspringen doch nicht der Fantasie von Bram Stoker! Ein Schauer läuft meinen Rücken herunter, als ich mich daran erinnere, dass Steve mir gesagt hat, dass ich vergessen soll, dass Jason mich gebissen hat. Reflexartig fahre ich mit meiner Hand an den Hals. Ob er mich überhaupt dort gebissen hat? Wieso kann ich mich daran nicht mehr erinnern?
Steve scheint zu wissen, dass mir gerade hundert Fragen durch den Kopf rennen.
„Ich entschuldige mich wirklich für sein Verhalten, er ist manchmal ein bisschen ungeduldig“, sagt er und grinst immer noch. Jason hat sich inzwischen zu uns gedreht und schaut wieder böse.
„Immerhin glaubst du uns jetzt. Wir sind Vampire. Aber du brauchst keine Angst haben, wir tun dir nichts. Das dürfen wir gar nicht. Jeder Vampir ist nämlich gechipt.“ Er hält mir seinen Arm hin, auf dem eine winzige Narbe zu erkennen ist. „Die Regierung kann so kontrollieren, wo ich mich aufhalte. Wenn ich einen Menschen beißen würde, löst das sofort einen Alarm aus. Der betreffende Vampir wird dann natürlich bestraft, denn es ist uns strikt verboten, das zu tun. Wir ernähren uns hauptsächlich von Blutkonserven und manche auch von Tieren. Ein Vampir, der einen Menschen beißt, löscht danach sein Gedächtnis. Das Problem ist, dass diese Löschung nur vorläufig ist, denn nur speziell ausgebildete Vampire von der Regierung haben die Macht, die Erinnerung vollständig zu nehmen, oder zu verändern. Im Normalfall werden Opfer sowie Täter von der Regierung des entsprechenden Staates aufgespürt. Welche Strafe der Vampir bekommt, hängt von den Umständen ab. Jason, möchtest du vielleicht weitermachen?“ Mit einem bedeutungsschweren Blick schaut Steve ihn an und beendet damit seinen Vortrag.
Widerwillig fängt Jason an zu reden. „An dem Abend, an dem du mit deiner Schwester feiern warst, war ich auch in dem Club. An den Rest kannst du dich jetzt nicht mehr erinnern, weil ich dein Gedächtnis gelöscht habe. Es war… ein ziemlich ereignisreicher Tag und ich war betrunken. Deswegen habe ich dich nach draußen gelockt und dich gebissen.“
Im Prinzip weiß ich das ja schon, aber es nochmal aus seinem Mund zu hören jagt mir den nächsten Schauer über den Rücken. Schlagartig stelle ich mir vor, wie wir auf dem Parkplatz stehen und seine Zähne länger werden und seine Augen diesen dunklen Ton annehmen…
Ich schüttele den Kopf, um die Bilder loszuwerden.
„Steve ist mein Bruder und arbeitet für die Regierung in Florida. Er kann deswegen dein Gedächtnis komplett löschen.“
„Warum erzählt ihr mir das alles? Warum nimmt er mir nicht einfach meine Erinnerung und dann kann ich nach Hause gehen und werde nie wieder einem Vampir über den Weg laufen!“, rufe ich. Ich werde davon doch wohl einen bleibenden psychischen Schaden erleiden!
„Ja, das ist das Problem… ich hab es versucht, aber es hat nicht funktioniert“, sagt Steve.
„Wie, es hat nicht funktioniert?! Dann mach’s halt noch Mal?“ Meine Stimme wird immer lauter. Bestimmt stehe ich kurz vorm Nervenzusammenbruch.
„Das werde ich auch auf jeden Fall versuchen, nur ich kann dir nicht versprechen, dass es auch klappt. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber du scheinst für meine Fähigkeiten nicht empfänglich zu sein…“
„Vielleicht hast du es einfach verlernt
?!“
Jason lacht kurz auf. „Er ist der Beste in ganz Florida, darauf kannst du vertrauen.“
Ich sacke in mich zusammen. „Und was passiert jetzt mit mir?“
„Du kannst noch nicht wieder nach Hause. Erst, wenn du dich nicht mehr erinnern kannst.“
„Und wie wollen wir das schaffen, wenn ich anscheinend so ein Superhirn habe?“
„Wir wissen es noch nicht. Aber wir werden einen Weg finden. Bis dahin wirst du uns wohl ertragen müssen, wenn du nicht sterben willst.“
„Wieso sterben? Eure Regierung bringt mich doch wohl nicht um, oder?“
„Die Regierung nicht, nein. Sie würden höchstens Experimente mit dir machen, weil dein Gedächtnis nicht verändert werden kann. Mit den Gesetzen in South Dakota kenne ich mich auch nicht so gut aus. Aber dort gibt es eine Gruppe von Vampiren, mit denen wir sozusagen… eine Blutsfehde haben. Ich denke, dass sie bereits wissen, dass Jason dort war. Dass er dich auch noch in ihrem Revier gebissen hat, macht es wirklich nicht besser. Es könnte gut sein, dass sie dich umbringen würden.“
„Ist meine Familie dann nicht auch in Gefahr?“, frage ich erschrocken.
„Keine Sorge, Jason hat dafür gesorgt, dass deine Familie denkt, dass du mit der Schule verreist bist. Sie können ihnen also nicht weiterhelfen und dann werden sie ihre Zeit auch nicht an ihnen verschwenden.“
So ganz beruhigt mich das nicht. „Und meine Freunde? Die Schule?“
„Alles geregelt“, sagt Jason.
„Pass auf, Eve. Wir waren nicht darauf vorbereitet, dass du bleibst. Da Jason das größere Bett hat, schlage ich vor, du schläfst bei ihm.“
Jason schaut seinen Bruder entgeistert an, aber bevor er irgendwas sagen kann, werfe ich ein: „Das kommt gar nicht in Frage. Ich werde auf dem Sofa schlafen!“
„Süße, so leid es mir tut, aber die Couch war mir ein bisschen zu teuer, dass du jetzt draufsabberst.“ Er zwinkert mir zu. Vorbei ist es anscheinend mit Steves Einfühlsamkeit. Nach der Begrüßung vorhin hatte ich mich auch schon gewundert. Wütend sehe ich ihn an.
Nach einiger Zeit, die ich verunsichert im Flur herumstehend verbringe, hörte ich ein gerufenes: „Wir sind jetzt kurz weg, bis später!“ aus dem Wohnzimmer und dann fällt die Tür geräuschvoll ins Schloss.
Bin ich jetzt alleine?
Vorsichtig sehe ich um die Ecke. Das große Wohnzimmer ist leer. Ich gehe mitten hinein und bewundere die Aussicht aus der verfkasten Fensterfront. Ich wusste gar nicht, dass wir so hoch sind! Man hat einen wunderbaren Ausblick auf die Stadt, auch wenn ich nicht weiß, auf welche.
Die riesige graue Sofalandschaft passt genauso gut ins Bild, wie der weiße Flokatiteppich und der Kamin, der allerdings nicht brennt.
Neugierig gehe ich weiter. Hinter dem Wohnzimmer ist eine Küche, die gar nicht mal so klein ist. Ob wohl einer der beiden kochen kann? Jason bestimmt nicht. Müssen Vampire überhaupt essen?
Ein Durchgang führt aus der Küche auf einen Flur, von dem vier Zimmer abgehen. Die wollen mir doch nicht ernsthaft erzählen, dass ich in Jasons Bett schlafen muss?! Platz genug ist hier doch.
Gespannt öffne ich die erste Tür. Dahinter sind bloß ein riesiges Bücherregal und ein Schreibtisch. Das nächste Zimmer scheint eine Art Vorratskammer zu sein. Was in der großen Gefriertruhe ist, will ich gar nicht erst wissen. Schließlich sind die beiden immer noch Vampire.
Dann folgt ein Schlafzimmer. Das muss das von Jason sein.
Das Zimmer ist eigentlich ganz schön. Es hat einen kleinen Außenbalkon, einen an der Wand hängenden Fernseher und einen weißen Kleiderschrank. Doch dann fällt mein Blick auf das Bett.
Es ist zwar nicht winzig klein, aber groß ist es auch nicht. Minimal größer, als ein Single-Bett. Vielleicht 1 Meter breit.
Ich stöhne entnervt. Vielleicht schlafe ich besser auf dem Boden.
Zehn Minuten tigere ich noch durch die Wohnung, finde zwei Badezimmer (die nicht weniger gigantisch sind, als der Rest – mal abgesehen von Jasons Bett) und einen Haushaltsraum. Es gibt tatsächlich kein drittes Bett. Dafür aber auch kein Verließ und keine Särge, das erleichtert mich schon ein wenig.
Dann wird mir irgendwann langweilig. Ich weiß nicht, wo die beiden sind und wie lange sie wegbleiben.
Also versuche ich, den überdimensionalen Flachbildfernseher im Wohnzimmer anzumachen, aber ich habe keine Ahnung, wie das geht. Viel zu sehr High-Tech. Also versuche ich mich an der Stereo-Anlage.
„Was möchten Sie hören?“, fragt mich unvermittelt eine mechanische, weibliche Stimme. Erschrocken fahre ich zusammen, als die Stimme schon fortfährt: „Katy Perry, Lady Gaga, Justin Bieber…“
„Hast du nicht auch was Vernünftiges? Diese Scheiße hört sich doch keiner an“, entgegne ich und hatte eigentlich nicht wirklich mit einer Antwort gerechnet.
„Welches Genre möchten Sie hören? Rock, Pop, Techno / House, Charts, Club, Hip Hop…“
„Charts, Club und Hip Hop“, sage ich, weil ich mich nicht entscheiden kann.
Schon tönt es aus den Lautsprechern: „One day Baby we’ll be old…“ Und was das für Boxen sind! Dieser Bass!
Ich lasse mich auf das Sofa plumpsen und es ist wunderbar weich und federnd.
Auf dem Couchtisch steht ein Tablett mit ein paar Gläsern und diesen stylischen altmodischen Glaskaraffen für Alkohol, in denen sich eine goldgebe Flüssigkeit befindet.
Warum nicht?, frage ich mich und greife mir kurzerhand ein Glas. Sogar Eiswürfel gibt es in einer selbstkühlenden silbernen Dose. Ist vielleicht doch gar nicht so schlecht hier.
Eine halbe Stunde später tanze ich wild durchs Wohnzimmer. Die Anlage spielt inzwischen „Let’s go“ von Calvin Harris und Ne-Yo und die erste der beiden Flaschen ist leer.
Na kommt schon, die war ja auch nur halb voll!
Ich bin so vertieft ins Tanzen, dass ich gar nicht gemerkt habe, wie die Tür aufgegangen ist. Als ich aufsehe, stehen Steve und Jason mit einem breiten Grinsen vor mir.
„Hey, schau mal, wir haben dir was mitgebracht“, ruft Steve über die Musik hinweg. Jason dreht sie leiser.
Aufgeregt schaue ich auf die Tüten in Steves Händen und nehme sie ihm ab.
On der ersten Tüte… Dessous. Massenweise. Nichts, als aufreizende Spitzenwäsche in allen erdenklichen Farben.
Belustigt halte ich ein besonders fragwürdiges Teil mit Leo-Muster hoch und schaue Steve lachend ins Gesicht.
„Ernsthaft? Das soll ich anziehen?“ Ich pruste los. Hui, es dreht sich irgendwie alles. Ich wühle weiter in der Tüte und finde passende BHs. Nach einem Blick auf die Größe wundere ich mich aber schon.
„Sagt mal ihr zwei… Woher kennt ihr meine BH-Größe?“
„Hat Jason nachgeguckt, als du bewusstlos warst“, sagt Steve grinsend.
Ich kann nicht glauben, was ich da höre. Ungläubig und empört sehe ich zu Jason, der meinen Blick erwidert, ohne eine Miene zu verziehen.
Na warte, das zahle ich dir noch heim, Freundchen!
In der zweiten Tüte finde ich normale Tshirts (wenn sie auch teilweise einen relativ großen Ausschnitt haben…) und in der dritten sogar ein Kleid. Das ist richtig schön! Es ist weiß und geht in ein blasses Lila über.
Sie haben mir auch alltägliche Dinge mitgebracht, wie Zahnbürste, Shampoo und Tiefkühlpizza.
Ich stehe auf und torkele zu den beiden Jungs rüber. Okay, vielleicht war die Flasche doch zu dreivierteln voll.
Die beiden wechseln einen bedeutungsschwangeren Blick, als ich beiden abwechselnd um den Arm falle.
„Ihr seid wirklich tolle Entführer“, lalle ich.
„Bist du betrunken?“, fragt mich der schweigsame Jason.
„Neeeeee!“, antworte ich, grinse, und fahre mit meinem Zeigefinger von seinem Schlüsselbein seinen V-Ausschnitt entlang.
„Na toll“, murmelt er und nimmt meinen Finger weg. „Die können wir schlecht heute Abend alleine hierlassen, die nimmt uns doch die ganze Bude auseinander!“
Steve nickt und denkt nach. „Weißt du was, die ist eh schon so breit, wir nehmen sie einfach mit!“
Entgeistert sieht Jason seinen Bruder an. Die beiden sind wirklich lustig zu beobachten. Aber Jason ist viel zu verklemmt.
Auf einmal sieht Steve mich an und kichert.
„Was hast du denn?“, fragen Jason und ich wie aus einem Mund.
„Sie hat gerade gedacht, dass du verklemmt bist“, antwortete er ihm prustend.
„Hey, bleib aus meinem Kopf raus!“, schnauze ich.
„Sorry Süße, aber du bist betrunken. Du bombardierst mich praktisch mit deinen Gedanken“, sagt er und zwinkert.
„Also mach dich mal fertig. Wir gehen feiern. In einer Stunde fahren wir los. Du kannst das Badezimmer neben Jasons Schlafzimmer benutzen, Handtücher sind im Schrank.“
„In einer Stunde?“, hickse ich. Wie soll ich das denn schaffen? Aber gut, ich nehme die Herausforderung an, greife mir irgendeine Tüte und sprinte ins Bad.
Die heiße Dusche tut gut, aber der Alkohol scheint nicht nachzulassen, sondern sich eher noch zu verschlimmern. Mir ist schwindelig und meine Gedanken sind irgendwie ziemlich lustig. Habt ihr schon mal daran gedacht, dass Obama im Weißen Haus lebt? Obwohl er schwarz ist? Hihi.
Als ich aus der Dusche aussteige und mir ein Handtuch umwickele, rutsche ich fast aus.
Bei dem Blick in die Tüte fällt mir auf, dass ich mir bei dem Sprint ins Bad nur eine mitgenommen habe. Und das war definitiv die Falsche.
Mit Tiefkühlpizza kann ich jetzt leider nichts anfangen. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als ein paar von den schwarzen Dessous anzuziehen, die noch in der Tüte liegen. Ich hoffe einfach, dass mich auf meinem Weg ins Wohnzimmer niemand sieht.
Mhh klar, wäre ja auch zu schön gewesen. Kaum komme ich aus der Badezimmertür, pralle ich mit jeamden zusammen.
„Kannst du nicht aufpassen“, faucht Jason mich an, doch dann wirft er einen Blick auf mich. „Oh“, macht er. Dann fängt er an zu grinsen. „Wir gehen auf eine ganz normale Party, da musst du dir wohl noch ein bisschen mehr anziehen.“
Im ersten Moment will ich mich wehren, doch dann überlege ich es mir anders. Was Alkohol so alles mit einem anstellt…
Ich trete noch einen Schritt auf ihn zu, obwohl wir uns sowieso schon ganz nah sind.
„Eigentlich wollte ich zu dir kommen und dich fragen, wie du es findest“, hauche ich ihm ins Ohr. Dann trete ich wieder einen Schritt zurück, drehe mich um mich selbst und schaue ihn fragend an.
Er hat ganz große Augen bekommen und schluckt.
„Mh okay, wenn du nichts dazu sagen willst, frage ich halt Steve“, sage ich nach kurzer Zeit und laufe vor ihm davon in Richtung Wohnzimmer. Innerlich lache ich mir ins Fäustchen.
Steve begegne ich nicht, deshalb kann ich ungestört das neue Kleid anziehen. Es passt sogar richtig gut und betont meine Figur.
Dann laufe ich zurück ins Bad und schminke mich ein bisschen. Der Eyliner-Strich gelingt mir sogar trotz anhaltendem Schwindel.
Nach einiger Zeit stehe ich fertig im Wohnzimmer und trinke heimlich noch einen Schluck. Dann holen Jason und Steve mich ab und wir verlassen die Wohnung. Ich wundere mich wieder, als wir durch die komische Bruchbude im Erdgeschoss laufen.
Vor der Tür steht ein richtig nices schwarzes Auto vor der Tür, das Steve mit einem elektrischen Schlüssel aufschließt. Dann hält er mir, ganz Gentleman, die hintere Wagentür auf.
„Wohin fahren wir eigentlich?“, frage ich, als alle sitzen. Steve fährt.
„Wir wollen ins Queens.“, antwortet Jason.
„Ins Queens
?“, frage ich mit offenem Mund. Von dem Club habe ich schon ein paar Mal gehört, er ist überregional bekannt.
„Aber das ist doch ein Stripclub“, füge ich hinzu. Was soll ich denn da?
„Naja, es gibt ja auch normale Dancefloors. Du musst den hübschen Frauen ja nicht zugucken“, meint Steve und grinst mich an.
Mhh, ist klar. Wieso gehen die beiden überhaupt in solche Läden? Die können sich doch sicherlich auch ihre eigenen Stripperinnen ganz leicht besorgen.
„Weil die Cocktails dort am besten sind“, sagt Steve, der schon wieder meine Gedanken gelesen hat. Arsch, denke ich extra für ihn ganz laut.
Nach einiger Zeit, in der wir im Auto laut Musik gehört haben, kommen wir vor dem Laden an. Unser Auto wird von einem Pagen weggefahren, das hier ist schließlich ein richtiger Edelladen. Gut, dass die Jungs mir dieses Kleid mitgebracht haben.
Einer der beiden Türsteher scheint Steve zu erkennen und winkt uns an der Schlange vorbei. VIP, oder was? Die Leute, die anstehen und warten, protestieren zwar, aber wir gehen einfach vorbei. Von innen dröhnt uns schon ein langsamer Bass entgegen und alles ist in gedämpftes Rotlicht getaucht. Es sieht aber auf gar keinen Fall aus, wie in einem Puff oder einer normalen Tabledancebar. Mehr wie in einem richtig edlen Club. Die Bar ist riesengroß und die einzelnen Getränke werden von hinten blau angeleuchtet. Der Boden davor leuchtet weiß und auch die rechteckig angelegte Tanzfläche leuchtet von unten. Das wirft ein besonderes Licht auf die spärlich bekleideten Tänzerinnen auf den Podesten. An der Stange räkeln sie sich und ich finde es echt beeindruckend, wie gelenkig sie alle sind. Es sind mindestens zehn.
„So, jetzt brauche ich erst Mal einen ordentlichen Drink. Wenn du willst kannst du auch einen haben, Eve, der geht auf mich“, sagt Steve grinsend und legt seine Hand auf meinen Rücken, um mich zur Bar zu führen.
Ich bestelle einen Sex on the Beach, während Steve und Jason Whiskey auf Eis trinken.
„Sag mal, wieso trinkst du überhaupt, wenn du nachher noch Auto fahren musst?“, will ich von Steve wissen.
„Ach Schätzchen. Wir sind Vampire. Das bisschen Alkohol vertragen wir besser als du.“
Oh ja stimmt, da war ja was. Ich hänge ja neuerdings mit Vampiren ab. Ehrlich gesagt benehmen sie sich so normal, dass ich das kurzzeitig schon wieder vergessen hatte. Ob hier wohl noch mehr von der Sorte sind?, geht es mir durch den Kopf, doch bevor ich fragen kann, kommen zwei Frauen auf uns zu.
Die beiden Männer zu meinen Seiten heben ihre Gläser zur Begrüßung. Anscheinend kennen die Vier sich.
Ohne auch nur ein einfaches „Hi“ gehen die Frauen auf Steve und Jason zu und küssen sie. Oookayy… Ich verzieh mich dann mal besser. Entschlossen leere ich meinen Cocktail und schreite auf die Tanzfläche zu. Alleine tanzen ist ja sonst nicht so mein Ding, aber da brauche ich mir gar keine Sorgen zu machen. Sobald ich anfange, mich zu dem schweren Hip Hop Beat zu bewegen, werde ich schon angetanzt.
Der Kerl sieht gar nicht mal so schlecht aus, er ist größer als ich und hat ein paar Bartstoppeln. Eine Weile tanzen wir wild und es macht Spaß.
Das letzte Mal, dass ich mit jemandem getanzt habe, war mit Jason, fällt es mir siedend heiß wieder ein. Dieser Blödmann. Nur wegen ihm stecke ich jetzt in diesem Schlamassel. Kurz schiele ich zu ihm rüber. Steve ist immer noch mit seiner Blondine zugange, doch Jasons unergründlicher Blick trifft meinen. Als ich das sehe, spornt mich das an, noch ein bisschen sexier zu tanzen. Dem Kerl vor mir scheint das auch ganz gut zu gefallen, denn er kommt näher und fasst mir an den Arsch.
In dem Moment werde ich von starken Händen zurückgerissen.
„Hey“, beschwere ich mich und drehe mich um. Jason steht mit grimmigem Blick vor mir. Der Kerl, mit dem ich getanzt habe, hat auf das Drama anscheinend keinen Bock, denn er geht weg. Verständlich. Na toll, jetzt klaut Jason mir auch noch meine Möglichkeiten, Spaß zu haben.
„Was soll das?“, fordere ich mit von Alkohol schwerer Stimme zu wissen.
„Tanz nicht mit ihm“, knurrt er. „Du kennst seine Gedanken nicht.“
„Und du schon?“, frage ich belustigt.
„Steve hat sie mir erzählt“, gibt er zu und blickt kurz auf den Boden.
„Ja und, was denkt er?“
„Ach, Eve. Was Männer halt so denken, wenn sie was getrunken haben und dich so sehen“, er deutet an mir herunter.
Jetzt bin ich verwirrt. „Was meinst du denn damit? Sehe ich so schlimm aus?“
Genervt sieht Jason mich an, doch Steve kommt ihm mit einer Antwort zuvor.
„Nein, Süße. Du siehst so heiß aus.“ Grinsend zwinkert er mir zu, die Blondine hängt noch an seinem Arm.
„Ich würde vorschlagen, du bleibst jetzt bei Jason“, fügt er noch hinzu. Das handelt ihm einen genervten Blick von seinem Bruder ein, doch ihn scheint das nicht zu stören. „Du hast sie schließlich gebissen und bist jetzt für sie verantwortlich. Sie darf hier im Club nichts Dummes anstellen und vor allem nicht so viel mit Leuten reden.“
Sichtlich wütend über diese „Babysitter“-Aufgabe packt Jason mich am Ärmel und schleift mich mit sich zur Bar. Das macht mich sauer.
„Wenn ich dich so nerve, warum habt ihr mich dann überhaupt mitgenommen?“
„Gute Frage“, erwidert er und mir bleibt der Mund offen stehen.
„Weißt du was“, brülle ich, weil die Musik hier so laut ist. „Ich stelle schon nichts an. Ich werde mit niemandem reden, außer dem Barkeeper, okay? Schließlich weiß ich ja, was für mich auf dem Spiel steht. Ich bleibe einfach hier an der Bar und du gehst und amüsierst dich ein bisschen. Du scheinst ja nicht wirklich zu wissen, was Spaß ist.“
An den Barkeeper gerichtet bestelle ich: „Einen Tequila und eine Vodka-Cola, bitte!“
Ohne Jason noch einmal anzusehen, setze ich mich auf einen Barhocker.
„Machen Sie zwei draus“, sagt seine tiefe Stimme neben mir, als der Wirt mir schon mal meinen Tequila hinstellt.
Verwirrt drehe ich mich zu ihm um. „Ich mein das ernst. Ich schaff das schon alleine. Schnapp dir irgendeine hübsche Frau, und tanz mit ihr oder auf was auch immer du Lust hast.“
Nach einer kurzen Pause antwortet er. „Die hübscheste Frau aus dem ganzen Club sitzt doch schon bei mir.“
Erstaunt sehe ich ihn an, sein Blick ist unergründlich. Dann fange ich an zu lachen.
„Du kannst ja doch lustig sein, wenn du willst“, kichere ich, fühle mich aber trotzdem irgendwie geschmeichelt.
Jason geht nicht weiter darauf ein und bestellt sich anstatt dessen einen Whiskey.
„Wie bist du eigentlich Vampir geworden?“, frage ich neugierig.
Er sieht mich einen Augenblick an und weiß offenbar zunächst nicht, wie er auf diese Frage antworten soll.
„Das ist lange her“, murmelt er.
„Egal, ich will es wissen“, beharre ich. Worüber soll ich schon sonst mit ihm reden? Und es ist ja wohl klar, dass ich einige Fragen habe.
„Jemand hat mich gebissen, ganz normal.“ Er schaut auf sein Glas, während er das sagt.
Der Bass wummert und die Lichter tanzen über unseren Köpfen. Trotz der eindeutigen Offenheit dieses Ortes scheint es vertrauter zwischen uns zu werden.
Ich merke, dass er nicht näher darauf eingehen will. Vielleicht hat er Schlimmes durchgemacht. Wahrscheinlich. Sonst wäre er ja kein Vampir.
„Und du trinkst auch so richtig Blut und so?“
Er nickt und grinst. Ich bin ganz überrascht, wie schön sein Lächeln ist. Bisher habe ich es so selten gesehen.
„Wirst du auch mein Blut trinken?“, frage ich und kann ein nervöses Vibrieren in meiner Stimme nicht unterdrücken.
„Nochmal? Das wäre ja dumm. Ich stecke ja jetzt schon in einem ganz schönen Schlamassel.“
„Wieso hast du mich im Club eigentlich gebissen, wenn du das doch gar nicht darfst?“
Wieder macht er eine Pause, bevor er antwortet. Es scheint, als ob er sich erst darüber klar werden muss, welche Worte er wählt, oder wie viel er mir wirklich erzählen will.
„Ich hatte wirklich viel getrunken und befand mich an dem Abend in einer Verfassung, die ihr Menschen als emotional instabil bezeichnet. Und dann habe ich dich gesehen… Du hast mich sofort fasziniert, das muss ich wirklich zugeben. Als wir auch noch getanzt haben, konnte ich mich einfach nicht mehr beherrschen. Ich habe dich auf den Parkplatz geschleppt und konnte mich nicht bremsen. Als mir klar geworden ist, was ich da überhaupt mache, hatte ich die größten Schuldgefühle. Aber jetzt kann ich auch nichts mehr daran ändern.“
Wow, ich bin total beeindruckt davon, wie sehr Jason sich mir gerade geöffnet hat. Er war fasziniert von mir? Mhh, wie soll ich das denn verstehen?
Wir gehen nicht weiter darauf ein, sondern kippen unsere Tequila-Shots endlich runter. Das tut gut!
Eine halbe Stunde später befinde ich mich mehr oder weniger eng an Jason gepresst mitten auf der Tanzfläche. Er hat mir noch ein bisschen von seinem Leben erzählt. Anscheinend hatte er es nicht immer einfach, aber so viel hat er mir nicht verraten. Das ist nur das, was ich herausgehört habe.
Der Vorschlag, zu tanzen, kam von mir.
Und jetzt sind wir uns so nahe, wie zuletzt, als er mich über seiner Schulter getragen hat.
Bei mir dreht sich immer noch alles. Naja, ich habe ja auch nichts unternommen, um dem entgegenzuwirken. Auf meinem Gesicht befindet sich ein fettes Grinsen, das ich irgendwie nicht mehr abstellen kann.
Man muss es doch mal von der positiven Seite sehen! Ich habe jetzt mindestens eine Woche lang keine Schule, habe die Chance mal was anderes zu sehen und die beiden Typen, die mich festhalten sind weder böse noch hässlich. Okay, sie sind Vampire. Was genau das für mich heißt habe ich noch nicht herausgefunden. Ich weiß nicht, ob sie mir wehtun werden oder gefährlich für mich sein können. Und ob sie Menschen töten, darüber möchte ich im Moment lieber nicht nachdenken. Aber alles in allem ist meine Situation gar nicht mal so schlecht.
Ich bin erstaunt, wie gut ich auf den hohen Schuhen tanzen kann, die ich anhatte, als Jason mich entführte. Doch dann schubst mich jemand von hinten an und ich falle erschrocken nach vorne.
Jason fängt mich im letzten Moment auf. Ich lehne an seiner Brust und seine Hände sind gefährlich nahe an meinem Hintern. Einen kurzen Augenblick sehe ich ihm in die Augen und kann seinen Blick nicht deuten. Aber egal, jetzt bekomme ich Lust auf mehr. Also grinse ich ihn frech an und lasse meine Hüften kreisen.
Obwohl wir schon seit einer Weile tanzen, scheint er überrascht zu sein. Als er nicht reagiert, lege ich meine Hände auf seine Brust und bewege mich sexy zum Takt der Musik.
Er scheint erst überlegen zu müssen, doch dann steigt er auf mich ein.
Na schau einmal einer an, der stille Macho scheint sich auf mich einzulassen!
Siegessicher nähere ich mich ihm noch ein bisschen, sodass nicht mehr viel Platz zwischen uns ist und sich unsere Körper aneinander reiben.
„Die Alte ist verrückt! Die hat mir eine gescheuert! Lasst uns schnell abhauen, bevor ich sie auf der Toilette versehentlich aussauge!“, platzt auf einmal Steve in unsere Annäherung herein. Mit genervtem Blick sehe ich ihn an und würde lieber noch etwas bleiben, doch Jason nimmt die Sache ernst.
Oder er hat einfach keine Lust mehr, mit mir zu tanzen, wer weiß.
Jedenfalls verlassen wir den Club auf dem kürzesten Weg, kommen allerdings nicht darum herum, dass meine beiden Machos unterwegs noch von unzähligen Frauen Handynummern zugesteckt bekommen.
Es dauert eine Weile, bis wir endlich an der frischen Luft sind. Steve zündet sich eine Zigarette an und bietet mir auch eine an, doch ich lehne ab.
„Können wir bitte fahren? Langsam werde ich müde“, meckere ich und bin erstaunt, als Steve meiner Bitte sogar nachkommt und die Kippe nach einigen Zügen wieder ausdrückt.
Ich muss wieder hinten sitzen und lasse den Blick aus dem Fenster schweifen. Im Gegensatz zu vorhin im Club läuft jetzt ruhige Gitarrenmusik von James Vincent McMorrow. Natürlich nur Radio, die beiden Vampire würden sowas von allein wahrscheinlich nicht freiwillig hören.
Als wir in der Wohnung ankommen, merke ich erst, wie müde ich bin. Ich habe schon lange nichts mehr getrunken, daran wird es liegen. Davon werde ich immer müde. Das heißt allerdings nicht, dass mir nicht mehr schwindelig ist.
„Gute Nacht“, murmele ich, nachdem ich mir meine High Heels abgestreift habe. Ohne eine Reaktion abzuwarten gehe ich in das Zimmer, das sich vorher als Jasons Schlafzimmer herausgestellt hat. Soll er doch auf dem Sofa schlafen. Mir egal.
Ich bin so fertig, dass ich mich nicht mehr abschminke. Ich weiß nicht, ob die beiden mir Schlafsachen gekauft haben und es ist mir auch zu anstrengend, jetzt noch mal rauszugehen und nachzufragen. Wozu gibt es schließlich eine Decke.
Also schäle ich mich aus meinem Kleid und lasse es achtlos auf dem Boden liegen. In den Dessous, die ich immer noch trage, lege ich mich ins Bett und kuschele mich in das ultraweiche Kissen. Schlafen Vampire überhaupt?
, schießt es mir durch den Kopf.
Etwas später - ich kann nicht sagen, wie viel Zeit vergangen ist, denn ich befinde mich schon im Halbschlaf – senkt sich die Matratze und Jason legt sich zu mir.
Naja, was heißt zu mir. Er legt sich so weit weg von mir, wie möglich.
Mh, was soll das denn? Stinke ich? Oder ist es ihm unangenehm, wie wir getanzt haben?
Frustriert lege ich mich auch weg von ihm und schlafe irgendwann ein.
Am nächsten Morgen wache ich leicht verkatert auf. Es ist dunkel und für einen Moment weiß ich nicht, wo ich bin. Bis ich die tiefen Atemzüge neben mir und den beschützenden, muskulösen Arm, der um mich gelegt ist, Jason zuordnen kann.
Momentchen mal, wieso ist er mir so nahe? Und was ist das überhaupt Hartes an meinem Hintern?? Er hat doch wohl nicht… Panisch versuche ich seinem Klammergriff zu erntkommen. Ich ziehe und zerre, aber er hat Muskeln aus Stahl.
Schließlich atmet er lange und laut ein und zieht mich mit seinem Arm noch näher an sich heran.
Dadurch kann ich seinen… naja, ihr wisst schon… Freund noch deutlicher spüren. Wie groß er wohl ist? Und ob Jason wohl gut im Bett ist?
Ich verbanne diese Gedanken ganz schnell aus meinem Kopf, da wird Jason anscheinend wach.
„Guten Morgen, Prinzessin. Wie geht’s dir?“, fragt er mit noch vom Schlafen heiserer Stimme.
Ich bin erstmal skeptisch, dass der sonst so eiskalte Vampir tatsächlich an meinem Wohlbefinden interessiert sein soll, bevor ich schlagfertig fauchen kann: „Mir würde es sehr viel besser gehen, wenn du deine Zärtlichkeitsausbrüche an anderen Leuten auslassen würdest und mindestens ein Meter Abstand zwischen uns wäre!“ Ich bin ja wirklich nicht immer so garstig… Aber dieses Rumgekuschele! Um Himmels Willen!
Doch Jason lacht nur und zieht mich noch näher an sich heran. Ich strampele wütend mit den Beinen und versuche ihn zu hauen, doch es gelingt mir nicht. Also gebe ich auf und sage aufgebracht: „Du musst ja schon lange nicht mehr geliebt worden sein, wenn du sofort die Erstbeste nimmst und davon auch noch scharf wirst.“
Offensichtlich trifft ihn das, denn er befreit mich – endlich – aus seinen Armen und murmelt: „Das ist morgens halt so. Brauchst dir gar nichts einzubilden.“
Dann steht er auf und verlässt das Zimmer. Die Tür bleibt einen Spalt offen, so dass der Raum ein wenig erhellt wird und ich meine Orientierung wiederfinde.
Als ich mich auf den Bettrand setze, meldet sich der Kopfschmerz. Ich habe gestern wohl wirklich viel getrunken…
Auf dem Stuhl am Fenster sind einige der Klamotten ausgebreitet, die Jason und sein Bruder für mich gekauft haben. Wahllos ziehe ich ein altrosafarbenes Shirt mit V-Ausschnitt und einen Jeansrock aus dem Haufen. Dann wanke ich auf den Flur.
Mein erster Weg führt mich ins Bad, wo ich ausgiebig dusche und mich so weit herrichte, dass ich nicht aussehe wie ein Zombie. Haben die wohl auch Aspirin hier? Ich durchforste die Schränke, werde aber nicht fündig. Nicht eine einzige Tablette.
Also laufe ich in die Küche, wo es lecker nach Frühstück riecht. Steve steht am Herd mit einer dieser albernen Schürzen auf denen eine nackte Frau abgebildet ist. Er macht Omelettes und Pancakes. Massenweise.
„Wer soll das alles essen?“, frage ich erstaunt.
„Du“, antwortet er stolz.
Ich kann nicht anders, als ihm einen Vogel zu zeigen. „Und wie viele Monate habe ich dazu Zeit?“
Steve weiß offenbar nicht ganz genau, ob ich einen Spaß mit ihm mache oder nicht, also schiebt er mir auffordernd einen Teller zu.
Gespannt probiere ich einen Bissen… Mhh, das ist echt lecker! Wieso kann Steve so gut kochen, das erwartet man gar nicht von ihm!
„Habt ihr Aspirin hier?“, frage ich kauend.
Ratlos sieht er mich an.
„Gegen Kopfschmerzen?“, versuche ich ihm auf die Sprünge zu helfen. Wie kann man denn bloß nicht wissen, was Aspirin ist?
„Ach, Tabletten?“, fragt er und ich nicke bekräftigend.
„An sowas haben wir leider nicht gedacht. Unser Körper stellt unser eigenes Heilmittel her. Wenn du willst, kannst du davon auch was haben.“
„Wie meinst du das?“, frage ich vorsichtig. Immerhin ist er ein Vampir. Vielleicht will er mich verwandeln oder so.
„Nein, ich will dich nicht verwandeln“, lacht er. Aus Wut werfe ich mit meinem Messer nach ihm, das er lässig mit einer Hand auffängt und es mir zurückgibt.
„Halt dich aus meinem Kopf raus, wie oft soll ich das noch sagen!“, funkele ich ihn an.
„Tut mir leid, die Menschen, mit denen ich sonst zu tun habe, sagen genau das Gegenteil. Die wollen, dass ich ihre Erinnerung verändere. Ich muss mich wahrscheinlich erst noch daran gewöhnen. Also, wenn du einen Schluck von meinem Blut trinkst, müsste es dir schon besser gehen“, mutmaßt er.
Da knurrt jemand hinter mir so furchterregend, dass ich mich vor Schreck verschlucke und einen Hustenanfall bekomme. Trotzdem kann ich verstehen, wie Jason sagt: „Spinnst du? Du kannst ihr doch nicht dein Blut geben!“
„Wieso, eifersüchtig?“, feixt Steve, woraufhin Jason noch einen Schritt auf ihn zumacht.
„Keine Sorge“, versuche ich die Situation zu beruhigen, was mir nicht ganz gelingt, da ich immer noch ein wenig röchele und mir ein Stück Ei noch in der Kehle hängt. „Ich hatte sowieso nicht vor, irgendjemandes Blut zu trinken. Ich werde mir entweder von irgendwo eine Tablette organisieren, oder einfach warten, bis es vorrübergeht.“
Kennt ihr das? Wenn ihr sprecht, aber euch niemand beachtet? Ist irgendwie ein blödes Gefühl…
Die beiden Brüder stehen sich gegenüber und duellieren sich anscheinend gerade mit ihren Blicken, dann dreht Jason sich zu mir um und sagt mit kalter Stimme: „In zehn Minuten wollen wir los.“ Dann verlässt er die Küche ohne ein weiteres Wort.
„Wohin gehen wir denn?“, frage ich verwirrt, doch ich bekomme keine Antwort. Auch Steve verlässt den Raum. Mein Gott, was haben die denn jetzt? Schnell esse ich das Omelette auf, an dem ich gerade kaue und gehe mir dann die Zähne putzen.
Dass mir definitiv noch Schuhe fehlen merke ich, als ich erneut in die schwarzen High Heels steige, die ich trage, seit ich hier bin.
Ich werfe einen prüfenden Blick in den Spiegel, der direkt neben der Tür hängt. Meinen leichten Kater sieht man mir nicht an. Ich habe dezente Schminke aufgelegt, da ich ja nicht weiß, was die beiden mit mir vorhaben.
Ich keuche laut auf, als ich mit einem Mal Jason hinter mir im Spiegel erkennen kann. Sein Blick ist immer noch kalt.
Erschrocken fahre ich herum.
„Wieso machst du das immer?“, frage ich erbost.
„Was denn?“, will er unschuldig wissen.
„Naja, einfach auftauchen und mich erschrecken!“
„Ach, das meinst du?“, fragt er mit einem kleinen Grinsen und ist auf einmal weg.
„Haha, das ist nicht lustig.“ Suchend schaue ich mich um.
„Doch finde ich schon“, sagt eine Stimme hinter mir. Wieder drehe ich mich hektisch um meine eigene Achse und sehe ihn grinsend hinter mir stehen.
Mit strafendem Blick schaue ich ihn an, es scheint ihn aber nicht sonderlich zu beeindrucken.
„So ihr beiden Süßen, dann lasst uns mal fahren“, ruft Steve, nimmt sich seine Lederjacke vom Haken und den Autoschlüssel aus einer Schale.
Brav folge ich den beiden mit ins Auto.
Vierzig Minuten schweigsame Fahrt später halten wir in einer heruntergekommenen Gegend vor einem Haus, das so aussieht, als wäre es unbewohnt.
„Da wären wir“, sagt Steve und steigt aus.
„Wollt ihr mir jetzt vielleicht endlich mal sagen, wo wir sind?“, quengele ich.
„Ein alter Bekannter“, winkt Steve ab und läuft voraus.
Wir laufen erst durch einen schäbigen Hintergarten und betreten dann eins von diesen riesigen Häusern, in denen mindestens 20 Wohnungen in der Größe eines Abstellraums sind. Der Aufzug ist defekt und wir müssen in den 18. Stock. Offenbar laufe ich meinen beiden Entführern nicht schnell genug, denn Jason packt mich kurzerhand, wirft mich auf seinen Rücken und rennt los. Aber mit was für einem Tempo!! In weniger als zwei Sekunden sind wir ganz oben und meine Augen vor Schreck geweitet. Ist das gerade wirklich passiert? Jason grinst und ich werfe ihm einen bösen Blick zu.
Niemand hat an der dunklen Holztür geklopft, aber sie geht von alleine auf. Ein dunkelhäutiger, alter Mann steht dahinter und schaut uns drei mit einem prüfenden Blick an. Dann nimmt er Steve wahr und sein Gesicht hellt sich minimal auf.
„Kommt rein“, sagt er mit einer kratzigen Stimme.
Er führt uns durch den Flur in einen kleinen Raum, der offenbar das Wohnzimmer sein soll. Die Rollladen sind nur einen kleinen Spalt offen und überall hängen Rauchschwaden in der Luft, wahrscheinlich von Räucherstäbchen. Der esoterische Duft, der alles begleitet, beißt in meiner Nase.
Erst jetzt fällt mir auf, dass der Mann eine Art Gewand trägt. Es ist dunkelrot und mit Zeichen und Symbolen verziert.
„Setzt euch“, sagt er und deutet auf etwas, das im Zwielicht wie eine Couch aussieht. Er selbst nimmt auf einem Sessel uns gegenüber Platz.
Ein Schauer läuft mir über den Rücken, als ich den Schädel eines Tieres – Kaninchen? – an der Wand hinter ihm erkennen kann.
Wer ist dieser Mann bloß?
Als hätte er meine Gedanken gelesen, stellt er sich mir vor. „Mein Name ist Azikiwe. Ich bin Schamane, aber die beiden werden dir das sicher schon erzählt haben. Was führt euch hierher?“
Ich räuspere mich. Das wüsste ich auch gerne!
„Eve hier“, Steve deutet auf mich, „ist ein Mensch.“
Grunzend nickt der Schamane, als hätte er das sowieso schon gewusst.
„Trotzdem bin ich nicht dazu in der Lage, ihre Gedanken zu kontrollieren. Und gerade bei ihr ist das wichtig. Ihre Gedanken kann ich aber trotzdem lesen.“ Er weiß also davon.
Azikiwe scheint überrascht. Ohne ein Wort zu sagen, steht er auf und legt seine große Hand auf meinen Kopf. Dabei gibt er merkwürdige Laute von sich und ich spüre ein Kribbeln, das durch meinen ganzen Körper fährt.
„Wer ist deine Mutter?“, fragt er unvermittelt und lässt seine Hand sinken.
„Anne Madsen, wieso fragen Sie das?“, will ich wissen. Was hat das denn jetzt mit meiner Mutter zu tun?
Der Schamane winkt ab und geht auf ein Regal an der Rückwand zu. Ich beobachte, wie er verschiedene Kräuter und getrocknete Blätter aus Behältern nimmt und alle in einen Mörser gibt.
„Es kommt nicht oft vor, dass eine Sterbliche sich den Kräften eines Übernatürlichen Wesens widersetzen kann. Auch ich brauche meine Zeit, um in deinen Kopf zu kommen. Ich gebe dir Tropfen mit, von denen du jeden Tag fünf nehmen musst. In sechs Tagen müsst ihr mich erneut aufsuchen.“
Geschäftig träufelt der dunkelhäutige Mann einige Tropfen Wasser auf das Kräutergemisch und gibt sie letztendlich in eine Vorrichtung mit kochendem Wasser. In einem Röhrchen wird das Destillat aufgefangen. Bei diesem Anblick muss ich an die Herstellung von Alkohol denken und an meinen Kater.
„Haben Sie vielleicht etwas gegen Kopfschmerzen da?“, frage ich den Schamanen vorsichtig. Wissend lächelt er mich an. In dem Regal hinter dir ist ein blaues Pulver. Löse es in Wasser auf. Eine Prise sollte genügen.“
Dankend lächele ich ihn an und stehe auf. Tatsächlich stehen in dem Regal eine Menge Pulver und in dem Zwielicht kann ich die Farben nicht so genau erkennen. Blöde Nachtblindheit! Aber das wird schon. Zunächst schütte ich mir ein Glas Wasser ein, das auf einem Tablett bereit steht. Ich beuge mich etwas herunter und kneife die Augen zusammen. Das ganz links ist definitiv rot, eines ist weiß und ein anderes grün. Zwischen zwei kann ich mich nicht entscheiden, aber nachzufragen traue ich mich auch irgendwie nicht. Also nehme ich das dunklere Pulver und öffne das Glas. Wie viel hatte er gesagt? Eine Prise? Ob das überhaupt wirkt? Zur Vorsicht nehme ich lieber zwei kleine Prisen, dann schließe ich das Glas wieder und stelle es an seinen Platz zurück. Es sprudelt und zischt, aber schließlich neutralisiert sich das Wasser wieder.
Vorsichtig nehme ich einen Schluck. Es schmeckt ganz normal, wie Wasser eben nun mal schmeckt. Zufrieden nehme ich wieder Platz auf der Couch und trinke mit großen Schlucken.
Währenddessen macht sich Azikiwe am Destillator zu schaffen. Anscheinend sind die Tropfen schon fertig.
Er verschließt das Röhrchen sorgfältig und reicht es mir. Steve und Jason stehen auf und wir gehen zur Tür. Ich bedanke und verabschiede mich, dann treten wir auf den Flur. Selbst hier oben im stickigen 18. Stock habe ich das Gefühl, frische Luft einzuatmen im Gegensatz zu den Rauchschwaden in der Wohnung. Jason packt mich wieder und es geht in Windeseile nach unten.
Da ich im Auto herumgenörgelt habe, dass ich dringend flache Schuhe brauche, weil ich sonst sterbe, hat Steve Jason und mich in einem Einkaufszentrum abgesetzt. Jason hätte sich seinen Tag sicherlich schöner vorgestellt, aber da muss er jetzt durch.
Ich steuere schnurstracks auf ein Schuhgeschäft zu und muss mich immer wieder umdrehen, weil Jason mir nur so zögerlich folgt. Sollte er nicht eigentlich auf mich aufpassen und mich notfalls sogar beschützen? Kurz entschlossen nehme ich seine Hand und schleife ihn hinter mir her. Er zuckt unter meiner Berührung zusammen, kommt aber trotzdem mit.
Rund eine Stunde später besitze ich ein Paar herkömmlicher weißer Stoffschuhe. Ja ich weiß, die anderen 23 Paar hätte ich nicht noch anprobieren müssen. Aber ich konnte einfach nicht widerstehen!
Gerade, als wir an einem pinken Sexshop vorbeikommen, trifft es mich wie ein Schlag.
Einen Moment wird mir schwindelig und ich bleibe stehen. Dann kribbelt es in meiner Magenrube und eine rauschartige Euphorie durchströmt mich.
„Komm Süßer, da müssen wir rein!“ Kurzerhand packe ich meinen überraschten Begleiter und zerre ihn durch die elektrische Schiebetür.
„Willkommen bei Pussys Paradise“, begrüßt uns die aufgetakelte Verkäuferin mit dunkler Stimme. Oder warte mal, ist das ein Verkäufer? Er hat Busen! Eine Transe??
„Wie kann ich euch helfen?“
„Ich hätte gerne ein schönes Outfit und ein Fesselseil“, sage ich bestimmt und lächele kokett Jason an, der sich nichts anmerken lässt. Er sieht starr an mir vorbei.
„Einen Moment, flötet die Verkäuferin. Als sie/er wiederkommt, strahle ich und bezahle direkt. Etwas leiser frage ich: „Sagen Sie, haben sie hier auch einen Private Room?“
Schon fast, als wäre es eine Beleidigung gewesen, sagt die Verkäuferin: „Aber natürlich, Schätzchen! Wir haben auch Filmkabinen.“
Nee danke, denke ich mir. Das innere Hochgefühl wird verstärkt durch ein begehrendes Ziehen im Unterleib, als ich zufälligerweise Jason raue Hand streife. Die Transe erklärt mir den Weg und ich ziehe den Vampir hinter mir her.
Als wir außer Hörweite sind, fragt Jason aufgebracht: „Was soll das hier? Bist du bescheuert?“
„Nein Hase, aber ich fürchte, ich habe nicht das Pulver gegen Kopfschmerzen genommen. Ich habe eher das Gefühl, es war Marihuana-Extrakt oder LSD.“ Ich kichere hysterisch.
„Ich werde nicht mit dir in so einen Raum gehen. Was willst du denn da?“
Das muss er wirklich noch fragen? Vielsagend greife ich ihm in den Schritt und drücke sanft zu. Seine Augen verdunkeln sich.
Immer noch widerwillig lässt er sich von mir mitschleifen. Jetzt bekommt er die Rache für heute Morgen!
In Raum Nr 187, den die Transe uns zugewiesen hat, sieht es ganz nett aus. Ein großes Bett, Spiegel an der Decke und Kronleuchter.
Mich interessiert aber nur der Stuhl, der in der Ecke steht. Ich ziehe ihn in die Mitte des Raums und schubse Jason darauf. Dann fessele ich ihn mit dem eben erworbenen Seil.
In der angrenzenden Minitoilette ziehe ich mir das Outfit an. Es ist wirklich hübsch: Die Cups sind aus Spitze gearbeitet, nach unten hin geht der Satin etwas auseinander. Dazu ein schwarzer String und Strapse. Also doch gut, dass ich meine schwarzen High Heels noch habe.
Voller Vorfreude trete ich heraus und genieße Jasons erstaunten und bewundernden Blick. Ich mache Musik mit meinem Handy an und beginne zu tanzen. Mit sexy Bewegungen nähere ich mich ihm und streiche an seinem Hals entlang. Ohne Rücksicht auf Verluste reiße ich sein Hemd auf und schiebe es von den Schultern.
Jetzt ist es an mir, ihn bewundernd anzublicken, denn er hat ein wunderbares Sixpack. Ich streiche langsam an ihm herunter, bis ich an seinem Gürtel angekommen bin.
Dann öffne ich langsam und einen nach dem anderen die Knöpfe meines Negligés, bis ich nur noch in Slip und Strapse vor ihm stehe.
Jason atmet schwer und senkt den Blick. „Eve, das kannst du nicht machen. Zieh dich wieder an.“
Doch ich merke, dass sein Wille schwach ist. Ich trete hinter ihn und löse die Fesseln. Dann nehme ich seine Hände und lege sie auf meine Brüste, wodurch meine Nippel sofort hart werden.
Wieder stöhnt Jason gequält und ich kann die Beule in seiner Hose sehen.
Dann schließt er eine Sekunde lang die Augen und reißt sich mit einem Ruck los.
Er wirft mir meine Sachen zu und dreht sich um.
„Was denkst du dir denn? Zieh dich um, wir gehen.“ Sein Ton ist jetzt viel härter geworden. Verwirrt und enttäuscht folge ich seinem Befehl. Ich weiß nicht, was er hat, aber er wird es mir jetzt nicht verraten.
Zehn Minuten später sitzen wir in Steves Auto. Es herrscht angespanntes und peinliches Schweigen. Dieses Mal bin ich ganz froh, dass ich die Rückbank für mich habe. Ich weiß wirklich nicht, was das für ein Zeug war, das ich bei diesem Schamanen genommen habe, aber die Wirkung hat jetzt jedenfalls nachgelassen. Scham
ist nicht annähernd das richtige Wort für meine Gefühle.
Was hab ich mir nur gedacht? Jetzt mal im Ernst, sonst bin ich ja auch nicht gerade eine Nonne, aber DAS! Eve!
Eine leise Träne bahnt sich ihren Weg über mein Gesicht, aber ich wische sie sofort weg. Ich habe mich nicht nur blamiert, sondern Jason auch den Eindruck gegeben, dass ich eine komplette Schlampe und dazu noch scharf auf ihn bin. Ich werde ihm nie wieder in die Augen sehen können. Wie soll ich denn heute Nacht mit ihm in einem Bett schlafen?
Als wir aussteigen, schaue ich nur auf den Boden. Ich will einfach nur alleine sein und im Boden versinken. Ich will unbedingt mit Liv reden und vermisse sie ganz doll.
Ich habe seit heute Morgen nichts mehr gegessen, deshalb gehe ich in die Küche. Während ich einen Blick in den Kühlschrank werfe, habe ich gar nicht gemerkt, dass Steve mir gefolgt ist.
„Hey“, sagt er und ich zucke zusammen. Schnell wende ich den Blick ab, doch mit einer Hand unter meinem Kinn zwingt Steve mich dazu, ihn anzusehen.
„Mach dir mal nicht so einen Kopf“, versucht er mich aufzuheitern. Wow, ich hätte nicht gedacht, dass er so einfühlsam ist. Ach ja. Er kann ja meine Gedanken lesen.
„Ich muss schon sagen, die Aktion von dir war echt der Hammer.“ Steve fängt an zu lachen. „Wenn ich an Jasons Stelle gewesen wäre, hätte ich nicht gekniffen.“
Er zwinkert mir zu und lässt mich sprachlos zurück. Na, geholfen hat mir das jetzt auch nicht.
Texte: geistiges Eigentum von Stefanie M.
Bildmaterialien: Google
Tag der Veröffentlichung: 11.07.2012
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