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New York, New York... Oder auch nicht.



New York ist wirklich die schönste Stadt, die man sich vorstellen kann. Ich liebe die kleinen, versteckten Secondhandläden in der Nähe des Broadways. Ich liebe die riesige Bibliothek, in der es ganz still ist, obwohl so viele Menschen da sind. Ich liebe den Central Park, in dem man im Winter super Schlittschuh laufen kann.
Meine beste Freundin Esme (eigentlich heißt sie Esmeralda Keziah – ihre Mutter ist Schauspielerin, da darf man sich nicht wundern) wohnt schon immer hier und ich glaube, dass sie deswegen nicht den gleichen Blick wie ich hat. Wir sind nämlich erst hergezogen, als ich sechs wurde. Vorher haben wir mehr oder weniger auf dem Land gewohnt.
Vielleicht finde ich New York deshalb so toll. Es beeindruckt mich immer noch jeden Tag mit etwas Neuem.
Gemeinsam mit Esme besuche ich die Abraham Lincoln High School in Brooklyn.
Naja okay, eigentlich sollte ich sagen: „besuchte“. Warum?
Meine Eltern hatten eine nette Überraschung für mich, als ich heute nach Hause kam.
Nach dem Unterricht waren Esme und ich noch kurz in ein paar Läden, weil das neue Album von Justin Bieber (bitte lacht jetzt nicht, ansonsten ist Esme vollkommen in Ordnung) draußen ist und sie es sich unbedingt kaufen wollte. Natürlich war es schon fast in ganz New York ausverkauft und dementsprechend hat es ein bisschen gedauert. Als Notlösung und nach langem Gezeter meinerseits hat Esme mich letztendlich doch in Mickeys Musik-Store

gezerrt. Mickey ist bestimmt ein netter Kerl. Wenn er nüchtern ist. In seinem Laden riecht es immer nach einer Mischung aus Schweiß und Marihuana, manchmal meine ich auch den leichten Geruch von Erbrochenem wahrzunehmen. Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Jedenfalls kurgesagt: Es stinkt gewaltig. Dazu kommt, dass sein Geschäft klein, stickig und im Keller ist. Vor dem einzigen kleinen Fenster hängt ein Baumwolltuch, das mal rot war, bis es von der Sonne ausgeblichen wurde.
Mickey denkt offenbar, dass die Achtziger jederzeit eine spontane Wiederkehr haben werden, denn er trägt stets Kajal und hat die Haare gestylt wie David Bowie. Das ganze passt irgendwie nicht zusammen mit seiner Jeansjacke.
Esme kauft ihre Cds eigentlich nur bei ihm, auch wenn ich das nicht so ganz verstehe. Wenn ich mitkomme – und das tu ich nur äußerst ungern! – macht er mich immer an. Widerlich.
Deswegen war ich auch froh, als wir da wieder raus waren und habe festgestellt, dass ich zwei verpasste Anrufe von meiner Mutter hatte. In Mickeys Keller hat man nämlich keinen Empfang.
Also verabschiedete ich mich von der überglücklichen Esme und trat den Heimweg an.
Wie gesagt. Es gab eine nette Überraschung.
Meine ganze Familie saß am Tisch zusammen und schaute mich an, als ich durch die Haustür kam. Mein Vater nachdenklich, meine Mutter so, als hätte sie etwas vor mir zu verbergen und Tim, mein kleiner Bruder… naja, so wie er immer guckt halt. Während er die eine Hand in seine Suppe tauchte und schaute, wie weit er damit spritzen konnte, steckte die andere in seiner Nase. Dies schien ziemlich anstrengend zu sein, denn er legte die Stirn in Falten (naja, so gut es eben ging) und seine Augen wurden schmaler. Das war wahre Konzentration!
Na gut, zu seiner Verteidigung muss ich sagen, dass er auch erst vier ist. Aber trotzdem! Gute Manieren sind das nicht!
Oh, ich schweife ab. Also, meine Familie saß am Tisch und wartete tatsächlich mit dem Essen auf mich. Das kam sonst nie vor. Dad war normalerweise um diese Uhrzeit auch noch gar nicht zu Hause.
Mit hochgezogenen Augenbrauen und auf eine Erklärung wartend setzte ich mich zu ihnen an den Tisch. Mama hatte die Tomatensuppe gemacht, die ich so gerne mochte. Sie ging gar nicht erst auf meinen fragenden Blick ein, sondern erkundigte sich nach meinem Tag um abzulenken. Dabei schaute sie extra angestrengt auf ihren Teller, denn wenn sie mich erst ein Mal angeschaut hätte, wäre wahrscheinlich alles aus ihr herausgebrochen. So gab sie sich Mühe, alles ein wenig nach hinten rauszuschieben. Auch mein Vater schaute mich nicht an. Nur Tim grinste.
Nach zehn Minuten angestrengten Plauderns wurde ich dann doch ungeduldig.
„Was ist denn los, dass wir hier so am Tisch sitzen?“, wollte ich wissen.
Mama und Papa sahen auf und schauten sich zerknirscht an. Zu dem Zeitpunkt hatte ich Angst, dass sie gleich ihre Trennung bekannt geben würden. Kommt ja heute in jeder zweiten Ehe vor. In meinem Kopf tobte schon die Vorstellung davon, wie es wäre, Dad nur alle zwei Wochen zu sehen und wie schlimm das für den kleinen Timmi sein musste, da fing Mama endlich an zu sprechen.
„Du weißt ja, dass die Firma von eurem Vater in letzter Zeit nicht sonderlich gut lief.“
Wusste ich das? Naja, er hatte es vielleicht mal erwähnt…
„Der Standpunkt hier in New York wurde um fast 1000 Mitarbeiter verkleinert. David hatte aber Glück, denn anstatt ihn rauszuschmeißen haben sie ihn nur auf einen anderen Standort verlegt.“
„Und wo ist jetzt das Problem? Welcher Standpunkt ist es denn? Clifton? Paterson? Weiter als Philadelphia ist es ja wohl nicht, oder?“ Ich goss mir noch ein wenig Eistee ein.
Mein Vater sah jetzt auch auf und schaute mich mit einem Blick an, bei dem ich schon fast eine Gänsehaut bekam. Mir war gar nicht aufgefallen, wie müde er aussah und erschrocken bemerkte ich feine Fältchen in seinem Gesicht.
„Es ist in Virginia, Liebes.“
Entgeistert starrte ich ihn an. Erst nach ein paar Sekunden Sprachlosigkeit, in der die einzigen Geräusche das Ticken der Standuhr und das laute „brrrrr“ von Tim, der anscheinend überzeugt war, dass sein kleines Spielzeugauto fliegen konnte, waren, konnte ich reagieren.
„Virginia?!“, rief ich. Das Szenario, dass Tim und ich unseren Dad nur alle zwei Wochen sahen, kam wieder in meinen Kopf.
„Dad, das kannst du nicht machen! Ich komm vielleicht damit klar, aber Tim kann seinen Vater nicht nur ab und zu sehen. Er braucht dich!“
Perplex und verwirrt schauten meine Eltern mich an.
„Ähm, wie kommst du darauf, dass Tim mich nur ab und zu sieht?“, fragte mein Vater mit so einem Unterton, der zeigte, dass er mich für ein bisschen verrückt hielt.
„Na, wenn du wegziehst…“
Meine Mutter legte ihre Hand auf meine. „Wir bleiben alle zusammen. Wir ziehen gemeinsam nach Virginia.“
Mir klappte der Mund auf.
„Das glaube ich nicht!“ Natürlich glaubte ich es. Meine Eltern würden wohl kaum im nächsten Moment aufspringen, sich vor Lachen die Bäuche halten und erklären, dass sie mich nur verarscht hatten.
Trotzdem stand ich auf, so energisch, dass mein Stuhl hintenüber kippte und krachend auf dem Boden landete. Tja, Holzboden.
„Mia“, setzte meine Mutter an, sprach dann aber nicht weiter.
Ich knallte den Löffel, den ich noch in der Hand hielt auf den Tisch und rannte in mein Zimmer.

Naja und da bin ich jetzt immer noch. Ich sitze vor meinem Laptop am Schreibtisch und halte den Telefonhörer zwischen meinem Ohr und der Schulter eingeklemmt, während ich mit einer Hand gedankenverloren das rotbraune Fell meines Katers „Kater“ kraule. Ja, Tiere in New York zu halten, mag dem ein oder anderen grausam vorkommen. Aber Kater ist uns zugelaufen. Eines Tages saß er einfach auf unserem Balkon und wollte nicht mehr gehen. Er war zwischendurch mal weg, kam aber immer wieder, aß drinnen was. Und irgendwann ging er gar nicht mehr weg. Wir haben ihn jetzt seit zwei Jahren.
„Eine Kleinstadt“, stöhne ich. Jap. Ich hab den Standort von Dads Firma in Virginia gegoogelt. Eine Stadt, oder im Vergleich zu New York eher ein Dorf, die sich Mystic Falls nennt. Noch nie davon gehört. Es hat nur 17 000 Einwohner. Ich weiß wirklich nicht, wie ich es da aushalten soll, ich liebe doch die Großstadt!
„Sobald du fertig bist mit der High School gehst du doch sowieso aufs College. Dann kommst du da wieder raus!“, versucht Esme mich zu beruhigen. Im Hintergrund kann ich die beruhigende Stimme von Justin Bieber hören.
„Das sind aber noch zwei Jahre! Das ist ja nicht mal eben vorbei. Und so lange muss ich es inmitten von Bauern, Kühen und Gemeindefesten aushalten. Du hast gut reden, dich trifft dieses harte Schicksal ja nicht!“
„Weißt du denn schon, wann ihr loswollt?“
„Der Umzug findet am Wochenende statt. Das hat meine Mum mir vorhin durch die Tür gesagt.“
„Am Wochenende?“ Esmes Stimme wird schrill. „Aber heute ist doch schon Dienstag!“
Betreten nicke ich, bis ich merke, dass sie das ja gar nicht sehen kann. „Hilfst du mir beim Packen in den nächsten Tagen?“
„Klar“, sagt sie – und in ihrer Stimme kann ich eine Traurigkeit ausmachen, die in mir auch schlummert. Ich muss nicht nur mein geliebtes New York hinter mir lassen, sondern auch alle meine Freunde. Komplett neu anfangen. Ich kann nicht verhindern, dass mir Tränen in die Augen treten.

Am nächsten Tag in der Schule scheint es schon die Runde gemacht zu haben, dass ich gehe. Meinen engsten Freunden habe ich es gestern Abend noch erzählt und Esme hat spontan ein Treffen bei Tara organisiert, zu dem fast alle gekommen sind. Wir hätten es ja eigentlich auch bei mir machen können, aber irgendwie wollte ich raus aus unserer Wohnung. Und Tara hat den größten Balkon.
Wir waren zu siebt: Michael, Pete, Lara, James und natürlich Tara, Esme und ich. Pete ist Laras Freund, ansonsten kennen wir uns alle von der High School. Wir haben gegrillt und ein bisschen getrunken und ich wurde andauernd von irgendwem umarmt.
Das Gleiche ist es heute in der Schule. Von allen Seiten fallen mir Leute um den Hals und bedauern es, dass ich gehe. Ich wusste gar nicht, dass ich so viele Freunde habe…
Am Nachmittag kommt Esme mit zu mir, wir verbringen die Zeit, die uns noch bleibt, jetzt zusammen. Sie schläft sogar heute Nacht bei mir.
Gemeinsam fangen wir an, mein Zimmer auszuräumen und finden dabei jede Menge Schätze und alte Fotos von uns. Lauter Erinnerungen kommen in mir hoch und das macht es mir noch schwerer, mich mit dem Gedanken abzufinden, dass ich ab Freitagabend fast 400 Meilen von meiner besten Freundin entfernt sein werde.
„Kannst du dich daran noch erinnern?“, fragt sie und hält mir schmunzelnd ein Foto unter die Nase.
Es zeigt uns beide im zarten Alter von sieben oder acht Jahren im Lillifee-Look. Wir waren die größten Fans, die man sich vorstellen konnte und haben unsere Mütter praktisch dazu gezwungen, uns pinke Rüschenkleider zu kaufen. Wenn sie uns gelassen hätten, wären wir damit wahrscheinlich sogar ins Bett gegangen.
In der hintersten Ecke meines Schrankes finden wir eine schwarze, samtene Kiste, die ich schon völlig vergessen hatte. Die muss da mindestens schon zwei Jahre unberührt herum stehen.
Es sind ein paar Sachen aus dem Nachlass meiner Großmutter, die vor drei Jahren leider gestorben ist. Ich war früher sehr oft bei ihr und wir haben Schach gespielt, oder ihre Kaninchen gefüttert.
Daher versetzt mir der Anblick der Kiste einen leichten Stich. Vorsichtig öffne ich den Deckel und muss unweigerlich grinsen. Ein Foto liegt obenauf, auf dem Oma und ich Grimassen machen. An den Tag kann ich mich noch sehr gut erinnern – es war Sommer und unglaublich heiß. Oma hat mir Limonade gemacht (zu Hause durfte ich die nicht trinken).
Lächelnd blicke ich unter das Foto und finde diverse Ringe und Haarspangen. Und dann sehe ich die Kette meiner Großmutter.
Die Kette, die sie mir irgendwann gegeben hat, als ich zehn gewesen sein muss, mit den Worten „du musst sie immer tragen, versprich mir das. Sie beschützt dich.“
Ich habe es ihr versprochen und trug die Kette jeden Tag. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich sie abgelegt habe.
Jetzt nehme ich sie vorsichtig in die Hand. Der Anhänger ist oval und eine weiße Gemme ist abgebildet. Ihr wisst schon, so ein Frauenkopf von der Seite. Rundherum sind kleine Bernsteine eingearbeitet. Die Kette ist angenehm kühl und als ich sie mir umhänge, fühle ich mich wie früher, irgendwie beschützt.
„Die hattest du schon lange nicht mehr an“, meint Esme gerade und reißt mich aus meinen Gedanken. Ich nicke abwesend und räume Omas Sachen in den Umzugskarton. Die Kette behalte ich aber an.

Der nächste Tag ist schon Donnerstag. Esme ist so ein Schatz, denn heute Abend hat sie eine kleine Verabschiedungsparty organisiert. Es sind ungefähr dreißig Leute da und alles ist auf dem Grundstück ihrer Familie, das etwas außerhalb ist. Ein Pavillon ist aufgestellt und alle Gäste haben ein bisschen zu essen und zu trinken mitgebracht. Ich muss morgen nur noch den letzten Rest einpacken, ansonsten bin ich fertig. Mein Bücherregal und der Kleiderschrank sind schon auseinander genommen.
Heute Abend werden viele Fotos gemacht.
„Ich werde es hassen“, flüstere ich Esme mehrmals zu. Sie schaut mich dann mit einem traurigen Blick an und sagt: „Es wird bestimmt toll“. Doch so richtig überzeugt ist sie davon auch nicht.

Der Hass auf die blöde Kleinstadt steigt mit jeder Minute, die wir uns ihr am nächsten Tag nähern und somit von New York entfernen. Ich sitze im Auto und habe auf meinem Schoß das Fotoalbum, das mir gestern von all meinen Freunden überreicht wurde. Sie sind echt süß, jeder hat ein paar liebe Worte reingeschrieben, Esme sogar einen ganzen Text. Dass ich sie immer anrufen kann, wenn die Bauern alle nichts taugen. Dass wir immer beste Freundinnen bleiben. Beim Gedanken daran und an den Abschied heute früh steigen mir die Tränen in die Augen. Wir sind schon um acht Uhr losgefahren, für mich war gestern schon der letzte Schultag. Esme hat ein letztes Mal bei mir übernachtet und heute Morgen geholfen, die restlichen Sachen zu verstauen. Wir haben uns heulend in den Armen gelegen und uns versprochen, dass wir uns so oft es geht besuchen wollen.
Bestimmt finde ich unter den Bauern keine Freunde. Für die bin ich wahrscheinlich ne Tussi. Und eigentlich will ich auch gar keine neuen Freunde finden! Ich werde einfach Einzelgängerin bleiben. Und meine Eltern werden daran schuld sein, wenn meine sozialtriebe jämmerlich verkümmern…
Ich weiß, dass das total überspitzt ist. Trotzdem bin ich einfach sauer auf Mom und Dad.

Irgendwann biegen wir vom Highway ab. Ein Schild weist uns die Richtung nach Mystic Falls. Langsam tauchen die ersten Häuser auf. Das Erste, was mir an ihnen auffällt, ist, dass sie klein sind. Winzig, könnte man schon fast sagen. Ich bin nur die riesigen Apartmentkomplexe und Wolkenkratzer gewohnt. Hier haben wir übrigens ein ganzes Haus nur für uns. Mit zwei Etagen! Und Garten! Was ich natürlich total blöd finde.
Und dann sind wir da. Nach fast acht Stunden Fahrt stehen wir vor dem Tor zur Auffahrt zu unserem neuen Reich. Keiner traut sich so recht, den ersten Schritt zu machen. Meine Eltern staunen und ich gebe mir Mühe, jedes Detail zu hassen. Die Rose, die sich am Tor hochrankt, die Luft (die wirklich anders ist) und den Kies, der schließlich unter meinen Füßen knirscht, als wir auf die Haustür zu gehen. Alles scheiße. Ich will hier gar nicht sein. Das Haus ist weiß und hat eine große Veranda. So ähnlich sah Omas Haus auch aus, nur war es dunkelrot gestrichen. Unwillkürlich fasse ich an meinen Hals, wo ihre Kette baumelt.
Eine Frau steht vor der Tür und telefoniert angeregt. Als sie uns bemerkt, beendet sie das Gespräch und kommt mit ausgestreckter Hand auf uns zu.
„Hi, ich bin Carol Lockwood. Wir hatten telefoniert.“
Mein Vater nickt und schüttelt ihre Hand. Ich höre nicht weiter zu, als die beiden anfangen, zu plaudern. Sie holt einen Schlüsselbund mit ein paar Schlüsseln aus ihrer Tasche und schließt die Tür auf. Ist sie Maklerin? Würde zumindest zu ihrem grauen Rock mit der roten Bluse passen. Sie sieht so aus, als hätte sie Geld. Mein erster Gedanke, dass hier nur Bauern leben, hat sich also nicht bewahrheitet. Naja, vielleicht kommt sie von außerhalb. Schnell führt sie uns einmal im Haus herum, dann lässt sie uns zwei Schlüssel da und verschwindet wieder.

Das Haus ist eigentlich ganz nett (so nett natürlich nun auch wieder nicht). Unten gibt es eine helle Küche und ein großes Wohnzimmer. Die Schlafzimmer befinden sich alle in der zweiten Etage. Ich weiß gar nicht, was ich mit so viel Platz anfangen soll. Von meinem Fenster aus kann man auf die Straße schauen. Tolle Aussicht.
Der Möbelwagen trifft nur eine halbe Stunde nach uns ein, aber wir haben schon angefangen zu streichen.
Es muss ja schnell gehen, schließlich ist es inzwischen schon vier Uhr nachmittags. Ich habe mich für einen hellen Beigeton entschieden, der ein bisschen an die Farbe von Karamellbonbons erinnert.
Das Streichen geht wirklich ganz schön in die Arme und ich bin echt froh, als ich damit fertig bin. Meine Eltern wollen schon die ersten Sachen ins Wohnzimmer und in die Küche stellen, aber ich gehe erstmal spazieren. Ich brauche frische Luft.
Auf dem Weg nach draußen stolpere ich fast über Kater, der es sich auf der Fußmatte bequem gemacht hat. Missbilligend schüttele ich den Kopf. „Es darf dir hier nicht gefallen. Mir gefällt es auch nicht, wir kommen schließlich aus der Großstadt!“ Aber er schaut mich nur mitleidig an und legt dann den Kopf wieder auf die Pfoten.
Ich laufe die Auffahrt hinunter und beschließe, Esme anzurufen. Schon nach dem zweiten Klingeln hebt sie ab.
„Mia! Erzähl, wie ist es?“ Ich kann ihr Strahlen praktisch vor mir sehen. Ich vermisse sie jetzt schon.
„Es ist schrecklich“, beklage ich mich. „Irgendwie ist hier tote Hose.“ Tatsächlich bin ich die Einzige auf der Straße. Auf einem großen, bunten Schild werden mir die verschiedenen Möglichkeiten aufgezeigt, zu denen ich gehen kann. Ich entscheide, dass sich das Mystic Square mit dem Mystic Grill ganz gut anhört (ist das vielleicht ne Adaption von McDonalds?)(Warum heißt hier alles „Mystic…“? Sind die so stolz auf ihr Dorf?).
Ich beschreibe ein bisschen das Haus, in dem wir jetzt wohnen, damit Esme es sich genauer vorstellen kann.
„Du musst Fotos von allem machen und sie mir dann schicken“, ordnet sie an.
Wir scheinen ziemlich zentral zu wohnen, denn nach ein bisschen mehr als fünf Minuten Fußmarsch bin ich schon am Grill angekommen. Hier sind auch ein paar kleine Geschäfte und eine Bibliothek. Soll das so was, wie ein Dorfplatz sein?
„Hey Esme, ich glaub ich habe gerade den Kern der ganzen Geschichte hier gefunden. Ein winziger Platz. Und hier ist noch nicht mal jemand.“ Ich könnte schon fast anfangen zu lachen, so bizarr ist es hier. Ich bin es gewohnt, von unzähligen Menschen umgeben zu sein. Und hier? Niemand!
„Wie soll ich es denn bitte hier aushalten? Ich werde keine Freunde finden und unter den Bauern das Mädchen aus der Stadt sein. Ich will zurück!“
Nachdem ich mich noch kurze Zeit beklagt hatte, beenden wir das Gespräch. Hohe Handyrechnung und so. Ich stehe inzwischen mitten auf dem Platz und packe mein Telefon in die Hosentasche.
Ich will mich nach rechts drehen, um zu schauen, ob der Mystic Grill etwas gegen den Hunger hat, den ich plötzlich verspüre, da erschrecke ich fast zu Tode. Neben mir steht jemand.

Gründerfest


„Oh entschuldigung, ich habe dich nicht kommen sehen“, stammele ich.
Es ist ein Kerl, groß, mit schwarzen Haaren. Seine eisblauen Augen bilden den perfekten Kontrast dazu. Er muss ein bisschen älter sein als ich, 20, vielleicht 21.
„Du findest es also schrecklich hier?“, will er wissen und schaut mich dabei intensiv an. Seine Stimme ist tief und einerseits rau, aber andererseits hüllt sie mich ein, so samtig ist sie.
Verwirrt schaue ich ihn an. „Ja.“ Oh man, bin ich dumm. Wieso hab ich das gesagt? Solche Details sollte ich gegenüber „Einwohnern“ besser für mich behalten, sonst mache ich mich nur noch unbeliebter.
Der Typ lächelt aber. Nicht unbedingt nett, eher so, dass es mir ein bisschen Angst macht.
„Du kommst aus New York, stimmt’s?“, fragt er und auf meinen fragenden Blick sagt er: „Dein Akzent.“
Natürlich. Jetzt, wo er es sagt, fällt mir auch auf, dass er ein bisschen anders spricht, wenn auch nur minimal.
„Ja, wir sind vor ein paar Stunden erst angekommen, aber drinnen habe ich es schon nicht mehr ausgehalten.“ Verdammt, Gehirn an Mund! Kontrollier mal, was du da sagst, bevor du alles rauslässt! Warum bin ich diesem Fremden gegenüber so ehrlich?
„Wenn du dich hier erstmal eingelebt hast, ist es halb so schlimm“, sagt er und kommt mir dabei näher.
„Arbeitest du hier?“, frage ich, um irgendwas zu sagen. Haltet mich bitte nicht für komisch, aber sein Blick ist so intensiv, dass es mir schon fast so vorkommt, als wolle er mich hypnotisieren. Mein Herz fängt unweigerlich schneller an, zu klopfen. Was soll das denn jetzt?!
„In Mystic Falls? Kann man so sagen, ja. Ich bin Damon Salvatore.“ Er hält mir seine Hand hin. Ich ergreife sie. Wie ein Kavalier aus dem 19. Jahrhundert beugt er sich langsam herunter und haucht einen Kuss auf meinen Handrücken. Dabei lässt er mich nicht aus den Augen. Oh mein Gott, wie kitschig! Macht man das hier so? Ich merke, dass ich rot werde. Um Himmels Willen, was soll er denn nur von mir denken? Dass ich auf ihn stehe?!
„Mia“, flüstere ich und füge noch schnell hinzu: „Coleman“.
„Hat mich gefreut, Mia Coleman“, sagt er leise. Er hat sich aufgerichtet und steht jetzt noch näher vor mir. So nah, dass wir uns schon fast berühren.
Ich schaue ihm noch einen kurzen Moment in die Augen, doch nach dem nächsten Blinzeln ist er verschwunden.
Verwirrt drehe ich mich um. Wo ist er hin? Hab ich ihn mir nur eingebildet? Auf dem ganzen Platz ist niemand mehr. Kopfschüttelnd gehe ich auf den Grill zu. Inzwischen dämmert es. Hoffentlich finde ich den Weg nach Hause gleich noch.
Drinnen ist es laut und angenehm warm. Ein paar Jugendliche stehen um einen Billard-Tisch herum und unterhalten sich.
An der Bar sitzen einige Männer, um die dreißig. Das Licht ist gedimmt, aber der Tresen ist beleuchtet. Das sieht ja fast so aus, als wäre das hier ein ziemlich angesagter Schuppen.
Ich sehe mich um und finde einen freien Tisch, an den ich mich setze. Schnell überfliege ich die Speisekarte und entscheide mich für einen normalen Cheeseburger. Schließlich essen wir zu Hause bestimmt noch was.
Während ich auf die Bedienung warte, krame ich mein Handy hervor und schaue nach, ob ich neue Nachrichten bei Facebook habe. Tara hat ein paar meiner Freunde am Times Square markiert. Bestimmt gehen die nachher alle noch feiern. Mir versetzt das einen Stich und ich muss mich echt zusammenreißen, nicht loszuheulen.
„Hey, was kann ich dir… Alles okay?“, werde ich von einer tiefen Stimme aus meinen Gedanken gerissen. Erschrocken gucke ich hoch. Ernsthaft? Ich sitze in einem öffentlichen Restaurant und mir stehen die Tränen in den Augen? Ist ja so schon peinlich genug, aber dann auch noch, wenn ich neu in der Stadt bin… jetzt denken doch alle, dass ich geistesgestört bin, oder so.
Unauffällig sehe ich mich um, merke aber, dass mich niemand ansieht. Alle kümmern sich um ihren eigenen Kram und bemerken nicht das neue, einem Gefühlsausbruch nahe stehende Mädchen.
„Hallo?“, höre ich nochmal dieselbe Stimme wie gerade und merke da erst, dass der Kellner vor mir steht.
Besorgt sieht er mich an. Ich werde sofort rot. Man, sieht der gut aus! Ist das normal hier? Sind wohl doch nicht solche Bauern… Und ich sitze hier, bin nicht wirklich geschminkt und habe Umzugsklamotten an. Also die sehen zwar nicht soo schlimm aus, aber schön garantiert auch nicht! Wie peinlich das ist. Was muss ich nur für einen Eindruck hinterlassen?!
„Oh entschuldige, ich war gerade irgendwie mit den Gedanken woanders“, sage ich und wische mir verstohlen über die Augen.
„Geht’s dir gut?“, will er wissen.
Schnell nicke ich. „Ich bin heute erst hergezogen.“ Warum hab ich das gesagt? Ist vielleicht hier auf dem Land mein natürlicher Wortfilter verloren gegangen? Das geht ihn doch gar nichts an und wissen will er es sicherlich auch nicht.
„Ach, dann bist du Mia Coleman?“, fragt er und tritt noch einen Schritt auf mich zu. Er streckt mir die Hand hin. „Ich bin Jeremy Gilbert. Ihr wohnt im Haus neben uns.“
Ich ergreife seine warme Hand und erwidere den leichten Druck. Ich glaube, ich bringe sogar ein halbwegs akzeptables Lächeln zustande.
„Hi, Nachbar“, sage ich dümmlich. Man, man. Er scheint mich aber nicht so komisch zu finden, denn er redet weiter.
„Wir gehen auch auf eine High School – naja so viel Auswahl hast du hier ja eh nicht“ Er zwinkert mir zu und lächelt schief, wobei mein Herz einen kleinen Hüpfer macht. Der sieht ja echt zum Anbeißen süß aus.
„Aber was wolltest du denn überhaupt bestellen?“
Ich sage ihm meinen Hamburger-Wunsch, dann geht er wieder.
Es scheinen ja doch nette Leute hier zu sein, und dass ich schon mal jemanden kenne, der auf meine High School geht, macht die Sache sicherlich ungemein leichter.

Kurze Zeit später bringt Jeremy mir meinen Burger zum mitnehmen.
Ich will mich schon verabschieden, als er sagt: „Hey, morgen Abend ist Gründerfest. Eigentlich ist das stinklangweilig, aber ich muss da sein, weil meine Familie zu den Gründerfamilien gehört. Und wenn man sich da kurz gezeigt hat, kann man sich irgendwohin mit ner Flasche Whiskey verziehen, wo die Erwachsenen es nicht sehen. Komm doch auch, dann kann ich dir ein paar Leute vorstellen!“
Ich lächele ihn an und bin wirklich froh über sein Angebot. Er scheint sehr nett zu sein.
„Ich werde es mir überlegen.“
Dann verabschiede ich mich von ihm und gehe zurück.

Zwanzig Minuten später stehe ich tatsächlich wieder vor unserem neuen Haus. Den Weg zu finden war gar nicht so schwer. Es ist inzwischen schon ziemlich dunkel und ein bisschen gruselig war es ja schon, durch die spärlich beleuchteten Straßen zu laufen. Vor allem, weil ich andauernd das Gefühl hatte, dass mich jemand dabei beobachtet, wie ich meinen Burger esse.
Aber jetzt macht meine Mutter mir auf (ich habe ja noch keinen eigenen Schlüssel) und lächelt.
„Wir haben Besuch von den Nachbarn bekommen.“ Sie legt ihre Hände auf meine Schultern und schiebt mich ins Wohnzimmer. Ui, ich bin wirklich erstaunt, was meine Eltern in der kurzen Zeit schon geschafft haben. Die Wand ist sandfarben gestrichen und unser antiker Kronleuchter hängt von der Decke. Der dunkle Holztisch steht in der Mitte des Raumes.
Ein hübsches Mädchen in meinem Alter mit langen, dunkelbraunen Haaren und ein Mann stehen daneben und kommen jetzt auf mich zu.
„Hi, ich bin Elena. Du musst Mia sein! Schön, dich kennen zu lernen“, sagt das Mädchen mit einem herzlichen Lächeln und umarmt mich.
„Neue Nachbarn bekommt man hier nicht so oft“, fügt sie schmunzelnd hinzu.
Jetzt tritt auch der Mann auf mich zu. Er ist groß und breitschultrig und hat dunkelblondes Haar, das ihm in Fransen auf die Stirn fällt. Ich schätze ihn auf Anfang, Mitte dreißig.
„Ich bin Alaric Saltzman, aber nenn mich Ric.“
„Wir wollten in ungefähr einer Stunde zu Abend essen, Mia. Willst du in der Zeit schonmal ein paar Kartons auspacken? Vielleicht hilft Elena dir ja dabei?“, schlägt meine Mutter vor.
Ich nicke und lächele, auch Elena stimmt freudig zu.
Also führe ich sie die Treppe hoch in mein neues Zimmer.
„Wenn du willst, kann ich dir morgen ein bisschen die Stadt zeigen. Im Vergleich zu New York kommt es dir hier sicherlich vor, wie da letzte Kaff, aber Mystic Falls hat viele schöne Seiten.“
„Oh ja, das wäre toll.“ Die Leute scheinen hier wirklich offen zu sein. Vielleicht ist es doch gar nicht so schrecklich, wie ich dachte.
„An unserer High School wurdest du praktisch schon angekündigt. Also mach dich drauf gefasst, dass du von vielen Leuten angesprochen wirst“, lacht sie. „Mein Bruder Jeremy wäre sicherlich auch mit rüber gekommen, um hallo zu sagen, aber er ist gerade arbeiten. Du hast bestimmt noch die Gelegenheit, ihn kennen zu lernen.“
„Jeremy? Arbeitet er im Mystic Grill?“
Überrascht zieht Elena die Augenbrauen hoch. „Ja, woher weißt du das?“
„Ich war vorhin kurz dort und wir haben uns unterhalten. Er hat gefragt, ob ich morgen Abend mit zum Gründerfest kommen möchte.“
„Das ist eigentlich eine ziemlich gute Idee“, lächelt sie. „Dann kann ich dir ein paar Leute vorstellen.“

Meine Eltern waren so nett und haben den Großteil meiner Möbel schon zusammengebaut. Elena hilft mir dabei, alles so hinzustellen, dass es nachher echt gemütlich aussieht. Mein großes, weißes Bett steht unter der Dachschräge – hoffentlich stoße ich mir daran nicht den Kopf! – und der Schreibtisch neben dem Fenster. An der Wand steht mein Regal, in das wir unzählige Bücher stellen. Das Highlight an meinem Zimmer ist aber eigentlich der begehbare Kleiderschrank. Nein, natürlich ist es nicht so ein Luxus-Teil, was ihr jetzt sicher denkt. Es ist bloß ein kleiner Raum, der durch eine Schiebetür von meinem Zimmer abgegrenzt ist. Drinnen hat man gerade genug Platz, um zu zweit drinzustehen. Aber immerhin!
Während Elena mir fleißig hilft, erzählt sie mir alles Mögliche über die Stadt und ihre Einwohner. Da ist zum Beispiel ihre beste Freundin Bonnie, die für jedes Problem eine Lösung hat. Oder das Organisationstalent Caroline, die ebenfalls zu Elenas engsten Freunden gehört.
„Caroline ist ein bisschen speziell, aber das wirst du sicher noch selber sehen“, lacht sie.
Bei den ganzen Leuten, von denen sie mir erzählt, rauscht mir bald der Kopf. Da das Namenmerken sowieso nicht meine Stärke ist, werde ich wohl einige Zeit brauchen, bis ich die drin habe.
Immerhin weiß ich jetzt, dass Ric ab Montag mein Geschichtslehrer sein wird. Auf meine Nachfrage sagt Elena, dass er nicht ihr Vater ist, aber sie wird bei dem Thema ziemlich nachdenklich und abwesend, deswegen gehe ich lieber nicht weiter darauf ein.
Die Zeit vergeht wie im Flug und irgendwann ruft meine Mutter zum Essen nach unten. Elena und Ric verabschieden sich und wir beiden Mädchen machen noch schnell eine Zeit aus, zu der sie mich morgen zu unserer Stadtbesichtigung abholt.
Mit einem Lächeln auf dem Gesicht schließe ich die Tür hinter mir.
„Das hab ich gesehen!“, sagte mein Vater, deutet mit dem Finger auf mich und grinst. „Ist wohl doch nicht so schlimm hier, was?“
Finster schaue ich ihn an. „Na das werden wir ja noch sehen!“

Am nächsten Morgen weckt mich die Sonne, die mir mitten ins Gesicht scheint. Wir hatten noch keine Gelegenheit, ein Rollo zu installieren und die Rollladen sind anscheinend kaputt.
Noch im Halbschlaf will ich ins Bad gehen, doch als ich mich aufsetze, kommt es, wie es kommen muss: Ich stoße mir den Kopf mit so einem lauten Rums an der Dachschräge, dass jetzt sicher meine ganze Familie wach ist.
Fluchend reibe ich mir die Stirn und hoffe, dass es nicht blau wird. Ich hab echt keine Lust, dass mich meine neuen Mitschüler „Beulenface“ oder „die matschige Mia“ nennen.
Verschlafen tapse ich ins Bad. Man ist das komisch, durch ein Haus zu laufen, von dem du zwar weißt, dass du ab jetzt hier wohnst, es aber trotzdem noch so fremd ist! Von unten schlägt mir schon der Duft von Rührei und Bacon entgegen und ich beeile mich mit dem Duschen, weil ich einen Bärenhunger bekomme. Schnell husche ich noch in mein Zimmer zurück und sehe mich zufrieden in meinem „Ankleidezimmer“ um. Ich entscheide mich für ein Kleid mit Jeansjacke, da es draußen ziemlich warm aussieht.

Ich stelle meine Müslischale gerade in die Spülmaschine, da klingelt es auch schon an der Tür. Elena steht davor und holt mich ab. Auf dem Weg zum „Mystic Square“, dem Platz, auf dem ich gestern Abend auch schon stand, erzählt sie mir etwas über die Geschichte der Stadt: Bei dem Bürgerkrieg sind viele Zivilisten getötet worden, Mystic Falls war immer schon klein, aber wohlhabend und so weiter. Natürlich kriege ich noch viel mehr über die Bewohner zu hören. Dabei ist Elena aber kein Mädchen, das über andere Leute herzieht, sondern erzählt mir, wie wunderbar ihre Freunde alle sind. Ich erzähle ihr auch ein bisschen von New York, den Leuten und der Mentalität dort.
Auf dem Platz angekommen erklärt sie mir, was ich wo finde: Im Grill treffen sich die Jugendlichen häufig, um zusammenzusitzen, oder eine Runde Billard zu spielen. Es gibt zwei Einkaufläden (wenn man drei Minuten über den Highway fährt sogar einen Walmart!), die eher kleiner sind, eine Apotheke, einen Schneider und einige andere kleine Lädchen für den alltäglichen Bedarf.
„Wenn du shoppen willst, musst du nach Richmond fahren, hier gibt es dafür leider nicht so viele Gelegenheiten. Aber man gewöhnt sich dran“, meint Elena.
Ich freue mich, dass wir uns so gut verstehen. Wir werden ja auch auf die gleiche Schule gehen und so kenne ich schon jemanden, das ist toll. Ich hätte nicht gedacht, dass ich so schnell eine Freundin finden würde.
„Sag mal, was zieht man eigentlich an bei so einem Gründerfest?“, schießt es mir durch den Kopf, als wir eine Weile später durch den Park laufen. Er ist eher klein, aber trotzdem sehr hübsch angelegt und hat einen kleinen See, in dem man aber nicht schwimmen kann. Elena hat mir erklärt, dass es einen großen Badesee neben dem Wald gibt.
„Also ein Kleid wäre schon gut. Es sollte eher schick sein.“ *
Ich finde es irgendwie süß, dass sich hier alle schick machen wegen eines Stadtfests. Wenn in New York ein Fest war, liefen die meisten Leute ganz normal rum. Die Leute, die viel auf sich halten, laufen auch sonst aufgebrezelt rum.
Kurze Zeit später stehen wir wieder vor meinem Haus, schließlich habe ich noch einiges fertig zu machen in meinem Zimmer. Wir machen aus, dass ich gegen acht Uhr zu Elena rüberkomme und wir dann gemeinsam zum Fest fahren.

Um kurz vor acht werfe ich einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel.


Hoffentlich bin ich nicht overdressed, das wäre echt total peinlich. Aber ich werde einfach gleich Elena fragen. Zur Not kann ich immer noch eben rüberlaufen und mich umziehen.
Also verabschiede ich mich von meinen Eltern und laufe die Auffahrt hoch, nur um in die nächste wieder einzubiegen. Das Haus der Gilberts ist weiß gestrichen, genau wie unseres und äußerlich gibt es nicht viele Unterschiede, wenn man mal vom Vorgarten absieht. Unserer sieht nämlich noch aus, wie ein Schlachtfeld.
Ich klingele und warte, bis die Tür aufgeht. Doch nicht Elena oder Ric machen auf, sondern Jeremy. Bei seinem Anblick zieht sich mein Magen aufgeregt zusammen. Sein Blick ist zunächst überrascht, dann begrüßt er mich mit einem Lächeln. Der Blick, mit dem er mich von oben bis unten mustert, entgeht mir dabei nicht.
„Du siehst gut aus“, meint er und grinst verschmitzt.
„Ja?“, frage ich. „Ich war mich nicht sicher, ob das nicht zu viel ist für so ein Gründerfest…“
Zweifelnd deute ich an mir herunter.
„Ach, du solltest mal die anderen sehen. Damit fällst du nicht negativ auf. Komm, ich zeig dir eben, wo Elenas Zimmer ist“, sagt er und begleitet mich die Treppe hoch. Hier drinnen sieht alles so gemütlich aus. Davon kann bei uns ja wirklich noch nicht die Rede sein. Er klopft an Elenas Zimmertür und öffnet sie. Elena sitzt vor einem schönen, weißen Schminktisch und trägt gerade Eyeliner auf.
„Wann wollen wir denn los?“, fragt Jeremy seine Schwester, nachdem sie mich begrüßt hat.
„In einer halben Stunde? Bonnie und Caroline wollten auch dann ungefähr da sein.“
Jeremy nickt und lächelt mir noch einmal zu, bevor er die Tür hinter sich schließt. Mir schießt eine leichte Röte ins Gesicht.
Elena sieht mich grinsend an. „Was war das denn?“
Ich fühle mich ertappt und werde noch röter, schüttele aber trotzdem den Kopf und murmele: „nichts.“
Elena trägt ein lila Bustierkleid, an dem vorne ein vertikaler weißer Streifen verläuft.
„Ich muss mich noch eben zu Ende schminken. Ric fährt gleich mit uns hin.“

Eine halbe Stunde später sitzen wir dann in Rics schwarzem Pick-Up Truck und fahren Richtung Lockwood-Haus. Carol Lockwood ist seit dem Tod ihres Mannes die Bürgermeisterin von Mystic Falls und ihr Sohn Tyler geht auf die gleiche High School, wie Elena. Er ist außerdem mit Caroline zusammen. Ich krieg jetzt schon Panik, weil ich mir so viel merken muss. Das schaff ich nie!
Elena bemerkt meinen zweifelnden Blick und lacht. „Keine Sorge, die sind alle ganz locker drauf.“
Jeremy sitzt auf dem Beifahrersitz und ich direkt hinter ihm, weshalb ich dauernd auf sein breites Kreuz starre. Habe ich schon erwähnt, dass er ziemlich heiß ist? Seine kurzen, braunen Haare hat er hochgegelt, sodass sie ein bisschen durcheinander sind. Er trägt einen Anzug, genau wie Ric.
Die Fahrt dauert nicht lange (hatte ich auch nicht erwartet, schließlich ist die Stadt nicht die Größte) und schon bald stehen wir vor einem hell erleuchteten, nebenbeigesagt riesigen Haus. Es sieht aus, wie eine Miniversion des Weißen Hauses, nur irgendwie noch geschmackvoller erbaut. Die Auffahrt ist lang und von Bäumen gesäumt. Vor der Eingangstür stehen Bedienstete und kontrollieren beschäftigt die Gästeliste, oder verteilen Sektgläser und Häppchen. Das ist ja schon fast, wie bei einer Vernissage in New York! Ich muss lächeln. Im ersten Moment bin ich unruhig, weil ich ja eigentlich gar nicht auf der Gästeliste stehe, aber Elena beruhigt mich. Sie hat gestern noch mit Tyler gesprochen, der mich nachgetragen hat.
Auch drinnen muss ich erstmal staunen: Die Eingangshalle ist riesig und mit schwarz-weißen Fliesen ausgelegt. Eine breite Wendeltreppe führt nach oben. Leise Pianomusik klingt durch das allgemeine Stimmengewusel. Und wie viele Leute hier sind!

Elena führt mich herum und stellt mich vielen Leuten vor. Den Großteil der Namen hab ich jetzt schon wieder vergessen. Es ist, wie Jeremy es prophezeit hat: stinklangweilig. Ich kann nicht anders und muss ihm immer wieder verstohlene Blicke zuwerfen. Wenn er es merkt und mich anlächelt, schaue ich aber ganz schnell wieder weg und hoffe, dass er nicht sieht, dass ich rot werde. Man, ist das peinlich! Selbstbewusstsein, wo bist du?

Schließlich entdeckt Elena eine Gruppe von vier Jugendlichen und zieht mich aufgeregt in ihre Richtung.
„Leute, darf ich vorstellen?“, fragt sie feierlich, als wir bei ihnen ankommen. „Das ist Mia Coleman.“
„Ach, du bist die Neue?“, unterbricht sie ein blondes, hübsches Mädchen mit Locken.
„Sieht so aus“, sage ich und lächele.
„Hi, ich bin Caroline“, stellt sie sich vor. „Du wirst schnell merken, dass das hier im Gegensatz zu New York wahrscheinlich total lahm ist, aber die Partys sind ganz okay.“
Elena verdreht die Augen und lacht. „Das ist Matt“, sagt sie und deutet auf einen großen, blonden Jungen mit einem süßen Gesicht.
„Hi“, sagt er und umarmt mich. Huh, wie offen die Leute hier sind! In New York würde man sich höchstens die Hand geben… Aber trotz meiner Überraschung kann ich nicht sagen, dass es mich stören würde.
Danach macht mich Elena noch mit Tyler, der riesig groß und breitschultrig ist, und mit Bonnie bekannt. Bonnies Haut hat die Farbe von Vollmilchschokolade und ihre fast schwarzen Haare fallen ihr anmutig in Locken über die Schulter. Auch sie umarmt mich.

Ungefähr eine halbe Stunde stehen wir so beisammen, ich komme mit allen Mal ins Gespräch und bin erstaunt, wie leicht mir das fällt. Das scheinen echt nette Leute zu sein. Dann stößt ein weiterer Typ zu uns, er sieht aus, wie Anfang zwanzig, und umarmt Elena vertraut. Sie lächelt ihn an und küsst ihn.
Dann dreht sie sich zu mir und sagt: „Mia, das ist mein Freund Stefan Salvatore. Stefan, das ist Mia, meine neue Nachbarin.“
Er lächelt mir zu und reicht mir die Hand. Aha, es gibt also doch zurückhaltendere Menschen hier!
Dann ertönt aus einem anderen Raum ein Piepen, als würde jemand ein Mikrofon anstellen und die Leute strömen ins Nebenzimmer. Fragend schaue ich Elena an, die mir bedeutet, mitzukommen.
Auf einem leicht erhöhten Podest steht ein Mann mit Anzug und schwarzen Haaren. Diese eisblauen Augen kommen mir ziemlich bekannt vor. Das ist eindeutig der Kerl, mit dem ich mich gestern Abend vor dem Grill kurz unterhalten habe. Wie hieß er noch gleich? Damien?
Neben mir flüstert Elena, als hätte sie meine Gedanken gelesen: „Das ist Damon. Er ist der Bruder von Stefan.“
Überrascht sehe ich sie an.
„Ja ich weiß, die beiden sehen sich nicht sehr ähnlich… Jedenfalls ist er im Moment der Vorsitzende des Gründerrats und hält deswegen die Rede. Aber lass dich davon nicht täuschen, er ist kein besonders netter Mensch.“
In dem Moment, als hätte er gehört, dass wir über ihn reden, finden Damons Augen die meinen. Er sieht mich eindringlich an, allerdings ohne Lächeln. Trotzdem scheint er mir in die Seele zu schauen und ich habe das Gefühl, in seinen Augen zu versinken, obwohl ich am anderen Ende des Raumes stehe. Dann fängt er unvermittelt mit seiner Rede an.

Er redet darüber, dass Mystic Falls jetzt schon so lange besteht, dass wir alle zusammenhalten sollten, auch wenn mal schwere Zeiten kommen und dass jeder hier froh sein kann, dass er in so einem wunderbaren Städtchen wohnt.
„Ich selber wohne zwar erst seit einem Jahr offiziell hier, aber ich bin fasziniert von der Offenheit und der Schönheit

dieser Stadt“, fügt er noch hinzu und ich schwöre, bei diesen letzten Worten schaut er mir direkt in die Augen.

Später ist endlich der Moment da, an dem Tyler Elena und mir zuwinkt und uns bedeutet, die Treppe hochzukommen. Wir sehen uns noch einmal um, dann folgen wir ihm unauffällig. Oben sieht alles nicht weniger prunkvoll aus, als unten, nur dass hier keine Leute sind. Tyler führt uns in sein Zimmer, in dem schon Caroline und Bonnie sitzen. Matt und Jeremy stoßen kurz nach uns dazu. Das Zimmer ist groß und hell gestrichen, was einen guten Kontrast zu den aus dunklem Kirschholz gemachten Möbeln darstellt. Auf einem Schränkchen stehen schon Gläser bereit und unter allgemeinem Beifall zaubert Tyler eine volle Flasche Whiskey aus seiner Kommode. Nach und nach füllt er die Gläser auf und reicht jedem eins. Dann hält Elena ihres in unsere Mitte und sagt feierlich: „Auf einen schönen Abend und ein neues Mitglied in unseren Reihen“. Alle wiederholen den Spruch und trinken dann. Mich füllt eine innere Wärme. Nicht vom Alkohol, sondern weil ich so froh bin, dass ich hier so nette Leute gefunden habe. Caroline verzieht das Gesicht, trinkt dann aber trotzdem. Whiskey ist nunmal nicht jedermanns Sache.
Sofort ruft Matt: „Wer will noch einen?“ und nimmt Tyler die Flasche aus der Hand. Er füllt allen nach, doch als er bei mir ankommt, schüttele ich den Kopf. „Nein danke, ich sollte heute nicht so viel trinken.“
Ungläubig guckt er mich an. „Wieso das denn?“
„Naja, ich will mich an meinem ersten richtigen Abend hier nicht sofort total besoffen zeigen“, lache ich. Schließlich will ich vermeiden, dass diese ganzen Leute ein falsches Bild von mir bekommen.
„Ach Mia, wir trinken doch alle was. Komm schon, ein bisschen Spaß hat noch niemandem geschadet.“
Zögernd nicke ich und halte ihm mein Glas hin. Matt grinst und die anderen freuen sich. Aus einer zweiten Runde werden schnell eine Dritte und eine Vierte.
Nach dem sechsten Glas Whiskey für alle ist die Flasche leer. Das ist aber nicht schlimm, denn alle sind schon ziemlich gut dabei.
Jeremys Blick begegnet meinem und endlich schaffe ich es, ihn anzulächeln. Er sieht echt übertrieben gut aus! Spontan steht er auf und setzt sich neben mich.
„Ich war noch nie in New York, erzähl mal, wie ist es da so?“
Und seine Stimme erst! Einerseits männlich und tief, aber dann schwingt da noch so ein samtiger Unterton mit.
Statt auf seine Frage zu antworten, sage ich das, was mir durch den Kopf schießt. Das ist das Problem mit dem Alkohol und mir. Ich kann meinen Mund dann nicht halten, nicht logisch denken und rede, ohne nachzudenken. Mh, vielleicht hätte ich mich doch lieber zurückhalten sollen.
Jeremy grinst mich verschmitzt an und ich schmelze dahin. Bis mir klar wird, dass er immer noch auf eine Antwort wartet.
„Oh, ähm, ja. New York! Es ist toll da! Da sind immer Menschen um dich herum und es ist immer was los. Aber ich habe das Gefühl, dass die Leute im Vergleich zu hier auch anders sind. Hier ist jeder so… hilfsbereit, in einer Großstadt sind alle viel egoistischer.“
„Die größte Stadt, in der ich bisher war, ist Washington“, sagt Jeremy und lacht. „Hast du in New York irgendeinen Sport gemacht?“, will er noch wissen.
„Ich bin ins Fitnessstudio gegangen und ab und zu war ich laufen im Central Park, aber die Möglichkeit habe ich hier wohl nicht, oder?“
„Also ein Sportstudio gibt es hier nicht“, lacht er wieder.
„Ouh, dann muss ich ja aufpassen, dass ich nicht fett werde“, murmele ich. Eigentlich hatte ich gar nicht vor, das laut zu sagen! Man, ich bin so dämlich!
Überrascht sieht er mich an und mustert mich eingehend von unten bis oben.
„Ich glaube nicht, dass du dir bei deiner Figur Sorgen machen musst.“ Dabei kommt er mir ziemlich nahe. Ich kann nicht anders, als abwechselnd in seine Augen und dann auf seine Lippen zu starren. Mein Herz setzt erst kurz aus, um dann doppelt so schnell wie normal weiterzuschlagen. Juunge, was ist denn bei mir los? Sein männlicher Duft kommt mir entgegen und ich atme ihn unauffällig ein.
In dem Moment schaltet Tyler seine Musikanlage auf volle Lautstärke. Es dröhnt Steve Aokis Remix von „Pursuit of Happiness“ aus den Lautsprechern. Ich zucke zusammen und erwache aus meiner Trance. Auch Jeremy setzt sich wieder richtig hin, doch bevor er aufsteht, lächelt er mir nochmal zu.

Wie alkoholisiert ich wirklich bin, merke ich erst, als ich aufstehe, um auf die Toilette zu gehen. Elena zeigt mir den Weg. Auch sie ist ziemlich gut drauf.
„Hör mal Mia, du kannst es leugnen, aber ich habe Augen im Kopf“, sagt sie etwas lallend und grinst mich an. Ich checke gar nichts und schaue sie nur fragend an, bis sie die Augen verdreht, als wäre es total klar, was sie meint.
„Na mein Bruuder! Du magst ihn, oder?“
Inzwischen sind wir im Bad angekommen und ich werfe einen Blick in den Spiegel. Himmel! Meine Haare haben sich aufgeplustert und meine Wangen sind knallrot. Sehr süß.
Um nicht länger mein Spiegelbild betrachten zu müssen, drehe ich mich zu Elena um, die immer noch auf eine Antwort wartet.
„Jaa, ich geb’s ja zu. Ich find ihn ganz gut…“ Frech grinse ich sie an.

Gegen halb zwei machen wir uns auf den Heimweg, schließlich ist das ganze offiziell ja ein Nachbarschaftsfest und das große Haus leert sich nach und nach. Ric ist schon vor einer Weile gefahren, aber wir haben gesagt, dass wir laufen, um länger zu bleiben. Ist ja nicht so weit und draußen ist es immer noch lauwarm. Caroline bleibt bei Tyler und Bonnie muss in eine andere Richtung, aber Matt wohnt auch bei uns in der Nähe, und so kommt er das Stück mit uns. Jeremy und er laufen vor, während Elena und ich ein paar Meter hinter ihnen sind. Wir unterhalten uns ein bisschen über den Abend und über die Schule (ja ich weiß, ein blödes Thema für einen Samstagabend, aber ich muss schließlich wissen, ob es hier irgendwelche Sonderfächer gibt, oder ob die Schule ein Cheerleading Team hat, wenn ich da ab Montag hingehe!). Nach einer Zeit, die mir total kurz vorkommt, aber wahrscheinlich ungefähr zwanzig Minuten war, sind wir da. Matt verabschiedet sich von uns und Elena geht mit einem Augenzwinkern schon mal ins Haus.
Jeremy begleitet mich noch bis zu meiner Auffahrt. Ich will mich von ihm verabschieden, doch dann tritt er einen Schritt näher, sodass ich meine Hand bloß ganz leicht heben müsste, um ihn (oder besser gesagt, seinen durchtrainierten Oberkörper) zu berühren.
„Ich fand es sehr schön, dass du heute Abend mitgekommen bist“, sagt er leise.
„Mir hat es auch Spaß gemacht.“ Meine Stimme ist tonlos, weil ich ein bisschen nervös bin. Ich kann seinen Atem an meinem Hals spüren.
„Schlaf gut, ja? Wir sehen uns Montag in der Schule.“ Mit diesen Worten küsst er mich auf die Wange und geht dann. Ich starre ihm noch eine Weile hinterher, bis er verschwunden ist und ich meine Knie endlich wieder bewegen kann. Da hat man schon in einer Großstadt mit zehnmal so vielen Menschen wie hier gewohnt, und dann muss ich erst nach Mystic Falls ziehen, damit ich jemanden wie Jeremy kennen lerne. Klar, in New York hat es auch ein paar Kerle gegeben, aber dort waren alle irgendwie viel zu sehr auf ihr Aussehen und ihren Ruf bedacht, das hat mich genervt.
In Gedanken laufe ich die Auffahrt zu unserer Haustür hoch.
Ich krame in meiner Tasche nach dem Schlüssel, den meine Eltern mir mitgegeben haben. Als ich hochschaue, erschrecke ich mich zu Tode, denn da steht jemand! Mit weit aufgerissenen Augen starre ich ihn an, kann ihn aber wegen der schlechten Beleuchtung nicht erkennen… und dann ist er weg.
Bin ich völlig bescheuert? Habe ich so viel getrunken, dass ich schon Halluzinationen habe? Suchend schaue ich mich um, doch ich stehe allein auf der Veranda. Schließlich zucke ich mit den Achseln und will die Tür aufschließen, als jemand hinter mir mit tiefer Stimme fragt: „Suchst du mich?“
Ich zucke zusammen und mache instinktiv einen Schritt nach vorne, bei dem ich mich umdrehe.
Einen kleinen Schrei kann ich leider auch nicht verhindern.
Dieses Mal steht da wirklich jemand, den ich jetzt auch erkennen kann. Das ist dieser Damon, der die Rede gehalten hat.
„Hallo, schöne Frau. Ich wollte dich nicht erschrecken. Kennst du mich noch?“, will er mit süßer Stimme wissen.
„Klar“, stammele ich, noch ein bisschen unter Schock.

Kerle... und andere Probleme


Ich muss erstmal schlucken und mich beruhigen. Diese Stadt scheint meine Wahrnehmung irgendwie anzugreifen. Und dabei bin ich doch erst seit gestern hier! Wie soll das nur enden…
Die Mischung aus Schreck und Alkohol macht, dass Damon erst mit der Hand vor meinem Gesicht rumwedeln muss, damit ich wieder in der Realität ankomme.
„Hallo, bist du noch da? Ich will dir etwas zeigen, komm mit!“
Ohne mich zu fragen, oder mir Zeit zum Überlegen zu lassen, ergreift er meine Hand und schleift mich hinter sich her.
„Wohin gehen wir?“, will ich wissen, doch er grinst nur verschmitzt. Inzwischen muss es zwei Uhr sein. Meine Eltern schlafen sicherlich schon längst.
Wir sind die einzigen Menschen weit und breit auf den Straßen und meine Absätze hallen durch die Straßen.
„Gehst du auch auf meine Schule?“, frage ich neugierig. Damon lacht.
„Nein ich gehe schon seit einer Weile nicht mehr zur Schule. Stefan ist aber bei dir im Jahrgang.“
„Wie alt bist du denn?“, will ich wissen.
„Ziemlich alt.“ Der Ton, mit dem er das sagt, ist zwar ziemlich endgültig, aber sein Blick jagt mir eine Gänsehaut über die Arme. Er guckt schon fast herausfordernd. Dieser Kerl ist eindeutig merkwürdig, vielleicht ist er sogar ein bisschen verrückt. Aber er hat auch etwas verdammt Anziehendes an sich. Oder heißt das Ausziehendes? Shit, ich bin eindeutig betrunken. Und Damon sieht eindeutig gut aus. Wenn man sich nur diese Muskeln anschaut…
Okay, ich muss mich wirklich zusammenreißen! Wie sieht das denn aus, wenn ich ihn die ganze Zeit anglotze und vermutlich gleich auch noch zu sabbern anfange. Betrunken hin oder her! Ich richte meinen Blick fest auf die Straße.
Nach einer Weile leitet Damon mich nach rechts. Wir gehen über eine hölzerne Brücke, die über einen laut plätschernden Bach führt. Dann stehen wir vor einem großen schmiedeeisernen Tor. Mystic Falls Cemetery

steht in großen Lettern darüber.
„Damon, was machen wir hier?“, frage ich ängstlich. Bin ich eigentlich bescheuert? Ich kann doch nicht einfach mit einem völlig fremden Typ mitgehen. Klar, Elena kennt ihn. Aber was hatte sie noch mal gesagt? Dass er kein besonders netter Typ ist?
Also bleibe ich stehen und schaue ihn mit großen Augen an. Er seufzt und wendet sich mir zu.
„Süße, wir müssen dadurch. Wir bleiben nicht auf dem Friedhof. Aber es ist der schnellste Weg.“
„Ich glaube, ich möchte lieber nach Hause“, sage ich und reibe mir über die Oberarme. Es ist ganz schön kalt geworden. Damon macht einen Schritt auf mich zu. Er steht ganz nah vor mir.
„Hast du etwa Angst? Vor einem Friedhof? Was soll schon passieren?“ Er kichert leise. „Geister?“
Natürlich hat er vollkommen recht. Gespenster gibt es nicht.
„Hm, aber wir bleiben nicht so lange, okay? Meine Eltern machen sich bestimmt schon Sorgen.“
„Klar“, sagt er zwinkernd und nimmt dann wieder meine Hand.
Ich kann nicht sagen, warum, aber es fühlt sich gut an. Seine Hand ist warm und scheint mich zu beschützen. Als wir nun den dunklen Friedhof überqueren, der nur hier und da von ein paar roten Grablichtern erleuchtet wird, habe ich nicht so viel Angst.
Nach nur zwei Minuten haben wir es auch schon geschafft. An den Friedhof grenzt ein winziges Stück Wald und dahinter ist eine große Lichtung. Umgeben von Bäumen ist es hier total still. Man hört keine Autos, keine Sirenen, keine Menschen. Nur ein paar Nachtvögel, die gelegentlich ihre Rufe durch die Dunkelheit schreien. Irgendwo in der Ferne bellt ein Hund.
Damon hat mich in die Mitte der Lichtung geführt und bedeutet mir, mich neben ihn auf den Boden zu setzen.
„Ist schön hier, nicht wahr?“, fragt er.
Ich bin wirklich beeindruckt. „Bei uns in New York… Da ist sowas gar nicht möglich. Dass man irgendwo alleine ist und es so still ist.“
„Da ist auch sowas nicht möglich, oder?“, raunt er mir ins Ohr. Dann beginnt er meinen Hals zu küssen. Mein Herz pocht dreimal so schnell wie sonst. Mit so etwas hätte ich niemals gerechnet.
Erschrocken weiche ich ein Stück zurück und sehe Damon in die Augen.
„Hey, meinst du nicht, dafür ist es ein bisschen früh?“
Sein Blick hat sich verändert. Es ist, als ob eine völlig andere Person vor mir sitzt. Seine Augen sind kalt und verlangend, sein Mund schmal. Er zeigt keinerlei Emotionen.
„Sei ruhig. Es ist für nichts zu früh“, sagt er und schaut mich dabei so an, dass sich für einen Moment in meinem Kopf alles dreht.
Aber dann ist alles klar und ich habe nur noch einen Gedanken. Natürlich ist es für nichts zu früh.
Damon senkt seinen Mund hart und fordernd auf meinen. Dafür ist es nicht zu früh. Selbstverständlich öffne ich meinen Mund leicht und lasse ihn mit seiner Zunge hinein. Er kommt ein Stück auf mich zu, sodass ich auf dem kühlen Gras liege und er auf mir. Dafür ist es nicht zu früh.
Nicht mal dafür, dass er mir das Kleid und den BH auszieht. Sich selbst zieht er auch aus, bis auf die Boxershorts. Dann küsst er mich wieder, erst auf den Mund, dann wandert er seitlich an meinem Hals herunter bis zu meinem Schlüsselbein.
Seine Hand liegt auf meinem Bauchnabel und wandert ganz langsam weiter südlich. Gleichzeitig ist er mit seinen Lippen bei meinen Brüsten angekommen. Zu meiner Enttäuschung nimmt er die Hand von meinem Bauch und massiert damit meine linke Brust, während er leicht an der rechten Brustwarze saugt. Sie wird sofort steinhart.
Endlich kann ich wieder mehr als nur einen Gedanken denken. Es ist nicht nur nicht zu früh für das, was wir hier machen, sondern ich will es auch. Verdammt, und wie!
Wie lange ist es schon her, dass ich so richtig was mit einem Kerl hatte?
Ich will, dass Damon mit seinem Kopf noch tiefer geht. Oder dass er sich komplett auszieht und in mich eindringt…
Moment mal.
Was denke ich da eigentlich?!?!

Bestimmt schiebe ich Damon von mir weg.
„Hör auf damit!“
Er sieht mich nur verwirrt an. „Was hast du denn?“
„Ich hab doch gesagt, dafür ist es zu früh. Und schon gar nicht mitten im Wald. Mitten in der Nacht. Und ich bin total betrunken, das kannst du doch nicht einfach ausnutzen!“
Wütend aber immer noch ein bisschen verwirrt sieht Damon mich an. Dann sieht er mich wieder so an, wie vorhin. Nur, dass seine Worte jetzt überhaupt keinen Sinn ergeben.
„Sing `Happy Birthday‘ zweimal hintereinander und dann hüpf auf einem Bein, bis du nicht mehr kannst.“
Abwartend schaut er mich an.
Abwartend schaue ich zurück.
Ist der jetzt vollkommen durchgedreht?
„Wie bitte?“, frage ich. Keine Ahnung warum, aber seine Augen weiten sich und er sieht mich nur noch ungläubig an.
„Ein letzter Versuch. Buchstabiere deinen Namen eine Stunde lang.“
Als ich immer noch nicht reagiere, sammelt er seine Klamotten zusammen. Ich drehe mich um, um meine Kleidung ebenfalls wieder anzuziehen.
„Sag mal, bist du psychisch krank oder so?“, frage ich mit dem Rücken zu ihm, aber ich bekomme keine Antwort. Als ich meinen Bh wieder anhabe, drehe ich mich um.
Damon ist weg. Verschwunden. Das kann doch gar nicht sein! Die Lichtung ist riesig. Selbst wenn er gerannt wäre, könnte er den Wald noch nicht erreicht haben.
„Damon?“, rufe ich in die Nacht hinein. „Das ist nicht lustig!“
Doch ich bekomme keine Antwort. Ich bin alleine. Im Wald. Neben einem Friedhof.
Oh Gott, wieso bin ich überhaupt mit ihm mitgegangen?
Vor Schreck werde ich ganz nüchtern. So schnell ich kann, ziehe ich mein Kleid an und will dann nach Hause rennen, doch ich laufe direkt in etwas rein. In jemanden.
Bevor ich schreien kann, wird mir der Mund zugehalten.
„Hey, beruhige dich. Ich bin’s, Stefan. Elenas Freund. Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Damon ist kein guter Mensch, du solltest dich besser von ihm fernhalten. Komm, ich bringe dich nach Hause.“

Vögel zwitschern. Die Sonne scheint. Es ist Sonntag.
Ich strecke mich genüsslich und will aufstehen. Noch nicht ganz wach, setze ich mich auf und… Bamm! Stoße ich mir den Kopf an der blöden Dachschräge. Na super. Die Sterne, die vor meinen Augen tanzen, sind noch nicht vollständig verschwunden, als meine Tür aufgerissen wird.
„Miaaa, aufstehen!“, kreischt mein kleiner Bruder, rennt auf mich zu und schubst mich rückwärts aufs Bett. Da lässt es sich nicht vermeiden, dass ich mir auch noch mal den Hinterkopf stoße. Dann springt Ben auf mein Bett und hüpft so lange darauf herum, bis meine Mutter im Türrahmen steht. Ich bin komplett bewegungsunfähig. Schwerverletzt. Mindestens.
„In zehn Minuten ist das Frühstück fertig und dann wollten wir ins Möbelhaus. Kommst du gleich runter?“
Da wir von unserer 90 qm großen New Yorker Wohnung jetzt in ein fast 200 qm großes Haus gezogen sind, fehlen uns noch ein paar ganz elementare Einrichtungsgegenstände. Eine zweite Duschwand zum Beispiel.
Und da trifft es sich doch hervorragend, dass das große Möbelhaus in der Nähe heute fünfjähriges Jubiläum hat und zur Feier dessen diesen Sonntag geöffnet hat.

Eine Stunde später schlurfen wir mehr oder weniger (Ben mehr, ich weniger) motiviert durch die Gänge des schwedischen Einrichtungshauses. Klar, auch für mich ist etwas dabei – Bilderrahmen, ein paar Kerzen, eine Stehlampe und ein großes, auf Leinwand gezogenes Bild von der Brooklyn Bridge – aber trotzdem will ich einfach nur nach Hause, vielleicht mit Esme telefonieren und schlafen. Ich fühle mich, als hätte ich durchgemacht, dabei muss ich doch schon so gegen kurz vor zwei zu Hause gewesen sein.
Als meine Eltern dann noch nach neuen Regalen und Pflanzen gucken wollen, habe ich keine Lust mehr. Ich schnappe mir Ben als Alibi und gehe mit ihm in die Kinderecke. Er findet dort gleich neue Freunde und spielt Feuerwehrmann (er will später mal einer werden). Ich setze mich in die Filmecke, wo gerade „Marley & ich“ läuft.
Oh, sie reden gerade über’s Kinderkriegen.
Oh, sie wollen anscheinend auch welche machen! Wieso läuft sowas in einer harmlosen Kinderecke?
Naja, mich selbst stört es nicht, und ich sehe gebannt zu, wie Owen Wilson die blonde Frau aufs Bett trägt. Er beugt sich über sie und beginnt sie zu küssen.
In dem Moment durchfährt mich eine Erinnerung wie ein Blitz.
Ich hatte heute Nacht einen ganz merkwürdigen Traum, in dem ich fast Sex mit Damon gehabt hätte. Doch dann ist er verschwunden und Stefan ist aufgetaucht, um mir zu helfen.
Oh man, was träume ich nur für eine Scheiße.
In dem Moment piept mein Handy.

Hey Mia, hast du heute Abend schon was vor?
Hast du vielleicht Lust, ins Kino zu gehen?
XX Jeremy

Auf meinem Gesicht breitet sich ein Lächeln aus. Ob ich Lust habe? Was für eine Frage!
Mit einem Mal verschwindet meine schlechte Laune und ich werde ganz hibbelig.

Können wir gerne machen.
In welchen Film wollten wir denn gehen?
XX Mia

Per Sms einigen wir uns auf The Cabin in the Woods, ein Gruselfilm. Ich liebe solche Filme!
Ich gebe auch gleich Esme Bescheid, dass ich ein Date habe. Dann schnappe ich mir meinen kleinen Bruder und mache mich auf die Suche nach meinen Eltern.

Nachmittags stehe ich vorm Spiegel, kann mich aber einfach nicht entscheiden, was ich anziehen soll. Ein Kleid ist irgendwie zu schick, aber ich will eigentlich nicht nur eine Hose anziehen.
Letztendlich entscheide ich mich für eine schwarze Leggings in Lederoptik und ein kurzes Oversize-Oberteil… Aber seht selbst:


Impressum

Texte: Manche Figuren sind von L.J. Smith, der Rest ist geistiges Eigentum von Stefanie M.
Bildmaterialien: Cover by Teetrinkerin - vielen Dank! :)
Tag der Veröffentlichung: 03.07.2012

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