Cover

Eins


Der Himmel ist bestimmt schön, wenn ich dort ankomme. Aber halt, wer sagt denn, dass ich in den Himmel komme? Schließlich war ich dabei, zu einem Vampir zu werden, da kommt man doch wahrscheinlich eher in die Hölle, oder nicht? Wie konnte ich nur jemals denken, dass ich dieses Ritual überleben kann? Ich war schließlich schon so gut wie „fertig“. Alle haben mir davon abgeraten.



Diese und ähnliche Gedanken gingen durch Emmas Kopf. Auch wenn sie sich federleicht fühlte, weil ihr Bewusstsein noch nicht wieder vollständig da war, würde sie bald merken, dass ihr jedes einzelne Glied schmerzte. Jayden saß an ihrem Bett und passte auf sie auf. Will hatte gesagt, dass sie wieder aufwachen würde. Sie würde aufwachen und Mensch sein. Alles würde wieder gut werden.

Die letzten Tage waren der Horror für Jayden gewesen. Ständig musste er um seine Schwester bangen. Natürlich hatte er gewollt, dass sie wieder ein Mensch wurde. Vampire mochte er nicht wirklich. Will war zwar okay, aber trotzdem blieb Jace immer auf Abstand.
Und trotzdem hatte er ihr von dem Ritual abgeraten, wie alle anderen es auch getan hatten. Es hätte sonst was passieren können. Sie wäre fast gestorben!
Immer noch machte er sich schwere Vorwürfe, dass er seine Schwester nicht gezwungen hatte, zu Hause zu bleiben. Was hätte er denn Daniel erzählen sollen? Emma war im Wald und wurde von einem Ast erschlagen?
Früher hätte er es sich nicht eingestanden, aber seine neue Familie war ihm wirklich ans Herz gewachsen. Die kleine Rose, die bei seinem Anblick immer vergnügt quiekte, Christine, die nur das Beste für ihn wollte, Daniel, der sein biologischer Vater war, und natürlich Emma. Seine Schwester.
Am Anfang fühlte er sich nicht dazugehörig und wollte am liebsten weglaufen. Er hatte nicht verstanden, wie diese Menschen, die ihn doch überhaupt nicht kannten, seine Mutter ersetzen wollten. Später hatte er erkannt, dass das gar nicht ihr Ziel war. Sie wollten ihm helfen, weiterzuleben und für ihn da sein.
So richtig bemerkt hatte er das erst durch Olivia. Sie war wunderbar, warum war sie ihm nicht schon früher aufgefallen?
Früher, als er Drogen genommen hatte… naja, vielleicht war es besser, dass sie ihm nicht früher aufgefallen war. Wer wusste schon, wo er sie überall mit hineingezogen hätte? Oder ob sie überhaupt ein solches Interesse an ihm gezeigt hätte?
Beim Gedanken an sie musste er lächeln. Sie bedeutete ihm wirklich viel, er hatte noch nie so für ein Mädchen empfunden. Auch in der Zeit, bevor seine Mutter starb, war er nicht gerade der offenste Mensch gewesen. Das mochte daran liegen, dass er die Auren seiner Mitmenschen sehen konnte und so praktisch wusste, was wirklich in ihnen vorging.
Die meisten Menschen waren hinterlistig und falsch und daher hielt er sich gerne von ihnen fern.
Jetzt war das aber anders. Olivias Aura war rein und sie schien ihn wirklich zu mögen.
Es tat ihm in der Seele weh, dass er sie anlügen musste was die ganze Vampirgeschichte anging. Er wusste nicht, wie Emma das gemacht hatte, schließlich hatte sie auch noch jede Nacht bei Will geschlafen… Ob da wohl mehr zwischen den beiden passiert war? Jayden gönnte Emma zwar ihr Glück, falls sie denn welches hatte, aber nicht unbedingt mit einem Vampir.
Er kam nicht dazu, den Gedanken zu vertiefen, denn in diesem Moment ertönte eine leise, brüchige Stimme.
„Jace?“ Emma öffnete langsam die Augen und blinzelte. „Jace, bist du das?“
Sofort rückte er mit dem Stuhl noch näher an ihr Bett.
„Ja, ich bin’s. Alles ist gut.“
Er bemerkte, wie sie sich suchend im Zimmer umsah. „Er ist nicht hier“, sagte er und sie sah ein bisschen enttäuscht aus. „Wie geht es dir?“
Emma schluckte trocken und sofort hielt Jayden ihr eine Flasche Wasser hin. Mühsam richtete sie sich auf und zuckte bei jeder Bewegung zusammen. Dankbar trank sie einen Schluck, bevor sie antwortete.
„Alles tut weh.“
„Soll ich dir irgendwas bringen?“, fragte Jayden fürsorglich. Er konnte es nicht haben, zu sehen, wie blass sie war und wie schlecht es ihr ging.
„Nein es geht schon“, sagte sie und ließ sich zurück in ihr Kissen sinken. „Was ist passiert?“
Jayden erinnerte sich nicht gerne daran. Zoey hatte ihn zwar weggeschickt, damit er nicht störte, aber er war trotzdem in der Nähe geblieben. Er hatte noch lange keinen Blick auf die Lichtung, auf der Emma und Will sich befanden, aber das machte nichts.
Gegen zwölf Uhr wurde ihm schwindelig und er musste sich setzen. Und dann passierte etwas, das er erst ein Mal erlebt hatte.
Auf ein Mal stand er am Rande der Lichtung. Er musste sich erst orientieren, denn alles war dunkel. Nur ein paar Kerzen und ein kleines Feuer brannten. Dann sah er sie. Emma lag auf dem Boden und Will kniete neben ihr. Sie war blass und schien nicht mehr zu atmen. Jayden bekam Panik, so körperlos konnte er schließlich nichts unternehmen. Hatte sie überhaupt noch einen Herzschlag? Warum belebte Will sie denn nicht wieder?
Und dann fing sie an, zu krampfen. Ein unkontrolliertes Zucken schüttelte ihren ganzen Körper, dabei gab sie raue Schreie von sich und riss die Augen auf. Jayden konnte nichts anderes tun, als sie anzustarren. Aber auch Will bewegte sich nicht.
Mit einem Mal stand seine Familie bei ihm. Die große, blonde Frau, die Wills Mutter war, ging zielstrebig auf Emma zu. Sie verdeckte Jaydens Sicht, sodass er nicht sehen konnte, was sie mit ihr machte. Er war sich auch nicht sicher, ob er das überhaupt wissen wollte.
Nach kurzer Zeit verstummten die Schreie und seine Schwester lag nun ruhig am Boden.
Dann war Jayden wieder weit weg von der Szenerie. Er zitterte am ganzen Körper und war nassgeschwitzt. Er fühlte sch vollkommen erledigt.
„Du hast es gesehen, oder?“, ertönte eine Stimme neben ihm und er zuckte zusammen. Es war Zoey. In ihrem Blick lag Mitleid, aber auch ein Hauch von Neugierde.
Jayden nickte nur und stand auf.
„Wir glauben, dass sie das Schlimmste überstanden hat. Meine Eltern bringen sie gerade zu euch nach Hause. Du musst auf sie aufpassen, also solltest du dich auch auf den Weg machen.“
Er war zu müde, um zu protestieren.
Das war jetzt schon zwei Tage her.

„Nichts, es ist alles gut gelaufen“, antwortete Jayden auf Emmas Frage.
„Wie bin ich hergekommen?“, wollte sie mit brüchiger Stimme wissen.
Jayden erklärte es ihr, und auch, dass heute schon Dienstagabend war.
„Ich bin wirklich froh, dass du alles gut überstanden hast“, sagte er noch, dann entschuldigte er sich und ging kurz vor die Tür.
Jayden tätigte einen Anruf. Nach nur zehn Minuten stand Will vor der Tür.
„Sie ist oben“, sagte Emmas Bruder und ging in sein eigenes Zimmer, während Will ihres betrat.
„Hey“, sagte er und setzte sich auf den Stuhl, der vor dem Bett stand. Müde lächelnd erwiderte sie seine Begrüßung.
„Wie fühlst du dich?“
„Als hätte mir jemand jeden Knochen einzeln gebrochen“, scherzte Emma.
Will schaute sie besorgt an. Er wusste, dass sie große Schmerzen haben musste, auch wenn sie es nicht so offen vor ihm zugeben wollte. Es versetzte seinem Herz einen Stich, das Mädchen, für das er in der kurzen Zeit so viele Gefühle entwickelt hatte, so schwach, bleich und verletzlich zu sehen. Auch auf der Lichtung war er völlig verzweifelt. Er hatte erst gedacht, dass er sie verloren hatte, als sie so reglos in seinen Armen lag. Sein Schmerz war unvorstellbar gewesen, es war, als hätte jemand all seine Eingeweide herausgerissen und dabei das Herz in viele kleine Stücke zerhackt. Umso erleichterter war er, sie jetzt doch wohlauf zu sehen. Unwillkürlich streckte er seine Hand nach ihr aus, als wolle er sie berühren. Sie schwebte für einen Augenblick in der Luft, dann ließ er sie doch wieder sinken. Er durfte nicht so empfinden.
Will verwirrten seine Gefühle. Er hatte noch nie für ein Mädchen so empfunden, schon gar nicht für ein Sterbliches. Im Hinblick auf das, was er zu tun hatte, machte ihn das unglaublich traurig und verzweifelt. Er versuchte, die Zeit noch ein wenig hinauszuzögern.
„Jetzt bist du tatsächlich wieder ein Mensch.“ Er konnte nicht vermeiden, dass sich ein leicht verbitterter Unterton in seine Worte einschlich.
Sie sah ihn mit großen Augen an und nickte. „Bleibst du bei mir?“, flüsterte sie unvermittelt. „Bis es mir besser geht?“ Jetzt kann endlich alles gut werden

, dachte Emma.
Doch Will schüttelte langsam den Kopf. „Ich wünschte, ich könnte“, sagte er mit rauer Stimme.
Er rückte mit dem Stuhl so nah an das Bett heran, wie es ging und nahm dann doch Emmas Hand. Dabei sah er ihr tief in die Augen, die ihn verwirrt und verunsichert ansahen.
„Ich will dass du weißt, dass du mir sehr viel bedeutest. Mehr, als es je eine Frau getan hat. Diese Tage mit dir… haben mich verändert, das hat selbst Zoey bemerkt. Du bist so ein guter Mensch, ich hoffe, dass du eines Tages mit einem Mann glücklich wirst, der dich gut behandelt und mit dem du eine Familie gründen kannst.“
Während er das sagte, fühlte er, wie die Traurigkeit sich in ihm ausbreitete. Ihre Augen wurden größer und Unverständnis lag darin.
„Was willst du mir damit sagen?“, verlangte sie zu wissen.
„Du bist jetzt wieder ein Mensch, Emma. Und demnach darfst du nichts von der Existenz der Vampire wissen.“
„Heißt das, du willst… meine Erinnerung löschen? An dich? An deine Familie? An die ganzen Tage?“
Will bemerkte, dass Tränen in ihren Augen glitzerten. Er hatte sie nicht traurig machen wollen.
„Nein, das lasse ich nicht zu!“, sagte sie jetzt bestimmt und schloss ihre Augen. „Du musst mir dafür in die Augen sehen, oder? Das kannst du vergessen, Will.“ Jetzt wurde sie eindeutig sauer.
Er wünschte sich so sehr, dass er das nicht machen müsste, aber es ging nicht anders. Er wollte, dass sie außer Gefahr war und ein glückliches Leben führen konnte. Er würde immer auf sie aufpassen. Und vor allem würde er sich den Vampir vorknöpfen, der ihr all das angetan hatte, das hatte er sich schon längst geschworen.
Aber zunächst musste Will Emma die Erinnerung an ihn nehmen. Sie hielt die Augen immer noch geschlossen. Eine Träne löste sich trotzdem aus ihrem Augenwinkel und lief über ihre Schläfe.
Er wollte ihre Hand nehmen, doch sie schüttelte ihn ab. Also legte er seine große Hand auf ihren Unterarm, um einen Kontakt herzustellen.
Er hasste es. Er hasste sich. Doch mit seinen übernatürlichen Kräften zwang er sie dazu, ihn anzusehen.
„Nein“, rief sie und wehrte sich, doch er war stärker.
„Es tut mir so leid“, flüsterte er und die Tatsache, dass er selbst sie so traurig machte – machen musste – ließ ihm fast das Herz zerspringen. Und dann nahm er ihr die Erinnerungen - vom ersten Treffen beim Italiener bis zu dem Moment, in dem sie sich gerade befanden. Sie würde glauben, dass sie viel Zeit mit Jayden und ihren anderen Freunden verbracht hatte.
Als Will seine Aufgabe schließlich erfüllt hatte, versetzte er Emma in einen leichten Schlaf. Er stand auf, schob den Stuhl zurück und schaute sie noch ein Mal an. Dann drehte er sich um und verließ das Zimmer mit schnellen Schritten.
Vor der Tür stand Jayden und sah ihn mit einem Blick an, der einerseits seine Dankbarkeit zeigte, weil Emma jetzt in der Lage war, ein normales Leben zu führen, aber auch Schmerz. Wills eigenes Gesicht musste eine schmerzverzerrte Maske sein. Er förderte eine kleine Ampulle aus seiner Jackentasche zu Tage, die mit roter Flüssigkeit gefüllt war und reichte sie Jayden.
„Sorg dafür, dass sie das irgendwie zu sich nimmt. Das ist mein Blut. Damit müsste ihr Körper morgen fast vollständig verheilt sein“, sagte Will. Dann verschwand er in die Nacht.

Der nächste Tag war komisch.
Einerseits fühlte Emma sich gut, lebendig. Andererseits fühlte sie sich sehr merkwürdig. Leer irgendwie. Es war ein schreckliches Gefühl. Sie konnte sich nicht erklären, woher es kam.
Es war, als wäre sie in zwei Hälften aufgeteilt. Wenn sie mit ihren Freundinnen war, war alles in Ordnung und sie spürte nicht viel von der Leere, sie dachte auch gar nicht daran.
Doch sobald sie allein war, auf der Toilette oder einen Kurs ohne ihre Freundinnen hatte, fing sie an zu zittern und hatte das Gefühl, dass sie beobachtet wurde.
Deswegen beschloss sie auch, die letzte Stunde zu schwänzen und stattdessen in die Stadt zu fahren. Sie brauchte ohnehin mal ein paar neue Klamotten.
Also meldete sie sich bei Mr. Parker, dem Chemielehrer, ab und machte sich auf den Weg durch die leere Schule. Alle saßen jetzt in ihren Klassenzimmern.
Gedankenverloren wühlte Emma in ihrer Tasche nach dem Schlüssel zu ihrem Spind, denn sie wollte noch ein paar Schulbücher hineinlegen. Sie war schon fast an ihrem Schrank angekommen und wollte den Schlüssel gerade aus der Tasche ziehen, da sagte eine tiefe Stimme: „Vorsicht!“
Emma zuckte zusammen und blickte erschrocken nach oben. Prompt fing sie wieder an, zu zittern.
Im nächsten Moment war ihr das peinlich, denn sie erkannte, vor wem sie da stand: Will Lavie. Er ging in die Stufe über ihr und sah unfassbar gut aus. Seine schwarzen Haare waren verwuschelt und die blauen Augen sahen sie mit einem Blick an, den Emma nicht zuordnen konnte.
Will war unbestritten einer der begehrtesten Typen der ganzen Schule und auch Emma konnte bei seinem Anblick regelrecht ins Schwärmen geraten. Aber sie war keine dieser unglaublich beliebten, heißen Blondinen, auf die jeder Typ stand. Sie war nur Durchschnitt und würde daher niemals Chancen bei einem Jungen wie Will haben.
Trotzdem breitete sich ein Gefühl in Emma aus, das sie nicht verstand. Es war sowas wie Zuneigung, ein bisschen Furcht, aber vor allem Vertrautheit. Irgendwas stimmte mit ihr nicht, vielleicht wurde sie krank, sagte sie sich. Schließlich hatte sie mit Will Lavie noch nie ein Wort gewechselt.
Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass er wohl etwas gesagt haben musste und sie ihn nur anstarrte. Wahrscheinlich dachte er, dass sie sie nicht mehr alle beisammen hatte, oder so. Fehlt nur noch, dass ich anfange, zu Sabbern

, dachte sie sich.
Will wiederholte sich nochmal, weil Emma nicht reagiert hatte.
„Du wärst fast in mich reingelaufen. Pass demnächst auf.“
Sie hatte seine Worte zwar gehört, aber verarbeiten konnte sie sich nicht wirklich. Der Klang seiner Stimme verstärkte das Gefühl der Zuneigung zu ihm noch. Emma handelte aus einem Impuls heraus. Sie dachte nicht darüber nach, sie konnte nur dabei zuschauen, wie sich ihre Hand langsam hob und sich auf Wills Wange platzierte.
Zunächst war sein Ausdruck ungläubig, dann zog er die Augenbrauen zusammen und nahm ihre Hand sanft, aber bestimmt weg. Dann ging er an Emma vorbei den Gang hinunter. Sie schaute ihm hinterher, bis er nicht mehr zu sehen war.
Dann, als wäre sie aus einer Trance erwacht, schlug sie sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und sagte zu sich selbst: „Man, intelligenter hättest du nicht rüberkommen können, Emma Harper! Was denkt er denn jetzt von dir? Dass du ein kleines Kind bist, das ihn aus der Ferne anschmachtet?! Oh mein Gott, wie peinlich.“
Während sie sich selbst vorwarf, was für eine dumme Aktion das gewesen war, räumte sie die Bücher in den Spind und betrat dann den Parkplatz. Die Sonne stach ihr ungewöhnlich hell in die Augen, obwohl sie gar nicht so intensiv schien.

Schnell war Emma in der Stadt angekommen und stürzte sich in die Fußgängerzone. Besonders interessiert besah sie sich die Schaufenster, um ja nicht an die innere Leere denken zu müssen.
Sie wurde schon im ersten Laden fündig: Sie kaufte einen Pullover von der Marke Superdry

und eine beige Lederimitat-Jacke.
Im Schuhgeschäft neben an kaufte sie ein paar schwarzer High Heels, um die Olivia sie sicherlich beneiden würde. Sie waren größtenteils offen und vorne mit einer kleinen Blume verziert.
Dann legte sie eine kurze Pause bei Starbucks

ein und trank Kaffee, nur um sich dann auf in das nächste Geschäft zu machen. Sie brauchte dringend ein paar ganz normale Shirts in schwarz oder weiß, vielleicht sogar ein bedrucktes Top. Also fuhr sie mit der Rolltreppe in die erste Etage und sah sich dann um.
Auf ein Mal sah Emma eine Frau bei den T-Shirts. Sie war groß, hatte blondes, gelocktes Haar und rote Lippen. Diese machten den Kontrast zu ihrer ohnehin schon blassen Haut noch größer.
Ein Gefühlt beschlich Emma… Sie wusste nicht, wo sie sie schon ein Mal gesehen hatte, doch diese Frau kam ihr merkwürdig vertraut vor. Sie war höchsten zwei Jahre älter, als sie selbst. Dieser leicht freche Ausdruck im Gesicht und die hochgezogene Augenbraue… Kurzerhand lief Emma auf sie zu.
„Hi! Kennen wir uns?“, fragte sie freundlich.
Die Frau zuckte erschrocken zusammen und sah hoch. Als sie Emma sah, entglitten ihr für einen kurzen Moment die Gesichtszüge, dann schaute sie sie unfreundlich an.
„Ich denke nicht.“ Mit diesen Worten wandte sie sich ab.
Perplex öffnete Emma den Mund, sagte aber nichts weiter. Warum waren heute denn alle so gereizt?
Oder lag es an ihr selber? Halluzinierte sie? Wahrscheinlich sollte sie lieber schnell nach Hause fahren und sich ins Bett legen, sie schien eine heftige Erkältung, oder eine Grippe auszubrüten. Dazu passten auch die leichten Knochenschmerzen, die sie seit dem Aufwachen hatte.
Schnell lief Emma zurück zu ihrem Auto und trat dann den Heimweg an.

Zwei


Sobald Emma an der ersten Ampel warten musste, überkam sie wieder dieses schreckliche Gefühl, beobachtet zu werden. Hastig blickte sie sich um, konnte aber niemanden erkennen. Sie schaltete das Radio an, um sich abzulenken.
Gerade, als die ersten Töne von „Payphone“ von Maroon5 erklangen, erfasste Emma der starke Drang, an der nächsten Kreuzung rechts abzubiegen, anstatt links.
Werde ich jetzt völlig verrückt?

, fragte sie sich, als sie sah, dass die Straße rechts schon zum Nachbarort führte.
Die rechte Ampel sprang auf Grün. Instinktiv fühlte Emma, dass sie keine Ruhe haben würde, wenn sie ihrem merkwürdigen Drang nicht nachging. Sie wurde praktisch angezogen von einem Ziel, das sie selbst noch nicht kannte.
Ohne richtig zu wissen, was sie tat, reihte Emma sich in den rechten Fahrstreifen ein und bog ab. Ihr Magen zog sich erwartungsvoll zusammen. Die Intuition lotste sie immer weiter die Straße hinunter, bis sie schon am Rande von Tillamook war, dann wusste sie mit einer bisher ungekannten Sicherheit, dass sie erneut rechts abbiegen musste.
Es war, als ob ihr Unterbewusstsein die Steuerung übernommen hätte. Die äußere, vorsichtige Emma, die so etwas nie gemacht hätte, war immer noch da, allerdings schien sie von der aus Intuition handelnden Emma vorerst in eine Ecke ihres Kopfes gedrängt worden zu sein.
Völlig unbeteiligt konnte Emma die beiden streiten hören. Die Engel-Emma (die, für die das alles hier zu gefährlich war), warf der Teufel-Emma (was denn? Hier war doch überhaupt nichts dabei!) vor, sie in Gefahr zu bringen mit ihrem unüberlegten Handeln.
Was die Teufelin natürlich gar nicht nachvollziehen konnte. Man sollte das Abenteuer lieben!
Emma schüttelte den Kopf, um die beiden auszublenden. Schizophren war sie jetzt anscheinend auch noch. Toll. Sie sollte sich unbedingt mal überlegen, ob sie eine Therapie machen musste.
Sie befand sich inzwischen auf einem Waldweg, der nach und nach doch ziemlich holprig wurde. Das konnte nicht gut für die Stoßdämpfer sein.
Immer mehr Bäume umgaben sie und es wurde immer dunkler. Emma schauderte leicht, doch an Umdrehen war nicht zu denken – schon allein, weil der Weg viel zu schmal war.
Als sie schon dachte, sie völlig verfahren zu haben und nie wieder aus diesem Wald herauszufinden, mündete der Weg in einer Auffahrt.
Vor ihr thronte ein riesiges weißes Herrenhaus, das in einem alten Stil gebaut worden war – Barock? Emma wusste es nicht. Es hatte viele kleine Fensterchen und ein schmiedeeisernes Tor lud dazu ein, sich dem Gebäude weiter zu nähern. Auf dem kleinen, runden Platz vor der Veranda war sogar ein Springbrunnen, dessen Spitze ein Delfin war.
Der Impuls auszusteigen war so heftig, dass Emma fast die Luft wegblieb.
Bevor sie es allerdings tatsächlich tun konnte, schrillte ihr Handy so laut, dass sie ein erschrockenes Quieken von sich gab und sich den Kopf am Seitenrahmen des Autos stieß.
Ärgerlich nahm sie den Anruf an und rieb sich dabei die pochende Schläfe.
„Hi“, meldete sich Paula. „Wo bist du?“
„Ähm, auf dem Weg nach Hause“, log Emma. Sie konnte ja schlecht erzählen, dass sie vor irgendeinem Haus in der Wildnis parkte, dass sie überhaupt nicht kannte. Paula würde sie für völlig übergeschnappt erklären. Vielleicht auch zu Recht.
„Du warst in Bio nicht mehr da, ich hab mir Sorgen gemacht. Geht es dir gut?“ Vor ihrem inneren Auge konnte Emma ihre Freundin sehen, wie sie ihren besorgten Blick aufsetzte: Zusammengezogene Augenbrauen, leichte Falten auf der Stirn.
„Jaah, alles bestens. Ich hab bloß… meine Periode bekommen und deshalb bin ich ein bisschen müde. Ich wollte mich hinlegen.“
„Ach, wenn das so ist… Hast du Lust, morgen Nachmittag mal wieder mit zum Cheerleading zu kommen? Wir waren schon ewig nicht mehr da.“
„Naja du übertreibst. Es ist zwei Wochen her oder so.“ Die Erinnerung wollte nicht so recht wieder kommen und Emma schob es auf die stressigen letzten Wochen. Sie hatte viel für die Schule gelernt.
Den Kopfschmerz, den sie beim Nachdenken bekam, schrieb sie dem Kopfstoß zu, den sie vorhin beim Erschrecken erlitten hatte.
„Also, kommst du mit? Olivia hat auch schon zugesagt.“
„Na wenn sie schon zugesagt hat, kommen wir sowieso nicht mehr drum herum.“ Emma seufzte und Paula kicherte. Olivia würde morgen beim Mittagessen so lange auf sie einreden, bis sie aufgaben und sie begleiteten.
„Gut. Chloe und Hailey werden sich freuen.“
Die beiden verabschiedeten sich voneinander und legten auf.
Genau im gleichen Moment wurde ihre Autotür aufgerissen.
Erneut panisch quiekend wich Emma zurück. Sie hatte die Augen weit aufgerissen und saß schon fast auf dem Beifahrersitz.
„Kann ich helfen?“, fragte eine freundliche, männliche Stimme. Er stand im Gegenlicht, sodass Emma eine Weile brauchte, um ihn zu erkennen. Ich erster Schock legte sich schnell wieder und sie setzte sich wieder ordentlich hin.
„Nein, ich habe mich nur verfahren. Ich wollte gerade wenden.“ Emma lächelte freundlich und betrachtete den Mann genauer. Irgendwie kam er ihr bekannt vor, hatte sie ihn schon Mal irgendwo gesehen? Im Fernsehen vielleicht?
Er war nicht sehr groß für einen Mann, hatte dunkles Haar, das kurz geschnitten war und stahlblaue Augen, die Emma praktisch zu durchschauen schienen.
„Kennen wir uns?“, wollte sie verwirrt wissen und hätte sich im nächsten Augenblick für diese dumme Frage ohrfeigen können. Wahrscheinlich war sie ihm schon mal auf dem Markt begegnet, oder in der Stadt. Vielleicht war er ja auch der Vater von irgendwem auf der Highschool und deshalb kam er ihr bekannt vor.
„Nein, ich denke nicht.“ Das Lächeln des Mannes war immer noch freundlich und offen. Er musste Anfang dreißig sein.
„Okay, ich fahr dann jetzt mal wieder“, sagte Emma und hatte dabei das Gefühl, dass heute wirklich gar nichts Sinnvolles aus ihrem Mund kam. Vielleicht sollte sie für den Rest des Tages besser schweigen.

Auf dem Weg nach Hause wunderte sie sich, was heute eigentlich mit ihr los war. Konnte das alles an einer Grippe liegen?

Es war halb sechs, als sie zu Hause ankam. Ihre Mutter Christine saß am Wohnzimmertisch und hatte ihre Brille aufgesetzt. Sie beugte sich über irgendwelche Zahlen und rechnete. Als sie Emma bemerkte, lächelte sie und küsste ihre Tochter auf die Wange.
„Mom, ich glaube, ich werde krank. Ich leg mich eine Weile hin, esst ruhig schon mal ohne mich.“
Besorgt legte Christine ihr die Hand auf die Stirn. „Du bist auch ein bisschen heiß. Soll ich dir einen Tee machen oder so?“
„Nein danke, aber ist lieb von dir.“ Emma lächelte ihr noch einmal zu und ging dann nach oben. Sie las noch eine Weile, aber dann überrollte sie die Müdigkeit wie eine Welle.

Alles war still, bis auf das nächtliche Zirpen der Grillen und das leise Rascheln von Laub unter Emmas Füßen. Sie war in einem Wald, aber wo genau konnte sie nicht sagen. Der abnehmende Mond schien hell auf sie herunter und tauchte die Szenerie in ein kaltes, blaues Licht.
Etwas weiter weg leuchtete etwas. Emma konnte Stimmen hören und ein Haus sehen. Leise schlich sie näher und versteckte sich hinter einem Baum, und nicht gesehen zu werden. Das Haus war riesig und weiß. Hier schienen reiche Menschen zu wohnen. Ein Springbrunnen in der Form eines Delfins prangte auf dem Vorplatz. Emma kannte das Haus! Sie hatte es schon öfter gesehen…
Da hörte sie wieder die Stimmen. Ein Mann und eine Frau, sie stritten.
Emma blieb im sicheren Schatten der Bäume und lief langsam um das Haus herum, bis sie verstehen konnte, was gesagt wurde.
„Du musst mit ihr reden!“, rief die Frau aufgebracht. Sie war groß und blond, aber sie stand mit dem Rücken zu Emma. Die Stimme kam ihr bekannt vor.
Als der Mann etwas erwiderte, fiel Emmas Blick auf ihn und ihr stockte kurz der Atem.
Schwarze, kurze Haare. Blaue Augen. Will!
„Das können wir nicht machen! Es wäre weder gut für sie, noch für uns.“
„Hast du nicht gemerkt, wie sie leidet? Die Gedankenmanipulation scheint nicht richtig funktioniert zu haben. Ich hab sie heute in der Stadt getroffen und sie hat mich erkannt, auch wenn sie mich nicht zuordnen konnte. Wir haben ihr Unterbewusstsein nicht erreicht.“
Will antwortete nicht sofort. Er schien nachzudenken und für einen kurzen Augenblick konnte Emma einen Ausdruck von Schmerz auf seinem Gesicht erkennen.
Noch während sie überlegte, über wen die beiden redeten, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Die Frau war die, die sie heute in der Stadt angesprochen hatte. Die zwei, in welcher Verbindung sie auch immer zueinander standen, sprachen über Emma! Aber was meinten sie? Gedankenmanipulation? Unterbewusstsein?
„Ich weiß. Ich bin ihr heute auch begegnet. Ich musste so tun, als ob sie verrückt wäre.“ Ein gequälter Ausdruck trat auf sein Gesicht.
„Du magst sie doch. Wir müssen was machen. Das tut ihr nicht gut.“
„Verdammt Zoey! Wir können nichts machen! Wir wissen ja noch nicht einmal, wer sie verwandeln wollte!“
Verwandeln?! Emmas Armhärchen stellten sich auf und ein eiskalter Schauer lief ihr den Rücken herunter.



Mit einem Ruck setzte Emma sich auf. Heftig atmend und durchgeschwitzt blickte sie sich um. Sie war zu Hause, in ihrem Bett. Es war nur ein Traum, redete sie sich ein. Das bestätigte sie in ihrer Vermutung, dass sie krank wurde. Fieberträume waren ein eindeutiges Zeichen dafür. Ich Blick streifte die Anzeige ihres Weckers. 04:17. Emma stöhnte. Morgen würde sie todmüde sein.
Vielleicht sollte sie sowieso besser zu Hause bleiben und sich gesund pflegen… Sie glitt wieder in einen traumlosen Schlaf.

Emma musste so schrecklich ausgesehen haben, dass ihre Mutter ihr am nächsten Morgen beim Frühstück tatsächlich anbot, zu Hause zu bleiben.
Sie putzte sich noch schnell die Zähne, bevor sie wieder ins warme Bett schlüpfte. Ihr Spiegelbild war ungewöhnlich blass gewesen und ihre Haare und Augen glanzlos.
Sobald Emma unter der kuscheligen Bettdecke lag, fielen ihr die Augen wieder zu. Sie war so schrecklich müde. Sie war letzte Nacht aufgewacht, weil sie diesen Traum hatte… Er war so real gewesen. Was hatte dieser Will noch gleich über eine Verwandlung gesagt? Warum träumte sie überhaupt von ihm? Emma schüttelte den Kopf. Was für ein Schwachsinn.

Gegen elf Uhr wachte sie wieder auf. Die Sonne kämpfte sich ihren Weg durch die Vorhänge und sie hörte sogar ein paar Vögel zwitschern. Emma fühlte sich jetzt ausgeschlafener, wenn auch körperlich nicht wirklich besser. Ein Blick auf ihr Handy verriet ihr, dass sie einen verpassten Anruf und die Nachricht von Paula hatte, dass sie sich melden sollte.
Da ihre Freundinnen sowieso gerade Pause haben mussten, rief Emma an.
„Hi, Em. Wo bist du?“, fragte Paula.
„Ich glaub, ich werde krank. Bin zu Hause geblieben.“
„Och, dann kommst du heute auch gar nicht mit zum Cheerleading?“
Im Hintergrund hörte sie Olivias empörte Stimme: „Wie, sie kommt nicht mit?!“. Emma versuchte zu lachen, doch es endete in einem kratzigen Husten.
„Oha, du hörst dich ja echt scheiße an. Pass mal auf, wir beiden gehen natürlich zum Cheeraleading,“ (Olivia schnaubte im Hintergrund) „aber wir könnten ja heute Abend mal bei dir vorbeischauen, was meinst du? Wir trinken ein bisschen Tee und versuchen dich wieder gesund zu kriegen?“
Ein Lächeln breitete sich auf Emmas Gesicht aus. Dann würde sie heute wenigstens noch etwas machen. Sie hasste es, den ganzen Tag zu Hause rumzusitzen.
„Klar gerne. Wann wollt ihr kommen?“
Sie vereinbarten acht Uhr.
Emma ging nach unten, um sich eine Kanne Tee zu kochen und bemerkte dabei, dass Jayden zu Hause sein musste. Seine Schultasche stand unter dem Haken mit seiner Jacke und auch sämtliche paar Schuhe waren noch da.
Kurzerhand stattete sie ihm einen Besuch in seinem Zimmer ab. Er saß an seinem Schreibtisch vor dem PC und schien nicht bemerkt zu haben, dass Emma die Tür geöffnet hatte. Sie wollte sich einen Spaß daraus machen, ihn zu erschrecken, doch als sie sich schließlich erfolgreich angeschlichen hatte und ihm mit einem “Buh!“ in die Rippen piekste, zuckte er nicht mal zusammen. Er drehte sich nur lässig auf seinem Schreibtischstuhl um und grinste sie breit an.
„Schwesterherz, du kannst mich nicht erschrecken. Aura und so.“ Er tippte sich dabei an den Kopf, als wäre daran irgendwas defekt. „Ich kann es spüren, wenn du im Raum stehst.“
Emma schmollte, was ihn zum Lachen brachte.
„Warum bist du zu Hause?“, wollte er wissen.
„Ich fühle mich nicht gut“, gab sie zu. Er sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an und sie fügte schnell hinzu: „Erkältung oder so. Und du?“
„Wir schreiben heute einen Mathetest und du weißt ja, wie es um meine mathematischen Fähigkeiten bestellt ist…“ Er grinste sie breit an, was Emma dazu veranlasste, ihm einen leichten Schlag auf den Hinterkopf zu geben.
„Du kannst doch nicht einfach die Schule schwänzen“, sagte sie halb lachend, halb besorgt. Hauptsache, ihr Bruder rutschte nicht wieder in irgendwelche Drogengeschichten hinein.
„Sag mal…“, setzte er auf einmal an, doch sprach nicht weiter. Er wich Emmas Blick aus und knibbelte sogar an seinen Fingern, was er sonst nie tat. Gespannt hakte sie nach: „Jaa…?“
„Hat Olivia irgendetwas gesagt?“ Sein beiläufiger Ton passte nicht wirklich zu seinem erröteten Gesicht. Emma musste kichern, doch als sie Jaydens strafenden Blick dafür auffing, verstummte sie sofort und beschränkte sich nur noch auf ein Grinsen.
„Sie redet viel über dich, Jace, was willst du hören?“
Seine Augen wurden größer. „Sie redet viel über mich? Was denn so?“
„Naja, sie sagt, wie gut du aussiehst, wie gut ihr euch versteht, dass sie dich vermisst… sie hat sogar einmal zu Paula gesagt, dass sie findet, dass du einen süßen Hintern hast. Aber das war wohl nicht für meine Ohren bestimmt.“ Emma zwinkerte ihm zu.
„Oh“, machte Jayden und sah etwas ratlos aus. „Und hat sie auch etwas darüber gesagt, ob sie sich mehr vorstellen könnte…?“
„Na, das musst du sie schon selber fragen.“ Dann verließ sie lachend den Raum.

Nachdem sie noch ein bisschen geschlafen hatte, klingelte es um halb sieben an Emmas Haustür. Paula und Olivia standen davor und hatten ihr eine große Tafel Schokolade mitgebracht.
Nachdem sie es sich mit einer Kanne dampfendem Apfeltee auf Emmas Bett gemütlich gemacht hatten, find Olivia an, nervös mit ihren Haaren herumzuspielen und schielte immer wieder zur Tür.
„Jetzt geh endlich rüber“, lachte Paula irgendwann. „Aber komm wieder.“
Darauf schien ihre Freundin nur gewartet zu haben, denn dankbar lächelte sie sie an und sprang sofort auf. Ein letzter Blick in den Spiegel und dann verschwand Olivia aus der Tür.

Gut zwanzig Minuten später, in denen Emma und Paula die Schokolade bereits aufgegessen hatten (Olivia würde eh genug Glückshormone haben), öffnete sich die Tür wieder und eine strahlende Olivia kam ins Zimmer. „Leute, Leute, Leute! Wir sind zusammen!“, quietschte sie und fiel Emma und Paula abwechselnd um den Hals.
„Schon?“, fragte Paula erstaunt, was Emma zum Grinsen brachte. Bei ihrer Freundin brauchte es immer seine Zeit, bis sie sich sicher genug war. Das beste Beispiel dafür war Zach. Ein Paar waren die beiden schließlich immer noch nicht.
„Na sieht so aus, als hätte ich dich demnächst öfter hier bei mir zu Hause, als mir lieb ist“, neckte Emma Olivia, doch sie freute sich wirklich für die beiden.
„Was ist denn eigentlich mit dir, Em?“, wollte Olivia wissen, als sie sich wieder aufs Bett gesetzt hatte.
„Was meinst du?“
„Gibt es denn niemanden, mit dem du dir was vorstellen könntest? Dave zum Beispiel? Du hast doch von seinem Liebesgeständnis im Wald erzählt…“
Entgeistert sah Emma ihre Freundin an. Liebesgeständnis im Wald? Davon wusste sie aber nichts! Und überhaupt! „Wieso kommt ihr mir eigentlich immer mit Dave an? Der ist doch so ein Idiot. Außerdem liebt er mich nicht, was für ein Quatsch.“
„Na das liegt doch auf der Hand“, sagte Olivia und fing an, aufzuzählen. „Er sieht gut aus, ist beliebt, sportlich…“
„Nicht wirklich intelligent, ein Macho und einfach nur dämlich“, führte Emma die Liste weiter, doch Olivia ließ sich von ihr nicht unterbrechen.
„Und wie kann er dich schon nicht lieben? Wenn Dave sowas zu dir sagt. Das hat er bestimmt nicht aus Spaß gemacht und leicht gefallen ist es ihm sicher auch nicht.“
„Ich weiß gar nicht, wovon du redest. Was soll er denn gesagt haben?“
Olivia betrachtete Emma stirnrunzelnd und auch Paulas Blick war besorgt. „Ich rede von dem Tag, an dem wir im Marine Park waren. Danach hast du uns doch erzählt, dass Dave dir in den Wald gefolgt ist und dir gesagt hat, dass er in dich verliebt ist und dass du ihn glücklich machst. Du willst uns doch nicht allen Ernstes erzählen, dass du dich daran nicht mehr erinnerst, oder?“
„Ach jetzt weiß ich, was du meinst“, rief Emma aus, um ihre Freundinnen nicht noch misstrauischer zu machen. Bei der Beschreibung, die Olivia ihr gerade gegeben hatte, waren tatsächlich ein paar Erinnerungen aufgekommen, aber sie waren undeutlich und unvollständig, als würde man durch ein milchiges Glas darauf schauen. Sie strengte sich so sehr an, sich daran zu erinnern, dass sie nach kurzer Zeit einen stechenden Schmerz im Kopf spürte.
„Mal was ganz anderes“, wechselte Olivia auf einmal das Thema und sah Emma dabei streng an. „Nächsten Mittwoch spielen wir gegen die Beasons. Du musst Freitag zum Training kommen. Haley hat auch schon gesagt, dass du sonst gar nicht mehr hinterherkommst.“
„Wenn ich nicht wieder überraschend krank werde - klar, gerne.“

Drei Stunden und zwei Kannen Tee später verabschiedeten sich die Freundinnen voneinander. Olivia wollte Emma unbedingt zu einen Date mit Dave überreden, doch Emma konnte sich mit der Idee einfach nicht anfreunden.
Sie plauderte noch kurz mit dem glücklichen Jayden und mit ihrer Familie, dann machte sie sich fertig und legte sich ins Bett.

Sie träumte wirres Zeug von Jayden mit roten Augen und von Olivia und Paula, die sie zornig ansahen. In ihrem Traum war alles dunkel und schattig und nichts hatte klare Konturen, alles war irgendwie verwischt. Verschiedene Stimmen riefen nach ihr. Mal waren es weibliche, mal männliche. Emma kannte sie alle irgendwo her, manchmal waren es auch die von ihrer Familie, doch sie hielt sich die Ohren zu. Dieser Lärm und dieses Durcheinander konnte sie einfach nicht mehr ertragen. Eine Verzweiflung ergriff sie, die sie so noch nie gespürt hatte. Sie wusste nicht mehr weiter. Gerade wollte sie sich auf den Boden setzen und versuchen, einen klaren Gedanken zu fassen, da wurde sie gerufen. Die Stimme war anders, als die anderen. Klarer, deutlicher. In ihrem Kopf.
„Emma“, wiederholte der Mann ihren Namen. Diese Stimme kam ihr nicht bekannt vor, doch trotzdem vertraute sie dem Fremden auf eine merkwürdige Art. Seine Stimme war dunkel und rau, aber zugleich samtig. Neugierig lief sie in die Richtung, in der sie den Mann vermutete. Doch sobald sie ein paar Schritte gemacht hatte, wurde sie einen Schritt zurückgerissen. Perplex drehte Emma sich um, doch da war niemand.
„Komm näher“, befahl die Stimme in ihrem Kopf. Emma drehte sich wieder um und ging weiter. Wenn sie die Augen zusammenkniff, konnte sie in einiger Entfernung eine große Gestalt ausmachen. Kurz darauf wurde sie erneut zurückgerissen und dieses Mal rief sie erzürnt in die Dunkelheit: „Was soll das?!“
Und dann war da auf einmal eine zweite Stimme. Sie war nicht so intensiv, wie die erste, aber auch irgendwie in ihrem Kopf.
Diese Stimme kannte sie, wenn auch nicht allzu gut. Sie konnte sie sofort zuordnen. Im Traum fragte sie sich, warum sie in letzter Zeit so oft von Will Lavie träumte.
„Emma, tu das nicht. Er ist böse. Komm zu mir“, verlangte er und klang dabei verzweifelt.
Verwirrt sah sie seine Gestalt aus dem Schatten treten und sich ihr langsam nähern.
„Hör nicht auf ihn. Komm jetzt“, sagte die intensivere Stimme der beiden in Emmas Kopf und sie fuhr wieder herum. Auch die andere Gestalt näherte sich ihr nun.
„Außerdem habe ich etwas, was du haben willst. Ach, was rede ich da. Was du unbedingt brauchst!“, fuhr der Mann fort und lachte ein gruseliges Lachen.
Verwirrt schaute Emma zwischen den beiden Männern hin und her, unfähig sich zu bewegen. Das Lachen des Fremden schwoll an und die Gestalt rannte los. Direkt auf sie zu. Innerlich wusste sie, dass sie fliehen musste, doch an Wegrennen war nicht zu denken. Ihre Knie waren aus Blei.
Kurz bevor der Fremde sie erreicht hatte, stellte Will sich schützend vor sie.
Der Mann stürzte sich auf ihn und schleuderte ihn beiseite. Emmas Augen weiteten sich, als sie sah, dass die Augen des Fremden von einem tiefdunklen Rot waren. Hämisch grinsend sagte er: „War doch gar nicht so schwer, oder Prinzessin?“. Er hob seine Hand und wollte sie wohl auf Emmas Wange legen, doch sie zuckte zurück.
Erneut fing er an, zu lachen, doch dann ging es in ein unheimliches Kreischen über.
Ein Stoß am Kopf weckte Emma auf. Diese verdammte Dachschräge! Erst nach einer Schrecksekunde merkte sie, dass sie durch ihr eigenes Schreien aufgewacht war. Nach diesem Albtraum musste sie eigentlich schweißgebadet sein, aber auf eine merkwürdige Weise war sie entspannt. Bei diesem Gedanken huschte ihr ein Grinsen über das Gesicht.
Als ihr Blick zum Wecker glitt, der ihr sagte, dass es halb vier Uhr morgens war, hörte sie etwas.
Erst flüsternd, dann immer klarer. Es war ihr Name.
„Emma“, hallte die Stimme in ihrem Kopf wider. Trotz der bleiernen Müdigkeit, die ihren Körper ans Bett fesselte, war ihr Kopf hellwach.
Irgendetwas war anders… Sie konnte es spüren. Ihr Blick streifte das offene Fenster. Sie konnte sich nicht daran erinnern, es vor dem Schlafen geöffnet zu haben. Mit einem Mal ergriff das Gefühl, dass da draußen etwas war, Besitz von Emma.
Mit vorsichtigen Bewegungen stand sie auf, gelenkt von einer unsichtbaren Anziehungskraft. Sobald sie am Fenster stand und die kühle Nachtluft einatmete, schlug ihr ein Duft entgegen, der ihr kurzzeitig den Atem raubte. Süß und schwer lastete er in der Luft.
Emmas Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit, doch die Quelle des Geruchs konnte sie nicht ausmachen.
Bevor sie wusste, wie ihr geschah, kletterte sie schon in die knorrige Kastanie. Sie hatte das zwar noch nie gemacht, aber ihre Hände und Füße fanden sofort sicheren Halt.
Erst durch eine kühle Brise wurde sie sich bewusst, dass sie nur eine Boxershorts und ein Top trug, doch sie dachte nicht weiter darüber nach. Es war, als hätte eine fremde Macht den Besitz über ihren Körper ergriffen und steuerte sie nun wie eine Marionette.
Leichtfüßig sprang sie den letzten Meter auf den Boden. Sie landete, ohne ein Geräusch von sich zu geben. Schleichend und mit fast katzenartigen Bewegungen näherte sie sich dem angrenzenden Waldstück.
Emma hatte keine Ahnung, was sie erwarten würde, doch sie dachte auch nicht darüber nach. Sie konnte diesen betörenden Duft nicht einordnen.
Das was sie letztendlich sah, schockierte und faszinierte sie gleichermaßen. Erst konnte sie nur eine dunkle Gestalt am Waldboden ausmachen. Der Mond schien durch das Blätterdach und machte es Emma möglich, einen Jungen zu erkennen. Aus Instinkt drehte sie sich um und versicherte sich, dass sie nicht gesehen wurde, dann ging sie auf ihn zu.
Er hustete leise und Emma kniete neben ihm nieder.
„Em, bist du das?“ Leise und kratzig drang die Stimme an ihr Ohr und in diesem Moment drehte der Junge ihr den Kopf zu.
„Dave!“, keuchte Emma erschrocken. „Was ist passiert? Geht es dir gut?“
„Hör mir zu, du musst von hier verschwinden, irgendwas ist hier im Wald… ein Tier oder so. Geh nach Hause“, murmelte Dave, doch sie dachte gar nicht daran, auf ihn zu hören.
Anstatt dessen schüttelte sie den Kopf und fragte: „Bist du verletzt?“
Leise stöhnend deutete er mit dem Kinn auf seinen Unterarm. Emma beugte sich tiefer hinunter, um ihn betrachten zu können und legte die Hand vorsichtig auf den Oberarm.
Sie fasste in etwas Nasses. Blut.
Das wurde ihr erst klar, als sie schon fast mit der Nasenspitze seinen Arm berührte. Im gleichen Moment atmete sie ein und konnte es riechen.
Dieser Duft, der sie aus ihrem Zimmer gelockt hatte! Endlich hatte sie ihn gefunden! Er ging von Dave aus.
Ehe sie sich versah, hatte sie seinen Unterarm schon mit beiden Händen umfasst und ihn näher zu sich herangezogen. Daves Schmerzenslaut nahm sie dabei gar nicht wahr. Sie war wie in Trance.
Gebannt schaute sie zu, wie die dunkelrote Flüssigkeit im Mondlicht noch intensiver strahlte und langsam aus der Wunde sickerte. Bevor etwas von dem kostbaren Blut auf den Boden tropfen konnte, streckte Emma die Zunge aus, um es aufzufangen.
In dem Moment, in dem sie das Blut schmeckte, schien etwas in ihr zu explodieren.
Ohne darüber nachzudenken, riss sie Daves Arm hoch und überhörte sein ängstliches Protestieren.
Ihr Kiefer schmerzte, aber sie wusste, dass es besser werden würde, wenn sie nur trank… Also rammte sie ihre Zähne in das Fleisch, was erstaunlich gut ging, und trank.
Dave wehrte sich anfangs so gut es ging, doch Emma drehte ihn kurzerhand auf den Rücken und setzte sich rittlings auf ihn.
Als Emma weitersaugte, fing er wieder an zu stöhnen, doch dieses Mal waren es keine Schmerzen, es war rauer… Auch sie selbst ließ es nicht kalt. Ein warmes Prickeln breitete sich zwischen ihren Schenkeln aus.
„Mach weiter, Emma!“, stöhnte Dave.
In diesem Moment wurde ihr erst bewusst, was sie da tat.
Wie eine heiße Kartoffel ließ sie Daves Arm fallen und sprang auf. Ohne recht zu wissen, wie sie dorthin gekommen war, fand sie sich auf einmal fünf Meter von ihm entfernt an einem Baum wieder.
„Gib ihm dein Blut“, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. Es war die Stimme aus ihrem Traum.
Ängstlich schaute sie sich um, aber da war niemand.
Emma spürte instinktiv, dass es richtig war, ihm ihr Blut zu geben. Vorsichtig näherte sie sich Dave. Seine Augen waren geschlossen und er atmete nur noch flach.
Als sie ihr Handgelenk aufbiss und es ihm an den Mund hielt öffnete er seine Augen noch einmal kurz und er sah sie ängstlich an. Emma merkte, dass er noch etwas sagen wollte, doch er war zu schwach dafür.
Also flüsterte sie mit zittriger Stimme: „Trink. Alles wird gut“ , und versuchte damit nicht nur ihn zu überzeugen, sondern auch sich selbst.
Als sie das Gefühl hatte, dass es genug war, nahm sie ihr Handgelenk von seinem Mund und hob ihn hoch. Erschrocken stellte sie fest, dass es sie nicht im Geringsten anstrengte. Sie trug ihn zu ihrem Haus. Ohne Mühe konnte sie mit Dave auf dem Arm durchs Fenster springen. Emma legte Dave in ihr Bett und ging leise ins Bad, um etwas für seine Wunden zu holen.
Sie erkannte das Mädchen im Spiegel nicht wieder. Zerzauste Haare, verstörte Augen. Blass. Und vor allem war ihr Gesicht mit Blut verschmiert. Emma drehte den Wasserhahn auf und wusch sich fünf Minuten lang. Trotzdem hatte sie immer noch das Gefühl, dass Daves Blut an ihr klebte.
Sie wollte gerade den Medizinschrank öffnen, da kam der Schmerz.
Wie ein gleißender Strahl bohrte er sich in ihren Kopf und Emma dachte, dass er zerspringen müsse. Sie sackte auf dem Boden zusammen.
Um nicht zu schreien, steckte sie sich ihre Faust zwischen die Zähne und biss so fest zu, dass sie Blut schmeckte. Tränen liefen ihre Wangen herunter.
Gerade als Emma dachte, dass der Schmerz nie wieder aufhören würde, nahm er ab.
Sie kroch gerade noch rechtzeitig zur Toilette und erbrach sich.
Erschöpft ließ sie sich auf den kühlen Fliesenboden neben der Toilettenschüssel sinken. Sie wusste nicht, wie lange sie so da lag, aber irgendwann kamen die Bilder. Erst nur vereinzelt, dann zog alles wie ein Film an ihrem inneren Auge vorbei und setzte sich zusammen.
In ihrem Kopf sah sie sich mit Will essen gehen. Dann, wie er ihr sagte, dass sie kurz vor der Verwandlung stünde. Wie sie ihm erst nach und nach geglaubt hatte. Seine Familie.
Immer schneller huschten die Bilder und Erinnerungen vor ihrem inneren Auge hin und her.
Die Nächte mit Will. Der Ball, an den sie sich früher am Abend so schlecht hatte erinnern können. Das Ritual.
Als der Strom langsam versiegte, übergab sich Emma erneut. So viel strömte gleichzeitig auf sie sein. So viele Dinge, die einfach nicht wahr sein durften.
Diese Verbundenheit, die sie zu Will gespürt hatte, hatte sie sich nicht einfach eingebildet. Ihr Unterbewusstsein hatte Will nicht täuschen können. Er hatte ihr zu keinem Zeitpunkt davon erzählt, dass er vorhatte, ihr die Erinnerung zu nehmen! Emma wurde wütend.
Auch die blonde Frau aus der Stadt hatte sie gekannt – Zoey! Ihr Traum von letzter Nacht ergab nun auch Sinn.
Emma durchzuckte die Erkenntnis. Beim Ritual musste etwas schief gelaufen sein. Konnte das sein? War sie jetzt etwa…?
Emma schüttelte den Kopf und stand schnell auf. Nachdem sie sich den Mund ausgespült hatte, schlich sie mit Pflastern bewaffnet zurück in ihr Zimmer. Vielleicht hatte sie sich das alles nur eingebildet? Doch Dave lag immer noch in ihrem Bett und schlief.
Sie zog sich schnell eine Jeans und einen Pullover über, dann sah sie nach Daves Unterarm. Sie hatte sich so etwas schon gedacht und war nicht überrascht, als er gar keine Wunde mehr hatte. Also legte Emma die Pflaster auf den Nachttisch und verschwand zum zweiten Mal in dieser Nacht aus dem Fenster.

Drei


Wie erwartet hatte Will seine Handynummer aus Emmas Handy gelöscht.
Inzwischen war es zwanzig nach vier in der Früh. In diesem Moment war sie froh, dass sie ihr Auto immer am Ende der langen Auffahrt parkte, denn so verriet sie das Motorengeräusch nicht.
Der Weg zu Wills Haus war ihr bekannt. Es war derselbe, den sie unbewusst vorgestern eingeschlagen hatte.
In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken und doch konnte sie keinen festhalten. Emma war viel zu aufgewühlt.
Die Straßen waren wie leergefegt und so kam sie schon nach 15 Minuten an. Ihr Auto stellte sie direkt vor der Veranda ab und sprang heraus. Sie gab sich keine Mühe, die Tür leise zu schließen und hastete die Treppen zur Haustür hinauf.
Emma betätigte den altmodischen Türklopfer mehrmals energisch. Fünf Sekunden später öffnete ein eher kleiner Mann mit freundlichen Augen. Sie erkannte ihn sofort als Ephraim Lavie, Wills Vater.
„Ja?“, fragte er und hörte sich dabei ein wenig verschlafen an. Dann registrierte er Emma und für den Bruchteil einer Sekunde spiegelte sein Gesichtsausdruck Überraschung und Verwirrung wider. Doch sofort hatte er sich wieder unter Kontrolle, eine Gabe, die er an seinen Sohn weitergegeben hatte.
Anscheinend dachte er immer noch, dass Emma sich nicht erinnern konnte.
„Wo ist Will?“, fragte sie und konnte den wütenden Ton, den ihre Stimme angenommen hatte, dabei nicht unterdrücken.
Sichtbar aus dem Konzept gebracht starrte Ephraim sie an, doch er entschied sich, weiter Theater zu spielen.
„Es ist mitten in der Nacht. Darf ich fragen, was du von meinem Sohn willst?“
Emma klappte bei so viel Dreistigkeit der Mund auf. „Ich will mit ihm reden und zwar sofort!“
Innerlich kochte sie vor Wut. Sie wartete Ephraims Antwort nicht mehr ab, sondern drängte sich einfach an ihm vorbei. Es kam ihr vor, als wäre sie gestern zum letzten Mal hier gewesen. Die Erinnerung an dieses Haus war, wie viele andere auch, einfach weg gewesen!
In ihrer Wut merkte sie gar nicht, wie sie mit übermenschlicher Geschwindigkeit in den ersten Stock brauste. Ohne anzuklopfen riss sie die Tür zu Wills Zimmer auf.
Zuerst dachte sie, er wäre nicht im Raum, denn er war dunkel, doch dann fiel Emma auf, dass Will ja auch schlafen musste und tatsächlich fand sie ihn im Bett liegend. Sie drehte sich um, schloss die Tür und schaltete das Licht an. Dann stellte sie sich mit verschränkten Armen und einem zuckersüßen Lächeln vor Wills Bett und flötete: „Aufstehen!“

Will wurde durch das Licht seiner Deckenlampe aus einem traumlosen Schlaf geweckt. Er war gestern Abend erst um halb drei schlafen gegangen, nachdem er versucht hatte, sich mit Alkohol soweit von seinen Gedanken zu entfernen, dass er keine Albträume hatte, in denen Emma etwas zustieß.
Emma.


Bei dem Gedanken an sie seufzte er. Sie war das erste und das letzte an das er am Tag dachte. Die ihm inzwischen bekannte Leere in seiner Brust machte sich wieder breit.
Will war todmüde und fühlte sich, als wäre es mitten in der Nacht. Wer hatte überhaupt das Licht angemacht? Normalerweise weckte sein Wecker ihn, nicht seine Mutter…
Verschlafen drehte er sich so, dass er mit dem Gesicht dem Raum zugewandt lag und öffnete dann die Augen.
Die Frau, oder besser gesagt, das Mädchen, das vor seinem Bett stand, war weder seine Mutter, noch seine Schwester. Will brauchte ein paar Sekunden, bis er erschrocken realisierte, zu wem die langen, hellbraunen Haare, die Stupsnase und die unschuldigen, wenn auch gerade ziemlich wütend aussehenden, braunen Augen gehörten.
„Emma?“, fragte er ungläubig. „Was machst du hier?“
„Das ist eine gute Frage, Will. Aber ich hab noch eine bessere für dich: „Warum wusste ich von all dem hier“, sie machte eine ausladende Bewegung mit der Hand, „in den letzten Tagen nichts mehr?“.
Er hatte sich inzwischen auf die Bettkante gesetzt und dachte nach. Dann erschien ein trauriges Lächeln auf Wills Gesicht. Er stand auf und lief auf sie zu.
„Im ersten Moment habe ich dir fast geglaubt. Warum träume ich immer von dir, Emma? Das macht es auch nicht besser.“
Emmas Augen weiteten sich, und sie schlug seine Hand weg, als er ihr Gesicht berühren wollte.
„Du stinkst nach Alkohol“, sagte sie angewidert. „Also? Ich will eine Erklärung!“
Will wunderte sich. Normalerweise war sie nicht so kratzbürstig in seinen Träumen. Und normalerweise hatte er auch nicht so einen Kater. Er musste sich sogar zusammen reißen, um nicht zu schwanken.
„Hey“, beschwerte er sich und schob schmollend die Unterlippe vor. „Das ist mein Traum. Ich will, dass du ein bisschen netter zu mir bist!“
Sie starrte ihn noch ungläubiger an. Als sie sich wieder gefasst hatte, erwiderte sie: „Das hier ist kein Traum, Will! Mir ist gerade etwas Schreckliches passiert! Ich habe Dave fast getötet, weil ich ihn ausgesaugt habe und dann kamen die ganzen Erinnerungen… Du hast sie mir einfach genommen! Wie konntest du nur?“
Emma war so in Rage, dass sich ihre Hand ganz von selbst hob. Sie hatte nicht vorgehabt, Will eine Ohrfeige zu geben, doch das Klatschen hallte schon durch den Raum.
Seine Gesichtszüge hatten sich versteinert. Will war jetzt hellwach und Emma war zu ihm durchgedrungen. Er träumte nicht von ihr, so wie er es sonst jede Nacht tat. Sie war wirklich hier, in seinem Zimmer und erzählte etwas von „Dave“ und „aussaugen“.
Sofort war er aufmerksam. „Erzähl mir ganz genau, was passiert ist.“
Und das tat sie. Etwas hatte sie nach draußen gelockt und sie dazu gebracht, Daves Blut zu trinken – dieser Macho Dave, der ganz offensichtlich in Emma verliebt war.
Und jetzt wusste sie alles wieder.
„Weißt du eigentlich, wie ich mich gefühlt habe?“, fragte sie ihn mit Tränen in den Augen. „Ich habe mich so leer gefühlt! So verzweifelt! Es gab Dinge, an die ich mich nicht richtig erinnern konnte, die ich mir nicht erklären konnte… Das alles ergibt jetzt wieder einen Sinn! Aber mein Unterbewusstsein wusste es die ganze Zeit. Ich habe es gefühlt, als ich dir und Zoey begegnet bin. Ich dachte, ich werde verrückt! Wie konntest du mir das antun? Du hast mir nie etwas davon erzählt!“ Emmas Augen funkelten Will wütend an.
Er wusste nicht, was er sagen sollte. Ihre Sicht der Dinge hatte er noch nie betrachtet. Er wollte ihr damit eigentlich nur helfen. Für ihn war es doch auch die Hölle! Daher sagte er: „Meinst du, für mich war das leicht? Dich so leiden zu sehen, ohne etwas tun zu können? Ich habe das doch nur getan, um dich zu schützen.“
Emma lachte bitter. „Ooh ja, entschuldige, dass ich nicht darüber nachgedacht habe, wie schlecht es dir damit die ganze Zeit ging… Ach warte mal, das konnte ich ja gar nicht, weil ich dich für ein paar Tage nicht kannte! Ich dachte zwischen uns wäre etwas…irgendwas. Aber das hast du kaputt gemacht.“
Ihre Worte trafen Will wie ein Faustschlag in den Magen. Hatte er sie verloren, weil er das Beste für sie wollte? Hätte er egoistischer sein sollen?
Und wieso konnte Emma sich eigentlich an alles erinnern? Wieso hatte sie Blut getrunken….sie war doch eigentlich ein Mensch? Das alles ließ nur einen Schluss zu… Aber wie war das möglich? Sie hatte doch das Ritual durchgeführt! Will hatte ihre Krämpfe mit eigenen Augen gesehen.
„Komm mit“, sagte er unvermittelt und lief auf die Tür zu. Kurz vorher drehte er sich um. Emma hatte sich nicht einen Zentimeter bewegt, die Arme hatte sie verschränkt und die Lippen vor Wut zusammengekniffen.
„Wohin?“, fragte sie, doch ihre Stimme glich eher einem Fauchen.
„Wir müssen mit meinem Vater darüber reden. Er wird wissen, was zu tun ist.“ Als sie immer noch keine Anstalten machte, ihm zu folgen, ging er wieder auf sie zu und streckte seine Hand nach ihr aus. Emma zuckte zurück, was Will als Anlass dafür nahm, zu beteuern: „Du musst mir glauben, wenn ich dir sage, dass es mir unendlich leid tut. Du kannst dir nicht vorstellen, wie weh es getan hat, dich neulich auf dem Flur zu sehen, ohne etwas zu sagen. Ich wollte doch nur, dass du sicher bist.“
Sie blieb weiterhin stumm und schaute ihn mit einem so kalten Blick an, dass Will geknickt wegsah und den Kopf hängen ließ.
Als er die Tür öffnete, hatte seine Familie sich schon davor versammelt und sah die beiden besorgt an.
„Sie hat Blut getrunken. Irgendwas muss schief gelaufen sein“, erklärte er an seinen Vater gerichtet. Will war aufgewühlt. All die Tage hatte er krampfhaft versucht, Emma aus seinen Gedanken zu verdrängen. Er hatte sie trotzdem beobachten müssen, schließlich musste er sich vergewissern, ob sie klarkam. Am schlimmsten war das Zittern gewesen. Immer wenn sie glaubte, allein zu sein, fing ihr Körper an zu vibrieren, als wäre es minus 20 Grad.
Aber zumindest hatte er versucht, nicht so an sie zu denken. Er war noch nie verliebt gewesen und es ärgerte ihn, dass er seine Gefühle nicht unter Kontrolle hatte. Ausgerechnet dieses eine Mädchen, für das er Gefühle hatte, konnte er nicht haben, weil es zu gefährlich für sie war.
Ironie des Schicksals. Zumindest hatte es bis vor einer halben Stunde noch danach ausgesehen. Denn jetzt stand Emma auf einmal mitten in der Nacht in seinem Zimmer. Und ausnahmsweise war es dieses Mal sie, die sauer auf ihn war. Dabei musste sie doch verstehen, dass es ihm nur darum ging, sie zu beschützen!
„Lass uns nach unten gehen“, riss die Stimme seines Vaters Will aus den Gedanken. Emma sah ihn im Vorbeigehen böse an und folgte Ephraim dann nach unten. Sharon ging auch mit.
Seine Schwester sah ihren Bruder an und ihre Augen blitzten. „Was hast du denn, freust du dich gar nicht?“, wollte sie wissen.
„Mich freuen?“ Will war verwirrt. Worüber sollte er sich denn freuen?
„Ja überleg doch mal“, sagte sie, als läge die Antwort auf der Hand. „Sie hat Blut getrunken. Und sie kann sich wieder erinnern. Emma ist ein Vampir, Will!“
Wusste seine Schwester, was er für Emma empfand? Noch ehe er einen logischen Anhaltspunkt dafür finden konnte, erklärte sie schon: „Natürlich weiß ich es, du Idiot. Das merkt doch sogar ein Blinder mit ‘nem Krückstock! Jetzt geh ihr schon hinterher!“
„Aber sie hasst mich jetzt“, warf Will ein. „Weil ich ihr die Erinnerung genommen habe.“
„Ach, die kriegt sich schon wieder ein. Gib ihr ein bisschen Zeit, jeder wäre erst mal geschockt. Aber sie muss wissen, was sie dir bedeutet. Ein Charmeur bist du nämlich nicht gerade.“
Will schaute Zoey böse an, auch wenn er insgeheim wusste, dass sie recht hatte. Was hatte Emma in der Nacht vor dem Ritual noch gleich gesagt? Dass sie dachte, dass es ihm egal war, ob sie starb!
Bei dem Gedanken daran zog sein Herz sich schmerzhaft zusammen.
Entschlossen löste er sich aus dem Türrahmen und ging die Treppe hinunter.
Seine Eltern und Emma befanden sich im Wohnzimmer. Sharon hielt Emmas Hände und beide Frauen hatten die Augen geschlossen. Leise gesellte Will sich zu seinem Vater, der am Rand stand und die Szene beobachtete. Zoey blieb neugierig am Treppenabsatz stehen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit trat Wills Mutter ein Stück zurück. Die beiden öffneten ihre Augen. Sharon und Ephraim wechselten einen bedeutungsschweren Blick. Will war immer wieder überrascht, dass seine Eltern sich so ohne Worte verstanden, aber nach so vielen gemeinsam verbrachten Jahrhunderten war das wahrscheinlich auch kein Wunder.
„Und?“, fragte Emma. Sie hatte Will nicht eines Blickes gewürdigt.
„Emma, es tut uns wirklich leid“, setzte Ephraim an und Sharon vervollständigte seinen Satz.
„Beim Ritual muss irgendetwas schief gelaufen sein. Wahrscheinlich war die Verwandlung schon zu weit fortgeschritten. Wir können von Glück reden, dass du es trotzdem überlebt hast.“
„Was soll das heißen?“, stammelte Emma und Entsetzen und Angst machten sich in ihrem Gesicht breit, sodass Will sie am liebsten sofort in den Arm nehmen wollte.
„Wollt ihr damit sagen… ich bin jetzt ein Vampir?“, fragte sie und fasste sich an ihr Herz, als Sharon nickte. Hoffentlich wurde sie nicht ohnmächtig.
Mit einem Mal richtete sich Emmas Blick auf Will. Er kam sich ziemlich idiotisch vor, als er ihr unsicher zulächelte. Er konnte sie jetzt gerade überhaupt nicht einschätzen. Freute sie sich, oder war sie wütend? Ihrem Gesicht konnte er es jedenfalls nicht entnehmen.
In weniger als einer Sekunde stand Emma vor ihm. So nahe sogar, dass sein Atem stockte. Würde jetzt doch noch alles gut werden?
In diesem Moment fing Emma an, wie wild gegen seine Brust zu hämmern. Dabei rief sie immer wieder: „Warum?“ und schluchzte. Will war völlig perplex. Emmas kleine Fäuste taten ihm zwar nicht weh, aber mit so einer Reaktion hatte er nicht gerechnet. Er versuchte, ihre Hände abzufangen und schaute ihr solange in die Augen, bis sie ihren Kopf hob und seinen Blick erwiderte. Sie wehrte sich trotzdem noch gegen seinen Griff und Tränen liefen ihre Wangen hinunter.
„Hey“, versuchte er sie zu beruhigen. „Es ist nicht so schlimm, wie du denkst. Du hast so viele Vorteile. Wir helfen dir, damit klarzukommen. Alles wird gut.“
Sie hatte ihren Widerstand inzwischen aufgegeben und ließ sich ohne Proteste von Will in den Arm nehmen. Über Emmas Schulter hinweg sah Will seine Schwester auf dem Treppenabsatz sitzen und ihm anerkennend zunicken.
Emma tat ihm gut. Sie brachte ihn dazu, Gefühle zuzulassen und Menschen zu vertrauen.
„Ich schlage vor, wir setzen uns hin und erklären dir ein paar Dinge. Du musst unzählige Fragen haben“, bestimmte Sharon mit ihrer mütterlichen Art.
Die hatte Emma wirklich, doch sie war so durcheinander, dass sie nicht wusste, wo sie anfangen sollte. Schließlich brachte sie hervor: „Was soll ich denn jetzt machen? Meine Familie, meine Freunde…“
„Du darfst ihnen nichts erzählen, nicht von dir und nicht von uns. Zu ihrem eigenen Schutz.“ Ephraim sah sie streng an und Emma fragte sich, wie sie es jemals schaffen sollte, alle ihre Freunde anzulügen. Mutlos sackte sie auf dem Sofa zusammen, was Will dazu veranlasste, sie näher an sich zu ziehen. Sie freute sich über seine Nähe, doch trotzdem hatte sie ihm noch nicht verziehen.
Der nächste Gedanke kam ihr. „Oh Gott, was ist, wenn ich jemanden verletze? Ich hätte Dave heute Nacht fast getötet!“
„So weit wird es nicht noch einmal kommen. Um den Jungen werden wir uns später auch noch kümmern müssen. Aber mach dir keine Sorgen. Wir passen auf dich auf“, sagte Zoey, die sich inzwischen zu ihnen aufs Sofa gesellt hatte und legte ihre Hand auf Emmas Arm.
„Wir werden dir ausreichend Blutjohanniskraut mitgeben. Wenn du das regelmäßig zu dir nimmst, dürfte eigentlich niemandem etwas passieren.“ Ephraim stand auf und kramte aus einem Wandschrank einen kleinen Karton, den er Emma überreichte. Darin befanden sich unzählige kleine Ampullen mit roter Flüssigkeit gefüllt.
„Besonders in den ersten Wochen braucht dein Körper aber auch menschliches Blut, damit er seine komplette Stärke entfalten kann“, setzte Sharon an, doch Emma unterbrach sie mit einem würgenden Geräusch.
„Ich hab mich gleich wieder unter Kontrolle“, keuchte sie. „Es ist nur die Erinnerung an Daves Blut…“
„Mach dir keine Sorge“, fuhr Wills Mutter fort. „Du brauchst nicht irgendwelchen Menschen an den Hals zu springen. Wir haben Blutkonserven hier. Das tut niemandem weh.“
Emma war zwar blass, nickte aber.
„Ansonsten ist es noch wichtig, dass du deine Kräfte kennst. Du hast ja bestimmt schon vor dem Ritual gemerkt, dass dein Körper viel stärker geworden ist. Will wird dir dabei helfen, dich schnell daran zu gewöhnen“, sagte Ephraim.
Will drückte zur Bestätigung ihre Schulter und ein Gefühl der Wärme durchfloss sie. Trotzdem war da immer noch dieses Kratzen im Hals, das sie spürte, seitdem sie wieder an den Geschmack von Daves Blut gedacht hatte… Es war so perfekt gewesen, so vollkommen…
„Emma!“

, rief Will erstaunt aus. Ertappt sah sie ihn an. Auf einmal wurde ihr klar, dass sie ihn in ihrem Kopf hörte.
Du musst dich zusammenreißen. Wenn du willst, kannst du einen Schluck Blut haben. Solche Gedanken musst du aber unbedingt vermeiden!


Völlig perplex starrte sie ihn an. Hatte er etwa ihre Gedanken gehört?
Nicht gehört, ich habe mehr einen Film gesehen von dir und Dave… und ich hab gespürt, was du dabei gefühlt hast. Irgendwie hast du deine Gedanken auf mich projiziert.


Emma wurde rot und sah auf den Boden. Na super. Sharon bewahrte sie zum Glück davor, noch weiter mit Will reden zu müssen.
„Was den Jungen angeht, das könnte ein größeres Problem sein. Will begleitet dich nachher nach Hause und dann wird er ihn mal überprüfen. Vielleicht haben wir ja Glück und es ist nichts passiert.“
Emma wurde hellhörig. „Wie, was soll denn passiert sein? Ich dachte, die Verwandlung beginnt erst, wenn man schon ein paar Mal gebissen wurde?“
„Ja, das stimmt“, sagte Will. „Aber dieser Dave hat Gefühle für dich, oder?“
Verwirrt schaute Emma ihn an. Was tat das denn jetzt zur Sache? „Gut möglich“, antwortete sie.
„Deswegen kann es zu einer Prägung gekommen sein.“
Wills Ausdruck verhärtete sich, als er Emma ansah.
„Wahrscheinlich ist aber nichts passiert, du wurdest ja erst durch sein Blut vollständig verwandelt. Warten wir es ab.“

Es war schon hell, als Emma und Will durch das Fenster kletterten. Dave lag immer noch schlafend auf ihrem Bett und Emma konnte von Glück reden, dass ihre Mutter noch nicht in ihr Zimmer gekommen war, um sie aufzuwecken.
„Was ist so eine Prägung eigentlich genau?“, fragte Emma Will im Flüsterton. Er sah sie mit diesem Blick an, der ihr zeigte, dass er seine Gefühle vor ihr zurückhalten wollte.
„Also wenn ein Vampir einen Menschen beißt, der Gefühle für ihn hat, kann es in 60% der Fälle zu einer Prägung kommen. Der Mensch sieht den Vampir dann als seine wahre Liebe an und wird niemals aufgeben, um ihn zu kämpfen, wenn das erforderlich ist.“
„Und der Vampir?“, fragte Emma sichtlich erschrocken. „Müsste ich dann jetzt nicht auch schon irgendwas spüren, so wie, dass ich unsterblich in Dave verliebt bin?“
„Beim Vampir ist das anders. Wenn du mit ihm zusammen bist, kannst du durchaus eine abgeschwächte Version davon fühlen. Aber es ist lange nicht so extrem wie beim Menschen. Es kann zwar sein, dass du dich wirklich in ihn verliebst, aber es muss nicht sein.“
Will sah ihr bei diesen Worten schon fast flehentlich in die Augen. Emma kicherte nur.
„Will, du sagst das, als würde ich auf Dave stehen. Er ist ein Idiot. Dich mag ich viel…“ mehr hatte Emma sagen wollen, doch in diesem Moment hörte sie den Wecker ihrer Mutter laut losschrillen und zuckte zusammen.
„Das ist ja noch lauter, als vorher“, beschwerte sie sich und hielt sich die Ohren zu.
Will lachte leise. „Du hörst jetzt alles besser. Ich dachte, du hättest dich vielleicht schon ein bisschen drauf eingestellt.“
„Du, ich will ja nicht unnötig stressen“, setzte Emma an, „aber in zehn Minuten kommt meine Mutter hier rein und weckt mich… Dann müsst ihr beiden weg sein.“
„Oh, ich verstehe“, sagte Will und zwinkerte ihr zu. Dann ging er zu Dave, der immer noch blass und schlafend auf dem Bett lag, und nahm seine Hände. Emma spürte, wie Will seine Kräfte durch Daves Körper schickte. Seine Augen waren zwar geschlossen, doch der Vampir schien sich so sehr zu konzentrieren, dass er vergaß, seine Gefühle zu verbergen.
Nach zwei Minuten, die sich für Emma wie eine Ewigkeit anfühlten, verzog sich sein Gesicht und Will öffnete die Augen wieder. Er sah sie nicht an und sagte nichts, also fragte sie drängend: „Und?“
„Ich werde ihn zu meinen Eltern bringen, damit sie das alles noch mal überprüfen und gucken, ob sich da nichts machen lässt. Aber es sieht so aus, als hättet ihr zwei jetzt eine Prägung.“
Emma fühlte sich, als läge ihr ein zehn Kilo schwerer Stein auf dem Herzen. Das hatte sie doch nicht gewollt! Wills gequälter Blick legte mindestens noch fünf Kilo drauf.
Schnell lief sie zu ihm und nahm seine Hand, doch er sah ihr immer noch nicht in die Augen.
„Wir finden schon ein Lösung“, flüsterte Emma. „Irgendwas wird man doch tun können. Du bedeutest mir sehr viel und…“ In diesem Moment wurde sie durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen.
Einen Augenschlag später waren sowohl Dave als auch Will verschwunden. Ohne nachzudenken hüpfte Emma ins Bett, zog sich die Bettdecke bis zum Hals und schloss die Augen.
Ihre Mutter kam herein und schaltete ein gedämmtes Licht ein, damit Emma wach wurde.
„Guten Morgen, Liebling. Aufstehen“, rief sie und verschwand dann wieder aus dem Zimmer. Emma überlegte, ob sie noch einen Tag zu Hause bleiben sollte, aber dann müsste sie zum Arzt gehen und sich eine Bescheinigung holen. Nur bei dem Gedanken an die Blutkonserven, die in so einer Praxis gelagert wurden, fing ihre Kehle wieder bestialisch an zu brennen. Schnell fischte Emma sich ein Röhrchen aus dem Pappkarton von Ephraim und trank es in einem Zug leer. Ihr Körper entspannte sich auf der Stelle. Sie bemühte sich um ein einigermaßen verschlafenes Aussehen und ging dann runter zum Frühstück.

Pochende Herzen. Überall nur pochende Herzen.
Emma wurde bei diesem Geräusch fast wahnsinnig. Heimlich hatte sie heute schon mindestens sieben Flaschen Blutjohanniskraut geleert und nun war sie auf dem Weg zur Toilette. Einerseits um dem staubtrockenen Matheuntericht zu entgehen und andererseits um sich mit dem achten Röhrchen zu beruhigen.
Sie wollte gerade die Tür zum Mädchen-WC öffnen, da wurde die der direkt daneben befindlichen Jungentoilette mit einem solchen Schwung aufgerissen, dass Emma sie mit voller Wucht vor den Kopf geknallt bekam.
„Au, kannst du nicht aufpassen?“, rief sie aufgebracht und fasste sich an die Stirn. Normalerweise hätte das eine große Beule gegeben, doch Emma spürte, dass der Heilungsprozess augenblicklich eingesetzt hatte.
„Oh shit, tut mir leid! Ich wusste nicht, dass du da stehst!“, sagte eine Stimme und als sie hochschaute, sah sie sich Dave gegenüber. Erschrocken und schuldbewusst zuckte sie zusammen. Bei der Flut an Bildern, die sie überströmten, konnte sie ihn nur anstarren.
„Geht es dir gut?“, fragte er und trat einen Schritt näher. Mit fachmännischem Blick sah er Emmas Stirn an.
„Ach, da ist ja noch nicht mal ein Kratzer. Hast dich wohl ganz schön erschrocken, was? Kann ich dich zur Entschädigung auf einen Drink irgendwohin einladen?“ Er grinste sie an.
Endlich hatte Emma ihre Fassung zurück. „Ich glaube nicht, dass das so eine gute Idee wäre.“
Dave sah enttäuscht aus, fing aber gleich wieder an zu strahlen. „Ach komm schon, da hat dieser neue Laden aufgemacht, der soll richtig gut sein. Heute ist Freitag, das passt doch.“
Sie öffnete den Mund, um ihm zu widersprechen, doch er hob abwehrend die Hände und entfernte sich rückwärts von ihr.
„Nichts da. Heute Abend um acht, ich hole dich ab. Das bin ich dir schuldig!“
Und mit einem frechen Grinsen verschwand er hinter der Ecke.

Fünf Minuten und ein Röhrchen Blutersatz später war Emma immer noch sprachlos. Einerseits musste sie Will davon erzählen, schließlich wusste sie nicht, was so ein Treffen für Auswirkungen haben konnte. Außerdem wollte sie wissen, ob seine Eltern noch irgendetwas zu der Prägung wussten.
Andererseits konnte sie es Will eigentlich auch nicht erzählen, weil er dann wieder sauer wurde. War er eifersüchtig? Mochte er sie so sehr? Oder ging es ihm nur ums Prinzip?
Es schellte zur Pause und Paula und Olivia kamen auf sie zu.
„Wieso hast du uns nichts gesagt?“, rief Olivia schon von Weitem.
Verwirrt sah Emma sie an. „Was meinst du denn?“
„Von deinem Date mit Dave! Ich bin wirklich enttäuscht! Da versuchen wir die ganze Zeit, euch zu verkuppeln und du willst es nicht, und auf einmal reden alle davon, dass ihr euch heute Abend trefft!“
Emma klappte der Mund auf. Ach du liebes Bisschen

, dachte sie. Jetzt wusste es schon die ganze Schule! Dave war so ein kleiner, blöder…
„Es ist nicht so, wie ihr denkt…“, setze Emma an, doch Olivia unterbrach sie.
„Naja, wie dem auch sei. Weißt du schon, was du anziehst? Wie wäre es mit diesem neuen Rock mit den Blumen drauf? Du trägst so selten Röcke… Und du könntest ein paar Strähnchen gebrauchen…“
Hilfesuchend sah Emma zu Paula, doch diese war in ihr Handy vertieft. Also ließ sie Olivias Schminktipps über sich ergehen und dachte darüber nach, wie sie es Will am besten sagen konnte.

Vier


„Du bist WAS?“, rief Will. Emma war sich sicher, dass er sie verstanden hatte. Trotz der letzten Schulstunden Bedenkzeit, die sie gehabt hatte, war ihr kein Weg eingefallen, es ihm schonend beizubringen.
„Ich bin heute Abend verabredet mit Dave. Zum Cocktailtrinken. Es war nicht meine Idee und ich wollte ihn davon abbringen, aber er hat mir praktisch keine andere Wahl gelassen.“
„Du wirst da nicht hingehen“, sagte Will in einem Ton, der das Gespräch beenden sollte.
„Er holt mich ab. Von zu Hause“, erwiderte Emma.
„Egal. Mach nicht auf.“ Entschlossen sah er sie an.
„Du weißt, dass das nicht geht“, meldete sich Sharon nun, die zu ihnen ins Wohnzimmer gekommen war. „Er wird nicht einfach weggehen. Sie muss mit ihm gehen.“
Wütend sah Will seine Mutter und Emma an und rauschte dann aus dem Zimmer. Sharon seufzte.
„Vor seinen Problemen ist er immer schon weggelaufen. Man sollte meinen, dass er irgendwann mal vernünftig darüber reden könnte, aber das ist nicht so wirklich seine Stärke.“ Entschuldigend sah sie Emma an.
„Macht ja nichts“, erwiderte diese. „Ich bin das jetzt schon fast gewohnt. Er hat Dave heute früh hierhergebracht, nicht wahr? Was haben Sie rausgefunden?“
„Ach, dieses blöde ‚Sie‘ sollst du doch weglassen. So alt bin ich nun auch wieder nicht“, sagte Sharon und zwinkerte Emma verschwörerisch zu. „Aber du hast recht. Ich wollte mit dir sowieso noch darüber sprechen. Eure Prägung ist noch wesentlich stärker, als ich das bisher angenommen hatte. Dieser Dave muss echt ganz schön verliebt in dich gewesen sein.“ Wieder zwinkerte Wills Mutter.
„Gibt es denn keine Möglichkeit, das wieder rückgängig zu machen?“, wollte Emma verzweifelt wissen. Sie machte sich nicht nur Sorgen um die Folgen, sondern auch um Dave selbst. Schließlich hatte sie praktisch damit sein Leben ruiniert.
„Ehrlich gesagt wissen wir von keiner Methode. Ephraim recherchiert schon intensiv, aber es ist eher unwahrscheinlich, dass wir einen Weg finden. Jetzt können wir es nicht mehr ändern, dass ihr euch heute Abend trefft, aber du solltest so etwas in Zukunft vermeiden. Das stärkt euer Band nur noch. Du darfst auch auf keinen Fall von seinem Blut trinken. Ich kann dir etwas mitgeben, wodurch dein Durst für ein paar Stunden gestillt wird. Nimm das einfach eine Stunde vorher zusammen mit einem Blutbeutel ein, dann müsstest du hinkommen. Du hast ja sicherlich auch nicht vor, allzu lange zu bleiben, nicht?“
Emma schüttelte den Kopf. Sharon gab ihr eine kleine, weiße Tablette.
„Bevor du dich fragst, warum du so etwas sonst nicht nimmst: So eine Tablette kann Vampiren sehr schaden. Man darf sie nur selten nehmen und auch nur, wenn es wirklich, wirklich wichtig ist. Du hast deinen Durst noch nicht unter Kontrolle und wir wollen die Versuchung für dich nicht noch größer machen. Nimm zur Sicherheit auch noch eine Ampulle Blutjohanniskraut mit, für den Fall, dass der Durst zurückkommt.“
Emma bedankte sich und wandte sich schon zum gehen, da fiel ihr noch etwas ein.
„Hat er gesagt, wieso er überhaupt im Wald war?“
Sharon schüttelte den Kopf. „Er konnte sich nicht mehr daran erinnern. Aber Zufall wird es wohl nicht gewesen sein.“
„Meinst du, es war der Vampir, der mich verwandeln wollte?“
„Ich weiß es nicht. Möglich wäre es auf jeden Fall.“
„Was hat denn jemand nur davon, mich zu einem Vampir zu machen? Wieso wissen wir nicht, wer es ist?“, fragte Emma verzweifelt. Sie konnte sich einfach keinen Reim darauf machen.
„Schätzchen, ich wünschte, wir wüssten es. Es gibt sonst auch keine Vampire auf unserem Gebiet, die nächsten wohnen mindestens 80 Kilometer entfernt. Von uns war es keiner. Wir können nur abwarten, ob er sich noch zu erkennen gibt.“
Resigniert senkte Emma den Kopf und ging zur Tür. Bevor sie jedoch gehen konnte, sagte Sharon noch: „Sei bitte morgen früh so gegen elf Uhr hier. Will wird mit dir trainieren. Ich rede nochmal mit ihm, bestimmt hat er sich bis dahin wieder eingekriegt.“ Dann nahm sie Emma überraschend in den Arm. „Viel Glück heute Abend und pass auf dich auf.“

Ein paar Stunden später stand Emma in ihrem Zimmer vor dem großen Spiegel und begutachtete sich. Sie hatte sich nichts Aufreizendes angezogen und sich nur dezent geschminkt. Eigentlich sah sie regelrecht langweilig aus. Aber egal, wahrscheinlich war es das Beste so. Sie musste Dave ja nicht noch einen zusätzlichen Anreiz bieten.
In dem Moment flog krachend die Tür auf und Emma erschrak sich fast zu Tode.
„So willst du doch wohl nicht zum Date gehen, oder?“, kreischte Olivia entsetzt. „Du hattest zwar noch nie den besten Geschmack für Mode, aber du musst doch selbst sehen, dass das die langweiligsten Klamotten sind, die du hättest auftreiben können. Zieh dich aus und setz dich aufs Bett, ich such dir was raus.“
Kopfschüttelnd machte sich Olivia daran, Emmas Schrank zu durchwühlen. Zwanzig Minuten später stand Emma wieder vor dem Spiegel. Diese Mal sah sie allerdings lange nicht mehr so langweilig aus, wie gerade eben. Olivia hatte sich wirklich Mühe gegeben und in ihrem Rausch war sie auch nicht zu stoppen.
„Was machst du überhaupt hier?“, fragte Emma und hoffte insgeheim, dass sie gleich verschwinden würde, damit sie sich wieder umziehen konnte.
Wobei ihr der hohe dunkelblaue Bleistiftrock mit dem weißen, fast ein wenig durchsichtigen Spitzentop auch ziemlich gut gefiel. Es war mal etwas anderes. Röcke trug sie so gut wie nie.
Aber das konnte sie einfach nicht anlassen.
„Dave wird seine Augen nicht von dir nehmen können“, schwärmte Olivia, während sie Emma ein bisschen Lidschatten auftrug.
Insgeheim stimmte Emma ihr zu, aber genau das durfte nicht passieren. Sie hoffte immer noch, dass sie ihn so sehr langweilen konnte, dass er das mit der Prägung einfach vergessen würde.
„Aber um auf deine Frage zurück zu kommen, ich bin mit deinem Bruder zusammen, schon vergessen? Und wenn ich schon mal da bin, kann ich meiner besten Freundin doch auch gleich mal helfen, sich für ein tolles Date hübsch zu machen.“
Emma verdrehte die Augen. Oh Mann, Olivia mochte sich zwar schon ein bisschen verändert haben, aber oberflächlich war sie immer noch.
Ein schneller Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es viertel vor acht war. Bis acht würde sie Olivia bestimmt losgeworden sein und die Gelegenheit haben, sich wieder umzuziehen, dachte Emma beruhigt. Um die ganze Schminke wieder abzukriegen würde sie zwar nicht mehr genug Zeit haben, aber das musste Dave aushalten können.
Mitten in ihre Gedanken hinein klingelte es an der Haustür. Emma erstarrte und lauschte. Konnte es sein, dass Dave in seinem Enthusiasmus schon viel zu früh gekommen war? Ihre Mutter öffnete die Tür und tatsächlich war es Daves Stimme, die ihr einen guten Abend wünschte.
„Er ist schon da“, sagte sie mehr zu sich selbst, als zu Olivia, doch diese kniff ihr aufmunternd in den Arm.
„Mach dir keine Sorgen, du siehst toll aus. Er steht sowieso schon so lange auf dich, da kann gar nichts schief gehen.“
Ohne, dass sie sich hätte wehren können, schob Olivia Emma aus dem Zimmer in Richtung Treppe.
Olivia ging wieder in Jaydens Zimmer, während Emma widerwillig auf die Haustür zuhielt. Dann sah sie Dave lässig im Türrahmen lehnen. Er trug ein eng anliegendes dunkelblaues Hemd und eine schwarze Jeans dazu. Seine dunkelblonden Haare hatte er mit ein bisschen Gel in Form gebracht. Emma musste sich eingestehen, dass dieser Typ da wirklich gar nicht mal so schlecht aussah.
„Hey“, begrüßte sie ihn und musste doch irgendwie grinsen bei dem schmachtenden Blick, den er ihr zuwarf. Diese Bestätigung fühlte sich gut an… auch wenn sie eigentlich nicht richtig war.
„Na dann mal los“, sagte Dave mit einem Grinsen. Er bot ihr seinen Arm an und sie hakte sich ein.

Wenig später saßen sie in der neuen Bar namens „One More“ und schauten auf die Getränkekarte. Sie waren hergelaufen, weil es nicht so weit war und an Auto fahren nicht zu denken war, wenn sie auch gleichzeitig tranken. Emma hatte es vor dem Weg gegraust, weil sie Angst hatte, dass sie sich nichts zu sagen hatten. Auch wenn das hier kein richtiges Date war, zumindest für sie nicht, wollte sie schließlich irgendwie ein bisschen ihren Spaß haben. Sie hatte schon so lange keinen richtigen Spaß mehr gehabt. Immer waren schlimme Dinge passiert und es galt, irgendwelche Regeln zu befolgen.
Die Viertelstunde, die Dave und sie bis zur Bar gebraucht hatten, war wie im Flug vergangen. Emma hatte nicht gedacht, dass die beiden sich so gut verstanden. Klar, als Kinder waren sie Freunde gewesen, aber seit beide ungefähr dreizehn waren, gingen sie sich aus dem Weg. Naja, besser gesagt: Emma ging Dave aus dem Weg. Schließlich war er ein solcher Macho geworden, dem kein Spruch zu blöd war. Er wusste wahrscheinlich auch ganz genau, wie er aussah und auf Frauen wirkte.
Doch jetzt, wo die beiden alleine waren, benahm er sich ausgezeichnet. Er kam ihr vor, wie eine ganz andere Person. Wie dieser zweite Dave, dem sie schon letztes Wochenende im Wald begegnet war. Er machte keine blöden Sprüche, sondern Komplimente. Er erzählte interessante und witzige Stories und hörte Emma aufmerksam zu. Und noch dazu kam, dass er ausgesprochen gut aussah…
„Was willst du trinken?“, fragte Dave in dem Augenblick und riss sie damit aus ihren Gedanken. „Such dir aus, was du willst. Ich kenne den Barmann.“
Emma hätte den Barmann auch auf ihre eigene Weise dazu bringen können, ihnen Alkohol auszuschenken, aber in der Gedankenmanipulation war sie noch nicht besonders gut. Von daher traf es sich ganz gut, dass Dave seine eigenen Wege hatte.
Emma wollte einen Sex on the Beach trinken und bemühte sich, nicht auf Daves Hintern zu starren, als er mit der Bestellung zur Bar ging.
Sie war erstaunt, wie einfach alles war. Diese Tablette, die Sharon ihr gegeben hatte, wirkte hervorragend. Zum ersten Mal seit bestimmt zwei Wochen hatte ihre Kehle komplett aufgehört, zu schmerzen. Diesen Abend, schwor sich Emma, würde sie Mensch sein, so wie vorher. Ohne Vampir-Probleme und ohne Sorgen. Sie würde einfach Spaß haben.
Kurze Zeit später balancierte Dave vier Getränken, anstatt zwei auf ihren Tisch zu. Fragend sah Emma ihn an.
„Die haben heute so ein Angebot, 2 zum Preis von 1, weil sie doch Eröffnung haben. Ist nicht schlecht, was?“ Grinsend stellte Dave gleich zwei Cocktails vor Emma ab. Als Mensch wäre sie davon sicherlich schon angetrunken gewesen. Vampire schienen damit nicht solche Probleme zu haben, das hatte Emma ja schon bei Will gemerkt. Auch wenn sie eigentlich nicht so viel trinken wollte, würde ihr diese Menge nicht schaden. Also stieß sie mit Dave an, der inzwischen wieder vor ihr saß und trank ein paar Schlucke. Mhh, hier schmeckte es aber auch wirklich gut, fand Emma.

Es war inzwischen zehn Uhr und die Bar füllte sich allmählich mit Leuten in ungefähr ihrem Alter. Die Musik wurde lauter und Emma hatte ihre beiden Cocktails schon leer getrunken. Auch Dave war mit seinen zwei Wodka-Cola fertig und stand gerade an der Bar, um ihnen etwas Neues zu trinken zu besorgen. Sie verstanden sich wirklich wunderbar und Emma empfand immer mehr Sympathie ihm gegenüber.
Da inzwischen viele Leute auf den Barmann warteten, kam Dave nicht direkt dran. Von ihrem Platz aus konnte Emma sehen, wie eine Blondine in Daves Nähe ihm immer wiederinteressierte Blicke zuwarf. Schließlich stand das Mädchen auf und stellte sich neben ihn an die Bar. Sie tat anscheinend so, als wolle sie sich auch etwas bestellen, doch dann hörte Emma, wie sie anfing, sich mit Dave zu unterhalten. Ihre Masche dabei war gut, das musste man ihr lassen. Erst stieß sie ihn leicht an und entschuldigte sich dafür. Dann fing sie ein Gespräch an.
„Cooler Laden, was? Endlich haben wir hier auch mal etwas, was ein bisschen schicker ist.“
Emma konnte beobachten, wie Dave ihr den Kopf zuwandte und sie musterte. Seine Mimik sah sie dabei aber nicht.
„Ja, ist wirklich ganz nett hier. `Nem Kumpel von mir gehört der Laden. Er hat bis vor kurzem in unserem Team gespielt.“
„Oh, was spielst du denn?“, fragte die Blonde aufgeregt.
„Football“, erwiderte Dave lässig und grinste sein Macho-Grinsen, auf das bestimmt alle Frauen standen.
Als Emma sah, wie sie ihn von unten bis oben taxierte, wurde sie wütend. Konnte diese Tussi denn niemand anderes anbaggern?
Jetzt fügte Dave auch noch hinzu, dass er der Quarterback war und dass die Blondine ihm nicht direkt auf den Schoß sprang, war alles. Natürlich sah sie gut aus, aber so toll, dass er sich ihr zuwenden und unverhohlen in ihren Ausschnitt glotzen musste, dann auch wieder nicht!
Emma konnte sich nicht erklären, woher diese starke Eifersucht kam. Es war schließlich nicht so, als wären Dave und sie ein Paar. Himmel, sie wollte ja noch nicht mal etwas von ihm! Und trotzdem spielten ihre Gefühle verrückt. Am liebsten hätte sie dieser Tussi die Augen ausgekratzt.
An dem Punkt, an dem die Blondine sich auf die Zehenspitzen stellte und ihm ins Ohr flüsterte, dass sie Megan heiße, platzte Emma der Geduldsfaden. Ohne sich Sorgen um ihre Taschen und Jacken zu machen, die sie zurückließ, bahnte sie sich durch die Leute zur Bar. Dabei merkte sie gar nicht, wie der Alkohol unterschwellig zu wirken anfing.
Als ob sie das kleine Biest gar nicht gesehen und anstatt dessen nur Augen für Dave hätte, stellte sie sich zwischen die beiden. Von wegen Prägung. Dave stand doch schon praktisch auf der Stirn, dass er das Flittchen am liebsten gleich auf der Toilette ficken wollte.
Trotz der inneren Unruhe gab sich Emma Mühe, ruhig zu bleiben.
„Hey, was dauert denn da so lange, Süßer?“, fragte sie mit unschuldigem Augenaufschlag.
Überrascht sah Dave sie an.
„Öhm…“, stotterte er. Doch Emma wollte eigentlich keine Antwort. Sie lehnte sich über die Theke und sah dem Barmann in die Augen, der sofort auf sie reagierte.
„Zwei Wodka-Cola, bitte“, verlangte sie und bekam kurz darauf vier randvolle Gläser gereicht. Sie brauchte jetzt etwas Stärkeres, als nur einen Cocktail.
„Ach, und noch einen Tequila“, fügte sie schnell hinzu, bevor der Barkeeper sich andern Gästen zuwenden konnte. Sofort standen neben den vier Longdrinks auch noch zwei kleine Tequila-Shots mit Zitrone und einem Salzstreuer.
Dave neben ihr machte große Augen und beachtete zu Emmas Freude die kleine Blondine gar nicht mehr. Unverhohlen grinste Emma sie an und musste fast lachen, als sie sich schnaubend abwendete und in Richtung Toilette stakste.
„Du willst mich wohl abfüllen, was?“, fragte Dave grinsend, nachdem sie beide ihre Shots getrunken hatten.
„Klar, und danach nehm ich dich mit nach Hause“, rutschte es Emma heraus, doch schon im nächsten Moment bereute sie es. Naja, ein bisschen zumindest. Denn Dave zog sie mit einem Mal so dicht an sich heran, dass ihr Gesicht direkt vor seinem war und zwischen ihre Körper kein Blatt Papier mehr gepasst hätte.
„Ach ja?“, flüsterte er.
„Mal schauen“, kicherte Emma nervös und wand sich aus seinem Griff. „Wir müssen gucken, dass unsere Sachen nicht geklaut werden, murmelte sie und griff sich zwei Gläser. Mit Dave im Schlepptau ging sie zu ihrem Tisch zurück.

Schon nach dem ersten Wodka merkte Emma, dass sie anscheinend immer noch nicht so Alkoholresistent war, wie Will, doch der zweite verschlimmerte die Sache noch. Als sie auf dem Klo war, um sich frisch zu machen, merkte sie, wie langsam der Durst wieder in ihr hochkroch. Sharon hatte ja gesagt, dass es nur ein paar Stunden andauern würde. Wie spät war es denn jetzt? So lange waren sie doch wohl noch nicht hier, oder? Der Blick auf ihr Handy sagte ihr, dass es schon ein Uhr war. Damit hatte Emma nun wirklich nicht gerechnet. Sie sollte bald nach Hause gehen.
Verstohlen sah sie sich um und vergewisserte sich, dass sie allein war. Dann kramte sie das Fläschchen Blutjohanniskraut aus ihrer Tasche und leerte es in einem Schluck. Die Ampulle steckte sie sorgfältig in die Tasche zurück. Sie legte noch ein bisschen Lippenstift nach und ging dann wieder zu Dave.
Schon wieder stand irgendein Mädchen neben ihm und unterhielt sich mit ihm. Demonstrativ nahm Emma ihren Platz ihm gegenüber ein und wartete darauf, dass das Mädchen verschwand. Peinlich berührt tat sie das auch.
Dave schien wirklich sehr begehrt zu sein. Verständlich, fand Emma. Aber das Ding war, dass dieser Kerl da ihr gegenüber schon ganz ohne Prägung in sie verliebt war. Das mit ihrer Verbindung tat Emma leid und es vereinfachte die Dinge nicht. Und doch freute sie sich ein bisschen darüber. Dave wollte sie, aus welchem Grund auch immer.
„Wie sieht’s aus, wollen wir gleich mal abhauen?“, fragte Emma.
Dave sah ein wenig enttäuscht aus, ging aber trotzdem die Rechnung bezahlen.
Zehn Minuten später standen die beiden vor der Bar und atmeten die frische Nachtluft ein. Der Bass wummerte Emma noch in den Ohren, als sie ihre Jacke zuknöpfte.
„Das war ein schöner Abend“, erklärte sie, während sie liefen.
„Hat mir auch gefallen.“ Nachdem er das gesagt hatte, nahm er beiläufig ihre Hand. Emma erschrak und zog die ihre schnell weg, aber Dave lachte.
„Ich will nur deine Hand halten, kein Grund zur Panik.“ Er streckte seine Finger wieder nach ihren aus und verschränkte sie miteinander. Dieses Mal ließ Emma es zu. Es fühlte sich irgendwie gut an, so natürlich.
Schweigend gingen sie ein paar Minuten, bis sie in den weniger belebten Teil der Stadt kamen. Unmittelbar fing Dave an zu reden.
„Ich weiß nicht mehr genau, was gestern Nacht passiert ist, Emma. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass ich plötzlich im Wald war. Und dann warst du da und ich glaube, du hast mich gebissen. Stimmt das?“ Forschend sah er sie an. Innerlich erstarrte sie. Sie hatte mit niemandem darüber gesprochen, ob es in Ordnung war, wenn Dave von ihr wusste.
Als ob er ihre Gedanken erahnte, meinte er: „Du brauchst es mir nicht zu erklären. Sag mir nur, ob ich spinne.“
Dave war in so vieler Hinsicht ein angenehmer Mensch. Er stellte keine unangenehmen Fragen. Er schien sensibler zu sein, als Emma es für möglich gehalten hatte. Und vor allem drängte er sie zu nichts. Er hatte so einen Charme, so eine Leichtigkeit, die sie dazu brachte, zu entscheiden, dass sie mit ihm reden konnte.
„Ja, ich war da. Ich habe dich gebissen.“ Für kurze Zeit schwieg Dave.
Dann wollte er wissen: „Kannst du das nochmal machen? Mich beißen?“
Entgeistert sah Emma ihn an. „Bist du verrückt? Wir können von Glück reden, dass du noch am Leben bist!“
„Aber es hat sich so… gut angefühlt.“ Er grinste anzüglich. Also hatte er es auch gespürt. Diese sexuelle Anziehung zwischen den beiden, als Emma sein Blut getrunken hatte.
„Nein, das geht nicht. Als ich dich gestern gebissen habe, ist etwas passiert.“
„Was meinst du?“
„Es ist eine Prägung entstanden. Wir beide sind geprägt.“
Verständnislos sah Dave sie an. „Was soll das bedeuten?“
„Das heißt“, setzte Emma an und holte tief Luft, „dass du mich bedingungslos liebst. Also, zumindest kommt es dir so vor.“
„Wirklich?“, fragte er und lachte leise. Emma verstand nicht, was daran witzig sein sollte.
„Also ich spüre heute keinen Unterschied zu gestern. Ich habe dir schon im Wald gesagt, was ich für dich fühle und ich habe nicht das Gefühl, dass das noch stärker werden könnte. Na gut, du siehst heute noch schärfer aus und ich wollte – oder will – noch lieber mit dir ins Bett, aber sonst. Alles beim Alten.“
„Du merkst es wahrscheinlich auch nicht. Vielleicht hat sich die Prägung auch noch nicht vollständig entwickelt. Was weiß ich. Jedenfalls sind wir beide jetzt geprägt und es lässt sich nicht mehr ändern.“
Inzwischen waren die beiden an Emmas Auffahrt angekommen. Dave wohnte nur ein paar Häuser weiter. Er begleitete sie noch bis zur Haustür.
„Prägung hin oder her. Es hat mir gut gefallen und ich möchte dich bald wiedersehen“, sagte Dave.
„Jaa, wir schauen mal“, wich Emma aus und schaute auf den Boden. Eigentlich sollte sie sich ja von Dave fernhalten. Will würde auch ausrasten.
Aber sie konnte einfach nicht leugnen, dass ihr dieser Abend Spaß gemacht hatte. Sie hatte sich unbeschwert gefühlt und frei von Sorgen. Einfach gut. Ein bisschen wie früher.
Bei dem Gedanken an früher musste Emma wehleidig seufzen. Alles war einfacher gewesen. Sicher, sie hätte sich in ihrem alten Leben nie mit Dave oder Will getroffen, aber trotzdem.
„Ich hab ja deine Nummer“, riss Dave sie aus ihren Gedanken.
Und bevor Emma sich irgendwie darauf einstellen konnte, trat er einen Schritt vor und küsste sie auf den Mund. Sie war so perplex, dass sie seiner Zunge sofort Einlass gewährte, ohne sich darüber im Klaren zu sein, was sie da tat. Es war ein zärtlicher Kuss, der nicht lange dauerte.
Schneller, als Emma sich versah, hatte Dave schon aufgehört sie zu küssen und verschwand im Dunkel der Auffahrt.

Fünf


„Erzähl, wie ist es gelaufen?“, begrüßte Zoey Emma am nächsten Morgen.
„Hmm“, setzte sie an und senkte den Blick. Sie war sich nicht sicher, was sie erzählen sollte. Schließlich hätte es längst nicht so gut laufen sollen. Emma hatte die Prägung dadurch nur noch verstärkt. Zoey schien ihre Zweifel zu spüren, blickte sich um und zog sie dann in die Küche.
„Na komm schon, ihr seid aufeinander geprägt. Schlecht kann es ja wohl nicht gewesen sein.“
Dankbar sah Emma Wills Schwester an.
„Nein, es war wirklich nett. Ich hätte nie gedacht, dass wir uns so gut verstehen würden. Normalerweise ist er eher so ein Macho-Arsch.“
„Lief da was?“, wollte Zoey grinsend wissen, doch bevor Emma antworten konnte, stand Will in der Tür.
„Nein“, murmelte Emma schnell. Wahrscheinlich war das kein Detail, das sie erzählen sollte.
„Bist du so weit? Wir gehen in den Wald“, fragte Will. Sie nickte stumm und folgte ihm. Ob er wohl noch sauer war?
Das Schweigen zwischen ihnen hielt den ganzen Weg an, von der Haustür bis auf eine kleine Lichtung im Wald. Seit dem Ritual hatte Emma keinen Wald mehr betreten.
„Du musst ja deine neuen Kräfte kennen lernen, damit nichts passiert“, sagte Will in einem sachlichem Ton.
„Renn mal so schnell, wie du kannst.“
„Wie?“, fragte Emma. Wieso rennen?
„Na, einfach so“, meinte er und dann war er verschwunden. Nur der Luftzug, der sie von allen Seiten zu berühren schien, verriet ihr, dass er um sie herum lief. Erkennen konnte man eigentlich nur einen verschwommenen Umriss. Dann stand Will wieder neben ihr.
Sie versuchte es auch einmal und rannte von ihm weg, geradewegs auf die Bäume am Rand der Lichtung zu.
Im nächsten Moment stand sie schon neben ihnen. Das war ja abgefahren!
Sie versuchte es noch einmal und war nach weniger als einer Sekunde schon wieder bei Will. Strahlend sah sie ihn an.
„Das ist ja der Hammer!“, freute sie sich. Auch er konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen.
Doch dann war er schon wieder verschwunden. Verwirrt sah Emma sich um, aber dieses Mal konnte sie ihn nirgends ausmachen.
„Kannst du auch das hier?“, rief er von oben. Als sie den Kopf hob, sah sie Will in einer Baumkrone sitzen. Ihr klappte der Mund auf. Sie hatte schon gewusst, dass Vampire um einiges stärker waren, als Menschen, aber dass sie so schnell und kräftig waren, hatte sie ja nie geahnt!
„Komm zu mir“, rief er hinunter.
„Das kann ich nicht! Was ist, wenn ich daneben springe und mich verletze?“
Will lachte. „Vertrau mir, erstens springst du nicht daneben. Du bist jetzt schließlich ein Vampir. Und zweitens wäre es nicht schlimm, wenn du dich verletzt. In weniger als einer Minute sind alle gebrochenen Knochen wieder zusammengewachsen. Also komm her.“
Zweifelnd versuchte Emma abzuschätzen, wie hoch sie springen musste. War es schwachsinnig, Anlauf zu nehmen?
Ohne weiter darüber nachzudenken fixierte Emma den Baumstamm, ging leicht in die Knie und drückte sich ab. Sie konnte es gar nicht fassen, dass sie tatsächlich durch die Luft flog.
Ihre Sprungkraft war noch ausgeprägter, als sie es sich hatte vorstellen können und so landete sie zwar auf dem richtigen Baumstamm, aber mehr oder weniger in Wills Armen. Ihre Gesichter waren direkt voreinander und die Luft zwischen ihnen schien förmlich zu knistern.
Mit einem Mal hatte Emma wieder die Szene von gestern Abend vor Augen. Wie Dave und sie vor ihrer Haustür standen und er sie geküsst hatte.
Wills Miene wurde erst ungläubig, dann verdunkelte sie sich.
Und plötzlich war er von dem Baum verschwunden. Er stand auf der Lichtung und starrte sie wütend an.
„Ist das dein Ernst?“, rief er. „Du hast ihn geküsst? Willst du mich eigentlich verarschen?“
Mit großen Augen sah Emma ihn an. Hatte sie schon wieder ihre Gedanken auf ihn projiziert? Sie wusste nicht, warum ihr das passierte, aber sie musste es unbedingt unter Kontrolle bringen!
Schnell ließ sie sich von dem drei Meter hohen Ast fallen und landete sanft auf der Lichtung. Sie wollte auf Will zugehen, doch er machte einen Schritt zurück.
„Ich hab ihn nicht geküsst, Will. Er hat es einfach getan, das musst du mir glauben! Ich wollte das gar nicht.“
„Wieso sollte ich dir glauben? Ich habe es doch gerade selbst gesehen. Das war einfach genau das, was du nicht hättest tun sollen! Du wirst diese Prägung erst wieder los, wenn Dave stirbt, weißt du das eigentlich? Ich habe das Gefühl, dass dir gar nicht richtig bewusst ist, worum es hier geht! Du gehst durch die Welt und siehst dir nur die Dinge an, die dir gefallen. Du bist so naiv, Emma!“
„Naiv? Ooh, entschuldige, dass ich noch nicht zweihundert-was-weiß-ich-wie-viele-Jahre auf der Welt bin und mit meiner Klugheit überzeugen kann. Aber weißt du was? Du bist nach all diesen Jahren unfähig, dich Menschen zu öffnen und kannst emotionale Nähe einfach nicht zulassen. Wenn irgendetwas passiert, bin immer ich schuld! Du kannst dir doch gar nicht vorstellen, wie es gestern Abend für mich war! Ist dir klar, dass ich jetzt ein Vampir bin? Und damit muss ich fertig werden. Für dich ist das normal, du bist ja sogar so auf die Welt gekommen. Aber für mich ändert das alles! Ich wusste bis vor ein paar Wochen ja noch nicht mal, dass es so etwas überhaupt gibt! Und jetzt bin ich abhängig von so einer roten Flüssigkeit, und meine Sucht kann andere Menschen das Leben kosten. Ich habe den Drang in mir, zu töten! Und da soll ich nicht mal einen Abend genießen können, einen einzigen Abend, an dem ich die ganzen Sorgen irgendwie von mir schieben kann? Auch wenn mein Leben im Moment ziemlich scheiße läuft Will, irgendwann muss man auch mal Spaß haben. Ich kann nicht immer so vernünftig sein wie du! Vielleicht kann ich das in hundert Jahren. Aber jetzt bin ich immer noch 17. Ich bin noch jung und kann Fehler machen. Ich bin nicht so perfekt wie du!“
Emma stand Will gegenüber. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie sie immer weiter auf ihn zugeschritten war. Der Zeigefinger, der anklagend auf ihn zeigte, hing noch drohend in der Luft. Schnell ließ Emma ihre Hand sinken.
Ihr Herz klopfte. Wann hatte sie zuletzt jemandem so die Meinung gesagt? Streit lag ihr wirklich nicht, eigentlich war das einfach nicht ihr Ding. Sie brauchte die Harmonie.
Aber gerade war wohl irgendetwas mit ihr durchgegangen. Sie hatte es satt, sich alles von Will vorhalten zu lassen.
Sie merkte, dass er etwas sagen wollte, doch sie war nicht daran interessiert. Er verstand sie einfach nicht, was das anging. Aus einem kindischen Impuls heraus, um ihn zu verletzen, nur weil er sie verletzt hatte, fügte sie hinzu: „Ach und noch was. Vielleicht will ich diese Prägung ja. Vielleicht bin ich ja auch in Dave verliebt. Weißt du, er gibt mir wenigstens das Gefühl, dass ich etwas wert bin und dass er etwas für mich empfindet.“ Arschloch, fügte sie aus Wut in Gedanken hinzu.
Dann drehte sie sich um und rannte mit ihrer neuen Schnelligkeit von der Lichtung.

Emma hatte erwartet, dass sie außer Puste sein würde, wenn sie das Haus der Lavies erreicht hatte. Doch obwohl sie zwei Minuten lang schneller gerannt war als je zuvor in ihrem Leben, schlug ihr Herz gleichmäßig weiter. Ohne sich von irgendwem drinnen zu verabschieden ging sie auf ihr Auto zu. Wut brodelte in ihr. Dann hatte Dave sie halt geküsst, na und? Was interessierte ihn das überhaupt? Es ging ihn doch gar nichts an, schließlich hatte er nie gesagt, dass er sie mochte…
Der beste Beweis dafür war die Nacht nach dem Schulball! Sie waren beide betrunken gewesen und hatten Sex. Der einzige Unterschied war, dass Emma es wollte, trotz Alkohol. Will hatte es anscheinend gegen seinen Willen getan und war am nächsten Morgen so sauer gewesen, dass er nicht mal mehr mit ihr geredet hatte.
Der konnte seine tollen Ratschläge á la „Das hättest du nicht tun sollen“ mal schön für sich behalten! Zornig streckte Emma die Hand nach der Autotür aus, als mit einem Mal Zoey vor ihr auftauchte.
„Du kannst mir nicht erzählen, dass ihr nach einer halben Stunde schon fertig seid“, sagte sie alarmiert. Dann zogen sich ihre Augenbrauen zusammen und sie sah Emma erstaunt in die Augen. Nach einem kurzen Augenblick brachte sie hervor: „Oh. Wie machst du das?“
Als Emma nicht antwortete, fügte sie hinzu: „Meine Gedanken beeinflussen. Du schickst mir Bilder in den Kopf und ich kann spüren, wie du dich fühlst.“
„Ich verstehe das einfach nicht!“, rief Emma heiser und versuchte die Tränen zurückzuhalten, die plötzlich in ihren Augen schwammen. „Andauernd projiziere ich meine Gedanken, obwohl ich es gar nicht will. Niemand von euch kann das. Ich will meine Gedanken für mich behalten!“
„Hey ist ja gut“, flüsterte Zoey und nahm das aufgelöste Mädchen in den Arm. „Was ist denn passiert? Hat Will etwas Taktloses gesagt? Sowas tut er ja häufiger.“ Missbilligend schnalzte sie mit der Zunge.
„Nein, eigentlich nicht“, schniefte Emma. „Es ist nur wegen Dave und der Prägung. Dauernd mache ich alles falsch. Er ist immer sauer auf mich, dabei versteht er mich einfach nicht.“
„Süße, hast du schon mal dran gedacht, dass er nur so sauer wird, weil er eifersüchtig ist und seine Gefühle vor dir verbergen will? So gut müsstest du ihn doch inzwischen kennen, darin ist er einfach nicht gut. Und glaub mir, er gibt sich wirklich schon Mühe mit dir. Ich kenne ihn seit wir klein sind und noch nie war ihm ein Mädchen so wichtig, wie du. Das sagt er zwar nicht, aber ich merke das. Vor mir kann er das nicht geheim halten. Aber erst war da diese Sache mit dem Verbot, weil du Mensch warst und jetzt steht die Prägung zwischen euch. Das macht ihn fertig. Und genau das versteht er nicht. Er hat jetzt nicht mehr die Kontrolle über die Situation, weil er Gefühle für dich hat und das macht ihn wütend.“
Zweifelnd sah Emma Wills Schwester an. „Meinst du?“
Es hörte sich ja wirklich logisch an und vor allem schön. Zu schön, um wahr zu sein.
Zoey nickte. „Komm morgen nach der Schule wieder zum Üben. Er hat garantiert noch nicht die Zeit dafür gehabt, dir alles zu zeigen. Bis dahin habt ihr beide euch bestimmt auch wieder beruhigt.“
Emma war dankbar für die tröstliche Umarmung, die Zoey ihr gab. Dann lächelten sich die beiden Frauen noch einmal zu und Emma fuhr vom Hof.

Am nächsten Tag wunderten sich Emmas Freundinnen, warum sie so abwesend war. Den ganzen Tag hielt sie nach Will Ausschau, doch er war nicht da. Es kam zwar manchmal vor, dass er nicht in der Schule war, oder sie ihm einfach nicht begegnete, doch gerade heute? Ob er wohl noch sauer war?
Emma hatte den gestrigen Tag im Bett verbracht. Ihrer Mutter hatte sie gesagt, dass sie Kopfschmerzen hatte, um nicht gestört zu werden.
Mit einer Kanne Tee und ihrem Ipod in den Ohren hatte sie über Will nachgedacht.
Konnte das, was Zoey gesagt hatte, stimmen? An den Haaren herbeigezogen war es sicher nicht. Will war wirklich immer sehr kontrolliert und dazu würde es passen, dass er sauer wurde, weil er seine Gefühle nicht verstand… Er schien noch nie so etwas wie eine ernste Beziehung gehabt zu haben, dabei war er inzwischen…wie alt? Zweihundertfünfundzwanzig? Daran meinte sie sich zumindest zu erinnern. Aber machte nicht gerade das es noch viel unwahrscheinlicher, dass er ausgerechnet für sie Gefühle entwickelt haben sollte? Will konnte nett sein und manchmal sogar witzig, doch meistens war er nach außen hin kalt wie ein Eisblock. In schwachen Momenten hatte er Emma schon näher an sich herangelassen. Meistens passierte das, wenn er getrunken hatte.
Sie erinnerte sich an den Abend vor dem Ritual. Da war er wie ausgewechselt gewesen. Indirekt hatte er ihr zu verstehen gegeben, dass sie ihm etwas bedeutete.
Aber dann waren Emmas Gedanken wieder zu der Zeit nach dem Ritual umgesprungen. Wenn sie ihm wirklich so wichtig gewesen wäre, hätte er ihr doch sicherlich nicht einfach die Erinnerung genommen?
Den ganzen Tag hatte sie über Will und sein Verhalten nachgedacht und sie hatte wirklich keine Ahnung, ob er nun Gefühle für sie hatte, oder nicht. Ihr Verstand tendierte eher zu nein, doch Emma gingen die ganze Zeit Zoeys Worte durch den Kopf.
Sie kannte bloß ihre eigene Einstellung zu Will. Die Sache mit Dave machte es nicht leicht, doch der gutaussehende Vampir ging ihr einfach nicht aus dem Kopf. In seiner Nähe fühlte sie sich wohl und geborgen, auch wenn er mal wieder sauer auf sie war. Sie vermisste ihn, wenn er nicht da war und sogar in ihren Träumen kam er vor. Mehr als einmal hatte sie sich bei dem Gedanken ertappt, wie es wohl wäre, mit ihm zusammen zu sein, ohne Probleme und Sorgen.
Emma wusste, dass sie schon länger Gefühle für Will hatte. Sie hatte bisher zwar schon ein paar Typen geküsst, aber noch nie eine richtige Beziehung gehabt. Vom Verliebtsein hatte sie auch keine Ahnung.
Also, wie fand sie nun heraus, ob sie eine Zukunft mit Will hatte?

Nachdem ihr am gestrigen Tag keine Lösung eingefallen war, kam ihr heute in der Schulcafeteria eine Idee.
„Olivia, wie bist du eigentlich mit Jayden zusammengekommen?“
Ihre beiden Freundinnen unterbrachen ihre Unterhaltung. Olivias Löffel blieb auf halbem Weg zu ihrem Mund in der Luft stehen.
„Ach, Emma, du bist heute auch hier? Wie schön!“, sagte sie in ironischem Tonfall.
„Ja entschuldige, ich bin etwas müde“, log Emma, weil sie ihren Freundinnen ja schlecht erzählen konnte, was ihr im Kopf herumspukte, auch wenn sie nichts lieber getan hätte.
Olivia ließ sich leicht ablenken und da sie gerne redete, beantwortete sie Emmas Frage.
„Nachdem wir uns eine Zeit kannten und ich mir sicher sein konnte, dass wir uns auch gut verstehen und eine Zukunft haben würden, habe ich mit ihm geredet.“
Emma sah sie verständnislos an. „Geredet?“
„Ja“, erwiderte Olivia ungeduldig. „Natürlich, du Trottelchen. Ich habe ihm gesagt, was ich für ihn empfinde und naja… Du kennst ja Jayden, er hat nicht besonders viel dazu gesagt, aber das, was er gesagt hat, hat genügt.“
Emma kam sich vollkommen verblödet vor, als sie fragte: „Und was hat er gesagt?“
Ihre Freundin verdrehte die Augen. „Dass er es mit mir versuchen will. Das habe ich doch auch alles schon Mal erzählt, hörst du mir eigentlich nie zu?“
Emma gab einen nichtssagenden Laut von sich und lehnte sich wieder auf ihrem Stuhl zurück. Der Hirtensalat stand unangerührt vor ihr. Nach Essen war ihr wirklich nicht zu Mute.
Vor allem jetzt nicht mehr.
Emma hatte einen Entschluss gefasst. Nach der Schule wollte sie sowieso zu Will zu fahren, um zu üben. Doch davor würde sie einfach in sein Zimmer gehen und ihm klipp und klar sagen, wie die Dinge für sie standen. Sie hatte es schon gestern geschafft, ihm ordentlich die Meinung zu sagen, also würde sie es auch heute schaffen, ihm zu erklären, was sie für ihn empfand.
Ihr Herz fing an, schneller zu schlagen an und ein irrsinniges Grinsen schlich sich auf ihr Gesicht, das den ganzen Schultag über nicht mehr verschwinden wollte.
Sie konnte dem Unterricht nicht folgen, weil sie sich hundert verschiedene Szenarien ausdachte, wie sie es am besten anstellen konnte und wie er wohl darauf reagieren würde.
Am meisten beschäftigte sie die Frage nach seiner Antwort. Lief es bei den beiden wie mit Olivia und Jayden? Konnten sie es versuchen?
Der Gedanke ließ Schmetterlinge in Emmas Bauch herumflattern und je näher der Schulschluss rückte, desto aufgeregter wurde sie.
Als das letzte Klingeln sie endlich erlöste, vergaß Emma in ihrer Aufregung sogar ganz, sich von ihren Freundinnen zu verabschieden. Sie hastete zu ihrem Auto und ließ die Schultasche auf den Beifahrersitz plumpsen. Dann setzt sie sich auf den Fahrersitz, schnallte sich an und schloss kurz die Augen. Ihr Herz klopfte vor Aufregung schneller als sonst und ihre Gedanken gingen immer wieder zu Will.
Okay

, sagte sie sich. Ich werde jetzt dorthin fahren und ihm alles sagen. Ganz einfach. Keine große Sache.


Emma atmete noch zwei Mal tief durch, dann startete sie den Motor und fuhr los.

Wahrscheinlich würde es gar nicht so schwer werden, redete sie sich unterwegs ein. Sie brauchte ja eigentlich auch nicht viel zu sagen.
Dass er ihr sehr wichtig geworden war und dass sie es trotz der Prägung versuchen wollte. Und dann waren da noch diese drei Worte.
Emma hatte noch nie zu jemandem „Ich liebe dich“ gesagt. Wahrscheinlich einfach, weil sie noch nie in einer Beziehung gewesen war und dementsprechend keine Möglichkeit dazu gehabt hatte. Aber so schwer konnte das ja schließlich nicht sein.
Nur drei Worte und dann konnte sie Wills Reaktion abwarten.
Wieder klopfte ihr Herz so schnell, dass sie dachte, es müsse ihr aus der Brust springen.
Endlich bog sie in die Einfahrt der Lavies ein. Mit angehaltenem Atem betätigte sie den Türklopfer und es dauerte keine zwei Sekunden, bis Zoey ihr öffnete.
„Hey“, begrüßte sie Emma mit ihrer überschwänglichen Art. „Wollen wir direkt loslegen? Ich denke, wir zwei werden heute mal ein bisschen zusammen üben. So ganz unter Frauen.“ Verschwörerisch zwinkerte Zoey ihr zu.
„Ich wollte vorher noch kurz etwas mit Will besprechen“, wandte Emma ein. „Dauert auch nicht lange.“
Inzwischen hatten sie die Treppe erreicht, doch Zoey stellte sich vor sie.
„Gerade ist es glaube ich schlecht. Kann das nicht bis später warten? Außerdem soll es nachher ganz schlimm anfangen zu regnen, lass uns das gute Wetter jetzt ausnutzen.“
„Wirklich?“, fragte Emma verwirrt. „Im Radio haben sie nichts von Regen gesagt.“
Dann überlegte sie. Sie war jetzt schon so weit gekommen, da konnte sie den letzten Schritt auch noch gehen. Mit was auch immer Will beschäftigt war, sicherlich hatte er fünf Minuten für sie.
Insgeheim hatte sie auch Angst, dass ihr Entschluss in einer Stunde bereits wackelte und sie nicht mehr den Mut für dieses Gespräch aufbringen konnte.
„Ich werde kurz mit ihm reden, es dauert bestimmt nur fünf Minuten“, sagte Emma entschlossen und ging an Zoey, die die Schultern hängen ließ, vorbei die Treppe herauf.

Während sie sich dem Zimmer näherte, klopfte ihr Herz immer schneller und ihre Handflächen wurden feucht. Will schien einen Fernseher laufen zu haben, denn Emma konnte eine Stimme hören, aber sie dachte nicht weiter darüber nach. Vor Aufregung vergaß sie sogar, zu klopfen.
Sekunden später wünschte sie sich, sie hätte es nicht vergessen. Sie wünschte sich überhaupt, nie auf diese schwachsinnige Idee gekommen zu sein, mit Will reden zu wollen. Wie hatte sie sich denn auch nur eine Sekunde einbilden können, dass er sie mochte? So wie er sich ihr gegenüber verhielt? Es war doch eigentlich klar.
Emma verfluchte sich dafür und konnte die Blondine, die auf Wills Schoß saß, nur mit offenem Mund anstarren.

Sechs


Ihr ungläubiger Blick traf Wills, der mindestens genauso überrascht war, wie Emma selbst.
Langsam verschwand sie rückwärts aus dem Türrahmen.
„Emma“, hörte sie Will rufen, doch für sie war alles klar. Sie rannte los und prallte gegen Zoey, die ihr anscheinend gefolgt war.
„Emma“, sagte auch sie, doch Emma wollte nicht zuhören. Sie wollte einfach nur weg von hier.
Ohne an das Auto zu denken, rannte sie aus der Haustür, schneller als je zuvor. Zu Fuß war sie wahrscheinlich sowieso schneller. Für kurze Zeit dachte sie, dass ihr jemand folgte, aber irgendwann schien ihr Verfolger sie zu verlieren. Sie war einfach zu schnell.
Als sie nach fünf Minuten immer noch im Wald war, blieb Emma stehen und lehnte sich gegen einen Baumstamm. Kurz schloss sie die Augen und dachte nach.
Wo sollte sie jetzt hin? Nach Hause? Nein, da würde Will sie wahrscheinlich erwarten. Naja, falls es ihn überhaupt interessieren würde. Aber Zoey, die würde sich schon Sorgen machen.
Emma hatte keine Lust, mit einem der beiden zu reden. Sie brauchte menschliche Gesellschaft. Sie musste endlich mit jemandem über Will reden. Dieses Arschloch!
Es konnte doch nicht sein, dass Emma zum ersten Mal in ihrem Leben Gefühle für jemanden hatte und dermaßen verletzt wurde und ihre besten Freundinnen nicht den blassesten Schimmer hatten!
Emma fühlte sich mies. Es war zwar eigentlich nur zu ihrem besten, aber an Paulas und Olivias Stelle hätte Emma sich auch hintergangen gefühlt. Sollte sie es ihnen nun erzählen? Wie sollte schon jemand davon erfahren?
Okay, Olivia war vielleicht eine kleine Plaudertante… Und wenn sie es nur Paula erzählte?
Das war auch unfair. Sie konnte Olivia auch nicht durch Gedankenmanipulation dazu bringen, es für sich zu behalten, schließlich hatte sie noch nicht richtig gelernt, wie das ging. Nachher lief noch etwas schief…
Das einzige Mal, wo es unterbewusst geklappt hatte, war bei ihrem Lehrer und bei… Dave!
Klar, warum war sie nicht gleich darauf gekommen?
Instinktiv kannte Emma die Richtung, in die sie laufen musste, obwohl sie sich noch nie in diesem Teil des Waldes befunden hatte.
Nur zehn Minuten später stand sie vor Daves Haustür. Aufmerksam sah sie sich um, schließlich war Daves Haus nicht weit von ihrem eigenen entfernt, doch auf der Straße war niemand zu sehen.
Es dauerte einen Moment, bis ein verschlafener Dave ihr öffnete. Seine Haare waren verwuschelt und er sah Emma verwirrt blinzelnd an.
„Hey“, begrüßte er sie.
Ohne etwas zu erwidern, schob Emma sich an ihm vorbei ins Haus.
„Komm doch rein“, murmelte er und schloss die Tür hinter ihr. „Was gibt’s?“
Ja, was gab es eigentlich? Welcher unbewusste Impuls hatte Emma zu Dave geführt? Das Bild von Will mit dieser Blondine tauchte wieder vor ihrem inneren Auge auf und sie wurde wütend. Wie konnte er nur! Sobald sie ihm an einem Tag zu schwierig wurde, holte er sich halt die nächste. War sie vielleicht ein Vampir? Emma wusste es nicht. Eine Blondine! Das war so typisch Mann!
Sie musste sich eingestehen, dass sie die andere Frau viel hübscher gefunden hatte, als sich selbst. Natürlich fand Will sie gut. Aber von ihm hätte Emma so etwas niemals gedacht. Er kam ihr immer so kontrolliert und besorgt vor. Da passte es nicht zu ihm, dass er im Stillen die Erstbeste vögelte.
Oder war das etwa schon die ganze Zeit so gegangen? Gab es eine Frau in Wills Leben, von der Emma nichts wusste? Hätte Zoey ihr das nicht gesagt? Wer war diese verdammte Frau?
Emma hatte gar nicht gemerkt, dass sie in die zweite Tür links gegangen war, hinter der sich früher Daves Zimmer befunden hatte. Auch heute schien es noch dort zu sein.
Als Kinder hatten sie häufig zusammen gespielt, bis sich ihre Wege in der Schule irgendwann trennten. Von da an hatte sie von Dave meist nur noch gemeine und später auch anzügliche Dinge zu hören bekommen. Anders, als jetzt.
Besorgt stellte er sich vor sie und wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum.
„Emma? Was ist los mit dir? Geht es dir gut?“
Sie nickte erst, schüttelte dann aber doch den Kopf. Sie wusste es nicht. Sie hatte keine Ahnung, wie es ihr ging. Das alles fühlte sich unwirklich an, wie ein Traum.
„Möchtest du dich setzen? Kann ich dir etwas zu trinken bringen?“ Offenbar nervös, weil er nicht wusste, was mit Emma los war, fuhr Dave sich mit der Hand am Hals entlang. Das lenkte ihren Blick auf die pochende Ader.
Ab da war der Nebel der Gefühle verschwunden, der zuvor noch ihr Denken verhüllt hatte. Alles war ganz logisch. Warum sie zu Dave gefahren war? Er war ihre Prägung und er hatte das, was sie wollte. Wer war schon Will? Was interessierte sie sich überhaupt für ihn?
Für Dave musste es aussehen, als sei sie aus einer Trance erwacht, als Emma ihn endlich richtig ansah, lächelte und sagte: „Nein, danke. Mir geht es gut. Ich bin bloß ein bisschen müde.“
Dankbar und sichtlich erleichtert lächelte er. Die Anspannung fiel augenblicklich von ihm ab.
„Na dann. Warum hast du nicht vorher Bescheid gesagt, dass du vorbeikommst?“
„Ach ich weiß nicht. Mir war einfach danach, dich zu sehen“, sagte Emma, trat näher auf Dave zu und streichelte ihm sanft über die Wange. Sie fühlte sich berauscht und war vollgepumpt mit Adrenalin.
Er ging sofort auf ihren Näherungsversuch ein, legte seine Hand an ihre Taille und zog sie dicht zu sich heran.
„Du bist so heiß, weißt du das?“, flüsterte er ihr ins Ohr und küsste dann ihren Hals.
Ohne es zu wollen, entfuhr Emma ein kehliges Stöhnen, das sich fast ein bisschen wie ein knurren anhörte. Ein bisschen erschrak sie vor sich selbst, ließ sich jedoch nichts anmerken.
Als Dave den Kopf hob, um Emma auf den Mund zu küssen, sagte sie: „Warte. Willst du immer noch, dass ich dich beiße?“
Allein schon der Gedanke daran verursachte ein lustvolles Ziehen in ihrem Unterleib.
Er war offensichtlich überrascht über diese unvermittelte Frage, grinste dann aber anzüglich.
„Klar will. Und nicht nur das, ich will noch viel mehr…“
„Sehr gut“, lächelte Emma und zog Dave das T-Shirt aus.
Sie hatte seinen Körper ja schon beim Schwimmen neulich gesehen, doch so war es irgendwie noch etwas anderes. Als Footballspieler hatte er natürlich perfekt trainierte Muskeln und Emma konnte nicht anders, als mit ihren Fingern darüber zu fahren.
Dave zog sie an sich, küsste sie leidenschaftlich und zog ihr dann ebenfalls das Top aus. An ihrem Oberschenkel konnte sie seine Erektion deutlich spüren, aber auch sie ließen seine Küsse nicht kalt.
Auf einmal hörte Emma ein Auto vorfahren und hielt inne.
„Sind deine Eltern schon wieder zu Hause?“, wollte sie von dem atemlosen Dave wissen.
Er warf einen kurzen Blick auf die Uhr und fing an, zu fluchen. Fast im selben Moment klirrte ein Schlüssel in der Haustür.
Schneller, als Dave gucken konnte zog Emma sich ihr Shirt wieder an und warf ihm seines zu.
„Komm in zehn Minuten zu mir. Ich lass die Tür angelehnt, wo mein Zimmer ist, weißt du ja“, beeilte sie sich zu sagen. Dann öffnete sie das Fenster und kletterte hinaus, genau einen Augenblick bevor die Zimmertür aufging und Daves Mutter ihn begrüßte.

Emma hastete in ihr Haus. Die Sonne stand so, dass sie ihr direkt ins Gesicht schien. Das machte die Sache nicht gerade einfacher.
Wie versprochen, lehnte sie die Haustür nur an. Sie war alleine zu Hause, Jayden war bei Olivia und ihre Eltern arbeiten. Auf die kleine Rose passte eine Tagesmutter auf.
Emma hatte ein wenig Kopfschmerzen und sie vermutete, dass das an ihrem Blutmangel lag. Die Sonne hatte sie schon den ganzen Tag gequält und nun auch noch die Sache mit Dave.
Am besten sie trank schnell eine Flasche des Blutjohanniskrauts. Das würde es wahrscheinlich schon besser machen.
Also lief sie die Treppen hoch und steuerte auf ihr Zimmer zu.
Als sie die Tür öffnete, traute sie ihren Augen zum zweiten Mal an diesem Tag nicht.
Will saß auf ihrem Bett, als hätte er schon die ganze Zeit auf sie gewartet.

Erschrocken starrte sie ihn an. Was suchte er hier? Was fiel ihm eigentlich ein?! Der heftige Impuls, ihm mitten ins Gesicht zu schlagen, durchzuckte ihre Hand und Emma war erschrocken über die Brutalität ihrer Gedanken.
„Was willst du?“, fragte sie stattdessen kalt und blieb im Türrahmen stehen.
„Ich will mit dir reden“, meinte er, während er aufstand und auf sie zuging.
Feindselig starrte sie ihn an. „Worüber?“
„So blöd sich das jetzt auch anhört, du musst mir glauben“, flehte er sie an und sein Blick war eine stumme Bitte. „Es war nicht das, wonach es ausgesehen hat.“
Emma lachte auf. „Willst du mich eigentlich verarschen? Ach nein, warte. Hast du ja schon.“
Verletzt schaute er sie an. „Ich habe dich nicht verarscht! Es gibt eine Erklärung für das, was du meinst, gesehen zu haben.“
„Mhh, schon klar. Lass mich raten, es war eine Gummipuppe, die besonders lebendig ausgesehen hat? Oder eine Verwandte, die ein bisschen Hoppe-Hoppe-Reiter spielen wollte? Lüg mich nicht an!“ Erst jetzt spürte sie, wie traurig sie wirklich war, denn Tränen schwammen in ihren Augen. „Weißt du eigentlich, warum ich überhaupt da war?“, setzte sie noch hinzu.
Verwirrt sah er sie an. „Zum trainieren?“
Emma schluchzte und schüttelte den Kopf.
„Hey“, versuchte Will sie zu beruhigen und ging einen Schritt nach vorne, doch sie wich vor ihm zurück.
„Du musst mir glauben“, sagte er verzweifelt. „Ich hatte nichts mit ihr.“
„Ja genau“, fauchte Emma ihn an. „Und ich bin der Weihnachtsmann. Sie saß auf deinem Schoß, mit dem Gesicht zu dir. Was soll sie da sonst suchen?“
„Du hast schon recht, ich denke, dass sie genau das gesucht hat. Ich habe es ihr aber nicht gegeben. Auch wenn ich sie schon lange kenne, für mich ist sie einfach nur eine Freundin. Genau in dem Moment, in dem du reinkamst, hat sie sich so an mich rangemacht. Ich habe sie aber sofort von mir herunter geschoben.“
Emma sah Will in die Augen. Meinte er es ernst? Konnte sie ihm überhaupt glauben? In ihrer Erinnerung war tatsächlich nur das Bild von diesem Blondchen auf seinem Schoß. Geküsst hatten sie sich wirklich nicht, aber trotzdem! Die Position war doch eigentlich eindeutig gewesen.
Und was, wenn Will es doch ernst meinte? Wenn seine Bekannte sich wirklich gegen seinen Willen an ihn rangemacht hatte?
„Ich weiß, dass es sich nach einer Ausrede anhört. Aber so war es nun mal. Bitte glaub mir“, sagte er, während er erneut auf sie zukam. Dieses Mal wich sie nicht zurück. Ihren inneren Kampf gab sie auf. So oder so war sie letztendlich doch hoffnungslos in ihn verliebt. Also konnte sie auch nicht nein sagen, als er sie in den Arm nahm und ihr übers Haar streichelte.
Wenn da noch ein kleines bisschen innerer Widerstand war, so schmolz er spätestens dann, als Will ihr leise ins Ohr flüsterte: „Du bedeutest mir sehr viel, ich hoffe, du weißt das.“
In diesem Moment konnte Emma gar nicht anders, als ihrerseits die Arme um ihn zu legen und seine Nähe zu genießen. Will küsste sie aufs Haar.
„Weißt du“, flüsterte sie mit geschlossenen Augen und lehnte den Kopf an seine Brust. „Vorhin bin ich zu dir ins Zimmer gekommen, weil ich dir etwas sagen wollte.“
„Was denn?“, wollte er mit seiner dunklen und angenehmen Stimme wissen.
„Naja“, setzte sie an, doch in diesem Moment flog die Tür auf.
„Emma?“, vernahm sie Daves erstaunte Stimme hinter sich.
Zeitgleich versteifte sich auch Will und löste sich aus ihrer Umarmung. Alle Zärtlichkeit war aus seinem Blick verschwunden und Verärgerung gewichen.
„Was soll das, Emma? Was macht er hier?“, wollte er wissen.
Und auch Dave fragte: „Was will er

denn hier?“
„Langsam habe ich den Eindruck, dass du

mich verarschen willst“, knurrte der Vampir. „Ich verstehe nicht, wieso du dich mit ihm triffst. Es zwingt dich doch niemand dazu! Oder hast du Gefühle für ihn? Ist es das? Begehrst du mehr als nur sein Blut?“
Emma verfluchte sich dafür, dass sie so kurzentschlossen zu Dave gefahren war. Aber Will konnte das nicht verstehen. Sie wusste immer noch nicht, ob er das gleiche für sie fühlte, oder nicht. Sie hatte ja gedacht, dass er sich anderweitig beschäftigte, also brauchte sie auch Ablenkung, um den Schmerz nicht zu spüren.
Und Dave… war Dave. Diese Beziehung konnte Will erst recht nicht verstehen. Nicht mal Emma verstand sie richtig.
Überrascht von sich selbst konnte sie auf seine letzte Frage nicht antworten. Ihr Kopf sagte nein auf gar keinen Fall, ich will nur dich!

Doch da war noch etwas anderes, das sie hinderte, diesen Gedanken laut auszusprechen. Sie begehrte Daves Blut mehr, als das anderer Menschen, das stand außer Frage. Aber wollte sie mehr von ihm? Was war das vorhin in seinem Zimmer eigentlich gewesen? War sie bereit gewesen, mit Dave zu schlafen? Was war eigentlich in sie gefahren?
Nachdem Will vergeblich auf eine Antwort gewartet hatte, wechselte sein Blick von wütend in verletzt und abweisend. Emma wollte es ihm erklären, doch sie fand nicht die richtigen Worte dazu. So musste sie ihm dabei zusehen, wie er in Vampir-Geschwindigkeit aus ihrem Zimmer verschwand.

Nach der ersten Schrecksekunde realisierte sie, was gerade geschehen war und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Schluchzend ließ sie sich aufs Bett sinken.
„Was war das denn?“, forderte jetzt auch noch Dave zu wissen. „Läuft da etwa was zwischen euch?“
Emma zuckte nur müde mit den Schultern.
„Aber wie ist das denn möglich? Ich dachte, wir sind aufeinander geprägt?“
„Für mich ist es anders, als für dich“, versuchte sie erschöpft zu erklären. „Mein Körper will in erster Linie dein Blut. Wenn ich bei dir bin, fühlt es sich auf jeden Fall gut und richtig an, aber wenn ich es nicht bin, wenn ich bei Will bin, fühlt es sich auch richtig an.“
Sie wusste, dass ihre Worte Dave verletzen würden. Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen, aber sie wollte ihm auch nichts vorspielen.
Er schnaubte nur abfällig, dann hörte Emma ihn aus dem Raum stapfen und die Tür zuschlagen.
Na toll

, sagt sie sich. Du hast alles kaputt gemacht. Jetzt hast du alle Kerle vergrault, die wenigstens ein bisschen was an dir finden.


Sie ließ sich ins Bett sinken und fing haltlos an zu weinen.

Nach einiger Zeit, Emma konnte nicht sagen, ob eine Stunde oder zehn Minuten vergangen waren, öffnete sich die Tür. Schritte näherten sich dem Bett, doch sie ließ die Augen einfach geschlossen. Sie hatte keine Lust auf Gesellschaft.
Die Matratze senkte sich auf der einen Seite.
„Hey, was ist denn passiert?“, fragte Jayden besorgt. Sanft legte er seine Hand auf ihren Arm und schaute sie fragend an.
„Ach, es ist nichts…“, murmelte Emma, doch ihr Bruder glaubte ihr nicht.
„Na sag schon“, forderte er sie auf. „So schlimm wird es schon nicht sein.“
„Mädchenprobleme“, schniefte Emma und kicherte leise, weil sie sich dumm vorkam. War es nicht genau so etwas, was sie sich vor kurzem noch gewünscht hatte? Mal wieder normale Probleme zu haben? Aber irgendwie waren ihre Probleme dann doch wieder nicht so normal, schließlich war sie durch sein und ihr Blut an Dave gebunden und Will war ein Vampir.
„Lass mich raten, es geht um Will“, sagte Jayden zwinkernd.
Emma nickte. „Auch.“
„Um wen denn noch?“, fragte er verwirrt.
„Um Dave“, vertraute sie ihm an.
„Dave? Was hat der denn mit der ganzen Sache zu tun?“
„Das ist eine lange Geschichte“, murmelte sie.
„Warum sprichst du eigentlich nicht mal mit deinen Freundinnen darüber? Es würde dir doch bestimmt viel besser gehen damit.“
„Natürlich würde es mir besser gehen. Aber nicht alle Vampire sind so nett, wie Will.“
„Naja, er scheint ja gerade nicht besonders nett zu sein.“
„Es ist meine Schuld“, gab Emma traurig zu.
„Was hältst du davon, wenn du statt mit Paula und Olivia mit mir redest? Ich weiß eh schon über Vampire Bescheid. Nur die Details nicht.“ Neugierig grinste er sie an. Emma war einfach nur dankbar, dass er sie aufheitern wollte. Und warum sollte sie auch nicht mit ihm reden? Er war der Einzige, mit dem das möglich war.
Jayden wusste bisher nur, dass Emma und Will Vampire waren und er ahnte, dass zwischen den beiden irgendetwas lief. Also fing sie ganz von vorne an, ließ auch die Nacht nach dem Schulball nicht aus, schilderte Wills Reaktionen und berichtete schließlich von Dave.
Ihr Bruder hörte die ganze Zeit aufmerksam zu und unterbrach sie nicht. Erst als sie fertig war, sagte er: „Das hört sich für mich danach an, als ob Will etwas an dir liegt. Er scheint bloß nicht zu wissen, wie er es dir zeigen soll.“
„Ich weiß nicht“, wandte Emma ein. „Die Sache mit Dave steht ziemlich zwischen uns. Und ich kann ja nicht sagen, dass ich Dave nicht auch mag. So eine Prägung verbindet halt irgendwie.“
„Und es gibt ganz sicher keine Möglichkeit, sie wieder aufzulösen? Sowas ähnliches wie das Ritual?“
„Wills Eltern stellen Nachforschungen an, aber wenn es einen Weg gibt, scheint er nicht besonders erfolgreich zu sein, sonst wäre er ja bekannter. Prägungen kommen sowieso nicht so oft vor.“
Jayden wollte offenbar noch etwas sagen, doch mit einem Mal wurden seine Augen glasig und sein Mund blieb offen stehen.
„Was hast du?“, fragte Emma alarmiert und setzte sich auf. „Jayden!“, rief sie, doch er reagierte nicht.
Sie wollte ihn schütteln, doch in dem Moment, in dem sie seinen Arm berührte, schien ein gleißender Lichtblitz durch ihren Kopf zu fahren. Dann hatte sie ein Bild vor Augen, das so scharf und klar war, als befände sie sich mitten darin. Sie schien durch die Augen von jemand anders zu sehen.
Um sie herum waren lauter Bäume, nichts als Bäume. Der Boden war mit rotem Laub bedeckt. Einige Blätter waren besonders rot. Blutig.
Dann glitt ihr Blick über den Boden und sah sie. Ein Mädchen, blutüberströmt. Weder bewegte sie sich, noch atmete sie. Als Emma einen Schritt näher trat, wurde ihr mit einem Schlag bewusst, wer das asiatische Mädchen dort auf dem Boden war, dessen Augäpfel sich so verdreht hatten, dass nur noch das Weiße zu sehen war. Es war Kim-Lee Parker, Emmas Laborpartnerin in Chemie. Sie wollte schreien, wegrennen, um Hilfe rufen. Doch es ging nicht. Sie war nur Zuschauer.
Und so plötzlich das Bild gekommen war, so schnell verließ es auch wieder ihren Kopf.
Entsetzt starrte sie Jayden an, der ebenfalls blass war und sie mit großen Augen ansah.
„Was war das?“, stieß Emma hervor.
„Fernwahrnehmung, schätze ich“, murmelte er. „Ich muss kurz ins Bad“, fügte er hinzu, während sein Gesicht kalkweiß wurde, und rannte aus Emmas Zimmer.
Auch ihr war schlecht bei dem Gedanken daran, was sie gerade gesehen hatte. War das die Realität gewesen? War das wirklich passiert?
Lag Kim-Lee etwa tot in irgendeinem Wald?
In diesem Moment rief ihre Mutter zum Essen. Emma war zwar übel, doch trotzdem ging sie runter. Auch Jayden kam nach fünf Minuten zu ihnen an den Tisch. Sein Gesicht hatte wieder die normale Gesichtsfarbe angenommen und verriet nicht, was in ihm vorging. Immer wieder warfen die Geschwister sich stumme Blicke zu und Christine wunderte sich, wieso sie so still waren.
„Müde“, war ihre Antwort.
Nach dem Essen setzten sich Jayden und Emma mit den Eltern ins Wohnzimmer, um die Nachrichten anzusehen.
Emma hatte ein sehr schlechtes Gefühl dabei, als die Nachrichtensprecherin von Thema zu Thema sprang. Erst hoffte sie noch, dass das alles vielleicht nicht stimmte, doch dann nahm ihr die Sprecherin diese Illusion.
„Die Einwohner von Tillamook, der für ihren Käse bekannten Stadt, sind geschockt. Heute Nachmittag hat ein Spaziergänger im Wald die Leiche eines Mädchens gefunden. Es handelt sich um die 17-jährige Kim-Lee Parker. Parker hatte Stunden zuvor ihr Haus verlassen, um eine Freundin zu besuchen. Was der Teenager im Wald machte, ist bisher unklar. Die Polizei nimmt an, dass es sich um einen Tierangriff handelt und warnt die Einwohner davor, in den Wald zu gehen, bis das Tier gefunden wurde. Und jetzt weiter mit dem Wetter.“
Emmas Gedanken überschlugen sich. Tierangriff? Und warum hatte Jayden das gesehen? Warum konnte sie selbst es sehen?
Sollte sie Will anrufen und ihm davon berichten?
Zunächst verabschiedete sie sich von ihren Eltern und ging in ihr Zimmer. Auf dem Bett liegend grübelte sie weiter nach. Wahrscheinlich sollte sie Will anrufen, ganz normal mit ihm reden und ihm von dem Zwischenfall erzählen. Er war immerhin noch ihr Mentor. Sie könnte auch Zoey anrufen, oder mit Ephraim sprechen.
Mitten in ihre Gedanken hinein klingelte ihr Handy. Da sie die Nummer nicht kannte, meldete sich Emma mit ihrem vollen Namen und wartete. Zunächst hörte sie nur ein Rauschen. Dann sagte eine Stimme, die ihr eine Gänsehaut über den Rücken jagte: „Das ist erst der Anfang.“

Impressum

Texte: geistiges Eigentum von Stefanie M.
Bildmaterialien: Cover by Teetrinkerin - vielen Dank! :)
Tag der Veröffentlichung: 07.06.2012

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