Cover

Eins




„Annie, kommst du?“, hörte ich Johns Stimme gut zehn Meter vor mir. Ich wünschte, er würde etwas langsamer laufen.
„Bin gleich da“, schnaufte ich, während ich versuchte, nicht über meine eigenen Füße zu stolpern. Wir waren seit mindestens fünfzehn Stunden auf den Beinen und gerade, als die Sonne am höchsten stand, hatten wir angefangen, den Berg der Jäger zu erklimmen.
„Bald haben wir es geschafft“, sagte John und legte mir tröstend eine Hand auf die Wange, als ich ihn erreicht hatte. Ich lächelte ihm aufmunternd zu. Nach einer halben Stunde hatten wir es tatsächlich hinter uns gebracht: wir standen auf der Spitze des Bergs. Von hier aus hatte man eine wunderbare Aussicht. Der Wald, der den Fuß des Berges umgab, schien winzig zu sein und in weiter Ferne konnte man sogar schon das Meer sehen. Hier oben war die Luft ziemlich kühl.
Die Sonne stand schon etwas tiefer und dementsprechend fing es an, zu dämmern. John und ich standen vor einer unbewohnt aussehenden Hütte, doch wir beide wussten, dass im Innern mindestens fünfzig Menschen versammelt waren.
„Kommt schnell rein!“, flüsterte eine Stimme vor uns, die zu Alberta, der alten Hausherrin gehörte.
Wir taten, wie geheißen und traten ein. Von drinnen war Stimmengewirr und Gelächter zu hören. Sofort breitete sich ein Lächeln auf meinem Gesicht aus. Als wir den großen Raum betraten, verstummten alle für einen Moment, doch dann brach der Tumult um so lauter aus und mehrere Personen versuchten gleichzeitig, uns zu umarmen. Ich lachte und vereinzelte Freudentränen liefen beim Anblick der bekannten Gesichter über mein Gesicht.
Schließlich räusperte sich die alte Alberta am anderen Ende des Raumes und begann mit lauter Stimme zu sprechen.
„Da wir nun alle vollständig sind, möchte ich mit der diesjährigen Versammlung der Jäger beginnen.“ Stille trat ein. Alle richteten ihren Blick auf Alberta und so Mancher stellte sich sogar auf die Zehenspitzen, um sie besser sehen zu können. Ihre grauen Haare hatte sie zu einem strengen Knoten im Nacken hochgesteckt und die Brille hing ihr auf der Nasenspitze. Ihr Rücken war leicht gebeugt, doch auf einen Stock als Gehhilfe verzichtete sie vehement.
„Dieses Jahr haben wir viele Verluste erlitten. Sam und Abigail Baker sind von uns gegangen, ebenso wie Beatrice Carter. Eine genaue Liste unserer verstorbenen Freunde findet ihr im Salon. Dort könnt ihr euch auch in ein Trauerbuch verewigen. Viele unserer geliebten Mitstreiter mussten ihr Leben lassen, weil sie dem Feind vertraut haben. An unserer Situation hat sich nichts geändert, merkt euch das! Diese blutrünstigen Wesen sind nicht freundlicher geworden!“
John neben mir zuckte zusammen, weil Albertas Stimme schon fast zu einem Schreien heran geschwollen war. So ein lautes Organ traute man der alten Frau gar nicht zu.
„Ich möchte, dass ihr euch an meine Worte erinnert: Wenn ihr euch mit einem Vampir einlasst, unterschreibt ihr euer Todesurteil!“
Alle spendeten Applaus und Alberta nickte ein Mal in die Runde. Die Kerzen, die an der Wand in Halterungen brannten, flackerten.
In diesem Moment brach das Chaos aus: Fensterscheiben zerbarsten und Schreie ertönten. Durch den Luftzug erloschen die Kerzen und es war dunkel. Alle stoben auseinander und rannten orientierungslos umher.
Jemand packte mich grob, hob mich hoch und verschwand mit mir aus dem Fenster, bevor ich überhaupt anfangen konnte, zu schreien.



Schweißgebadet wachte ich auf. Schon wieder dieser Albtraum! Immer wieder wurde ich an diesen schrecklichen Tag vor zwei Monaten erinnert. Seit diesem Abend saß ich in einem halbdunklen Raum. Mein Entführer meinte, ich solle ihn Ben zu ihm sagen, doch ich nannte ihn nur „Vampir“. Er sprach nur selten mit mir, doch vor ein paar Tagen fand ich endlich heraus, warum man mich hier gefangen hielt.
John, mein Seelenverwandter, und ich jagten Vampire. Diese gefühlslosen Wesen versuchten schon seit einem halben Jahrhundert, die Macht über die Erde zu gewinnen.
Wir Jäger waren eine Gruppe von Menschen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, die Vampire zur Strecke zu bringen. Sobald wir einen Vampir sahen, töteten wir ihn.
So mancher mochte sich jetzt fragen, wie wir das moralisch mit unserem Gewissen vereinbaren konnten. Doch wirklich ausnahmslos jeder Vampir besaß keine Gefühle. Bei der Verwandlung wurde jegliche Humanität ausgeschaltet.
Mein Entführer war jedenfalls auch ein Vampir und ich hatte offenbar vor langer Zeit seine Gefährtin gepfählt.
Das Einzige, was diese Wesen empfinden konnten, ist die Verbundenheit zu ihren Gefährten. Im Prinzip waren diese mit den Seelenverwandten der Menschen zu vergleichen, doch Vampire hatten keine Seele mehr.
Das mit den Seelenverwandten war so eine Sache. Jeder hatte einen. Man spürte es, wenn man ihn gefunden hatte, doch manche mussten dafür erst weit reisen. Vereinzelt wurde sogar erzählt, dass man seinen Partner daran erkennen könne, dass man die Gedanken des jeweils anderen hören konnte. Ich kannte allerdings niemanden, bei dem das so war.
John und ich hatten uns auf einer Feier kennen gelernt. Ich war bei Freunden in der Stadt zu Besuch, weil sie mit einer Party ihr neues Heim einweihen wollten. Als er den Raum betrat, spürte ich ein warmes Kribbeln im ganzen Körper, noch bevor ich ihn überhaupt gesehen hatte. Als wir uns angesehen haben, war es uns beiden klar. Damals war ich dreizehn Jahre alt.
Ich bekam eine Gänsehaut, weil ich daran denken musste, dass morgen mein neunzehnter Geburtstag war. An der ansonsten kahlen Wand hing über der Tür eine Uhr, auf der auch das aktuelle Datum stand, welche mich immer wieder daran erinnerte.
Der Vampir hatte es klar gemacht, dass er mich gerne noch ein bisschen auf den Tod warten lassen würde. Er wollte mich quälen, damit er sich besser fühlte. Ich wusste nicht, worauf er sonst noch warten sollte, wenn nicht auf so einen tollen Tag, wie meinen Geburtstag. Ein perfekter Tag, um zu sterben.
Was mit John und all den anderen Jägern passiert ist, wusste ich nicht. Der Vampir wollte mir nichts erzählen und schließlich war bisher auch niemand gekommen, um mich zu retten, weswegen ich auf nichts Gutes hoffen konnte. Ein Schmerz durchfuhr mich bei dem Gedanken, dass John tot sein konnte. Er verstand mich einfach immer, tröstete mich, oder unterstützte mich. Wir hatten uns noch nie gestritten. Ich liebte ihn einfach. Er hatte es geschafft, eine Verbindung zu mir aufzubauen, die nur sehr wenige Menschen in meinem Leben zu mir hatten. Ich stammte aus einem kleinen Dorf am Meer. Meine Eltern starben schon früh. Sie wurden von Vampiren umgebracht, nur weil diese Hunger hatten. Mein Bruder hatte mich zwar so gut es ging groß gezogen, doch irgendwann distanzierte er sich von mir und eines Tages war er einfach verschwunden. Er hatte mir eine Nachricht hinterlassen, dass er raus müsse, in die weite Welt, um Vampire zu jagen.
Ich war deswegen schon ziemlich früh auf mich selbst gestellt und musste mich um alles kümmern. Ich fing mit elf Jahren an, Vampire zu jagen. Meine Eltern waren nicht die einzigen aus unserem Dorf, die von diesen Kreaturen ermordet wurden. Ich sah auch jetzt noch meine Bestimmung darin, diese Mörder zur Strecke zu bringen, damit die Welt ein Stück friedlicher wurde.

In diesem Moment schwang quietschend die Tür auf und ein Lichtspalt breitete sich auf dem Boden aus. Ich musste die Augen zusammenkneifen, damit ich nicht geblendet wurde.
„Dein Essen“, sagte Ben und stellte geräuschvoll ein Tablett auf den kleinen Tisch. Dann drehte er sich um und verließ den Raum wieder. Seine hellroten Augen schienen sich in meine Netzhaut gebrannt zu haben.
Das Essen war dasselbe, wie jeden Tag: Erbsen und gekochte Möhren aus der Dose, dazu ein Stück Brot und Wasser. Mir wurde schon vom Anblick schlecht.
Ich legte mich auf die dünne Matratze, die in einer Ecke war. Sie stank leicht nach Gras und noch irgendetwas anderem, doch darüber wollte ich mir gerade wirklich keine Gedanken machen. Meine dunkelblonden Haare waren zottelig und meine Klamotten konnte man schon fast als Lumpen bezeichnen. Kein Wunder, trug ich sie schließlich auch schon seit zwei Monaten.
John war wahrscheinlich tot. Bei dieser Vorstellung zog sich alles in mir zusammen und ich musste mir Mühe geben, einen Würgreiz zu unterdrücken. Stille Tränen liefen meine Wangen hinunter und ich fühlte mich leer.
Doch falls John noch lebte, konnte ich es ihm einfach nicht antun, zu sterben. Das hatte er wirklich nicht verdient, er war doch so ein guter Mensch. Die Resignation, die sich schon seit langem in mir breit gemacht hatte, musste verschwinden. Ich musste mich wehren! Ich musste diesen bestialischen Vampir umbringen, bevor er das mit mir machte! Welchen Zweck hätten sonst die letzten 8 Jahre gehabt? Ich durfte nicht dasselbe Schicksal wie meine Eltern erleiden! Ich musste für sie kämpfen, für mich und auch für John!
Eine Gewissheit durchströmte mich, dass ich es schaffen konnte, wenn ich mich anstrengte. Ich musste es einfach versuchen. In meinem Kopf entstand ein Plan. Ich stand auf und ging auf den zerbrechlich aussehenden Stuhl zu. Mit einem lauten Krachen trat ich ein Bein ab und warf es in eine dunkle Ecke. Schnell legte ich mich auf den Boden neben dem Stuhl.
Wie erwartet öffnete sich die Tür und der Vampir erschien. „Was war das?“, schrie er schon fast.
„Ich…Ich bin hingefallen“, schluchzte ich. „Meine Beine haben einfach nachgegeben.“
Wutschnaubend schaute er mich an, dann ging er hinaus und schloss die Tür. Mit einem leichten Lächeln im Gesicht ging ich wieder zu der Matratze, neben der das abgebrochene Stuhlbein gelandet war. Tatsächlich würde es spitz genug sein, um einen Vampir damit zu töten, wenn man die richtige Stelle traf. Wenn ich also mit meiner Vermutung recht hatte, dass er vorhatte, mich morgen zu töten, dann konnte ich vielleicht eine Möglichkeit finden, ihn zu pfählen. Ich versteckte das Stück Holz noch schnell unter meiner Matratze und schlief dann.

Als ich am nächsten Morgen (die Uhr sagte, es war 05:30 Uhr) aufwachte, hörte ich Geräusche von draußen. Das war nicht normal, sonst ist immer alles ruhig. Wer wusste, was er mit mir vorhat? Mein Herzschlag beschleunigte sich. Alles Gute zum Geburtstag, wünschte ich mir selbst.
„Annie“, rief da eine dunkle Stimme von draußen. Ich konnte schon fast hören, wie dieser Mistkerl grinste. Jetzt war ich mir sicher: wenn ich nichts unternahm, würde heute mein letztes Stündlein geschlagen haben. Schnell stand ich auf und befestigte das schmale Stück Holz so in meinem Schuh, dass mein Hosenbein es kaschierte. Einige Sekunden später ging die Tür auf.
„Happy Birthday to you, Happy Birthday to you“, sang der Vampir und lachte dann schallend.
Er kam immer näher auf mich zu, bis er direkt vor mir stand. Mit seiner großen Hand fuhr er meine Wange entlang und meinen Hals hinunter bis zu meinem Schlüsselbein. Ich konnte ein Zittern nicht unterdrücken, schaute ihm aber trotzdem trotzig in die Augen.
„Ist es nicht ein schönes Gefühl, zu wissen, dass man an seinem eigenen Geburtstag sterben wird? Was würde nur der gute John dazu sagen? Ach entschuldige, ich hab vergessen, dass er gar nichts mehr sagen kann.“ Sein Ton war gespielt sanft.
Meine Augen wurden groß. „Was haben Sie mit ihm gemacht?“
„Ich mag einfach keine Leute, die mir hinterherlaufen. Und wahrscheinlich wären er und deine kleinen Freunde sowieso nur ein Problem für mich geworden. Also hab ich ein paar von meinen Freunden erzählt, wo euer nettes Versteck ist, und sie haben sich darum gekümmert. Sie sind alle tot.“ Er grinste.
Mein Herzschlag setzte aus und ich hatte Mühe, nicht in Ohnmacht zu fallen.
„Wie konnten Sie nur! Einfach unschuldige Menschen töten, Sie sind ein Monster!“, schrie ich ihn an, doch viel weiter kam ich nicht. Er gab mir eine Ohrfeige, die laut klatschte. Ich starrte ihn an und mir fehlten die Worte. Wie konnte jemand nur so gefühlskalt sein?
Tränen stiegen in mir hoch, doch ich versuchte mit aller Kraft, sie zurück zu halten. Er sollte nicht sehen, dass ich schwach war.
„Angenehm, diese Stille, nicht wahr?“
Ich antwortete nicht und er packte mich grob am Arm, um mich mit sich zu schleifen. Als wir aus der Tür traten, war es für meine Augen entsetzlich hell. Ich nahm die Hand vor mein Gesicht und langsam konnte ich die Umrisse des Raumes erkennen, in den er mich gebracht hatte. Es war ein altes Zimmer mit hohen Decken und großen Fenstern. Die Wände waren geschmückt mit Portraits von alten Damen und Männern.
Es gab nur wenig Möbel, darunter ein altes Sofa und einen riesigen Tisch. Von der Decke hingen an manchen Stellen Silberketten und einige waren auch an der Wand befestigt. Fein säuberlich aufgestapelt lagen auf dem Tisch Pflöcke aus Eisen. Meine Augen wurden groß. Damit wollte sich der Vampir wohl kaum selbst verletzen. Wollte er etwa –
In diesem Moment riss er meinen Arm hoch und noch bevor ich etwas unternehmen konnte, biss er hinein. Ich schrie, nicht nur wegen des pochenden Schmerzes, der sich in meinem Handgelenk ausbreitete sondern auch, weil mir jetzt klar wurde, was er vorhatte. Ein Mensch wurde durch einen Vampirbiss in einen solchen verwandelt. Bis die Verwandlung abgeschlossen war, dauerte es eine Zeit, es kam auch darauf an, wie nah der Biss am Herzen war.
„Geben Sie mir sofort ihr Blut!“, schrie ich ihn an. Bis die Verwandlung abgeschlossen war, konnte mich das Blut eines Vampires immer noch wieder heilen. Mein Entführer grinste nur gehässig. Dann beförderte er mich mit übermenschlicher Geschwindigkeit zu einer Wand, wo er mich mit den Silberketten festband. Sie brannten auf meiner Haut, was mir zeigte, dass die Verwandlung schon eingesetzt hatte. Im Gegensatz zu Holz konnte Silber für diese Ausgeburten der Hölle zwar nicht tödlich sein, aber immerhin sehr unangenehm werden.
Er trat hinüber zu dem alten Kamin und nahm etwas an einem Griff aus dem Feuer. Als er sich mir näherte, konnte ich erkennen, dass es ein Eisenstab war, der an der Spitze rot glühte.
„Da ab jetzt dein menschlicher Körper nicht mehr so empfindlich ist, können wir zwei richtig Spaß haben.“ Mit diesen Worten stellte er sich vor mich, betrachtete noch ein Mal nachdenklich den Stab und rammte ihn mir dann mit voller Wucht in die Bauchgegend.
Ich schrie wie am Spieß. Ein unfassbarer Schmerz breitete sich in mir aus. Meine Eingeweide schienen zu brennen, mein Kopf zu explodieren. Tränen liefen meine Wangen hinunter und ich schluchzte bitterlich.
„Happy Birthday“, sagte er und zog den Stab wieder heraus. Erneut durchzuckte mich ein brennender Schmerz, der zu meinem Erstaunen aber schon Sekunden später wieder versiegte.
„Erstaunlich, wie schnell wir heilen, nicht wahr?“ Er drehte sich um und verließ den Raum.
Erneut musste ich weinen. Ich war tatsächlich gerade dabei, mich in einen Vampir zu verwandeln. In eines dieser Wesen, die ich am meisten hasste. Falls ich das hier irgendwie überlebte, musste ich mich umbringen, schließlich war ich eine Jägerin! Ich selbst würde dann keine Gefühle mehr haben und gleichgültig gegenüber allem sein. Und das Schlimmste war: ich würde Menschenblut trinken! Nein, das durfte nicht passieren! Ich versuchte, irgendwie an mein rechtes Fußgelenk zu kommen, um den Pfahl herauszuholen, doch ich war einfach zu festgekettet.
Der Vampir kam mit einem Glas Whiskey in der Hand wieder herein und nahm einen weiteren Stab aus dem Feuer.
„Das Schöne an dieser Sache ist, man kann es wieder und wieder machen.“ Dieses Mal attackierte er meine Schulter. Ich raste vor Schmerzen und mir wurde schwarz vor Augen. Ich verlor das Bewusstsein.

Als ich wieder wach wurde, roch ich Blut. Ich konnte erneut nur mit Mühe einen Würgreiz unterdrücken. Der Vampir hatte sein halbvolles Whiskeyglas noch immer in der Hand und stand jetzt am Fenster, mit dem Rücken zu mir. Ich wusste, dass alle meine Wunden verheilt waren, und trotzdem tat mir alles weh. Außerdem brannte meine Kehle so merkwürdig und ich hatte großen Hunger. Ich hatte nicht gewusst, dass die Verwandlung so schnell fortschritt! Der Gedanke an John schmerzte mich allerdings immer noch, also war ich zumindest noch menschlich.
„Ah, du bist auch wieder wach.“ Schnell wie der Blitz stand der Vampir plötzlich vor mir.
In der Hand hielt er etwas, das aussah, wie eine Peitsche. Die Enden waren mit Silberhaken besetzt.
„Dreh dich um“, befahl er.
„Ich kann nicht!“ Ich gab ihm zu verstehen, dass meine Ketten mir das unmöglich machten. Er seufzte genervt auf, stellte sein Glas auf einen Tisch und dreht mich mitsamt meiner Ketten grob um. Ich starrte auf die blanke Wand.
„So, jetzt kommen wir zu einem Part, der uns besonders viel Spaß machen wird.“ Im selben Moment hörte ich ein Knallen und ein brennender Schmerz ging von meinem Rücken aus. Ich zuckte zusammen und konnte ein kurzes Aufschreien nicht verhindern. Etwas Warmes lief meinen Rücken hinunter und der Vampir lachte hämisch. Wie konnte man nur so krank sein?
Er schlug mich immer wieder und man sollte meinen, dass man irgendwann keinen Schmerz mehr spüren könnte.
„Bitte, bringen Sie mich einfach um“, flehte ich irgendwann. Wieder dieses grausige Lachen. Er drehte mich unvermittelt wieder um, sodass ich ihm direkt ins Gesicht sah. Er hatte tiefe Falten und dunkelgraue Augen. Sein Atem stank nach Alkohol.
„Hat sie das auch gesagt?“, wollte er wissen. Sein Blick war irre. Erst wollte ich fragen, wer, doch ich ließ es bleiben. Er musste wohl seine Gefährtin gemeint haben.
„Nein.“, hauchte ich. Ich hatte sie schließlich gepfählt, ohne dass sie etwas davon mitbekommen hätte. Ich war eine ausgezeichnete und gefürchtete Jägerin. Trotz meines Alters hatte ich Fähigkeiten, um die mich die Älteren manchmal beneideten.
Der Vampir schlug mir mit der Hand ins Gesicht. „Wie konntest du nur?“ Er holte mit der Peitsche aus und traf diesmal meinen Oberkörper. Der Silberhaken riss meine letzten Fetzen Kleidung endgültig vom Leib und ich stand in Unterwäsche vor ihm. Ich konnte zusehen, wie die Haken lange Furchen auf meinem Bauch hinterließen, die höllisch brannten, doch in Sekundenschnelle wieder verheilten.
Ich bemerkte seine emotionale Schwäche und ein Entschluss reifte in mir. Ich musste es ausnutzen. Wieder kam er mir näher. Sein Blick war verzweifelt und rasend vor Wut zugleich. In gewisser Weise konnte ich ihn verstehen. Er hatte John getötet. Er war kein Stück besser, als ich. Die Wut stieg auch in mir hoch.
„Dreckiges Miststück“, sagte der Vampir zu mir. Ich spuckte ihm ins Gesicht. Im ersten Moment war er verwirrt und das nutzte ich aus. Während ich mich bückte und möglichst schnell den Pfahl aus meinem Hosenbein zu ziehen versuchte, sah ich aus dem Augenwinkel, wie der Vampir sich angewidert durchs Gesicht fuhr. Endlich hatte ich das Stück Holz in meiner Hand und richtete mich, so schnell es ging, wieder auf. Ein Schwindel durchfuhr mich und mir wurde einen kurzen Moment schwarz vor Augen. Trotz nebliger Sicht versuchte ich, den Vampir ausfindig zu machen. Ich bemerkte eine Bewegung direkt vor mir. Außerdem bildete ich mir ein, Lärm zu hören. Im selben Moment spürte ich einen wahnsinnigen Schmerz in meiner Schulter. Ich konnte erkennen, dass der Vampir sich hineingebissen hatte, allerdings waren da auch noch andere Bewegungen. Oder bildete ich mir das nur ein? Während mein Bewusstsein immer mehr schwand, rammte ich mit letzter Kraft den Pfahl irgendwohin. Ich hörte bloß ein Fluchen, dann wurde ich hochgehoben und getragen. Jemand rannte mit mir. Dann wurde ich Ohnmächtig.

Zwei


Ich öffnete die Augen. Alles um mich herum war grün. Ich hörte einen Bach in der Nähe plätschern und einige Vögel sangen. Ich lag auf einer Wiese im Schatten eines Baumes. Die Sonne schien klar herab, es waren nur wenige Wolken am Himmel.
War ich etwa tot? War das hier der Himmel? Ja, so musste es sein. Es sah aus, wie im Paradies.
Dann hatte ich den Vampir wohl nicht getroffen. Er hatte mich getötet. Enttäuschung machte sich in mir breit. Ich hatte gewusst, dass es irgendwann so kommen musste, mein Beruf war schließlich gefährlich. Aber – wenn das hier der Himmel war, war dann John auch hier? Ein aufgeregtes Kribbeln machte sich in mir breit und ich versuchte, mich aufzurichten, doch ein Schwindel übermannte mich und setzte mich kurzzeitig außer Gefecht. Konnte einem denn im Himmel schwindelig werden? Mir fiel auf, dass ich Kleidung trug, die keine Löcher hatte. Eine kurze, braune Hose und dazu eine weiße Bluse. Naja, besonders schön waren die Sachen nicht, aber im Himmel interessierte das wahrscheinlich sowieso keinen.
„Du bist nicht im Himmel“, hörte ich eine Stimme hinter mir. Jetzt nahm ich auch die Schritte wahr. Schnell drehte ich mich um. Ein Junge kam aus dem Wald auf mich zugelaufen. Er war ungefähr in meinem Alter, vielleicht zwei Jahre älter. Seine Haare hatten eine ähnliche Farbe, wie meine: dunkelblond. Sie lagen etwas zerzaust auf seinem Kopf. Zusammen mit seinem Grinsen weckten sie einen verschmitzten Eindruck. Seine tiefblauen Augen schauten mich neugierig an. Die obersten Knöpfe seines schwarzen Hemdes standen offen.
Keine Frage, er sah verdammt gut aus und doch zuckte ich vor ihm zurück. Er war ein Vampir, mit meinem geschulten Auge konnte ich das sofort erkennen.
„Ich hatte schon Sorge, dass du nie wieder aufwachst“, fügte er hinzu.
Trotz meiner enormen Erschöpfung rappelte ich mich auf und lief rückwärts von ihm weg ohne ihn aus den Augen zu verlieren. Als ihm klar wurde, was ich tat, grinste er.
Urplötzlich stand er vor mir. Gegen seine übermenschliche Geschwindigkeit konnte ich nichts ausrichten.
„Du glaubst doch wohl nicht wirklich, dass du vor mir weglaufen kannst, oder?“
Ich antwortete ihm nicht, sondern machte noch einige Schritte von ihm weg.
„Du solltest mir eher dankbar sein, findest du nicht?“
„Wieso das denn?“, fragte ich irritiert und blieb stehen. Er hatte sich nicht bewegt und zwischen uns war ein Abstand von einigen Metern.
„Ich habe dich schließlich gerettet.“ Er grinste mich immer noch spitzbübisch an. Wahrscheinlich hatte er Recht und das hier war tatsächlich nicht der Himmel. Dort würde es sicherlich keine Vampire geben.
Aber… „Hast du mich umgezogen?“, fragte ich wütend und vergaß in diesem Moment, dass ich besser etwas vorsichtiger sein sollte. Zur Antwort grinste er nur und wäre er nicht ein scheiß Vampir, ich schwöre, ich hätte ihm eine geklatscht!
„Wo hast du mich hingebracht?“, forderte ich zu erfahren.
„Weit weg von deinem Peiniger. Allerdings sind wir immer noch in Rumänien.“
„Wie bitte?“ Rumänien lag in Europa. Eigentlich wohnte ich in Amerika!
„Naja, am anderen Ende schon, damit er dich nicht so schnell wiederfindet. Ich musste dich auch zwei Tage mit mir herum tragen, du hast tief und fest geschlafen.“
Ich war auf der Hut. Sicher würde er mich gleich angreifen. Ich war vollkommen unbewaffnet und auch noch körperlich schwach.
„Willst du gar nicht wissen, was passiert ist?“, fragte er.
„Warum hast du mich gerettet? Was willst du von mir?“ Mein Ton war kalt.
„Solltest du dich darüber nicht freuen? Jedenfalls habe ich den Vampir überwältigt und dich da raus geholt. Es war übrigens nicht besonders nett von dir, mir ein Stuhlbein in die Schulter zu stecken.“
Also hatte ich mich nicht getäuscht und noch eine Bewegung wahrgenommen, obwohl ich schon halb ohnmächtig war. Überrascht schaute ich an mir herunter. War ich jetzt etwa ein Vampir? Oh mein Gott! Das durfte nicht sein. Panik breitete sich in mir aus.
Als hätte er meine Gedanken gelesen, sagte der Vampir: „Keine Sorge, ich habe dir mein Blut gegeben. Du bist ein Mensch. Ach ja, ich heiße übrigens Nick.“ Er legte den Kopf schief, um mich zu betrachten. In seinem Blick lag immer noch eine Spur von Neugierde.
Verwirrt schaute ich ihn an. „Wieso hättest du das tun sollen? Und wieso hast du mich gerettet?“
„Fragen über Fragen.“ Wieder grinste er. Dann drehte er sich zum Gehen. „Komm, wir müssen weiter.“
Ich rührte mich nicht vom Fleck. „Du kannst mich mal!“
Überrascht drehte er sich zu mir um, doch im nächsten Moment lachte er. „Oh, kratzbürstig sind wir auch noch. Das gefällt mir.“ Er zwinkerte mir zu und als ich immer noch keine Anstalten machte, ihm zu folgen, hob er mich kurzerhand hoch, als wäre ich leicht wie eine Feder, und ging los.
„Lass mich runter!“, schrie ich und strampelte mit meinen Beinen. Ihn störte das überhaupt nicht, was mich noch wütender machte.
„Ich will nirgendswo mit dir hingehen! Ich will zurück nach Hause!“ Schließlich hielt er an und ließ mich herunter. Er nahm mich an den Schultern, so dass ich ihn ansehen musste. Ich versuchte, all meine Wut und meinen Trotz in meinen Blick zu legen, doch er schmunzelte nur.
„Pass mal auf, Annie. Ich werde dir nichts tun, aber du musst bei mir bleiben fürs Erste. Ich habe dir mein Blut gegeben, und bis dein Körper das verarbeitet hat, darf ich dich nicht alleine lassen. Eigentlich ist das nämlich illegal. Alles klar? Kannst du jetzt selber laufen?“
Ich war erstaunt und rührte mich nicht vom Fleck. Woher kannte er meinen Namen? Wieso wollte er mir nichts tun? Vor allem interessierte mich eine Frage: „Wieso ist das denn illegal?“
Genervt seufzte er auf, lief ein paar Schritte zurück und nahm mich am Arm, um mich mit sich zu ziehen. Ich zuckte unter seiner Berührung zusammen.
„Es ist einfach verboten, Menschen Blut zu geben. Es kann… Nebenwirkungen haben, und wenn die Allgemeinheit davon erfährt, könnten wir ausgebeutet werden. Also muss ich aufpassen, dass keiner davon erfährt.“
„Ich verstehe nicht, warum du das überhaupt getan hast.“
Nick lief einfach weiter gerade aus und antwortete, ohne mich anzusehen. „Warum sollte ich nicht?“
„Weil du ein Vampir bist?“
„Na und?“, fuhr er mich an und seine Augen waren rot. Ich zuckte zurück und wäre am liebsten weggelaufen, doch er hielt mich immer noch am Arm. Noch mehr Psychoterror brauchte ich wirklich nicht. Die letzten Wochen waren schrecklich genug gewesen. Schon da hatte ich immer den Tod vor Augen und jetzt wusste ich noch nicht ein Mal, was auf mich zukam. Wollte er mich etwa als „Proviant“ mitnehmen? Erneut verstand ich nicht, wie man nur so gefühlslos sein konnte. Wieso hatte er nicht einfach irgendein anderes Mädchen von der Straße nehmen können? Ich wäre dann jetzt schon tot und hätte meinen Frieden. Vielleicht hätte ich dann John wiedergesehen und all die Anderen… Eine Welle der Traurigkeit überrollte mich. Wenn es stimmte, war ich die einzige Jägerin in ganz Utah!
„Hör zu, der Vampir hat nicht viele deiner Freunde umgebracht. Das hat er nur gesagt.“
„Woher…“ Ich war zu perplex, um weiter zu reden. Konnte er etwa meine Gedanken hören?
„Du schreist ja schon fast, wie soll ich das überhören?“
Empörung machte sich in mir breit. „Hör gefälligst weg! Das geht dich gar nichts an!“
War John etwa noch am Leben?
„Nein, er hat ihn getötet.“
„Halt dich aus meinem Kopf raus!“, schrie ich ihn an.
„Dann verschließ deinen Geist besser. So aufgewühlt, wie du bist, zwingst du mich förmlich dazu, mitzuhören. Ich dachte mir nur, ich sollte dir sagen, dass dein Gefährte tot ist und die alte Hausbesitzerin auch, aber ich glaube nicht, dass er noch mehr verletzt hat. Er war allein.“
„Mir hat er gesagt, dass er seinen Freunden von dem Treffen erzählt hat und sie mitgebracht hat.“
„Ich glaube nicht, dass er viele Freunde hat. Er wollte dir nur Angst machen.“
„Wieso sollte er keine Freunde haben?“
„Vampire haben in der Regel nicht viele Freunde. Wir sind eher Einzelgänger, abgesehen von den Gefährten. Wir schließen uns höchstens Mal zu Gruppen zusammen, wenn wir ein gemeinsames Ziel haben.“
Eine Weile schwieg ich. Erleichterung hatte sich in mir breit gemacht, auch wenn Johns Verlust ein Loch in mir zu hinterlassen schien. Beim Gedanken an ihn stiegen mir die Tränen in die Augen, doch das durfte ich jetzt nicht zulassen.
„Wohin gehen wir eigentlich?“, fragte ich, um mich auf andere Gedanken zu bringen.
„Wir besuchen jemanden“, antwortete er knapp.
„Jetzt hast du doch Freunde?“
„Es sind meine Geschwister.“
Obwohl ich den Anblick von Vampiren, auch mehreren gleichzeitig, gewohnt war, bereitete sich ein mulmiges Gefühl in mir aus. Normalerweise hatte ich Waffen dabei, um mich verteidigen zu können, doch alles, was ich jetzt bei mir trug, waren diese neuen Klamotten.
Wenn sie mich angriffen, konnte ich mich nicht verteidigen.
Wir liefen durch den Wald, es mussten mindestens zwei Stunden sein. Erst waren die Bäume noch von einem satten Grün, dann wurden sie leicht rötlich, was mir zeigte, dass wir uns in der Nähe eines Moores befanden. Ich war immer auf der Hut, die Sache musste ja einen Haken haben. Er wollte mir nichts tun – klar. Er war ein Vampir, hatte dementsprechend keine Gefühle und brauchte in regelmäßigen Abständen Blut. Ich war ein Mensch und in mir floss genau das, was er brauchte. Damit war die Sache doch wohl klar, oder? Früher oder später würde er mich aussaugen.
Entweder er hatte meine Gedanken nicht gehört, oder er wollte sie nicht hören, denn er reagierte nicht darauf. Er hatte gesagt, ich solle meinen Geist verschließen, aber wie machte man so was denn?
Da stand ich nun als professionelle Jägerin und wusste nicht, wie man seinen Geist verschloss. Ich musste es schnellstens irgendwie lernen.
Gerade, als ich es versuchen wollte, sagte der Vampir: „Da sind wir.“
Vor mir tauchte ein großes, weißes Gebäude auf, das an ein altes Herrenhaus aus dem 18. Jahrhundert erinnerte. Zur Veranda führten breite Treppen hinauf und auf dem Vorplatz, dessen Wege mit Kies ausgestreut waren, stand sogar ein Springbrunnen.
„Ähm… ich hab meinen Brüdern noch nichts erzählt. Wäre es sehr schlimm für dich, wenn du kurz draußen warten würdest?“ Ich war mir nicht ganz sicher, aber ich meinte, eine leichte Nervosität bei ihm festzustellen. Ich nickte nur.
„Versprich mir, dass du nicht wegläufst! Ich finde dich sowieso ganz schnell wieder.“
Wieder nickte ich leicht mit dem Kopf.
Als er ging, merkte ich, dass ich mich nicht besonders wohl fühlte, so alleine vor einem Haus voller Vampire zu stehen. Ich stellte mich in eine kleine Nische neben der Treppe und sah mich nach einer Fluchtmöglichkeit um.

Nick

Ich schloss geräuschvoll die Tür hinter mir. Bevor ich noch rufen konnte, dass ich wieder da war, standen meine drei Brüder schon vor mir.
„Spinnst du? Wo warst du so lange? Wir dachten schon, sie hätten dich gekriegt!“, schimpfte Joshua, der Älteste von uns.
„Es hat etwas länger gedauert, es gab da eine Komplikation…“, setzte ich an, doch Marc fiel mir ins Wort.
„Ja, das scheint so. Wie ist es gelaufen?“
„Ganz gut“, ich musste grinsen. „Ich krieg noch hundert Jahre.“
Alle meine Brüder seufzten erleichtert auf und Ben, der Jüngste, klopfte mir anerkennend auf die Schulter.
„Und was gab’s für Komplikationen, Mann?“
„Naja…“ Ich schaute zu Boden, ich konnte ihnen einfach nicht in die Augen sehen.
„Auf dem Weg zurück habe ich jemanden getroffen und sie mitgebracht.“
Meine Brüder riefen durcheinander. „Wo ist sie? Wie sieht sie aus? Wie heißt sie? Wie hast du sie kennen gelernt?“
Ich machte eine beschwichtigende Geste mit dem Händen um sie zum Schweigen zu bringen.
„Es ist nicht so… Also, sie ist ein Mensch.“
Der strahlende Ausdruck verschwand von jedem einzelnen der Gesichter und ging bei Ben zu Staunen über, bei Marc in Überraschung und in Joshuas Blick lag bloß noch Wut.
Während meine beiden kleineren Brüder sich noch fragten, ob ich sie mitgebracht hatte, um mich von ihr zu nähren, war ihm klar, dass ich sie nicht aus diesem Grund bei mir behalten hatte. Er packte mich am Arm und zog mich in die Küche.
„Was soll das?“, wollte er wissen.
„Ein Vampir hat sie gefangen gehalten und gefoltert. Ich war in der Nähe und habe sie gerettet. Das war’s.“
Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Du hast sie gerettet? Vor einem anderen Vampir? Sag mal, tickst du nicht mehr ganz frisch??“ Den letzten Satz schrie er. „Willst du dich umbringen? Wieso zur Hölle hast du das getan?“
Ich war auf einen Wutausbruch gefasst gewesen, aber in den letzten zwei Tagen hatte ich so gut es ging versucht, diese Gedanken beiseite zu schieben.
„Ich weiß auch nicht, ich bin aufgestanden, und dann war da dieses komische Gefühl, so eine Zuversicht, ich habe das noch nie gespürt. Ich bin einfach meinem Instinkt gefolgt und er führte mich in den Norden. Und je näher ich dem Schloss kam, desto stärker wurde dieses Gefühl und dann habe ich ihre Gedanken gehört…“
Joshua unterbrach mich. „Moment mal, hast du gerade gesagt, dass du ihre Gedanken gehört hast?“
„Jaaa…“, gab ich zu.
„Kannst du sie etwa immer noch hören?“
„Ab und zu. Ihr Geist ist noch sehr aufgewühlt, ich kann mir vorstellen, dass sie ihre Gedanken deshalb versehentlich aussendet. Und naja, sie hat einen Beruf, bei dem ich mir vorstellen könnte, dass sie weiß, wie man telepathische Schwingungen aussendet, vielleicht hat sie damit um Hilfe gerufen. Sie war in einem schlimmen Zustand.“
Misstrauisch schaute Joshua mich an, seine Wut war zwar noch zu spüren, aber sie wurde von Unverständnis und einem kleinen bisschen Neugier überdeckt. „Und sie ist ein Mensch? Ganz sicher?“
Ich nickte.
„Was hat sie für einen Beruf?“
„Sie ist…“, ich wusste nicht, wie ich diesen Satz beenden sollte. Ich konnte meinen Bruder nicht sagen, was sie war, denn vermutlich würde er sie dann sofort töten. Aber wenn er sie kennen lernte, würde er es wahrscheinlich sowieso sofort erkennen. Warum interessierte es mich eigentlich so sehr, dass sie am Leben blieb? Bestimmt hing es damit zusammen, dass ich ihr mein Blut gegeben hatte. Da musste irgendeine Verbindung hergestellt worden sein.
„Du hast WAS?“ Joshua baute sich vor mir auf und bebte vor Wut. Oh nein, hatte ich gerade etwa laut gedacht?!
„Du hast einem Menschen dein Blut gegeben? Okay, offenbar willst du dich tatsächlich umbringen. Warum bist du dann überhaupt erst vors Gericht gereist? Du hättest gleich hierbleiben können und sie hätten dich gepfählt, dann hättest du nicht so viel Aufwand gehabt!“
„Wenn ich das nicht gemacht hätte, wäre sie gestorben“, sagte ich undeutlich und schaute auf den Boden. Mir war bewusst, dass ich so circa gegen alle Regeln verstoßen hatte und diesen Wutausbruch hatte ich wahrscheinlich verdient.
„Wieso interessiert dich das? Ein Mensch mehr oder weniger auf der Welt, wen stört das schon?“
Ich zuckte mit den Achseln, weil ich die Antwort darauf wirklich nicht wusste, und ließ meinen Blick über die Anrichte schweifen.
„Zeig sie mir“, verlangte mein großer Bruder.
„Warte!“
„Was ist denn noch?“
„Du musst mir schwören, dass du sie nicht angreifst. Egal, was passiert. Keiner darf ihr etwas antun, sie wird euch auch nichts tun, dafür sorge ich.“
Joshua bedachte mich nur mit einem grimmigen Blick.
„Versprich es mir!“
Er schnaubte, nickte dann aber widerwillig mit dem Kopf.
„Okay, dann hol mal die anderen, ich bringe sie rein.“
Wortlos wandte er sich um und verschwand nach oben. Ich trat aus der Haustür und lehnte sie hinter mir an. Wo war Annie?

Annie



Ich rannte blindlings durch den Wald und versuchte dabei, möglichst nicht über umgefallen Bäume zu stolpern oder in Tierfallen zu tappen. Sobald ich einen Wanderpfad sah, machte ich kehrt und rannte in eine beliebige andere Richtung, Hauptsache weg von diesem Irren.
Ich lief bestimmt schon seit zehn Minuten durchgehend, und zwar so schnell ich konnte. Meine Lungen fühlten sich an, als würden sie gleich platzen und mir war schon wieder schwindelig. Trotzdem war ich schneller, als je zuvor in meinem Leben.
Die Bäume wurden wieder röter und ich näherte mich dem Moor. Dort würde ich kurz verschnaufen, sagte ich mir.
Der Nebel umfasste mich so plötzlich, dass ich von der einen auf die andere Sekunde nichts mehr sehen konnte und so auch den großen Ast, der mitten auf dem Weg lag, nicht mehr rechtzeitig erkannte. Ich stolperte und meinte, ein leises Knacken zu hören. Ein brennender Schmerz durchzuckte mich und mein Knöchel begann zu Pochen.
„Fuck!“, flüsterte ich, als ich sah, dass er innerhalb von Sekunden anfing, anzuschwellen. Ich musste die Zähne zusammen beißen, um nicht loszuheulen. Das Universum schien es wirklich nicht gut mit mir zu meinen. Es wollte mich tot sehen!
Und als wäre ein gebrochener Knöchel nicht schon genug gewesen, hörte ich jetzt auch noch Geräusche vor mir.
„Annie“, seufzte Nick. Erst konnte ich nur einen schemenhaften Umriss sehen, doch dann war er klar zu erkennen und setzte sich neben mich. Instinktiv rückte ich ein Stück weg, bereute es aber sofort wieder, denn ich hatte dabei aus Versehen meinen Knöchel belastet.
„Es ist gefährlich, einfach wegzulaufen“, stellte der Vampir fest.
Ich gab ihm insgeheim Recht, vor allem, wenn man auf dem Boden liegende Dinge übersah, doch ich sagte nichts.
„Ich habe dir doch gesagt, dass ich dich wiederfinde. Warum bist du weggelaufen?“
Checkte er es eigentlich nicht? Mir lag noch was an meinem zurückgewonnenen Leben.
Er sah mich mit einem merkwürdigen Blick an.
„Ich habe dich gerettet okay? Ich weiß, dass dir noch nicht ganz klar ist, wieso. Glaub mir, mir geht es genauso. Aber ich musste es einfach machen. Also kannst du mir ruhig glauben, wenn ich dir sage, dass ich nicht vorhabe, irgendetwas mit dir zu machen, was du nicht willst. In einer Woche dürfte sich dein Blut gereinigt haben und dann kannst du gehen, wohin auch immer du willst. Und jetzt komm, ich will dich meinen Brüdern vorstellen.“
„Eine Woche?“, platzte es aus mir heraus. Ich hatte damit gerechnet, morgen, oder spätestens übermorgen im Flieger nach Utah zu sitzen.
„Vorher kann ich dich nicht gehen lassen. Also komm jetzt.“ Er hielt mir seine Hand hin, um mir beim Aufstehen zu helfen.
„Ich kann nicht“, stellte ich fest.
„Na komm schon, du brauchst keine Angst zu haben. Ich habe ihnen gesagt, dass sie dir nichts tun sollen und ich passe auf dich auf.“
Ich und Angst? Na dass ich nicht lachte!
„Mein Knöchel ist gebrochen, du Dummkopf!“, erwiderte ich trotzig.
Er verdrehte die Augen und nahm mich kurzerhand auf den Arm, um mich zu tragen. „Du hast aber auch Probleme“, sagte er und ich schlug ihm auf die Schulter.
So kam es, dass ich schließlich in einem Raum mit vier Vampiren stand (von denen nebenbei gesagt jeder einzelne wirklich gut aussah) und nicht versuchte, sie umzubringen.

Drei


Annie


Nick trug mich durch die Haustür und blieb ein paar Meter vor seinen drei Brüdern stehen, die mich anstarrten, als wäre ich eine grüne Mondkuh. Ihr könnt eure Münder jetzt wieder zu machen

, dachte ich ironisch, konnte mich aber gerade noch zurückhalten, es laut auszusprechen. Nick kicherte leise, was ich zum Anlass nahm, ihn böse anzugucken. War es eigentlich normal, dass er meine Gedanken hören konnte? Konnten seine Brüder das auch?
Er schüttelte kaum merklich den Kopf und setzte mich dann vorsichtig ab. Ich bemühte mich, das Gewicht nur auf den rechten Fuß zu verlagern, hüpfte bei dem Versuch aber kläglich herum und musste wieder Halt an Nick suchen. Na toll, auf der Liste der leichtesten Opfer für Vampire kam ich sicher direkt auf Platz 3 – gleich nach Paris Hilton und Justin Bieber.
„Okay, Annie, das sind Marc, Ben und Joshua.“ Er deutete der Reihe nach auf sie. Alle drei hatten dunkelblonde Haare, die allerdings in der Länge variierten. Marc trug einen Kurzhaarschnitt, während Bens Mähne ihm schon fast die Sicht nahm. Joshua hatte die gleichen strubbligen Haare, wie Nick.
„Hi“, sagte ich und ärgerte mich im gleichen Moment über die Unsicherheit in meiner Stimme.
Ben schien der Jüngste zu sein. Er lächelte mich freundlich an.
In Sekundenschnelle schien Joshua realisiert zu haben, dass normalerweise Gefahr von mir ausging und er ging in eine Angriffshaltung. Dabei drang ein Knurren aus seiner Kehle.
Ich hatte gewusst, dass mein letztes Stündlein schlagen würde, und doch hatte ich keine Angst verspürt. Nick hatte es tatsächlich geschafft, mir das Gefühl zu geben, dass er mich am Leben lassen würde. Aber wozu der ganze Aufwand? Mich retten? Mich im Wald wiederfinden? War sein Jagdtrieb so ausgeprägt? Eigentlich hätte ich das nicht geglaubt, er schien mir eine sehr ausgeglichene Person zu sein. Und doch würde ich gleich die Fänge seines Bruders in meinem Fleisch spüren.
Er kam schon auf mich zu, ungemein schnell stand er vor mir. Mit seinen rot gefärbten Augen starrte er mich an. Ich schaute zurück und wartete auf das Ende.
Doch dann wandte er sich Nick zu, an dem ich mich immer noch mit einer Hand festhielt. Auch er war in eine leichte Angriffsstellung gegangen und schaute seinen Bruder wütend an.
„Warum hast du mir nicht gesagt, dass sie Jägerin ist! Nick, wie kannst du nur! Weißt du, wie viele Vampire sie schon auf dem Gewissen hat?! Sie hat deinesgleichen

getötet! Sie wird auch uns töten!“, schrie Joshua.
Nick hingegen entspannte sich augenblicklich und fing an, zu lachen. Hatte ich etwas verpasst?
„Du glaubst ernsthaft, dass sie“, er zeigte prustend auf mich, „gerade einen Vampir umbringen kann?“
Joshua schien über die Reaktion seines Bruders ebenso verdattert und schaute ihn sprachlos an. Seine Augen nahmen wieder die normale Farbe, ein dunkles Blau, an.
Also wirklich, dachte ich mir. Nur weil ich ein bisschen verletzt bin, heißt das nicht, dass ich komplett wehrlos, oder unfähig bin!

Böse schaute ich Nick an, doch der nahm von meiner lächerlichen Selbstverteidigung keine Notiz, zu beschäftigt war er damit, seinen Lachanfall unter Kontrolle zu bringen, um ernsthaft mit Joshua reden zu können.
„Du hast gesagt, dass sie dein Blut getrunken hat. Ihrem Fuß dürfte es also in spätestens zwei Tagen wieder gut gehen. Und du glaubst allen Ernstes, dass sie es dann nicht versucht?“
„Wir tun ihr doch schließlich auch nichts an. Und in einer Woche kann sie wieder nach Hause. Bis dahin wird schon niemand sterben. Nicht wahr?“, fragte er mit einem Seitenblick zu mir.
Ich nickte leicht. Joshua schnaubte, wandte sich ab und verschwand die Treppen hoch.
„Ehrlich man, ich weiß auch nicht, was du mit ihr willst“, sagte Marc entschuldigend zu seinem Bruder und folgte Joshua.
Plötzlich stand Ben vor mir. Seine Augen waren freundlich und er reichte mir die Hand. Nur zögerlich ergriff ich sie.
„Ich glaube nicht, dass du uns etwas tun wirst. Ich kann die Handlung meines Bruders zwar auch nicht nachvollziehen, aber wenn es euch glücklich macht, ist doch alles in Ordnung.“ Dann verschwand auch er uns ließ mich allein mit Nick zurück.
Glücklich?

, dachte ich. Was wollte er mir denn damit sagen? Wieso sollte ich glücklick sein? Also klar, Nick hatte mir das Leben gerettet und so, aber trotzdem musste ich jede Sekunde um mein Leben bangen.
„Ich bring dich nach oben“, sagte der Vampir neben mir und wollte mich schon hochheben, doch ich protestierte.
„Ich kann das alleine!“ Damit ließ ich ihn los, um nicht mehr Körperkontakt als nötig zu haben, und versuchte zur Treppe zu kommen, doch schon auf dem Weg versagte ich kläglich. Fuck! Ich war verletzt und schwach. Ich war es nicht gewohnt, schwach und auf Hilfe angewiesen zu sein. Und schon gar nicht auf die eines Vampirs! Verbissen robbte ich auf dem Boden weiter Richtung Treppe, auch wenn ich mich dabei total lächerlich machte. Von Nick hörte ich nur ein leises Lachen. Als ich dann auch noch vom ersten Treppenabsatz abrutschte, seufzte er und hob mich kurzerhand hoch, ohne auf meinen lauten Protest zu achten. In einem wahnsinns-Tempo brachte er mich die Treppe hoch auf einen langen, breiten Flur. Ganz am Ende öffnete er eine Tür und betrat den Raum. Er war mit sonnigen Farben gestrichen und eingerichtet. Und das bei einem Vampir!
Nick legte mich vorsichtig auf das große Bett, das in einer Ecke stand und schloss dann die Vorhänge.
„Du bist bestimmt müde.“ Mit diesen Worten verließ er den Raum.
Ja, ich war müde. Da hatte er Recht. An Schlaf war aber nicht zu denken, nicht in einem Haus voller Vampire, die nur genau auf den Augenblick warteten, in dem ich die Augen schloss.
Diese vier waren irgendwie so anders, als alle Vampire, die ich kannte. Sie schienen Gefühle zu haben. Sie waren so… menschlich.
Wieder einmal stellte sich mir die Frage, wieso in Hergotts Namen Nick mich gerettet hatte. Nicht mal seine Brüder schienen das zu verstehen.
Einerseits war er wirklich nett zu mir. Er schien sich ernsthaft um mich zu sorgen. Andererseits war er nun mal, was er war! Und das hieß, dass er keine Gefühle haben dürfte, zumindest keine, die mir zu Gute kamen. Ich konnte und durfte ihm einfach nicht vertrauen!
Über diese Grübeleien fiel ich schließlich doch in einen unruhigen Schlaf.

Impressum

Texte: geistiges Eigentum von Stefanie M.
Bildmaterialien: Photo by http://trollkidsstock.deviantart.com/ http://trollkidsstock.deviantart.com/art/Leave-my-door-open-just-a-crack-279535100
Tag der Veröffentlichung: 26.01.2012

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