Cover

Eins




Emma Harper war unwohl bei dem Gedanken, heute wieder unter die Leute zu gehen. Der Sommer war fast vorbei und in einigen Stunden würde sie in einem stickigen Klassenzimmer der Tillamook High School neben ihrer besten Freundin Olivia sitzen und ihren Geschichten von den unzähligen Kerlen aus dem Club auf Hawaii zuhören.
Emma war nicht weg gewesen; sie war mit ihrer Familie vor zwei Wochen umgezogen. Nur innerhalb von Tillamook, versteht sich. Woanders hatten sie noch nie gewohnt und aus der Gemeinde war, solange Emma sich erinnern konnte, auch noch nie jemand weggezogen. Bei Emmas Umzug hatte die ganze Nachbarschaft mit angepackt, obwohl sie auch alles alleine geschafft hätte, war ihr aufgefallen. Es hatte ihr regelrecht Angst eingejagt, als sie ihre schwere Mahagoniholz-Kommode alleine hochheben konnte, ohne, dass es sie auf irgendeine Weise anstrengte.
Sie wohnten jetzt in einem Haus, statt in einer Wohnung und ihre zwei Jahre alte Schwester Rose bekam ein eigenes Zimmer. Noch jemand war bei ihnen eingezogen: Jayden Ward. Er war der Sohn einer guten Freundin von Emmas Vater Daniel, die kürzlich verstorben war. Jayden hatte schwere Zeiten hinter sich. Sein Vater hatte sich aus dem Staub gemacht, als er vier war. Seit dem Tod seiner Mutter rauchte er und in der Schule lief es momentan auch nicht gerade rosig für ihn.
Emma hatte festgestellt, dass sie aus dem Fenster ihres neuen Zimmer prima aussteigen konnte. Die Äste der großen Kastanie, die ihr nur die halbe Aussicht auf die Ausfahrt gewährte, waren so knorrig und dick, dass sie Emmas Gewicht sicherlich standhalten konnten.
Also, heute war der erste Schultag nach den Ferien und viele der Gesichter, denen Emma auf dem Flur begegnete, waren braungebrannt.
Sie holte sich ihren Stundenplan aus dem Sekretariat ab und traf auf dem Weg dorthin Olivia, die prompt anfing, von Hawaii zu erzählen.
In der ersten Stunde hatten sie gemeinsam mit Paula Bunson Erdkunde bei Ms Narral, die noch sehr jung war und gut aussah, was sie bei den Jungen beliebt machte. Aufreißer, wie Dave Mitchell hatten sogar schon mal versucht, sie zum Ausgehen einzuladen. Natürlich hatte Claire Narral ihn freundlich, aber bestimmt zurückgewiesen.
Erdkunde war nicht gerade Emmas stärkstes Fach und außerdem wurde sie von dem Gespräch zwischen Dave, Bryan Henson und Andrew McClark über Ms Narrals Figur abgelenkt.
„Sind die dumm? So laut, wie die über Narrals Vorzüge reden, kann das doch jeder hören! Ich würde mich nicht wundern, wenn sie die drei zum Direktor schickt!“
„Wen meinst du?“, fragte Olivia verwundert. „Es redet doch niemand.“
„Hä, bist du taub? Andrew, Dave und Bryan meine ich natürlich!“
Olivia guckte sie nur verständnislos an. Emma drehte sich nach links, um Paula anzusprechen. Paula war eine sehr gute Freundin mit blonden, langen Haaren, die sie immer zu einem Zopf hochband, und Sommersprossen.
„Paula, findest du nicht auch, dass Ms Narrals Hintern perfekt geformt ist?“
„Ich wusste gar nicht, dass du neuerdings auf Frauen stehst?“, antwortete Paula trocken.
„Tu ich ja auch nicht!“
„Wie kommst du dann drauf?“
„Na, hör doch mal Dave, Bryan und Andrew zu!“
Paula drehte sich nach hinten, um sich zu vergewissern, dass die drei auch wirklich sprachen.
„Also ich höre sie nicht“, meinte Paula.
Gefrustet drehte Emma sich wieder nach vorne und schrieb die Tafelanschrift ab, weil sie nichts Besseres zu tun hatte.
Es folgten weitere trockene Unterrichtsstunden: Mathe, Biologie und Geschichte. Dann hatten sie endlich Mittagspause. Gerade, als Emma mit Olivia und Paula auf dem Weg zur Kantine war, fiel ihr auf, dass sie ihr Geld im Spind liegen gelassen hatte.
„Geht schon mal vor, ich hab noch was vergessen.“
„Alles klar, bis gleich“, sagte Olivia.
Als Emma ihre Spindtür, die mit vielen Fotos von Schulbällen, Ausflügen und ihren Freundinnen beklebt war, schloss, bemerkte sie Will Grant, der direkt neben ihr stand, nicht, und lief ihm direkt in ihn hinein.
„Oh, Entschuldigung“, erschrak Emma.
Will, der die zwölfte Klasse besuchte, und auf den ungefähr alle Mädchen der Schule standen, lächelte sie an. Er ging nur selten mit einem dieser Mädchen aus und eine feste Beziehung hatte er, soweit Emma wusste, noch nie gehabt. Zumindest nicht, seitdem er vor drei Jahren neu auf die Schule gekommen war. Vorher besuchte er eine Schule in Detroit, Michigan. Seine Familie war in das kleine Tillamook gezogen, weil ihr Vater hier eine vielversprechende Stelle in der Käsebranche angenommen hatte. Tillamook war bekannt für seinen Käse und hatte schon einige Preise dafür gewonnen.
„Macht doch nichts. Du bist Emma, nicht?“
„Ja, bin ich.“ Sie fuhr sich unauffällig durch die braunen Haare.
„Hi, ich bin Will.“ Er lächelte sie an. „Hast du vielleicht Lust, heute Abend mit mir Essen zu gehen?“
„Ich? Mit dir?“, fragte Emma und kam sich im selben Moment total dumm vor. „Ja…gerne!“
„Passt es dir, wenn ich dich um halb sieben abhole?“
Völlig überrumpelt stimmte sie zu. Sie tauschten Handynummern aus und sie erklärte ihm, wo sie wohnte.
„Was hat da so lange gedauert?“, wollte Paula wissen, als Emma sich völlig benebelt zu ihren Freundinnen an den Tisch setzte.
„Ich habe heute Abend ein Date.“
„Mit Dave?“ Olivia und Paula waren der festen Überzeugung, dass Dave auf Emma stand und die beiden das perfekte Paar abgaben, was Emma nicht gerade als Kompliment auffasste.
„Nein, mit Will aus der zwölf.“
„Ja, genau. Ich treff mich morgen übrigens mit Enrique Iglesias, Leute.“ Die Ironie in Olivias Stimme war nicht zu überhören, was ihr einen giftigen Blick von Emma einhandelte.
„Ich meine das schon ernst. Als ich meinen Spind zugemacht habe, bin ich in ihn rein gerannt. Und dann hat er mich gefragt.“
„Einfach so?“ Paula zog eine Augenbraue hoch.
„Ja, irgendwie schon.“
„Na, das ist ja mal was. Was macht ihr?“
„Wir gehen essen.“
„Schick, schick. Weißt du schon, was du anziehst?“
„Das weiß sie natürlich noch nicht. Und deswegen kommen wir nach der Schule auch mit zu ihr, stimmt’s Em?“
„Klar, das wär ‘ne tolle Hilfe! Auch wenn mir klar ist, dass du nur mitkommst, weil du Jayden sehen willst.“
„Stimmt doch gar nicht! Ich will nichts von dem.“ Empört warf Olivia ihre zusammengeknüllte Serviette nach Emma.
Einige Stunden später saßen alle drei auf Emmas Bett und plauderten. Olivia lief erstaunlich oft über den Flur und holte ihnen Cornflakes aus der Küche.
„Hey, Olivia, willst du nicht mal das Haarspray aus dem Bad holen? Vielleicht kommst du noch mal an Jayden vorbei und kannst ihm zuzwinkern“, neckte Emma.
„Haha, sehr lustig!“, giftete Olivia. Aber sie ging dennoch aus dem Zimmer und den Flur entlang.
„Weißt du“, sagte Paula nachdenklich. „Ich kenne diesen Will nicht persönlich. Aber ein paar Bekannte haben mir mal von ihm erzählt. Er soll zwar sehr charmant sein, aber letztendlich doch ein ziemliches Arschloch. Er trifft sich ein Mal mit den Mädchen und bricht danach jeglichen Kontakt ab. Also, pass bitte auf dich auf, ja?“
„Jaa, mach ich.“
In den Moment kam Olivia wieder.
„Oh, du hast so ein Glück! Nenn mir bitte ein Mädchen von der High School, das nicht gerne mit ihm ausgehen würde!“
Emma lächelte Olivia zu. Sie war inzwischen ein bisschen aufgeregt.
Paula hatte sich selbst übertroffen und aus Emma sonst so widerspenstigen Haaren ein tolles Flechtwerk gezaubert. Als sie sich im Spiegel betrachtete, hatte sie ein bisschen Angst, dass sie zu gestylt wirkte. Aber Olivia und Paula konnten sie beruhigen: „Du siehst wunderschön aus.“
Die beiden gingen gegen halb sechs und Emma setzte sich noch ein bisschen an ihren Schreibtisch, um wenigstens zu versuchen, ihre Hausaufgaben zu machen, als es an der Tür klopfte. Ihre Mutter kam herein.
„Oh, du siehst ja hübsch aus!“ Sie lächelte und setzte sich auf das weiße Bett. Emma drehte sich auf ihrem Schreibtischstuhl zu ihr um.
„Danke.“
„Bist du schon aufgeregt?“, wollte ihre Mutter wissen.
„Ach, Quatsch.“ Mit einer lässigen Handbewegung tat Emma diesen völlig irrsinnigen Gedanken ab. „Ja.“
Ihre Mutter kicherte. „Sag mal, ich wollte dich um etwas bitten.“
Oha, dachte Emma. Wenn sie schon so anfängt, kann es ja nur was Unangenehmes sein.
„Also, wie wir alle merken, geht es Jayden nicht sonderlich gut, was ja auch kein Wunder ist. Ich möchte bloß nicht, dass er…naja, auf die schiefe Bahn gerät. Deswegen dachte ich, du hast sicher einen besseren Draht zu ihm, weil ihr ja auch in einem Alter seid.“ Fragend schaute sie ihre Tochter an.
Emma seufzte. „Naja, das wird sicher nicht leicht. Aber ich kann es ja mal versuchen.“
„Danke, mehr will ich auch gar nicht.“ Erleichtert verließ Christine Harper das Zimmer, drehte sich aber in der Tür noch ein Mal um. „Und ich wünsche dir viel Glück bei deinem Date.“
Später wartete Emma nervös auf das Türklingeln. Sie war längst fertig und lief zwischen Wohnzimmer und der Küche hinterher, weil sie nichts mit sich anzufangen wusste.
Endlich war es so weit und Wills Auto fuhr vor. Emma wartete extra noch einen Moment, bevor sie die Tür öffnete, obwohl sie direkt davor stand.
„Hey“, lächelte sie schließlich.
„Hallo“, begrüßte Will sie. Er nahm ihre Hand und küsste sie charmant. „Hast du alles?“
„Ja“, sagte sie, während sie ihren Mantel überwarf. „Wollen wir?“
Gemeinsam gingen sie zu Wills schwarzem Mercedes und er hielt ihr die Tür auf.
„Du gehst in die Zwölf, nicht?“, fragte Emma ihn, als er einstieg.
„Ja, stimmt.“
„Und, entschuldige die Frage, aber wie kommst du ausgerechnet auf mich? Ich meine, wir kennen uns doch gar nicht und hatten nie was miteinander zu tun…“
„Ich weiß. Aber ich habe dich in den Sommerferien einige Male gesehen und da dachte ich mir, dass ich dich einfach ansprechen muss, wenn ich dich das nächste Mal sehe.“
Er guckte sie kurz von der Seite an und lächelte. Das Lächeln war unglaublich selbstbewusst, aber gleichzeitig auch bescheiden. Emma hatte das Gefühl, dass er genau wusste, wie er auf seine Umgebung wirkte. Er war einfach der typische Frauenschwarm und wahrscheinlich hatte er mit sowas hier schon mehr Erfahrung, als sie bisher angenommen hatte. Diese Erkenntnis ließ ihr das Blut in die Wangen schießen. Was, wenn sie sich irgendwie komisch benahm, und er sie lächerlich, dumm oder kindisch fand? Schließlich trennten sie ein paar Jahre.
„Wie alt bist du eigentlich?“, wollte sie wissen.
„Alt genug, um Auto zu fahren“, lachte er. „Und du?“
„Ich bin gerade siebzehn geworden.“
Bis zum Restaurant „Da Vittoria“ unterhielten sie sich über dies und das. Sie lachten einige Male und verstanden sich soweit ganz gut.
Will hatte einen Tisch reserviert und sie bestellten sich Getränke, während sie die Karte der Speisen studierten. Das „Da Vittoria“ war der beste Italiener in Tillamook, das war unbestritten. Mit der Holzvertäfelung, den alten Kronleuchtern, den Kerzen auf den Tischen und der leisen Pianomusik im Hintergrund war die Stimmung perfekt.
Emma bestellte sich eine Pizza Frutti Di Mare, Will entschied sich für Spaghetti Neri Con Sugo Di Scampi, schwarze Spaghetti mit Garnelen.
„Und, was machst du, wenn du deinen Abschluss hast? Bleibst du in Tillamook, oder gehst du zurück nach Detroit?“
„Du weißt, dass ich aus Detroit komme?“ Will grinste sie belustigt an.
„Ja…nein…Also, das hat sich damals so rumgesprochen“, druckste Emma herum. Auf keinen Fall wollte sie, dass er dachte, dass sie ihn stalkte, oder so. Warum muss das denn alles immer so kompliziert sein?, fragte sie sich.
„Aber um auf deine Frage zu antworten – Ich denke, ich werde weggehen. Nicht unbedingt wieder nach Detroit, aber weg. Ich möchte studieren.“
„So, was denn?“
„Mathematik.“
„Wirklich? Kannst du das so gut?“
„Naja, durchschnitt würde ich sagen. Aber ich betrachte es als Herausforderung und bin gespannt, ob ich das schaffe. Was willst du denn machen?“
„Bei mir dauert es ja noch ‘ne Weile. Aber ich möchte auf jeden Fall mal was anderes sehen, als Tillamook. Ich will die Welt sehen. Bisher war ich immer nur in Tillamook. Die meisten Sommer haben wir auf einer Ranch von Freunden in Texas verbracht. Und zwei Mal waren wir in Europa, das war schon eine ganz große Sache. Aber danach will ich auch studieren. Ich weiß bloß noch nicht, was.“
„Also da war ich wohl schon n bisschen mehr unterwegs, als du.“
„Ist ja auch nicht so schwer. Wo warst du denn überall?“
„Innerhalb von Amerika war ich schon in New York, Washington, Mexico und in einigen kleineren Städten. Und ich war viel in Europa: Spanien, Italien, Dänemark, Kroatien…“
„Wow, du bist ja ein richtiger Weltenbummler!“
„Kann man so sagen. Aber bisher gefällt mir Amerika am besten.“
„Bist du mit deinen Eltern gereist?“
„Die meiste Zeit über schon, aber letztes Jahr war ich mit meiner Schwester und einigen Freunden unterwegs.“
„Ist deine Schwester älter als du?“
„Ja. Hast du Geschwister?“
„Ich habe eine kleine Schwester, Rose. Sie ist erst zwei. Und im Prinzip habe ich jetzt sowas, wie einen Adoptiv-Bruder. Jayden Ward, er ist auch auf unserer Schule. Er ist bei uns eingezogen.“
„Oh, das ist bestimmt neu für dich.“
„Naja, vor allem weil er fast nie redet. Seine Mutter ist gestorben.“
In diesem Moment kam die Bedienung mit ihrem Essen.
Sie sprachen weiter über belanglose Dinge, und Emma merkte, wie sie sich langsam entspannte. Die Unterhaltung kam ganz von selbst. Will strahlte eine solche Sicherheit aus, dass sie glaubte, dass ihr gar nichts passieren konnte. Und er war ja auch so gutaussehend! Sein Gesicht war sehr markant, er hatte schwarze, kurze Haare und dunkle Augen, die eine solche Lebendigkeit ausstrahlten, dass Emma geradezu von ihnen elektrisiert wurde.
Sie redeten über Feiern, die Schule, über peinliche Situationen und Freunde. Die Zeit verflog so schnell, dass Emma sich erschrak, als sie auf die Uhr sah, die bereits halb elf anzeigte.
„Lass uns mal fahren, es ist schon ganz schön spät.“
„Alles klar.“
Will nahm, ganz Gentleman, die Rechnung auf sich und gegen elf stand sein Wagen in Emmas Auffahrt.
„Es war ein sehr schöner Abend“, sagte sie.
„Das fand ich auch.“
Emma war dabei, auszusteigen, da hielt Will sie zurück.
„Warte!“
„Was ist los?“
„Ich muss noch über etwas mit dir sprechen.“
„Okay...“, Emma fragte sich, was jetzt wohl kommen mochte. Vielleicht wollte er sie lieber nicht mehr wiedersehen? Oder er wollte nur an Olivias Handynummer herankommen? Nichts von beidem traf ein. Das, was jetzt folgte, hätte sie niemals erwartet.
„Hör mal, in letzter Zeit hast du dich verändert, oder?“ Er sah sie mit einem ernsten Blick an.
„Was meinst du?“ Emma wusste nicht, worauf er hinaus wollte.
„Naja, körperlich.“
Emma spürte ein Gefühl der Beklemmung und wurde sofort misstrauisch. Wollte er nur mit ihr schlafen? Warum hatte er sie dann erst zum Essen ausgeführt? Vielleicht war er auch ein Perverser?
Will schien die Veränderung in ihrem Ausdruck zu bemerken. „Also ich meine du bist stärker geworden, oder?“
„Keine Ahnung, kann sein, wieso?“
Die Stimmung in dem schwarzen Mercedes war umgeschlagen. Emma fühlte sich unwohl. Das mochte daran liegen, dass Wills Ausstrahlung sich ebenfalls verändert hatte. Er war immer noch selbstbewusst, aber jetzt lag etwas Drängendes in seinem Tonfall.
„Erinnere dich an deine Mahagoni-Kommode. Die ist sonst sehr schwer, nicht wahr? Und du konntest sie auf ein Mal alleine tragen.“
Emmas Augen weiteten sich. „Woher weißt du das? Hast du mich beobachtet?“
Er ging nicht auf sie ein. „Du kannst auch schneller rennen und reagieren, stimmt’s? Und vor allem hörst du in letzter Zeit viel besser, als deine Freundinnen. Du kriegst viel mehr von deiner Umwelt mit, als sie.“
Emma schluckte und erinnerte sich an die Situation in Erdkunde und das Gespräch der Jungen, das nicht einmal Ms Narral bemerkt hatte.
Ihr Herz raste und sie merkte, wie ihr der kalte Schweiß ausbrach. Instinktiv lehnte sie sich von Will weg, war aber unfähig, sich weiter zu bewegen.
„Was willst du?“, flüsterte sie ängstlich.
„Ich weiß, warum das passiert.“
Sie blickte ihn nur stumm an und wartete seine Antwort ab. Emma überlegte sich, wie sie am schnellsten aus dem Auto käme, denn was wäre, wenn sie ausstieg und er sie versuchte, davon abzuhalten? Vielleicht war Will ja psychisch krank? Ein Serienmörder? Emma hatte gehört, dass man es diesen Monstern häufig überhaupt nicht anmerkt, dass sie schon Menschen auf dem Gewissen hatten, ihr soziales Leben sollte einfach ganz normal weiterlaufen.
Dann sprach Will weiter, doch mit ihren Vermutungen lag sie erneut, zumindest, was den Serienmörder anging, falsch.
„Du verwandelst dich.“
Emma konnte nicht anders, sie musste kurz auflachen. Die Erleichterung war sofort zu spüren. Vielleicht war Will psychisch krank, doch immerhin wollte er sie nicht umbringen.
„Und in was? Werde ich autistisch, oder was? So mit besser hören und so?“ Emma schnaubte. Wills tadelnder und gleichzeitig enttäuschter Blick jagte ihr einen Schauer über den Rücken.
„Du musst mich ernst nehmen, bald wird nichts mehr so sein, wie es mal war.“
„Sag mir, in was ich mich deiner Meinung nach verwandele.“
„In das, was ich selbst auch bin: einen Vampir.“
Einen Moment lang starrte Emma ihn nur an und suchte nach einem Anzeichen dafür, dass er gleich losprusten würde, weil er sie so herrlich an der Nase herumgeführt hatte. Nachdem sie aber keines fand, sagte sie: „Das glaubst du ja wohl selber nicht!“ und schlug die Autotür laut zu. Dieser Abend hatte so schön angefangen, wieso musste er so enden?
Am nächsten Morgen brannten Olivia und Paula darauf, Details zu erfahren. Emma war immer noch leicht geschockt von den Ereignissen.
„Paula, du hattest Unrecht. Nicht er schickt die Mädchen nach dem ersten Date in die Wüste, sondern sie ihn. Zumindest, wenn er denen das Gleiche erzählt, wie mir.“
„Wieso, was ist passiert?“, fragte Olivia neugierig. Emma erzählte von dem wunderschönen Abend und wie gut sie sich verstanden hatten, bis zu dem Gespräch im Auto.
Als ihre beiden Freundinnen ihr Lachen wieder unter Kontrolle hatten, presste Paula heraus: „Wirklich? Das hat er gesagt? Er ist ein Vampir?“ und bekam einen erneuten Lachanfall.
Emma war froh, dass sie Will heute noch nicht begegnet war, denn sie wusste nicht im Geringsten, wie sie sich verhalten sollte. Er schien heute gar nicht mal in der Schule zu sein.
Vielleicht sollte sie mit einem Vertrauenslehrer reden, denn wer wusste schon, ob Will nicht noch eine Gefahr für andere Schüler werden konnte? Auf jeden Fall gehörte er in eine Therapie.
Der Tag zog sich hin wie Kaugummi. Es hatte sich offenbar wie ein Lauffeuer herumgesprochen, dass Emma ein Date mit Will gehabt hatte, denn auf dem Flur starrten sie viele unverhohlen an. Was Emma besonders störte, war das Getuschel im Unterricht. Sie selbst saß in der ersten Reihe und versuchte der letzten Reihe nicht zuzuhören, weil sie gar nicht wissen wollte, dass Felicia Gomez es nicht verstand, dass Will mit so einer Niete wie Emma ausging. Was hatte sie, was Felicia nicht hatte?! Felicias Freundin Nicole meinte zu ihrer Aufheiterung: „Felicia, du hast eine tolle Figur und siehst toll aus. Jungs mögen dich. Aber vielleicht hat Will dich noch nicht gesehen? Du musst ihn auf dich aufmerksam machen! Wobei diese Emma auch echt klasse aussieht…“
Das handelte ihr ein wütendes Schnauben von Felicia ein und sie sprach den Rest der Stunde nicht mehr mit ihr.
Emma wollte all das gar nicht mitbekommen, aber sie hörte solche Gespräche schon den ganzen Tag, als würden die Sprecher direkt neben ihr sitzen und ihr ins Ohr schreien. Deswegen fiel es ihr auch schwer, sich auf den Unterricht zu konzentrieren.
„Emma, würdest du bitte an die Tafel gehen und das für uns ausrechnen?“ Mr. Henning schaute sie mit der hochgezogenen Augenbraue an, die er jedem zugedachte, der sich nicht für seinen Unterricht zu interessieren schien und andere Dinge tat.
Emma wusste, dass sie sich total blamieren würde, denn sie hatte noch nie die Begabung für Mathematik gehabt. Und gerade jetzt hatte sie überhaupt nicht aufgepasst. Sie hatte schon Glück, dass sie wusste, was sie als erstes tun musste.
Während sie also da vorne stand, fingen einige Mädchen wieder an zu tuscheln.
„Guck mal, was sie für strubbelige Haare hat“, oder „Das Oberteil passt ja mal gar nicht zu der Jacke.“, gefolgt von hysterischem Kichern.
„Jetzt hab ich die Schnauze aber voll!“ Emma drehte sich wütend zur Klasse um. „Könnt ihr nicht mal eine Sekunde aufhören, über mich zu lästern? Ich komm mir vor, als hätte ich mich mit dem Prinzen von England getroffen und ihr beneidet mich alle!“
Im Klassenraum trat eine eisige Stille ein und alle starrten sie an.
„Wie konnte sie das denn hören?“, flüsterte Felicia Nicole ins Ohr.
„Ich hab einfach gute Ohren, okay?“, fauchte Emma Felicia an, die jetzt noch verblüffter war.
Dann nahm Emma sich ihre Tasche und ging unter lautem Meckern von Mr. Henning aus der Klasse. Sie beschloss, dass sie noch mehr Tratsch heute nicht ertragen konnte und ging zu ihrem Auto. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie Will, der an ihrem Auto lehnte, erst dann bemerkte, als sie direkt vor ihm stand. Nicht auch das noch!, dachte sie.
„Hey“, sagte Will.
„Hi.“ Emma Stimme war abweisend.
„Ich weiß, das ist gestern Abend alles ein bisschen unglücklich gelaufen…“, setzte Will an.
„Lass gut sein. Ich denke, wir belassen es einfach dabei und das wars.“
„Nein, hör mir zu, ich muss mit dir reden. Es ist sehr wichtig.“
„Will, ich möchte nicht mit dir reden! Akzeptier das bitte und lass mich nach Hause fahren.“
„Du machst einen Fehler.“, sagte er nur. Seinen Augen konnte man die Abfuhr nicht ansehen. Generell konnte man ihm auch nicht ansehen, dass er in seinem Kopf wohl nicht ganz richtig war. Emma ging an ihm vorbei und setzte sich in ihr Auto.
Auf der Fahr nach Hause dachte sie über Will nach. Vampire, pah! So was gibt es doch gar nicht. Das waren genausolche Märchen, wie Geister oder Zombies. Wie kam er überhaupt dazu, ihr eine solche Geschichte aufzutischen? Wie alt war er denn bitte, sechs? Als nächstes würde er bestimmt sagen, sein Vater sei der Weihnachtsmann und seine Schwester eine Todesfee aus Irland.
Andererseits… er konnte sie vielleicht dabei beobachtet haben, wie sie ihre Kommode hochgetragen hatte, aber er konnte doch nicht wissen, wie gut sie hörte, oder? Sie hatte schließlich davon nichts erwähnt. Sie ertappte sich dabei, wie sie erwog, ob er vielleicht doch die Wahrheit gesagt hatte und war erschrocken über sich selbst. Schnell schaltete sie das uralte Autoradio an, das alle fünf Minuten den Sender neu suchen musste, um sich auf andere Dinge zu konzentrieren.
Während Emma fuhr, bemerkte sie jedes kleine Detail am Straßenrand, sah die Linien auf den Blättern der Bäume und erkannte deutlich die Konturen der Tillamook Cheese Factory. Doch es fiel ihr nicht auf. Sie war zu beschäftigt mit ihren Gedanken.
Sie war sogar so abwesend, dass sie fast ein über die Straße laufendes Tier überfuhr. Dank ihrer guten Reflexe konnte sie rechtzeitig eine Vollbremsung hinlegen und kam schlitternd zum Stehen. Was ist das denn gewesen?, wunderte sie sich. Das Tier war größer, als jedes Tier, das sie je hier in der Umgebung gesehen hatte und es hatte offenbar braun-schwarzes Fell. Außerdem war es wahnsinnig schnell und… aufrecht gelaufen? Emma schüttelte verwirrt den Kopf und fuhr weiter. Offenbar hatte sie viel zu wenig geschlafen. Das merkte man ja schließlich schon an ihrer geistigen Instabilität, die sie heute zeigte. Kein Wunder, nachdem sie Wills Horrorgeschichte aufgetischt bekommen hatte, hatte sie noch mindestens drei Stunden im Bett gelegen und gegrübelt.
Als sie ihre Auffahrt hochfuhr, traute sie ihren Augen nicht. Als würde er schon lange dort auf sie warten, saß Will auf den Treppen, die zur Tür hochführten. Die Sonne schien auf sein makelloses Gesicht und Emma dachte sich, wie hübsch er doch war, und wie schade es war, dass er nicht richtig tickte. Widerwillig stieg sie aus und lief auf ihn zu.
„Was machst du hier?“ Während sie ihn das fragte, merkte sie, dass sein Auto nicht in der Auffahrt stand. „Und wie bist du schneller als ich hierhergekommen?“
„Ich bin gelaufen“, antwortete er. „Und wie gesagt, ich will mit dir reden.“
„Ja klar, ich lauf auch immer in einer Viertelstunde von der Schule bis hierhin.“
„Ich bin halt schneller als du.“
„Als ich mit dem Auto?“
„Ja.“
„Na dann weiß ich ja Bescheid. Aber mal im Ernst, Will. Was an den Worten ,Ich will nicht mit dir reden‘ hast du nicht verstanden?“
„Ich habe dich sehr gut verstanden. Aber du mich nicht. Du hast keine Idee davon, wie wichtig es für dich ist, mit mir zu reden.“
„Nein, die habe ich wirklich nicht. Und ich kann mir auch nichts vorstellen, was so unglaublich lebenswichtig sein kann. Jetzt geh bitte aus dem Weg, ich will reingehen.“
„Es ist lebenswichtig, Emma, glaub mir. Sonst würde ich dir nicht so hinterherlaufen.“
Emma schwieg und schaute ihn halb verwirrt und halb verärgert an. Das nahm Will als Anlass dafür, weiterzusprechen.
„Es geht um das, was ich dir gestern erzählt habe.“
„Dass du ein Vampir bist und ich auch einer werde?“ Sie konnte sich den spöttischen Unterton in ihrer Stimme nicht verkneifen.
„Ja.“
„Jetzt fang nicht damit schon wieder an. Wenn du mit jemandem über Fabelwesen reden möchtest, dann such dir jemand anderen dafür.“
Emma konnte Wills Maske jetzt erkennen. Hinter seinem gleichgültigen Gesicht mit dem eindringlichen Blick war er getroffen von ihren Worten. Schlagartig fühlte sie sich schlecht, aber sie musste sich daran erinnern, dass er vielleicht wirklich psychisch krank war.
„Ich bin nicht bescheuert oder so. Ich kann es dir beweisen.“
„Ja klar. Mach das wann anders. Ich bin jetzt müde und wenn du nicht sofort unser Grundstück verlässt, rufe ich die Polizei!“ Emma konnte nicht anders, als langsam wütend zu werden.
„Für jetzt werde ich gehen. Aber du wirst mir noch zuhören müssen.“ Er sah sie mit zornigem Ausdruck an. Emma kramte in ihrer Schultasche nach dem Schlüssel. „Ja, sicher.“
Als sie wieder aufschaute, war Will spurlos verschwunden.
Am Wochenende war Emma mit ihrer Mutter auf dem Markt im benachbarten Idaville gewesen. Es waren noch Auberginen, Zucchini und Paprika übergeblieben, außerdem noch etwas Schweinefleisch. In der Küche bereitete Emma sich eine Gemüsepfanne zu und aß. Abends sollten Olivia und Paula zu ihr kommen, sie wollten einen gemütlichen DVD Abend machen, dafür musste sie noch einkaufen gehen. Außerdem erinnerte sie sich an die Bitte ihrer Mutter. Sprich mit Jayden. Grr, bei dem Gedanken daran fühlte sich Emma schon beklemmt. Sie wusste, dass sie diese Aufgabe vor sich herschieben würde, solange sie konnte. Über was sollte sie denn bitte mit ihm reden? Über seine Mutter und seine Gefühle? Oder eher über banale Dinge, wie Schule? Im Smalltalk war sie kein besonderer Meister. Und es blieb immer noch die Frage, ob er auch mit ihr reden würde, so schweigsam, wie er war.
Emma setzte sich an ihren großen Schreibtisch, konnte sich aber nicht so recht konzentrieren. Sie sah ihre Mahagoni-Kommode an und musste an Wills Worte denken. Sich vergewissernd, dass sie niemand beobachtete, schlich sie ins Wohnzimmer und sah sich um. Keiner der Gegenstände schien ihr schwer genug, um mit ihrer Kommode mithalten zu können. Vielleicht war sie ja auch gar nicht so schwer, und jeder andere konnte sie auch mühelos transportieren? Emma versuchte sich an dem massiven Couchtisch, der vor dem Sofa stand. Sie legte ihre Hände griffbereit in zwei Vertiefungen, ging etwas in die Hocke, um das Gewicht auszubalancieren – und hob den Tisch hoch, als bestünde er aus Plastik. Sie keuchte und setzte ihn schnell und mit einem dumpfen Knall wieder ab. Sofort schaute sie zur Treppe und lauschte angestrengt, ob jemand etwas davon mitbekommen hatte, doch Jayden hörte mal wieder seine schreckliche Musik und ihre Mutter saß oben am Computer und telefonierte mit einer Freundin. Ihr Vater war sowieso noch nicht zu Hause.
Zögernd steuerte Emma das volle Bücherregal an. An sich war es leicht, doch gefüllt mit den alten Wälzern dürfte es an die 100 Kilo wiegen. Also schlang sie die Arme darum und vollführte das gleiche Kunststück nochmal. Sie musste sich erst umständlich vergewissern, dass sie das Regal auch wirklich vom Boden abgehoben hatte, denn es kam ihr überhaupt nicht so vor. Aber zweifelsfrei schwebte es gute 10 Zentimeter über dem Boden.
„Was machst du da?“, fragte Jayden entsetzt und polterte den Rest der Treppe zu ihr hinunter. Emma riss ruckartig den Kopf herum und ließ vor Schreck das Bücherregal fallen, konnte aber ihren Fuß nicht mehr rechtzeitig wegziehen, sodass das volle Gewicht auf ihm landete. Zu ihrer Überraschung spürte sie zwar ein kurzes Stechen, das aber auch schnell wieder vorbei war. Blitzartig zog sie den Fuß zu sich. Jayden bemerkte dies gar nicht. Was er sah, war, dass das Regal mit der Kante ein Loch in den Parkettboden schlug, die hinteren Trennwände aus der Halterung brachen und die Bücher durch das Wohnzimmer flogen. All dies geschah mit einem unglaublichen Lärm, sodass Emma Mutter schnell auf den Flur lief und die Treppe hinunter rief: „Was ist passiert?“
Ohne auf eine Antwort zu warten, rannte sie die Stufen aus dem zweiten Obergeschoss hinunter.
„Jayden, bitte erzähl Mom nichts!“, flehte Emma ihn flüsternd an.
„Was hast du denn da bloß getan?“
„Ist alles okay?“, tönte in diesem Moment die schrille Stimme von Christine Harper. „Ach du liebes bisschen, was ist denn hier passiert? Geht es euch gut?“ Besorgt sah sie zu den beiden Jugendlichen, als sie sie erreichte, und erstarrte im nächsten Moment, als sie sah, was mit dem Schrank passiert war.
„Würdet ihr mir das bitte erklären?“, forderte sie und man hörte die unterdrückte Wut in ihrer Stimme.
„Also, ich hatte meinen Schlüssel unter dem Regal verloren, ich wollte es nur kurz beiseiteschieben, da ist es gegen die Wand geknallt und irgendwie ist die Rückwand herausgebrochen und dann sind die Bücher rausgefallen. Tut mir Leid, das war keine Absicht.“ Das Adrenalin schoß unablässig durch Emmas Körper und sorgte dafür, dass die Ausrede sich wenigstens einigermaßen schlüssig anhörte. Christine trat näher an das Regal und stieß mit dem Fuß ein paar Bücher zur Seite, um sich den Schaden genauer anzusehen.
„Wieso hast du nicht einfach gewartet, bis dein Dad nach Hause kommt und ihn gefragt ob er dir hilft? Oder Jayden?“ Ihre Wut war jetzt nicht mehr unterdrückt. „Du wirst das bezahlen, Fräulein, verstanden? Und wenn du monatelang kein Taschengeld mehr bekommst!“
Emma musste schlucken. Sie bekam nicht gerade viel Geld von ihren Eltern, und das, was sie bekam, das brauchte sie normalerweise auch, um sich Anziehsachen zu kaufen, oder auch mal einen schönen Abend mit ihren Freundinnen zu verbringen. Woher sollte sie das Geld nehmen?
„Hast du das verstanden?“
„Ja“, hauchte Emma.
„Dann räum jetzt die Bücher ordentlich weg und geh dann auf dein Zimmer!“
„Aber Mom, ich muss doch noch einkaufen gehen!“
„Einkaufen? Wofür?“
„Olivia und Paula wollten doch kommen…“
„Das kannst du vergessen! Heute kommt dich keiner mehr besuchen!“
Und geknickt ließ ihre Mutter Emma stehen und ging wieder nach oben. Christine Harper war normalerweise entspannter und noch nie hatte sie ihrer Tochter so etwas wie Hausarrest gegeben. Seufzend fing Emma an, die Bücher in die Ecke neben das beschädigte Regal aufzustapeln, als sie merkte, dass Jayden sie immer noch anstarrte. Sie blickte zu ihm hoch.
„Möchtest du mir das mal bitte erklären?“
„Was denn?“, fragte sie unschuldig.
„Du hast das Regal hochgehoben, bist du Superwoman oder so?“
„Naja, es war mir dann doch zu schwer und ich hab‘s fallen lassen. Und meinen Schlüssel hab ich immer noch nicht gefunden, so ein Mist.“
„Du hast es fallen lassen, weil ich dich erschreckt habe. Du hast es hochgehoben, als würde es nichts wiegen.“
„Quatsch, wie soll ich denn so ein Regal mal eben stemmen? Das würdest ja nicht mal du lange durchhalten.“
Misstrauisch sah Jayden sie an und fing an, Bücher aufzusammeln.
„Du musst mir nicht helfen“, sagte Emma. „Ich bin schließlich dafür verantwortlich.“
„Wie du willst.“ Jayden drehte sich um und stieg die Treppe hoch.
Geredet hatte sie jetzt mit ihm. Nur wahrscheinlich nicht so, wie Emmas Mutter es sich vorgestellt hatte.
Paula und Olivia durften letztendlich doch noch kommen. Emmas Vater legte ein gutes Wort für sie bei ihrer Mutter ein, die einfach nur erschöpft und leicht reizbar war, weil sie im Moment so viel Stress hatte. Emma konnte sich auch mit ihrem Vater darauf verständigen, dass sie kein komplettes neues Bücherregal kaufen, sondern nur neue Rückwände besorgen musste.
Olivia hatte, weil sie das in Anbetracht der Umstände, besonders lustig fand, einen Film mit Vampiren mitgebracht. Die anderen Möglichkeiten waren ein sicher interessanter Film über Verschwörungen innerhalb der CIA und eine kitschige Romanze. Leider wurde Emma überstimmt und durfte dann – unter ersticktem Kreischen von Olivia und gelegentlichen Lachen von Paula zusehen, wie ein hässlicher, Bleicher Vampir mit riesigen Schneidezähnen eine ganze Stadt ermorden wollte. Allerdings verliebte er sich in eine Sterbliche und konnte durch sie überzeugt werden, dass noch ein bisschen Menschlichkeit in ihm steckte und diese Menschen den Tod nicht verdient hatten.
Emma gab sich wirklich Mühe, nicht an Will zu denken, oder daran, dass er gesagt hatte, dass nicht nur er ein Vampir war, sondern dass sie auch einer werden würde. Sie bemühte sich ebenfalls, nicht an das Bücherregal zu denken. Beides gelang ihr nur halbwegs.
In dieser Nacht schlief Emma sehr unruhig.
Am nächsten Tag hielt sie die Augen nach Will auf, doch sie sah ihn nicht.
Sie musste zu einem Gespräch mit Mr. Henning, weil sie am Vortag so ausgerastet war. Er würde ihr eine Fehlstunde aufschreiben und sie sollte einen Aufsatz über Albert Einstein schreiben.
Als Emma schließlich den Schultag überstanden hatte – die Kommentare über ihr Aussehen und Will hatten abgenommen und wandten sich jetzt eher dem Schulball zu – hatte sie ihn nicht ein einziges Mal gesehen. Eine kleine Welle der Verzweiflung kam über sie, die sie sich allerdings nicht eingestehen wollte. Wenn er heute nicht da war, würde sie ihn sicher morgen sehen. Fest stand, dass sie unbedingt mit ihm reden musste.
Auf dem Weg nach Hause machte sie einen kleinen Zwischenstopp bei einem Baumarkt, und fragte einen schlaksigen Jungen, der ein, zwei Jahre älter war, als sie, wie viel Geld sie für das Ersetzen der Rückwände einplanen musste. Auf ihr Taschengeld für die nächsten drei Monate musste sie mindestens verzichten.
Als sie schließlich zu Hause aus ihrem alten VW Polo ausstieg, bemerkte die, dass jemand auf den Stufen vor der Haustür saß. Will. Emma spürte, wie sie gleichzeitig erleichtert war und trotzdem abweisend. Als sie auf ihn zukam, stand er auf.
„Hey“, sagte sie. „Du warst heute nicht in der Schule, oder?“
„Wieso, hast du mich gesucht?“
„Naja, ich wollte mit dir reden.“
„Tatsächlich.“ Will konnte es nicht verhindern, ein schelmisches Grinsen überkam sein Gesicht, welches er aber schnell wieder durch seinen ernsten Blick ersetzte.
„Du hast gesagt, du könntest es mir beweisen.“ Forschend schaute Emma ihn an.
„Ja, das könnte ich. Willst du das?“
Sie nickte nur. Will trat vor und nahm ihre Hände. Sie verspürte ein angenehmes Kribbeln im ganzen Körper.
„Mach deine Augen zu“, wies er sie an. Sie schaute sich schnell um und tat dann wie geheißen.
„Okay, jetzt konzentriere dich und visualisiere Kälte.“
„Wie, Kälte?“
„Naja, irgendwas, was du mit Kälte in Verbindung bringst. Eiswürfel oder einen Gefrierschrank oder meinetwegen auch den Nordpol.“
„Mhh.“ Emma kam sich irgendwie dumm vor.
„Geht es?“, hörte sie Wills Stimme. Doch irgendwie war er in ihrem Kopf gewesen. Hatte sie sich das nur eingebildet?
„Nein, ich kann eine Verbindung zu deinen Gedanken herstellen. Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe.“
Emma riss die Augen auf und trat einen Schritt von ihm weg.
„Entschuldige, du hättest mir sowieso nicht geglaubt, wenn ich dich vorgewarnt hätte.“
Da hatte er sicher recht, doch sie hatte den Schock noch nicht überwunden.
„Hey, das war noch nicht, was ich dir zeigen wollte. Komm her.“ Er streckte seine Hand wieder nach ihr aus und seine Stimme wirkte besänftigend. Zögerlich ergriff sie seine Hände wieder. Sie stand so nah bei ihm, dass sie merkte, wie wunderbar er roch. Schließlich schloss sie wieder die Augen.
„Konzentrier dich weiter auf die Kälte“, wies er sie an. Seine Stimme in ihrem Kopf zu hören war komisch, doch dieses Mal blieb Emma stehen.
„Was soll das denn bringen? Ich versteh nicht, worauf du hinaus willst.“
„Du brauchst nicht laut zu sprechen, es reicht, wenn du es denkst.“
Emma probierte es mal aus. Kannst du alle meine Gedanken hören? Immer?
„Nein, nur jetzt. Das funktioniert nur, wenn wir uns beide sehr konzentrieren und zwar auf die gleiche Sache. Und es muss ein körperlicher Kontakt hergestellt sein.“
Kann ich deine Gedanken auch lesen?
„Nein, das wär ja noch schöner.“ Sie hörte ihn in ihrem Kopf lachen. Gott, war das merkwürdig. „Übrigens konzentrieren wir uns nicht einfach nur so auf Kälte. Ich zähle gleich bis drei und dann machst du die Augen auf, okay?“
Mhh.
„Eins, zwei drei!“
Sie öffnete ihre Augen und erschrak im gleichen Moment. Um sie herum war der Boden gefroren und die Blumen waren zu Eis erstarrt.

Zwei




„Wie…“ Emma stockte, schloss die Augen und öffnete sie gleich wieder. „Haben wir…das gemacht?“
Will nickte und lächelte sie an. Er ließ ihre Hände los und sie bildete sich ein, zu spüren, wie ihre komische Verbindung abbrach. Langsam bekam sie es mit der Angst zu tun.
„Und du kannst das alles, weil du“, sie musste schlucken und bekam ihre Worte nur mit Mühe heraus, „ein Vampir bist?“
Wieder nickte er.
„Dann ist das alles wahr.“
Er musste gespürt haben, wie sie sich zunehmend unwohler fühlte. „Hey, hab ich dir Angst gemacht? Das war nicht meine Absicht.“
„Vampire essen Menschen, oder?“
„Wir essen doch keine Menschen. Wir trinken ihr Blut.“
Emma wurde direkt noch blasser.
„Nein, so war das doch nicht gemeint! Ich werde dir nichts tun. Hast du schon vergessen, was ich dir gesagt habe? Du verwandelst dich selbst in einen Vampir. Da ist die Versuchung für mich längst nicht so groß, auch wenn sie vorhanden ist. Aber ein bisschen Selbstbeherrschung hab ich auch.“
Beruhigen konnte sie das auch nicht.
„Deswegen ist es so wichtig, dass wir reden. Ich bin sowas wie dein Mentor. Wenn sich Menschen in Vampire verwandeln, dann wird ihnen ein Mentor zugewiesen. Das spürst du dann.“
„Oh. Dann wolltest du gar nicht mit mir ausgehen?“ Sie verstand nicht wieso, aber irgendwie traf sie das.
„Ähm, doch schon, aber als dein Mentor muss ich meine Aufgabe erfüllen und eine Beziehung darf sich nicht vor der Verwandlung entwickeln. So sind die Regeln.“
„Ach so.“ Emma war geknickt. „Und wie funktioniert das mit dieser Verwandlung?“
„Wollen wir nicht reingehen und uns hinsetzen? Oder willst du das alles lieber im Stehen klären?“
„Ja gut.“
Die beiden betraten ihr Haus und sie führte ihn in ihr Zimmer.
„Willst du was trinken oder so?“
„Nein, danke.“
„Oh! Hä“, sagte Emma nach kurzem Nachdenken. „Als wir essen waren, hast du Wasser getrunken. Und auch ganz normal gegessen.“
„Ja, es schmeckt nicht besonders gut und Vampire brauchen es nicht, aber es bringt uns nicht um.“
Emma saß auf ihrem Bett und Will auf dem Schreibtischstuhl. „Erklär mir dann bitte mal das mit der Verwandlung.“
„Okay, also das ist so: Wenn du über einen bestimmten Zeitraum immer wieder von einem Vampir gebissen wirst, breitet sich sein Gift langsam in deinem Körper aus und du fängst an, dich zu verwandeln.“
„Aber mich hat doch keiner gebissen! Ich hab noch nie zuvor einen Vampir gesehen!“
„Naja, du wusstest vorher einfach noch nichts davon. Das heißt ja nicht, dass du noch nie einen gesehen hast.“
„Es gibt noch mehr davon hier?“
„Ja, natürlich.“
„Irgendwer, den ich kenne?“
„Ich glaube nicht.“
„Aber…wer hat mich denn gebissen?“
„Ja, das ist so eine Sache. Das habe ich auch schon versucht, herauszufinden. Aber ich weiß es einfach nicht.“
„Na toll.“ Emma war sehr unwohl bei dem Gedanken, dass irgendjemand, den sie nicht kannte, sie immer wieder biss, ohne dass sie irgendetwas davon mitbekam. „Und was machen wir jetzt?“
„Es gibt zwei Möglichkeiten. Die eine ist, dass wir dich zu Ende verwandeln lassen und alles ist gut, oder“, er stockte und sah sie mit einem Blick an, den sie noch nie bei ihm beobachtet hatte. Irgendwie war er hoffnungsvoll und verloren zugleich. „Oder wir brechen die Verwandlung ab.“
„Das geht? Dann muss ich kein Blut trinken und so?“ Sie strahlte.
„Also es gibt schon eine kleine Alternative zum direkten Bluttrinken. Es gibt eine Pflanze, die Blutjohanniskraut oder auch Menschenblut genannt wird, aufgrund ihres Beerensaftes. Wenn du den trinkst, hat es zwar nicht die gleiche Wirkung, wie Menschenblut und es hält auch längst nicht so lange, aber es ist eben ein anderer Weg. Und wenn du die Verwandlung abbrichst, kannst du nicht mehr so gut hören, sehen, reagieren und du bist nicht mehr so schnell und stark.“
„Warte mal, schneller ist man auch noch? Hab ich dich vorhin etwa fast angefahren?“
„Mhh ja, tut mir leid. Das war meine Schuld.“
„Oh mein Gott.“
„Du musst dich noch nicht jetzt entscheiden, was du willst. Wir haben noch fünf Tage Zeit.“
„Wieso, was ist in fünf Tagen denn?“
„Wenn du lieber ein Mensch sein möchtest, dann müssen wir da mit dem Ritual beginnen.“
„Und wieso genau dann? Wieso hab ich nicht länger Zeit, mir das zu überlegen?“
„Weil der Oktober dann anfängt. Und der Oktober steht im Zeichen des Blutmondes. Dann müssen wir an sieben Tagen hintereinander etwas Blut von dir nehmen. Und am achten Tag ist Vollmond. Das Ritual ist etwas komplizierter, ich werde es dir rechtzeitig erklären. Aber ich warne dich: Es wird wehtun.“
„Gibt es keine andere Möglichkeit, die Verwandlung abzubrechen?“
„Doch schon, aber die ist uns im Moment nicht möglich. Dabei musst du nämlich den Vampir zerstören, der dich gebissen hat.“ Will sagte zerstören so, als würde er es jeden Tag tun.
„Na wunderbar, dann werde ich wohl mein Blut geben müssen.“ Emma war nicht wohl bei dem Gedanken, seit der Kindheit hatte sie Angst vor Spritzen.
„Nein, du musst nicht. Du kannst auch ein Vampir werden.“ Will schaute sie erwartungsvoll an.
„Ein Vampir werden? Ja klar.“ Fast musste sie lachen.
„Was ist denn so komisch daran?“
„Tut mir leid, aber das ist alles ein bisschen viel für mich gerade. Ich wusste bis vor kurzem nicht mal, dass es so etwas überhaupt gibt! Was kommt als nächstes, Werwölfe? Hexen? Geister?“
„In der Tat, auch die gibt es vereinzelt.“ Emma hatte das Gefühl, dass ihr der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Ich träume nur, dachte sie immer wieder, wie ein Mantra. Ich träume nur.
„Aber wenn du möchtest, kann ich dir etwas über die Vampire erzählen, vielleicht erleichtert dir das die Entscheidung.“
„Ich denke, ich habe meine Entscheidung schon getroffen.“
„Du willst dich nicht verwandeln?“ Will sah auf einmal sehr einsam und verloren aus. Emma überlegte, wie lange er schon so allein war.
„Alterst du eigentlich?“
Er sah auf. „Nein.“
„Wie alt bist du dann?“
„Zweihundertfünfundzwanzig Jahre. Achtzehn davon war ich ein Mensch.“
Emma stieß die Luft aus. Sie wollte, dass er weiterredete. Zum einen hatte seine Stimme einen wunderbaren beruhigenden Ton. Zum anderen tat er ihr irgendwie leid. Sie hatte überhaupt noch nicht richtig begriffen, dass er kein Mensch war. Er war schon so lange alleine und jetzt ließ sie ihn auch noch irgendwie hängen. Aber andererseits konnte sie auch nicht einfach ihr Leben verschenken, um einem Typen zu helfen. Ausgeschlossen! Um ihn ein wenig aufzuheitern und ihm zu suggerieren, dass sie sich es wenigstens gründlich überlegt hatte, sprach sie mit ihm über seine Art. Ein wenig interessiert war sie ja wirklich.
„Und wieso kannst du in der Sonne laufen? Müsstest du nicht eigentlich verbrennen oder so was?“
Will lachte auf. „Nein, ich muss nicht verbrennen. Das ist ein Gerücht, das vermutlich sogar von den Ältesten in die Welt gesetzt wurde, um ungetarnt unter den Menschen zu wandeln. Allerdings schwächt uns die Sonne. Du kannst dir das ungefähr so vorstellen, wie bei der Tankanzeige in einem Auto. Je mehr Blut ein Vampir getrunken hat, desto voller ist die Anzeige. In der Sonne wird sie zweimal schneller leer, als normal. Wir werden dann schwächer und können sogar sehr krank werden.“
„Und hast du schon…naja, jemanden getötet?“ Emma war sich sicher, dass sie die Antwort eigentlich gar nicht hören wollte, aber sie musste es einfach wissen.
„Ja, das habe ich, als ich noch neu war. Ich kannte die Grenze noch nicht, wie viel Blut ich nehmen darf, bis der Mensch stirbt. Es ging mir schrecklich damit. Am Anfang sind alle Gefühle intensiver, das hat es noch schlimmer gemacht.“
Emma schluckte und wich unwillkürlich vor ihm zurück. Sofort lag in seinem Blick Reue, Bestürztheit und Verletztheit.
„Deswegen bin ich aber kein Monster. Ich tötete nicht aus bösem Willen!“
„Nein, aber weil du den Mensch als Konservendose betrachtet hast! Er war deine Nahrung.“
Ihre Worte trafen Will. Er wusste offenbar nicht, was er darauf erwidern sollte, denn es stimmte ja, dass er sich von den Menschen nährte.
„An meiner Natur kann ich nichts ändern. Du isst auch Schweine, die extra für dich geschlachtet wurden. So unterschiedlich ist das gar nicht. Aber gut, offensichtlich steht deine Entscheidung. Ich werde dich in fünf Tagen hier abholen und dann können wir mit dem Ritual beginnen. Wenn wir die Verwandlung abgebrochen haben, brauchst du nie mehr mit mir zu reden.“ Die emotionale Kälte in Wills Stimme war unüberhörbar.
Emma wollte gerade etwas erwidern, da war er auch schon verschwunden. Sie wusste nicht, was sie fühlen sollte. Vorherrschend war auf jeden Fall die Verwirrung. Einerseits fand sie den Gedanken abstoßend, dass Vampire, und so einer war Will nun einmal, ihre Beute offenbar so kaltherzig und gleichgültig behandelten, wie Emma ihr Steak. Aber hatte er nicht in gewissem Maße recht mit seinem Vergleich? Sie hatte eine Seite an ihm kennen gelernt, die diesem gefühlslosen Wesen in nichts ähnelte. Und diese Seite hatte ihr außerordentlich gut gefallen. Er hatte sich verhalten wie ein Mensch und sie konnte sich nicht vorstellen, dass das alles nur Show war. Hier stellte sie sich die Frage, ob Vampire überhaupt fühlen konnten. Emma wusste es nicht. Die Gedanken wirbelten in ihrem Kopf herum und sie fühlte sich benebelt. Sie beschloss, sich kurz hinzulegen.
Sie träumte davon, dass Will sie trug, wie man eine Braut über die Schwelle trägt. Er sah sie liebevoll an und sprach auf einer Sprache mit ihr, die sie nicht verstand. Aber die Worte, die er benutzte, waren unwichtig. Sie wusste, was er fühlte und was er dachte. Emma bemerkte, dass alles um sie herum weiß war, und dass Will angefangen hatte, mit einem glatzköpfigen Mann zu reden, der vor einem großen, grauen Tor stand. Er sah irgendwie böse aus. Emma konnte nur einige Wortfetzen des Gesprächs verstehen, aber sie keinen logischen Sinn ausmachen. Das letzte, was sie hörte, waren die Worte des Glatzenmenschens: „Du musst!“
Will sah sie auf einmal gequält an. Dann kamen Rasiermesserscharfe Schneidezähne in seinem Mund zum Vorschein. Er beugte sich herab und biss ihr in den Hals.
Emma wachte von ihrem eigenen Schrei auf. Hektisch griff sie sich an den Hals und beruhigte sich, als sie merkte, dass alles nur ein Traum war. Allerdings fühlten ihre Finger eine winzige Wulst, eine Narbe. Sie ging zum Spiegel, und stellte fest, dass sie tatsächlich zwei kleine, rundliche Narben an ihrem Hals hatte. Emma hatte das Gefühl, dass sie einer Ohnmacht nahe war. Alles fühlte sich so unwirklich an, und sie glaubte, dass es auch besser war. Wenn sie fertig war mit dem Ritual würde sie diese zwei Wochen aus ihrem Leben einfach ausblenden, so tun, als ob alles nur ein schlechter Traum gewesen wäre. Denn sie hatte eine Bisswunde am Hals, von einem Vampir, den sie nicht kannte. Sie hatte davon überhaupt nichts mitbekommen. Das könnte heißen, dass sie geschlafen hatte, während der Vampir in ihrem Zimmer stand. Das hieß auch, dass er es jederzeit wieder tun könnte. Panisch sah Emma sich um. Vielleicht war er sogar in diesem Moment im Haus! Sie fühlte sich in ihren eigenen vier Wänden nicht mehr sicher. Wieso hatte Will sie so ungeschützt zurück gelassen? Er war vermutlich der einzige, der ihr helfen konnte, und er ließ sie einfach so im Stich? Ihre Freundinnen wollte Emma nicht mit reinziehen. Außerdem würden Olivia und Paula sicher Fragen zu ihrem unruhigen und panischen Verhalten stellen, die sie ihnen nicht beantworten durfte.
Sie vergewisserte sich ängstlich, dass sich kein Vampir in ihrem Zimmer aufhielt, dann ließ sie sich auf ihr Bett sinken und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen.
Eigentlich hatte Will sie gar nicht im Stich gelassen. Sie hatte ihn vergrault. Sie hatte ihn beschuldigt, wegen dem, was er war. Natürlich fühlte er sich dann gegen den Kopf gestoßen. Vielleicht sollte sie sich einfach entschuldigen… Eine unglaubliche Erschöpfung überkam sie. Emma wusste, dass ihr Adrenalinpegel gerade drastisch gesunken war. Sie hatte es geschafft, sich ein wenig zu beruhigen. Ihr Handy zeigte ihr eine neue Nachricht von Paula an.

Hey, ich hab das aus Erdkunde mit Felicia gehört…
Was war los? Wo bist du? Meld dich mal :*

Emma schrieb zurück, dass alles in Ordnung war und sie einfach nur einen Aussetzer hatte. Paula solle sich keine Sorgen machen.
Als nächstes wählte sie mit klopfendem Herzen Wills Nummer.
„Ja“, sagte Wills rasiermesserscharfe Stimme. Er war immer noch abweisend.
„Hi…“ Emma stockte, sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
„Was ist?“
„Naja, ich habe nachgedacht und… es tut mir leid, was ich zu dir gesagt habe. Du hast Recht, in diesem Punkt unterscheiden wir uns eigentlich gar nicht so sehr. Es ist nur alles so viel auf ein Mal für mich und ich schätze, da hab ich einfach Panik bekommen.“
Will schwieg. Emma befürchtete schon, dass er aufgelegt hatte. Dann sagte er: „Aha.“
„Ich dachte nur, ich sollte dir das sagen…“
„Okay. Wir sehen uns in sieben Tagen.“
Emma hatte nicht damit gerechnet, dass Will nichts dazu sagen würde.
„Warte mal!“
„Was ist denn noch?“
„Was ist, wenn der Vampir zurückkommt und mich beißen will?“
„Die Chancen stehen 20 zu 80, dass er wiederkommt. Schließlich bist du schon dabei, dich zu verwandeln.“
„Ja, aber er könnte wiederkommen!“
„Jaah“, sagte Will gedehnt.
„Wäre das gefährlich?“
„Ja.“
Emma wollte sich lieber nicht ausmalen, was für Folgen das hätte.
„Aber was soll ich denn machen? Wahrscheinlich bringt es nichts, wenn ich die Türen abschließe?“
„Nein“, Will lachte. Dann sagte er etwas freudloser: „Ich komm heute Abend vorbei. Dann gucken wir mal, was wir machen können.“
„Okay.“
„Bis dann“, sagte Will und legte auf. Emma war erleichtert, auch wenn Will sie immer noch sehr gleichgültig behandelte.
Der Abend war schneller da, als sie es sich vorgestellt hatte. Emma hatte ein wenig für die Schule gelernt und kurz mit Olivia und Paula telefoniert. Gegen acht Uhr fragte sie sich, ob Will wohl klingeln würde. Weil sie den Fernseher anschaltete, ließ sie das Fenster offen, damit sie sein Auto vorfahren hören konnte.
Im Fernsehen liefen eine Reality-Tv Show, zwei Quizsendungen, Nachrichten und Musikvideos. Nichts davon erlangte Emmas volle Aufmerksamkeit, oder konnte sie daran hindern, dass ihre Gedanken dauernd zu Will schweiften. Wenn dieses ganze Theater mit den Vampiren nicht gewesen wäre, wer weiß, vielleicht wären sie dann ein Paar geworden? Dann erinnerte sie sich daran, dass er nur den Kontakt zu ihr gesucht hatte, weil er ihr Mentor war und verzog das Gesicht. Sie hörte jemanden neben sich leise lachen und fuhr erschrocken in die Luft. Im nächsten Moment erholte sie sich von dem Schock, aber ihr Herz pochte immer noch so schnell, als ob sie gerade einen Marathon gelaufen wäre. Will saß auf ihrem Bett und amüsierte sich sichtlich über ihre Reaktion.
„Tut mir echt leid, dass ich dich erschreckt habe“, sagte er mit einem Grinsen im Gesicht.
„Mach das nicht noch mal!“, fauchte sie.
„Setz dich doch.“ Er klopfte auf den Platz neben sich auf dem Bett. Sie setzte sich im Schneidersitz so hin, dass sie ihm in die Augen sehen konnte.
„Also, hast du dir was überlegt?“, wollte sie wissen.
„Naja, ich werde hierbleiben.“
„Wie – hier bleiben?“
„Na, hierbleiben und aufpassen, dass kein anderer Vampir dieses Haus betritt.“
„Heute Nacht?“
„Jede Nacht. Bis alles vorbei ist.“
Emma grinste und konnte sich schnell mit dem Gedanken anfreunden, dass er jede Nacht in ihrem Zimmer war.
„Was grinst du denn so?“
„Ach, das ist nur die Erleichterung. Soll ich dir eine Matratze oder so was holen?“
„Wenn ich auf dich aufpassen soll, kann ich schlecht schlafen“, meinte er in ironischem Ton.
„Und wenn, dann müsste ich dir sowieso einen Sarg holen, oder nicht?“
„Nein, eine weiche Matratze reicht mir da völlig“, schmunzelte er.
„Also ist das auch alles Legende, dass Vampire nicht schlafen, und wenn dann nur in ihrem Sarg?“
„Genauso, wie wir uns angeblich nicht im Spiegel sehen können oder beim Anblick von Kreuzen zu Asche zerfallen, ja.“
„Dann kannst du es dir ja später auf dem Sofa bequem machen.“
„Ja, das werde ich. Um wie viel Uhr schläfst du normalerweise?“
„Gegen halb elf.“
„Gut, ich komme dann um viertel nach zehn wieder.“
„Du bleibst nicht?“ Emma musste sich eingestehen, dass sie das ein wenig enttäuschte. Schließlich hatte sie den ganzen Abend nichts zu tun, nicht mal im Fernsehen lief etwas, das sie interessierte. Eigentlich hatte sie gehofft, dass sie einen den Umständen entsprechend lustigen und entspannten Abend mit Will verbringen würde.
„Nein, ich muss noch einige Dinge erledigen. Bis später“
Emma blinzelte und er war verschwunden. Alles, was an sein schnelles Aufbrechen erinnerte, waren die wehenden Vorhänge.
Emma wusste den ganzen Abend nichts mit sich anzufangen. Paula und Olivia waren beide verabredet und unterwegs, ihre Eltern schauten einen langweiligen Spielfilm und Jayden hörte aggressive Musik und wollte nicht gestört werden.
Sie fing an ein Buch zu lesen, dass ihre Tante Cecilia aus Boston ihr zum letzten Geburtstag geschenkt hatte, doch nachdem sie einen Satz fünf Mal lesen musste, und sie den Inhalt immer noch nicht verstand, gab sie es auf. Dann wollte sie aufräumen, aber alles war blitzblank. Also legte sie sich einfach auf ihr Bett und versuchte, sich zu entspannen. Sie dachte über den merkwürdigen Tag nach. Will war tatsächlich ein Vampir und sie war dabei, seinesgleichen zu werden. Während sie diesen Satz dachte, merkte sie, dass sie es noch überhaupt nicht richtig wahrgenommen hatte. Das alles kam ihr so unwirklich vor, wie ein Traum. Man bekam schließlich nicht jeden Tag Dinge erzählt, die über die eigenen Vorstellungen hinaus gingen.
Über diese Gedanken fiel Emma in einen unruhigen Schlaf.
„Emma!“ Sie spürte, dass sie unsanft geschüttelt wurde.
„Au! Lass das!“ Sie schlug mit der Hand nach dem Unruhestifter, doch ihre Hand wurde abgefangen.
„Wach auf!“ Die Stimme war eindeutig wütend aber Emma war noch nicht wach genug, um den Grund festzustellen. „Du kannst doch nicht einfach mit offenem Fenster einschlafen! Willst du ihn provozieren?“
„Wen?“
„Na den Vampir, der dich verwandeln will! Jetzt muss ich nachgucken, ob er dich gebissen hat.“
„Tu das“, murmelte Emma, blieb aber liegen.
Will nahm zum zweiten Mal an diesem Tag ihre Hände. Er schloss die Augen. „Entspann dich bitte vollkommen“
„Ich bin entspannt“ Sie war sogar kurz davor, wieder einzuschlafen.
Er fokussierte seine Kräfte und schickte sie dann durch Emmas Körper.
„Okay er hat dich sieben Mal gebissen, aber die Wunden sind nicht frisch. Er war also nicht da.“
„Sieben Mal?“, nuschelte sie.
„Ja. Hauptsächlich in den Hals und in das Handgelenk. Aber auch ein Mal… in den Oberschenkel.“
Jetzt war Emma schon wacher. „In den Oberschenkel?!“
„Ja, manche Vampire finden, dass das Blut dort am süßesten schmeckt.“
Emma besah sich ihre Handgelenke und sah tatsächlich die zwei kleinen Narben. Sie merkte, dass sie immer noch Jeans und Pulli trug und ging ins Bad, um sich umzuziehen.
Die kleinen Narben bemerkte sie auch, mit einigem Unbehagen ziemlich weit oben an der Oberschenkelarterie. Zu wissen, dass der Vampir sie dort gebissen hatte, verursachte bei ihr ein Gefühl von Angst und Unsicherheit. Wieso hatte sie das nicht bemerkt? Schließlich war sie an dieser Stelle nicht gerade unempfindlich…
Als Emma zurück in ihr Zimmer kam, hatte Will sich einigermaßen wieder beruhigt. Er ermahnte sie lediglich noch ein Mal, die Fenster und Türen zu schließen.
Eigentlich hatte sie noch gehofft, dass sie sich noch ein wenig unterhielten, aber er wollte, dass sie schlief. „Tu einfach so, als ob ich nicht da wäre.“
Sie konnte es sich nicht erklären, aber jetzt, da er da war, fühlte sie sich so sicher und ruhig.
Außerdem spürte sie, sobald sie sich ins Bett legte, eine bleierne Müdigkeit. Der Tag war lang genug gewesen. Emma drehte sich auf die Seite und schlief ein.

Die Sonne schien in Emmas Zimmer, als der Wecker klingelte. Sie hatte hervorragend geschlafen. Wohlig streckte sie sich und drehte sich auf die andere Seite. Sobald sie die Augen aufschlug, kam die Erinnerung zurück und traf sie wie ein Schlag. Sie blickte auf die Ecke, in der Will gesessen hatte, doch da war niemand. Sie stand auf und schaute im Bad und in der Küche nach, doch sie traf bloß ihre Eltern an, die reichlich verwirrt waren, als sie ohne Frühstück wieder nach oben hastete. Hatte sie das etwa geträumt, von Will, der ihr alles Mögliche über Vampire erzählte und über ihre Angst, und wie er schließlich noch zu ihr gekommen war, um auf sie aufzupassen? War sie jetzt verrückt geworden?
Emma überlegte, ob es jemanden gab, mit dem sie darüber sprechen konnte, doch nur Will selbst konnte ihr bezeugen, was geschehen war.
Sie dachte darüber nach, was für Schauergeschichten er ihr aufgetischt hatte und dass sich das alles sehr absurd anhörte. Ihre Einbildung musste ihr einen Streich gespielt haben, eine andere Erklärung fand Emma nicht dafür.
Vampire – so etwas gab es doch gar nicht! Wahrscheinlich fand Emma es unterbewusst nur so traurig, dass Will sie nicht mehr alle hatte. Sie hatte schon häufiger realistische Träume gehabt. Zwar nicht annähernd so, wie es das jetzt der Fall war, doch am nächsten Morgen war sie auch verwirrt und musste sich erst mal orientieren.
Sie dachte erneut darüber nach und musste Lachen bei dem Gedanken, dass sie gerade ernsthaft gezweifelt hatte, ob die Geschichten wahr oder falsch waren.
Emma schob alle unruhigen Gedanken beiseite und begann ihren ganz normalen Tagesablauf. Sie packte ihre Schultasche, frühstückte und setzte sich dann ins Auto. Sie hörte ihren Lieblingsradiosender, sang die Lieder laut mit und dachte an normale Dinge, wie nicht gemachte Hausaufgaben, den bevorstehenden Ausflug zum Trask-River mit ihren Freunden und vor allem den Schulball, der nach den Ferien immer stattfand. Sobald ihre Gedanken auch nur annähernd in Wills Richtung abschweiften, machten sie sofort eine Kehrtwende.
So bog sie schließlich auf den Parkplatz der Tillamook High School ein und begrüßte, wie jeden Tag, Paula und Olivia, die am Eingang auf sie warteten.
Sie plauderten kurz, dann ging Emma mit Paula in den Geschichtsunterricht, während Olivia Englisch hatte.
Mr. Jason war einer dieser Lehrer, die nur zu sich selbst redeten, oder etwas an die Tafel schrieben, weswegen es nie auffiel, wenn seine Schüler sich mit anderen Dingen beschäftigten.
„Weißt du schon, mit wem du auf den Ball gehst?“, fragte Emma Paula.
„Nein.“ Paula hatte selten etwas mit Jungs zu tun. Nicht etwa, weil sie unerfahren wäre, oder schüchtern. Sie war sehr intelligent und eines der hübschesten Mädchen, das Emma kannte. Dementsprechend standen die Typen bei ihr auch Schlange, doch wenn sie einen Kerl hatte, musste er zu ihr passen und war nicht nur eine Eintagsfliege.
„Die Auswahl ist groß“, zwinkerte Emma ihr zu. Paula ächzte.
„Reden wir lieber über dich. Mit wem gehst du, Will?“ lachte sie, um Emma zu ärgern.
„Haha, sehr witzig.“ Sie wollte dieses Thema unbedingt vermeiden und hatte auch vor, ihren Traum so schnell, wie irgend möglich wieder zu vergessen.
Den ganzen Tag über schaffte Emma es erstaunlich gut, sich abzulenken. Sie dachte an alles Mögliche, nur nicht an den vermeintlichen gestrigen Tag. Mit Olivia führte sie eine angeregte Diskussion darüber, welche Farbe sie bei dem Ball tragen sollte, denn schwarz ließ sie so blass wirken, doch in rosa sah sie aus wie ein Bonbon. Um ihr mit ihrer Problematik weiter zu helfen, gingen Paula und Emma nach der Schule mit Olivia shoppen. Tatsächlich fanden sie ein hellblaues rückenfreies Kleid für sie und sogar Emma kaufte ein umwerfendes beiges Kleid, das zwei schmale schwarze Streifen unter der Brust hatte. Einzig und allein Paula war sich nicht sicher, ob sie auf den Ball gehen sollte, schließlich wollte sie einerseits nicht ohne Begleitung erscheinen, war sich aber andererseits noch nicht sicher, ob sie eine passende finden würde.
Die drei setzten sich in ein kleines, gemütliches Café und versuchten, Paula zu überreden.
„Ich werde wahrscheinlich auch keinen Partner haben, ich wüsste nicht, mit wem ich hingehen sollte. Wir zwei können ja alleine gehen“, bot Emma an.
„Was ist mit Dave Mitchell? Ich wette, der fragt dich noch“, erwiderte Olivia. Emma warf ihr einen bösen Blick zu, damit sie den Mund hielt, erstens weil Dave Mitchell ein vollkommener Idiot war, und zweitens, weil sie wollte, dass Paula sie begleitete. Olivia, die nicht mit besonders viel Feingefühl ausgestattet war, plauderte munter weiter.
„Irgendwer findet sich da bestimmt, schließlich seht ihr beide toll aus. Paula, hast du nicht erzählt, dass dich sogar schon einer gefragt hat?“
„Ja, das stimmt, aber…“
„Na siehst du! Dann hast du doch deine Begleitung. Wer war das noch gleich?“
„Bryan Henson, der beste Freund von Dave. Aber ich werde nicht mit ihm…“
„Guck mal, das passt doch perfekt! Die zwei verstehen sich auf jeden Fall, was für eine gute Idee, eure Ballpartner aufeinander abzustimmen, großartig!“
„Olivia, Ich glaube, dass Paula ihm abgesagt hat“, versuchte Emma zu ihr vorzudringen.
„Was? Abgesagt? Aber wieso denn? Zugegeben, er ist nicht der Schönste, aber…“
„Darum geht es mir nicht, Livie.“ Paula unterbrach Menschen normalerweise nur ungern, aber bei Olivia war das manchmal einfach nötig. „Es ist mir nicht wichtig, ob er gut aussieht. Mir ist wichtig, dass er mich als Person mag und nicht mit mir ausgehen will, weil ich beliebt bin, oder gut aussehe, verstehst du?“
Olivia war verwirrt und konnte nicht nachvollziehen, was Paula ihr sagte, das sah man ihr an. Um sie ein wenig zu besänftigen, fragte Emma: „Mit wem willst du denn auf den Ball gehen?“ Das brachte sie wieder auf andere Gedanken und ihr Gesicht fing ein wenig an zu Strahlen. Als sie das merkte, wurde sie rot und sah beschämt auf den Boden. Paula und Emma warteten immer noch auf eine Antwort, als Olivia anfing, herumzudrucksen. „Naja, ich weiß es auch noch nicht.“
„Komm, das kaufen wir dir nicht ab. Ich hab dich doch heute gesehen, wie du mit so einem großen Typ aus der zwölf geredet hast, der hat dich doch bestimmt gefragt.“
„Ja, das hat er schon…“
„Aber?“
„Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht mit ihm gehen will.“
Emma und Paula sahen sich schockiert an. „Wieso das denn?“ Olivia und einem Kerl absagen? Das sah ihr nicht ähnlich, zumal er auch nicht gerade hässlich war.
„Ich will mit jemand anderem gehen.“
„Ach so, du hast schon ein Date, sag das doch gleich.“
„Nein, hab ich nicht.“
Emma und Paula waren jetzt wirklich verwirrt. „Ich versteh das nicht, du sagst einem Typ ab, obwohl du noch keine Verabredung hast?“ fragte Paula nach. Olivia nickte.
„Und der, mit dem du eigentlich hingehen willst, was ist mit dem? Wer ist es? Und warum wissen wir nichts davon?“, wollte Emma wissen.
„Und noch viel wichtiger: Warum hat er dich noch nicht gefragt?“, führte Paula ihre Gedanken weiter.
„Ihr lacht mich jetzt bestimmt aus…Aber ich würde gerne mit Jayden zum Ball gehen.“
„Ernsthaft? Wo du doch so darauf beharrst, dass du nichts von ihm willst?“
„Ich kam mir so blöd vor. Aber er ist süß.“
„Ihr habt doch aber gar nichts miteinander zu tun, oder?“

Emma hatte sich schon umgezogen und fertig gemacht. Jetzt ging sie ins Wohnzimmer zu ihren Eltern, um ihnen eine gute Nacht zu wünschen und sich noch ein Glas Wasser aus der Küche zu holen. Gedankenverloren stieg sie die Treppe wieder herauf. Sie dachte über Olivia und Jayden nach. Die zwei passten wirklich nicht sehr gut zusammen. Olivia war eher oberflächlich, während Jayden dies nicht war. Und gerade jetzt, da seine Mutter gestorben war, ließ er keinen an sich heran. Wie gerade Olivia diese Nuss knacken wollte, war Emma noch nicht klar. Mit den Gedanken bei möglichen Ballpartnern für Paula betrat sie ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Als sie sich umdrehte, durchzuckte der Schock ihre Glieder, sie riss ihre Augen auf und wollte schon schreien, doch in weniger als einer Sekunde drückten sich schon Hände auf ihren Mund, um sie daran zu hindern. Will schaute sie eindringlich an. „Pssst!“, machte er. Emma hyperventilierte fast, so schnell ging ihr Atem. Ihr Puls raste und Will hielt sie immer noch fest. Vielleicht war es auch Einbildung, aber Emma meinte, für einen kurzen Moment beobachten zu können, wie sein Blick an ihrer Halsschlagader hängen blieb.
„Kann ich dich jetzt loslassen?“ fragte er streng.
Emma nickte nur, sie brachte kein Wort zustande. Ihre Knie zitterten und sie setze sich schnell auf ihr Bett. Als sie ihre Sprache wiedergefunden hatte, fragte sie: „Was machst du hier?“ Obwohl sie sich die Antwort schon denken konnte. Das gestern, das war kein Traum gewesen. Tief im Innern hatte Emma es geahnt, befürchtet, dass all das, was sie auszublenden versucht hatte, tatsächlich der Wahrheit entsprach. Aber wahrhaben wollte sie es immer noch nicht.
„Na, auf dich aufpassen. Genau, wie gestern.“ Will war in einer komischen Stimmung, das merkte Emma sofort, trotz ihres hohen Adrenalinpegels, oder vielleicht auch gerade deswegen. Es war eine Mischung aus guter Laune und Reizbarkeit, das hatte sie noch nie erlebt. Irgendwas war da noch an ihm, das sie nicht einordnen konnte.
„Hast du getrunken?“, fragte sie ihn ungläubig.
„Jaa, die Frage ist: was?“ Er verzog sein Gesicht zu einer grinsenden Grimasse und kam ihr näher.
„Will! Ich meinte Alkohol, du wirkst so…komisch.“
„Ja, den hab ich auch getrunken.“
„Alles andere interessiert mich gar nicht.“
„Aber wieso denn nicht? Das könnte deine Natur werden. Es ist viel besser, als du dir vielleicht denkst, Emma.“ Ihren Namen flüsterte er nur noch.
Will hatte sich jetzt auf den Bettrand gekniet. Seine Hände stützte er direkt neben Emma ab und sein Gesicht schwebte nur Zentimeter von ihrem entfernt. Emma konnte es jetzt nicht mehr leugnen, er starrte unverhohlen auf die pulsierende Arterie an ihrem Hals. Ihr Herz begann zu rasen, einerseits, weil von ihm eine Art elektrische Spannung auszugehen schien und andererseits, weil er ihr noch nie so nahe war. Er machte ihr Angst, aber gleichzeitig fühlte sie sich auch gefesselt von seinem Anblick. Sie beobachtete, wie er immer näher kam, unfähig sich zu rühren. Will entblößte seine rasiermesserscharfen Schneidezähne, die größer waren, als der Rest seiner perfekten, weißen Zähne. Alles kam Emma vor, wie in Zeitlupe. Langsam näherte er sich ihrem Hals, bis sie seinen kühlen Atem schon auf ihrer Haut fühlen konnte, was ihr eine Gänsehaut verursachte.
„Will“, flüsterte sie, es war mehr gedachte, als laut ausgesprochen. Doch er hörte sie und schien wie aus einer Trance aufzuwachen. Er zuckte zusammen und innerhalb einer halben Sekunde war er verschwunden.
„Will?“, sagte sie fragend. Aber er war nicht mehr da. In diesem Moment vibrierte Emmas Handy.

Es tut mir so leid, Emma. Das hätte nicht passieren dürfen.
Mach dein Fenster zu. Ich werde heute Nacht hier draußen aufpassen.
Will

Emma wollte nicht, dass Will die ganze Nacht draußen war, schließlich waren es nachts nicht mehr zwanzig Grad. Und wenn sie sich recht erinnerte, hatte sie in dem Moment sogar fast gewollt, dass er sie biss. Sie hatte keine Angst mehr gehabt.

Es ist schon okay, mach dir keine Gedanken!
Aber du musst jetzt wieder reinkommen, ich will nicht,
dass du die ganze Zeit draußen bist.

Prompt erhielt sie eine Antwort. Emma hatte sich sowas schon gedacht.

Nein ich werde nicht wieder reinkommen.
Ich bin eine Gefahr für dich. Gute Nacht.

Wenn Will dachte, dass er damit durchkommen würde, hatte er sich getäuscht. Emma lief zum Fenster und wartete, bis sich ihre Augen an das dunkle Licht gewöhnt hatten. Dann entdeckte sie Will und rief ihm zu: „Als ob du jetzt da unten bleibst! Ich lasse die ganze Nacht das Fenster auf und wenn das immer noch nicht reicht, dann schneide ich mir halt in die Hand, dann kommt der Vampir bestimmt zurück!“
Will stand mit einem Mal vor ihr in der knorrigen Kastanie. „Das wirst du nicht tun. Du wirst reingehen, das Fenster zumachen und schlafen. Mir droht hier keine Gefahr und ich kann auch nicht frieren.“ Emma wusste, dass zumindest der erste Teil gelogen war. Wenn der Vampir zurück kam, dann drohte Will Gefahr.
„Ich finde das nicht schlimm, Will. Ich hatte keine Angst und ich habe mich nicht schlecht dabei gefühlt. Selbst wenn du mich beißt, hätte ich damit kein Problem.“
Will schnaubte. „Du verstehst nicht, wie ernst die Lage ist. Erstens solltest du besser von keinem Vampir mehr gebissen werden, wenn wir die Verwandlung nicht noch vorantreiben wollen und zweitens…“ Emma spürte, dass er angespannt und distanziert war „Zweitens habe ich schon lange nicht mehr so die Kontrolle über mich verloren. Ich hatte ein bisschen was getrunken, na und? Das war nicht viel. Ich war vorhin noch jagen, ich bin nicht hungrig.“ Will sah ratlos aus und Emma hätte ihn am liebsten in den Arm genommen. Doch als sie sich auch nur bewegte, fixierte er seine Aufmerksamkeit wieder auf sie und hing nicht länger seinen Gedanken nach. Er hielt einen sicheren Abstand.
„Du bist jetzt anders drauf als vorhin, du hast dich sicher unter Kontrolle.“ Und um ihm ein schlechtes Gewissen zu machen, fügte sie noch hinzu: „Außerdem hab ich Angst alleine.“ Mit großen Augen schaute sie ihn an, sie merkte wie er weich wurde. Emma streckte ihre Hand nach ihm aus und zögerlich ergriff er sie. Schließlich stand er wieder in ihrem Zimmer und schloss das Fenster. Als er sich zu ihr umdrehte und merkte, dass sie noch direkt hinter ihm stand, nahm er sie kurzerhand auf den Arm und legte sie ins Bett. „Du schläfst jetzt sofort, damit das klar ist.“ Sie grinste ihn an und er machte es sich wieder auf ihrem Sofa bequem, nachdem er das Licht gelöscht hatte.
Emma war schon fast eingeschlafen, da schreckte sie noch ein Mal kurz hoch. „Wirst du morgen früh noch da sein?“
Will schwieg eine Weile, sodass Emma schon befürchtete, dass er wieder weg war. Doch dann antwortete er: „Wenn du das möchtest.“
Sie hauchte noch ein leises „Ja“, dann fiel sie in einen traumlosen Schlaf.

Drei




Der nächste Tag war anders. Emma schien die Sonne heller strahlen zu sehen und meinte Konturen und Details besser zu erkennen. Sie nahm von ihrer Umwelt viel mehr wahr, als sie es für gewöhnlich tat. Das lag daran, dass sie jetzt wusste, dass sie all das konnte – besser sehen, riechen, hören. Sie konnte sogar schneller und länger laufen als die restlichen Schüler in ihrem Sportkurs, ohne dass es ihr etwas ausmachte. Ihre Sportlehrerin, Mrs Layton, lobte sie ausgiebig dafür, besonders, weil Emma sonst nicht gerade nennenswert gute Noten in ihrem Fach erlangte. Dadurch, dass die Lehrer manchmal vor sich hinbrummelten, konnte sie die richtigen Antworten auf ihre Fragen schon vorher hören und sie korrekt beantworten. Alles in allem hatte Emma einen richtig guten Start in den Tag – Will war am Morgen noch dagewesen und dann nach Hause gefahren – bis sie Olivia und Paula beim Mittagessen traf. Emma fiel es schwer, sich auf die Gesprächsthemen der beiden zu konzentrieren, weil ihre Probleme so banal waren. So menschlich. Es war unglaublich schwierig, ihren Freundinnen nicht zu erzählen, was sie seit gestern wusste. Im Prinzip verheimlichte sie ihnen dadurch alles, was im Moment wichtig war für sie. Will war ein Vampir. Emma würde ein kompliziertes Ritual absolvieren müssen, damit sie nicht seinesgleichen wurde. Offenbar wollte ein Vampir sie unbedingt zu einem machen, wodurch sie in Lebensgefahr schwebte. Und letztlich konnte sie auch nicht leugnen, dass sie Will gern mochte…
„Erde an Emma!“ Olivia wedelte mit ihrem Handy vor Emmas Augen herum. „Bist du jetzt dabei oder nicht?“
„Ähm, tut mir leid, wobei?“
Olivia verdrehte die Augen. „Na bei dem Ausflug zum Trask-River am Samstag!“
„Ja sicher. Wer kommt denn mit? Und wann wollen wir losfahren?“
„Bisher wir drei, Chloe und Hailey. Und die beiden nehmen Dave und Andrew mit.“
„Was? Dave und Andrew? Auf keinen Fall!“ Empört sahen sich Paula und Emma an.
„Mit denen haben wir doch fast nichts zu tun, die werden uns nur auf die Nerven gehen!“
„Ach kommt schon, Leute das wird lustig. Außerdem habe ich den Mädels gesagt, dass sie mitbringen können, wen sie wollen. Das ist doch auch blöd, wenn ich ihnen jetzt wieder absage.“
Emma und Paula bedachten ihre Freundin mit einem bösen Blick. Emma war klar, was das bedeutete: Den ganzen Tag lang angegraben werden, auf eine sehr plumpe Art und Weise, und dumme Witze. Wenigstens verstand sie sich mit Chloe und Hailey gut. Die fünf Mädchen kannten sich vom Cheerleading und unternahmen regelmäßig etwas zusammen. Leider waren sie in Sachen Freundschaft wohl nicht besonders anspruchsvoll, da konnte es dann schon mal passieren, dass man mit solchen Machos wie Andrew und Dave abhing.
Eine halbe Stunde später war Emma mit Paula auf dem Weg zu ihrem Geschichtskurs, als Paula lächelnd sagte: „Willst du nicht vielleicht Jayden mitnehmen zum Ausflug? Olivia und er könnten sich dann näher kennen lernen und deine Mutter wollte doch, dass du dich mal mit ihm beschäftigst.“
Emma verzog das Gesicht. „Na ich weiß ja nicht. An sich schon, aber ich glaube kaum, dass er sich auch nur ansatzweise mit Dave und Andrew verstehen wird.“
„Dann soll er halt selbst noch jemanden mitnehmen.“
„Ich werd ihn einfach mal fragen. Wahrscheinlich sagt er sowieso nein.“
Emma sollte Recht behalten. Als sie von der Schule nach Hause kam, traf sie Jayden in der Küche. Ihr großer, gut gebauter Adoptivbruder machte sich gerade am Kühlschrank zu schaffen. Seine dunkelbraunen, für Emmas Geschmack, etwas zu langen Haare fielen nach vorne in seine Augen. Sie startete einen halbherzigen Versuch, ihn einzuladen.
„Hey, Jace. Wir wollten am Samstag mit ein paar Leuten in den Marine Park zum Trask-River fahren. Hast du Lust, mitzukommen?“
Er sah auf und Emma meinte für eine Sekunde den Hauch eines Lächelns auf seinem Gesicht zu sehen, was er aber gleich wieder verbarg.
„Danke für das Angebot, aber ich glaube ich bleibe lieber zu Hause und mache was für die Schule oder so.“
Emma wusste ganz genau, dass er keine Hausarbeiten machen würde, dafür war Jayden einfach nicht der Typ. Vor allem im Moment interessierte ihn die Schule fast noch weniger, als die Wahl des Bürgermeisters von Hongkong. Falls es sowas da überhaupt gab. Sie wollte sich schon umdrehen und gehen, da hörte sie von der Treppe die helle Stimme ihrer Mutter. „Aber Jayden, das kannst du doch Sonntag immer noch machen. Es soll doch so ein schönes Wetter geben und du könntest ruhig auch mal ein bisschen rausgehen.“
„Nein, ist schon okay.“
„Ich möchte, dass du Emma begleitest und ein bisschen Spaß hast. Das ist doch ein sehr netter Vorschlag, oder nicht?“
Jayden schaute auf den Boden. „Doch“, murmelte er.
„Na prima, das freut mich.“ Christine lief strahlend an den beiden vorbei ins Wohnzimmer und schien gar nicht zu bemerken, dass beide die Lösung nicht sonderlich freute.
„Du musst nicht mitkommen, wenn du nicht willst“, sagte Emma leise.
Bevor Jayden ihr antworten konnte, kam Christine zurück und lief geradewegs auf die Treppe zu. „Ah, das habe ich gehört!“, schmunzelte sie. „Natürlich will er mitkommen, das hat er doch gerade gesagt, Schätzchen.“
Damit war die Sache für sie klar. Jayden ging an Emma vorbei, ebenfalls die Treppe hoch und in sein Zimmer, wo er die Tür etwas zu laut hinter sich schloss.
Na toll, dachte sich Emma. Mit den drei Kerlen kann das ja ein super Ausflug werden.
Sie ging ihrerseits auf ihr Zimmer und schmiss die viel zu schwere Schultasche in eine Ecke neben dem Schreibtisch. Dann legte sie sich auf ihr Bett und wählte Paulas Nummer.
„Ja?“, hörte sie die vertraute Stimme.
„Hi, hier ist Emma. Jayden wurde von meiner Mutter dazu verdonnert, mitzukommen.“
„Wirklich?“
„Ja, er war nicht sonderlich begeistert davon.“
„Ach, das wird schon. Kannst du das Auto von deinen Eltern bekommen?“
„Ja, bestimmt. Mehr Leute können wir dann aber wirklich nicht mitnehmen.“ Ihre Eltern hatten einen roten Vw T3, in dem acht Leute Platz fanden.
„Gut, wann wollen wir denn überhaupt los?“
„Naja, so zehn würde ich sagen, oder?“
Paula und ich besprachen noch einige letzte Details, dann wollte sie wissen: „Sag mal, wie weit bist du eigentlich mit dem Aufsatz für Geschichte?“
Aufsatz? Für Geschichte? „Um Himmels Willen! Das hab ich ja ganz vergessen!“ Für diesen Aufsatz hatten sie zwei Wochen Zeit gehabt. Mr Jason hatte ihnen wärmstens ans Herz gelegt, sich damit Mühe zu geben, wenn ihnen ihre Noten etwas wert waren. Der Aufsatz sollte nächste Woche Montag abgegeben werden. Heute war Donnerstag, Emma musste also das Wochenende über pauken.
„Ich mach mich dann wohl besser mal auf den Weg in die Bibliothek“, sagte sie und beendete das Gespräch mit Paula.
Die Bücherei in der 3rd Street war nicht weit von Emmas Haus entfernt, sie lief gerade mal eine Viertelstunde. Der Aufsatz sollte sich um die Geschichte von Tillamook drehen.
Sie betrat das alte Gebäude und ihr schlug der bekannte Geruch von altem Papier und Teppichboden entgegen. Emma setzte sich zielstrebig an einen der Computer, mit denen die Bibliothek seit Neustem ausgestattet war. Sie genoss die Stille, die um sie herum herrschte, nur manchmal blätterte jemand eine Seite um.
Im Suchkatalog konnte sie schließlich einige Bücher ausfindig machen, die ihr mit dem Thema weiterhelfen konnten. Natürlich kannte sie sich selbst aus mit der Geschichte ihrer Stadt, doch sie sollte auch schriftliche Belege finden. Die Bibliothek war nicht besonders groß, deshalb fand Emma das Regal, das sie suchte, schnell.
Sie fuhr mit dem Zeigefinger über die alten, teilweise schon durch Klebeband befestigten Buchrücken, um sich die richtigen Werke herauszusuchen.
Geschichte Tillamooks, Von Käse und Kühen, Tillamook ab 1880, Geographische Studien zu Tillamook County…
Emma war am Ende der Reihe angekommen. Ein Buch stand auf einem Halter, um es hervorzuheben. Sie stutze, da es nicht in dieses Regal zu gehören schien. Doch ihr Interesse weckte es erst, als sie den Untertitel las: „Keltischer Mondkalender – Erfahren sie mehr über Blutmond und Co“.
Blutmond? Hatte nicht Will davon gesprochen? Hatte er nicht gesagt, dass in der Nacht des Blutmondes ihre Verwandlung gestoppt werden würde?
Kurzerhand schnappte sich Emma auch noch dieses Buch aus dem Regal und legte dann der Bibliothekarin Mrs. Liners einen ganzen Stapel von mindestens acht Büchern hin, was ihr auch prompt einen tadelnden Blick einhandelte.
„Die kannst du in einem Monat doch gar nicht alle lesen.“, bemerkte sie und fing seufzend an, die Bücher einzuscannen. Ihr grauer Dutt und die Brille machten sie älter, als sie wirklich war.
Emma bedankte sich bei ihr und machte sich dann auf den Weg nach Hause.
Am liebsten hätte sie schon auf dem Weg in dem Buch über die Monde gelesen, doch sie geduldete sich, bis sie in ihrem Zimmer war, schloss ab und legte sich auf ihr Bett. Das Vorwort überflog sie nur, es erklärte ein bisschen was zur keltischen Kultur. Nach einigen Details zu den Mondphasen fand Emma schließlich, was sie gesucht hatte: Ein Kapitel zu den Monden im Jahr. Es begann mit dem Wolfs- und dem Sturmmond. Der Blutmond war der zehnte, da er der Vollmond im Oktober war.
Im frühen Mittelalter bekam der Blutmond seinen Namen, da im Oktober das Vieh geschlachtet wurde, um über den Winter zu kommen. Alles Essbare wurde gesammelt und konserviert.
Später wurde es üblich, in der Nacht des Blutmondes Blutopfer zu bringen, um die Götter zu besänftigen.
Die Grenze zwischen dem Diesseits und dem Jenseits ist zu dieser Zeit sehr dünn, sodass viele paranormale Phänomene beobachtet werden können.
Der Blutmond ist dem Vampir geweiht. In dieser Nacht fühlt er besonders intensiv.
Er kündigt Veränderungen an.
Emma las den Artikel ein weiteres Mal. Offenbar hatten schon die Kelten um die Existenz der Vampire gewusst. Wieder spürte sie das Bedürfnis, sich jemandem mitzuteilen, Olivia oder Paula anzurufen und von ihrer Lage zu berichten. Doch die einzige Person, mit der sie über dieses Thema reden konnte, war Will.
Sie spürte, wie sie eine Woge der Hoffnungslosigkeit überkam, gegen die sie nichts tun konnte. Emma ließ den Tränen einfach freien Lauf. Bis vor ein paar Tagen hatte sie nichts davon geahnt, dass es so was, wie Vampire gab. Die Ungewissheit plagte sie, dass sie nicht wusste, wer sie zu einem bluttrinkenden, kalten Wesen machen wollte. Wer tat ihr sowas an? Warum ausgerechnet sie? Dies war ein Abschnitt in ihrem Leben, über den sie niemals sprechen können würde, da man sie sonst wahrscheinlich umgehend einweisen würde. Sie stand praktisch ganz allein da.
Inzwischen war es dunkel geworden und Emma war eingeschlafen. Sie hatte das Abendessen verpasst – sie hätte sowieso keinen Bissen herunterbekommen – und auch nicht mit ihrem Aufsatz angefangen. Etwas klopfte jetzt am Fenster und ruckartig setzte sie sich auf, wobei sie sich fast den Kopf an der Dachschräge stieß.
„Emma, mach auf, ich bin‘s!“, hörte sie Wills klare Stimme. Verschlafen versteckte sie das Buch in ihrer Schultasche und öffnete ihm dann, während sie sich durch die verknoteten Haare fuhr.
„Hey, wie spät ist es?“, wollte sie wissen.
„Viertel nach zehn natürlich, hast du schon geschlafen?“
„Schon ist gut. Ich habe…gelernt heute Nachmittag und muss dabei wohl eingeschlafen sein.“
„Geht es dir gut? Du siehst irgendwie blass aus.“
„Ach quatsch, das ist nur das Licht, alle bestens“, sagte sie und versuchte, ihm zuzulächeln. „Wie war dein Tag so?“
„Nicht sonderlich spektakulär, jetzt ist die Zeit, um das Blutohanniskraut zu sammeln, von dem ich dir erzählt habe. Wir waren praktisch den ganzen Tag auf dem Feld.“
„Wir?“
„Ja, mein Vater, meine Mutter und ich. Meine Schwester ist zurzeit im Ausland.“
Emma erinnerte sich, dass er beim Abendessen neulich eine Schwester erwähnt hatte. Das schien so weit zurück zu liegen. Sie hatte überhaupt nicht darüber nachgedacht, ob Will Familie hatte, denn wie war das denn möglich?
„Sind sie auch…“
„Vampire, ja.“
Emma nickte langsam. „Sind sie deine richtigen Eltern?“
Will seufzte, setzte sich auf den Sessel, der gegenüber vom Bett stand und bedeutete Emma, Platz zu nehmen. Verwirrt ließ sie sich auf ihr Bett nieder.
„1814, kurz bevor Napoleon abdankte, lernten sich meine Eltern in Paris kennen. Mein Vater war Soldat und zur Zeit der Besatzung verteilte er Essen an das Volk. Als er meine Mutter sah, stieg er von seinem Wagen ab und zog sie zur Seite. Sie war sehr abgemagert, aber doch auf ihre Art schön. Er gab ihr etwas zu Essen und zu Trinken. Die beiden verliebten sich sofort ineinander und schafften es, zusammen aus Frankreich zu fliehen. Es gelang ihnen, nach Deutschland zu kommen und von dort aus eine mehrwöchige Schiffreise nach Amerika anzutreten. Die Fahrt dauerte lang und war sehr hart, da nicht genug Nahrung für alle Passagiere vorhanden war. Deshalb ging das Schiff von Zeit zu Zeit an Land, um in den Wäldern oder Dörfern nach etwas Essbarem zu suchen. Eines Tages betraten meine Eltern ein Land, welches heute als Marokko bekannt ist. In den Wäldern begegneten sie einem Wesen, dessen Schönheit sie sich nicht entziehen konnten. Wie wir heute wissen, hat es sich um einen Wrykólakas gehandelt. Er entstammt ursprünglich einer griechischen Legende.
Ist jemand zu seinen Lebzeiten ein Werwolf und stirbt unerkannt, wird er als Wrykólakas wiederkehren.“
„Werwolf? Ist das dein Ernst?“ Emma keuchte.
„Ja, vereinzelt gibt es auch heutzutage noch einige, jedoch leben sie eher im Süden.“
Emma mochte sich gar nicht ausmalen, was diese Wölfe den ganzen Tag lang so trieben. Sie konzentrierte sich lieber schnell wieder auf die Geschichte von Wills Eltern.
„ Jedenfalls ist es ist eine Mischung aus beiden Wesen, halb Vampir, halb Werwolf. Er dürstet nach menschlichem Blut. Wird ein Mensch von ihm komplett ausgesaugt, so wie es meinen Eltern zustieß, verwandelt er sich in einen Vampir.
Der Unterschied von den beiden zu einem normalen Vampir, der durch mehrmaliges Beißen verwandelt wird, ist, dass es den beiden durch eine Art künstliche Befruchtung – die natürlich komplett extrauterin verlaufen ist – gelungen ist, meine Schwester und mich zu erschaffen. So gesehen sind wir tatsächlich ihre Kinder.“
„Wow“, entfuhr es Emma. „Aber wenn es wie eine richtige Schwangerschaft abgelaufen ist, wieso wirst du dann nicht älter?“
„Ich entwickelte mich normal, bis zu dem Tag, an dem ich achtzehn wurde. Meine Eltern hatten sich schon gedacht, dass meine Entwicklung irgendwann stoppen würde. Seit diesem Tag bin ich, zumindest körperlich, nicht mehr gealtert. Bei meiner Schwester hat es auch irgendwann aufgehört.“
Emma fand den Gedanken an Werwölfe zutiefst beunruhigend und zwang sich, ihn ganz weit hinten in ihrem Kopf zu lagern. Im Moment hatte sie genügend Probleme, da musste sie nicht noch erst über weitere Fabelwesen nachdenken. Sie spürte, wie sie ein Gähnen unterdrücken musste und ihre Augenlider schwer wurden.
Will sah sie mit einem wachsamen Blick an. „Du solltest jetzt schlafen. Morgen ist schon Freitag.“
Emma schaffte es nicht mehr, sich noch ihre Schlafsachen anzuziehen, oder sich abzuschminken. In dem Moment, in dem sie sich hinlegte und die Augen schloss, war sie auch schon eingeschlafen.
Mitten in der Nacht wachte Emma durch einen Schrei auf und musste feststellen, dass dieser aus ihrer eigenen Kehle kam. Sie spürte einen kalten Windzug und einen Schmerz, der eiskalt und zugleich brennend heiß war. Er schien in ihrem kompletten Körper zu sein, doch der Ausgangspunkt war ihr Hals.
Emma wusste nicht was geschehen war und wollte Will zur Hilfe rufen, doch sie bekam keinen Ton heraus. Ihre Hand schnellte reflexartig an ihren Hals und sie merkte, dass sich eine warme, klebrige Flüssigkeit daran befand. Blut. Und es wurde immer mehr. Sie bemühte sich, ihren zweiten Schrei so gut es ging zu ersticken und drehte sich unter Schmerzen so, dass sie nach Will schauen konnte. Hatte er sie etwa gebissen?
Doch Will saß auf dem Sessel, seine Hände in das helle Polster gekrallt, und sein glasiger Blick war wie in Trance aus dem Fenster gerichtet, welches sperrangelweit offen stand.
Emma knüllte ihre Überdecke zusammen, um sie auf die Wunde zu drücken, aus der unablässig Blut sickerte. Sie versuchte aufzustehen, doch ein Schwindelanfall übermannte sie.
„Will!“, rief sie, erst leise, dann etwas lauter. Er reagierte nicht.
Emma zwang sich dazu, aufzustehen. Wieder kam der Schwindel und ein ungeheures Sausen in ihren Ohren machte sie fast taub. Trotzdem setzte sie mühsam einen Fuß vor den anderen, um das Fenster zu schließen. Mit letzter Kraft drückte sie den Hebel nach unten, der immer etwas klemmte. Dann brach sie auf dem Boden zusammen.
Als sie kurze Zeit später wieder zu sich fand, hatte Will sich bewegt. Sein Blick war immer noch glasig und seine Haltung war immer noch steif. Doch er hatte sein Gesicht zu ihr heruntergebeugt und starrte seinen Finger an, an dem etwas Dunkles herunterlief. Panisch stellte Emma fest, dass das nur ihr Blut sein konnte. Sie hatte sich noch nicht wieder so weit in der Gewalt, dass sie sich bewegen konnte, und so musste sie zusehen, wie Will den Finger scheinbar in Zeitlupe zu seinem Mund führte. Dann roch er daran und sein Gesichtsausdruck veränderte sich zu einem unwirklichen Bild: Er öffnete den Mund, aus dem die zwei Fangzähne lugten, die Emma schon ein Mal gesehen hatte. Seine Augen schienen dunkler zu werden und seine Haut noch blasser, als sie es ohnehin schon war. Schließlich steckte er den blutbeschmierten Finger in den Mund und lutschte ihn genüsslich ab.
Sein Blick war jetzt nicht mehr glasig, er schaute schlagartig in Emmas Augen. Er sah ihre Angst und ein höllisches Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.
Dann ging alles ganz schnell. Will stürzte sich von dem Sessel auf sie, riss ihr die Decke, die Emma panisch umklammerte, aus der Hand und beugte sich zu ihrem Hals.
Sie konnte seinen schnellen, heißen Atem schon spüren, da kam von draußen ein lauter Knall. Will schien innezuhalten, Emma spürte erneut einen Windzug und er stand am anderen Ende des Raums, vor der Tür.
Er keuchte laut, sein Atem ging schnell. Mit vor Schreck geweiteten Augen starrte er Emma an, die immer noch unfähig war sich zu bewegen.
„Oh mein Gott“, flüsterte er kaum hörbar. „Ist alles okay bei dir?“ Er schaute misstrauisch auf Emmas Wunde, offenbar traute er sich nicht, ihr näher zu kommen.
Emma, die es nicht fassen konnte, dass sie noch am Leben war, fand nur mühsam ihre Sprache wieder. „Was…was ist passiert? Ich bin aufgewacht und das Fenster stand offen, ich hatte Schmerzen und ich blute. Und du warst… wie in Trance.“
„Ich hätte dich gerade fast umgebracht! Was ist nur los mit mir.“ Will ließ sich an der Tür herunter gleiten, dabei ließ er Emma nicht aus den Augen. Beide schienen einen Schock erlitten zu haben.
Eine Weile schwiegen beide und Wills gequälter Blick zeugte von seinen Selbstvorwürfen. Dann sah er unvermittelt Emma an.
„Wie geht es dir?“
„Ich weiß nicht, im Moment geht es.“
„Blutest du noch?“
Emma tastete kurz an ihren Hals. „Ich fürchte, ja.“
Will nickte, stand auf und kam langsam näher. Unwillkürlich wich sie ein wenig zurück, und er blieb sofort stehen. „Ich werde dir nichts tun. Ich will dir nur etwas für deine Wunde geben. Zögerlich machte er noch ein paar Schritte auf sie zu und kniete dann neben ihr nieder. Aus seiner Tasche, die neben dem Sessel stand, holte er ein kleines, braunes Fläschchen.
„Was ist das?“, wollte Emma wissen.
„Eine Mischung mit Anis. Das wirkt gegen einen Vampirbiss Wunder.“ Er träufelte einige Tropfen auf die offene Wunde.
Es brannte, wie beim Desinfizieren, und ihr entfuhr ein überraschtes Zischen. Sie konnte sich jedoch schnell wieder entspannen und fühlte sich besser. Langsam richtete sie sich auf, der Schwindel blieb aus. Dann zog sie sich etwas schneller am Sessel hoch und stand schließlich wackelig auf den Beinen. Ein grober Fehler, denn wie sich zeigte, ging es ihr noch nicht wieder so gut, wie sie gehofft hatte. Nur mit großer Mühe konnte sie einen Brechreiz unterdrücken. Sofort stand Will neben ihr, der bemerkt hatte, wie blass sie auf ein Mal war und bugsierte sie aufs Bett.
„Was ist überhaupt passiert?“, fragte Emma kraftlos.
„Willst du nicht lieber erst mal schlafen, bevor wir darüber reden?“
„Ich glaube nicht, dass ich schlafen kann, wenn ich nicht weiß, wer mich angegriffen hat.“
„Ich fürchte, dass derjenige zurückgekehrt ist, der dich verwandeln will.“ Will schaute Emma nicht in die Augen. „Er hat mich in eine Art Trance versetzt und mir befohlen, das Fenster zu öffnen. Danach musste ich mich in den Sessel setzen und konnte mich nicht mehr bewegen. Es tut mir so leid.“
„Hey, du kannst nichts dafür.“ Emma blieb erstaunlich ruhig. „Hast du gesehen, wer es ist?“
„Nein, er war vollkommen vermummt. Er trug einen schwarzen Umhang.“
„Warum hat es dieses Mal so wehgetan? Vorher habe ich ja schließlich überhaupt nichts gemerkt.“
„Ich habe dir doch gesagt, dass es gefährlich werden könnte, wenn dein Macher jetzt zurück kommt und dich noch ein Mal beißt… Der Anis reinigt deinen Körper ein bisschen aber es wird jetzt auch schwieriger werden, die Verwandlung zu stoppen.“
„Das ist doch trotzdem noch möglich, oder nicht?“
„Ja, wenn er dich nicht erneut beißt. Es wird nun aber schmerzhafter werden.“
Emma verzog das Gesicht. Will machte eine Bewegung, als wolle er die Hand nach ihr ausstrecken, ließ sie dann aber wieder fallen. Seine schwarzen Haare lagen unordentlich auf seinem Kopf, und doch sah er perfekt aus.
Er überlegte kurz und runzelte dabei die Stirn. „Es ist nachts hier für dich nicht mehr sicher.“
Überrascht sah sie ihn an. „Du willst, dass ich hier weggehe?“
„Nur bis zum Ritual. Du wirst fürs Erste bei mir schlafen müssen.“
Emmas Herz fing schneller an zu schlagen. Das waren ja keine schlechten Aussichten.
„Mein Vater wird sicher noch einige Schutzmethoden kennen.“
Bei dem Gedanken daran, dass sie fortan in einem Haus voller Vampire schlafen würde, pochte ihr Herz allerdings noch schneller. Sie war gespannt, wie sie aussehen würden und was sie von ihr halten würden. Fanden sie es merkwürdig, dass sie die Verwandlung stoppen wollte? Vielleicht war sie dort gar nicht willkommen? Wo wohnte Will überhaupt?
Er unterbrach ihre Grübelei. „Natürlich werde ich dafür sorgen, dass deine Eltern mit allem einverstanden sind.“
Sie prustete los. „Willst du klingeln und ihnen erzählen, dass du ein Vampir bist, dass ich bei dir aber am sichersten bin?“
Tadelnd blickte er sie an. „Natürlich nicht.“
„Wie willst du sie dann überzeugen, sie kennen dich doch gar nicht.“
„Ich kann ihre Gedanken kontrollieren.“
„So, wie der andere Vampir dich heute kontrolliert hat?“, flüsterte Emma mit aufgerissenen Augen.
„Ja, es funktioniert ähnlich. Sie brauchen mich dafür nicht mal sehen. Aber normalerweise funktioniert so etwas unter Vampiren nicht. Das können nur diejenigen, die wirklich sehr mächtig sind.“
Während Will in seinen Gedanken versunken war, überkam Emma eine Welle tiefer Müdigkeit. Unwillkürlich gähnte sie.
„Oh entschuldige, es ist schon sehr spät. Du solltest jetzt schlafen.“
Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es bereits viertel vor fünf war. Die Sonne würde bald aufgehen. Will löschte das Licht. Sie ließ sich in ihr Kissen sinken und schloss die Augen. Doch als die Bettkante sich hob, schlug sie die Augen wieder auf und flüsterte in die Dunkelheit: „Bitte geh nicht.“
Sie spürte, wie sich jemand wieder auf ihr Bett setze und streckte ihre Hand nach Wills Hand aus.
Er zuckte kurz unter ihrer Berührung zurück, legte dann seine kalte Hand aber wieder in ihre. Emma fiel in einen traumlosen Schlaf.

Als der Wecker am nächsten Morgen unnatürlich laut klingelte, war Will nicht mehr da. Auf ihrem Nachttisch fand Emma eine Notiz mit seiner ordentlichen Handschrift.

Guten Morgen.
Tut mir leid, dass ich nicht mehr da bin,
aber ich muss ein wenig Schlaf von den letzten Tagen
nachholen. Ich werde dich heute Abend gegen zehn Uhr abholen.
Will

Sie konnte ihn verstehen, denn dadurch, dass er sich die letzten Nächte um die Ohren gehauen hatte, um auf sie aufzupassen, fehlte ihm der Schlaf wohl tatsächlich ein wenig.
Emma stieg unter die Dusche und fühlte sich augenblicklich entsannt, als das warme Wasser auf ihre Haut traf. Sie spürte ein leichtes Ziehen am Hals und als sie sich vor den Spiegel stellte, bemerkte sie, dass der Angriff keine kleine, fast unsichtbare Narbe hinterlassen hatte, wie es bisher der Fall gewesen war. Stattdessen hatte sich eine Kruste auf der Wunde gebildet. Die Haut um sie herum hatte einen merkwürdigen Grünton angenommen.
Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, quetschte sich Emma in eine dunkelblaue Jeans und zog ein helles Shirt dazu an. Sie schnappte sich ihren Rucksack, schlang ihr Frühstück im Stehen hinunter und wollte schon fast losfahren, als ihr Handy in ihrer Hosentasche vibrierte. Genervt warf sie ihre Tasche auf die Rückbank und meldete sich.
„Hallo?“
„Hi, hier ist Olivia! Mein Auto geht nicht an, kannst du mich vielleicht zur Schule mitnehmen?“
Fünf Minuten später stieg Olivia auf den Beifahrersitz. Ihre dunkelblonden Haare fielen ihr in Wellen auf den Rücken.
„Oh man, ich bin so froh, dass du mich mitnehmen kannst. Sonst hätte ich laufen müssen, da wäre ich ja heute Abend noch nicht da.“ Die Erleichterung in ihrer Stimme war kaum zu überhören.
Kein Wunder, dachte sich Emma amüsiert, bei den Absätzen die sie immer trägt. Sie stellte das Radio leiser, um nicht so schreien zu müssen. „Und, schon mit Jayden gesprochen?“
„Nein, noch nicht.“
„Bald ist doch schon der Ball. Wie lange noch, drei Wochen? Zwei?“
„In zwei Wochen. Ich weiß einfach nicht, wie ich anfangen soll. Ihr habt ja Recht, wenn ihr sagt, dass wir uns praktisch überhaupt nicht kennen. Und bestimmt hält er mich für oberflächlich.“
So viel Selbstreflektion hätte Emma Olivia gar nicht zugetraut.
„Na dann hast du ja morgen die besten Voraussetzungen, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.“
„Morgen?“ Olivia schaute Emma verständnislos an.
„Ja, am See. Da könnt ihr euch ein bisschen näher kennen lernen.“ Als sie in Olivias weiterhin verwirrtes Gesicht schaute, fiel ihr auf, dass sie es ja noch gar nicht wusste! „Oh, ich hab ganz vergessen, dir zu erzählen, dass meine Mutter Jayden dazu verdonnert hat, uns zu begleiten.“ Sie grinste. Olivia schaute sie erst überrascht an, dann zweifelnd. „Aber Dave und Andrew kommen doch mit! Die verstehen sich doch überhaupt nicht.“
„Na das ist doch perfekt! Dann kümmerst du dich um ihn, ihr habt Spaß und lernt euch besser kennen. Dann kommt es auch nicht ganz so überraschend, wenn du mit ihm auf den Ball gehen möchtest.“
„Hui“, machte Olivia und Emma lachte. Ein warmes Gefühl durchströmte sie. Sie hatte gute Laune und freute sich auf den Ausflug.
„Vielleicht lassen wir euch auch mal kurz alleine“, grinste Emma schelmisch. Olivias Herzschlag beschleunigte sich prompt und Emma registrierte erschrocken, dass sie ihn hören konnte. Bisher war ihr das noch nicht aufgefallen. Außerdem hang ein merkwürdig säuerlicher Geruch in der Luft. Adrenalin, sagte ihr eine Stimme in ihrem Kopf.
Während Olivia nervös drauf los plapperte, konzentrierte sich Emma auf ihre Sinne. Sie konnte schon die Leute vor der Schule reden hören, von der sie noch mindestens zwei Minuten entfernt waren. Sie hörte auch das Piepen der Kassenscanner in dem Supermarkt, der sich zu ihrer Rechten befand.
Dass ihre Sinne so geschärft waren, konnte nur bedeuten, dass die Verwandlung wirklich drastisch voran getrieben wurde durch die letzte Nacht. Ihre gute Laune wurde durch ein unwohles Gefühl ersetzt und insgeheim fand Emma es schade, dass sie Will heute in der Schule nicht begegnen würde.
Nicht, dass sie sich an den anderen Tagen unterhalten hatten, wenn sie sich zufällig auf dem Schulflur begegneten, es sollte ja schließlich niemand Verdacht schöpfen. Aber trotzdem freute sie sich, wenn er ihr zuzwinkerte oder sie leicht anlächelte.
Schnell verscheuchte Emma diese Gedanken, denn inzwischen hatten sie die Einfahrt der Tillamook High School erreicht. Olivia war inzwischen zu Themen wie dem Essen für den Ausflug übergegangen und schien es nicht bemerkt zu haben, dass sie nur mit sich selbst redete. Die beiden Freundinnen trafen Paula am Eingang und setzten sich dann gemeinsam in den Biologieunterricht.
Mr Jackson kam zu spät, doch Emma wusste, dass er vor dem Lehrerzimmer stand und sich mit seiner Frau unterhielt, die ebenfalls an der Schule unterrichtete. Sie zückte ihr Handy und achtete darauf, dass keine ihrer Freundinnen mitbekam, was sie schrieb, doch die beiden waren sowieso in ein lebhaftes Gespräch verwickelt.

Ich glaube, es ist schlimmer, als wir dachten.
Meine Sinne sind unglaublich scharf.
Ich fühle mich nicht gut.
Bis heute Abend.
Sie schickte die Nachricht an Will ab und lies ihr Handy schnell wieder in den Rucksack gleiten, als sie merkte, dass der Lehrer sich näherte.
„Vielleicht haben wir ja frei“, meinte Paula hoffnungsvoll.
„Nein, er ist gleich da.“
„Woher weißt du das?“ Ihre Freundin schaute sie misstrauisch an.
„Hab ihn heute Morgen schon gesehen“, murmelte Emma und hätte sich auf die Zunge beißen können. Tatsächlich betrat Mr. Jackson im nächsten Moment den Raum und Paula wurde von ihren Grübeleien durch einen unangekündigten Test abgelenkt.
Nach dem Test qualmte Emma der Kopf. Sie hatte sich nicht richtig konzentrieren können, denn auf sie stürmten so viele Gerüche und Geräusche gleichzeitig ein, dass ihr schlecht wurde. Der Lehrer hatte ihr erlaubt, ein wenig an die frische Luft zu gehen.
Emma lief den leeren Flur entlang und steuerte zielstrebig auf den großen Innenhof zu. Ihr Kopf dröhnte. Sobald sie die große Glastür aufgedrückt hatte, und die klare, saubere Luft in ihre Lungen strömte, ging es ihr besser. Nicht gut – dafür hätte es sicher noch ein wenig mehr gebraucht, als nur frische Luft – aber immerhin nahm die Übelkeit ein wenig ab. Sie schirmte ihre Augen mit der Hand ab, damit die Sonne nicht so sehr blendete. Emma lief auf eine der Holzbänke zu, wo sie sich hinsetzen wollte, als sie im Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Ruckartig blieb sie stehen und drehte sich um. Ihre Augen mussten sich erst an die Dunkelheit in der Ecke gewöhnen, aus der sie etwas wahrgenommen hatte. Schließlich trat jemand mit schwarzen Haaren und blauen Augen aus dem Schatten – Will. Mit einer Geste bedeutete er ihr, zu ihm zu kommen.
Überrascht sagte sie „Hey“, als sie sich nahe genug bei ihm befand, um die Stimme zu senken. „Was machst du hier?“
Verwundert schaute er sie an. „Auf dich aufpassen, was sonst?“
„Wolltest du nicht schlafen?“
Er knirschte mit den Zähnen. „Ich konnte nicht. Und dann hab ich deine Sms erhalten und bin hergekommen. Es ist stärker geworden, sagst du?“
Emma erzählte ihm von Olivias Herzschlag, dem Adrenalin und ihren offenbar wirklich ausgeprägten Sinnen.
„Wow, das ist wirklich weiter, als ich angenommen hatte. Viel weiter.“ Sein Blick verfinsterte sich und er überlegte einen kurzen Moment, bevor er Emma an den Schultern nahm und sie eindringlich ansah. „Hör mir gut zu, du darfst unter keinen Umständen menschliches Blut trinken, verstanden?“
Verwirrt sah sie ihn an. „Aber das will ich doch auch gar nicht, warum sollte ich das tun?“
„Versprich es mir bitte einfach. Das ist das Wichtigste, was du im Moment beachten musst.“
Er murmelte etwas vor sich hin. „Es ist wirklich äußerst ungünstig, dass es so schnell voranschreitet. Hoffentlich schaffen wir es noch bis zum Vollmond.“
„Was schaffen?“, fragte Emma nach und ein ängstliches Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. Will sah ernst aus, als er ihr antwortete. Zwischen seinen Augenbrauen bildete sich eine leichte Falte. „Wenn es so schnell ist, kann es sein, dass es bis dahin schon zu spät ist. Wenn die Verwandlung schon zu weit fortgeschritten ist, können wir sie nicht mehr stoppen.“
Verständnislos starrte Emma ihn an. „Was meinst du damit, nicht mehr stoppen?“
„Na, dann wirst du ein Vampir.“
Emma schluckte und spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. „Ist das denn wahrscheinlich?“ Sie war sich nicht sicher, ob sie die Antwort hören wollte.
„Im Moment weiß ich es nicht. Es ist ungewöhnlich, dass du dich auf ein Mal so schnell entwickelst, deswegen müssen wir erst abwarten und das beobachten.“
Der Tag zog nur so an Emma vorbei. Vom Unterricht bekam sie nur noch Bruchstücke mit. Nach der Schule ging sie mit Paula zu Olivia. Alle drei Mädchen saßen auf dem großen Bett, welches in der Mitte des Raumes stand, und hatten einen dampfenden Becher Apfel-Tee in der Hand. Eigentlich hatte Paula sich bereit erklärt, den beiden bei ihrem Aufsatz für Geschichte zu helfen, aber Olivia lenkte das Thema lieber wieder auf den Ball. „Paula, hast du dir jetzt schon dein Kleid gekauft?“
„Nein, ich hab ja noch nicht mal eine Begleitung.“
„Naja, ich auch nicht“, fügte Emma hinzu.
„Okay, dann hab ich die perfekte Gelegenheit, eine zu finden!“, strahlte Olivia. „Heute Abend steigt eine Party bei Matt Kelso und wir drei sind eingeladen.“
„Wieso sind wir denn da eingeladen?“, wollte Paula wissen und runzelte die Stirn. Matt war eine Stufe über ihnen und der Quarterback der Footballmannschaft. Um auf eine Party von ihm gehen zu dürfen, musste man normalerweise überdurchschnittlich beliebt, blond und weiblich gebaut sein. Olivia machte eine lässige Handbewegung. „Er hat mich neulich in der Bibliothek angesprochen, hat seine Bücher nicht gefunden.“
Emma bezweifelte, dass er tatsächlich dieses Problem gehabt hatte, und dass Olivia ihm hatte helfen können, aber dass sie beiden sich jetzt kannten, war wirklich nicht schlecht.
„Jedenfalls laufen da mit Sicherheit eine Menge Typen rum, die zum anbeißen sind.“, fügte sie noch hinzu und grinste siegessicher.
„Aber ich kann heute Abend gar nicht“, meinte Emma.
„Wieso das denn?“ Beide guckten sie interessiert an.
„Naja“, fing sie an. „Ich muss einen Spieleabend mit meiner Familie machen.“ Sie konnte ihren Freunden ja schlecht erzählen, dass sie bei Will übernachten würde, auch wenn sie große Lust dazu hatte. Sie fühlte sich nicht wohl dabei, das alles vor ihren Freundinnen geheim zu halten.
„Einen Spieleabend?“ Olivia sah sie entgeistert an. „Den kannst du auch wann anders machen, diese Party wird einfach genial, das ist eine einmalige Chance.“
„Tut mir Leid, meine Mutter ist in letzter Zeit so gereizt, wenn ich da nicht hingehe, bekomme ich wahrscheinlich für den Rest des Monats Hausarrest, weil wir doch alle schon so lange nichts mehr miteinander gemacht haben.“
„Dann musst du halt sagen, dass du Kopfschmerzen hast und dich raus schleichen. Oder weißt du was – ich rufe deine Mutter jetzt an und erkläre ihr den Ernst der Lage. Sie wird das schon verstehen und ihr könnt morgen euren Familienabend machen.“
„Ne lass mal, ich mach das schon selber.“ Emma schnappte das Telefon aus Olivias Hand und verschwand damit ins Bad. Sie schloss die Tür ab, setzte sich auf den Badewannenrand und wählte.
„Was ist los?“, meldete sich Wills dunkle Stimme.
„Hey…ähm, ich weiß, das hört sich jetzt sicher etwas merkwürdig an…aber hättest du was dagegen, wenn ich noch auf eine Party gehe, bevor ich zu dir komme? Meine Freundin zwingt mich förmlich dazu, und wenn ich mir jetzt noch weitere Ausreden überlege, wirkt es bald doch etwas verdächtig.“
„Hmm, auf wessen Party wollt ihr denn gehen?“
„Auf die von Matt Kelso.“
„Ich kenne ihn. Abgesehen von seinem arroganten Gehabe ist er ganz okay. Ich hole dich aber um 12 Uhr ab, verstanden?“
„Danke, das ist toll!“ Emma legte auf. Sie musste zugeben, dass sie sich auch ein bisschen auf die Party freute, schließlich war es nicht gerade ihre gewohnte Umgebung.
Sie lief zurück zu Paula und Olivia. „Meine Mom hat ja gesagt, aber ich muss um 12 Uhr wieder zu Hause sein, weil wir doch morgen auch schon so früh los wollen.“
Olivia jubilierte und auch Paula ließ sich davon anstecken.

Gegen acht Uhr standen die drei Mädchen mit mehr oder weniger pochenden Herzen auf Matts Veranda und warteten darauf, dass er die Tür öffnete.
Olivia trug ein dunkelblaues Kleid, welches kurz über den Knien endete. Paula hatte sich für einen knappen Jeansrock entschieden und Emma hatte ein Kleid an, dessen Farbe von Beige in ein dunkleres Braun überging.
Man konnte die Musik auch von draußen deutlich hören. Schließlich ging die Tür auf und Matt begrüßte sie alle drei mit einer Umarmung, wobei er Olivia besonders lange festhielt. Das Haus schien bis auf den letzten Platz voll zu sein. Matt führte sie in einen schmalen Raum, in welchen sie ihre Jacken legen konnten, dann zeigte er ihnen noch, wo die Getränke standen, und verschwand dann in der Menge. Der Bass wummerte und Emma konnte ihn in ihrem Bauch spüren.
Olivia kannte ein paar Leute und ging sie begrüßen, Paula und Emma nahmen sich erstmal einen roten Becher und füllten sich etwas von der Bowle ein, die in einer großen Schale auf dem Tisch stand.
Emma musste fast husten, als sie einen Schluck davon probierte, da schien es jemand aber sehr gut gemeint zu haben. Suchend sahen sie und Paula sich im großen Wohnzimmer um, ob sie vielleicht jemanden entdeckten, den sie kannten.
„Kann ich euch helfen?“, fragte da eine angenehm tiefe Stimme von der Seite.
Sofort drehten die beiden Mädchen sich erschrocken um. Vor ihnen stand ein gut gebauter, dunkelhaariger Typ, der sie mit einem charmanten Lächeln fragend ansah. Er trug ein schwarzes Hemd – die obersten Knöpfe waren lässig aufgeknöpft – und eine dunkle Hose.
„Ähm, wir sind gerade erst angekommen und wollten uns mal einen Überblick verschaffen“, sagte Emma schnell, um zu verhindern, dass seine Aufmerksamkeit auf Paula fiel, die ihn immer noch anstarrte. Fehlt nur noch, dass sie anfängt, zu sabbern, dachte sich Emma und stieß ihrer Freundin unauffällig mit dem Ellenbogen in die Seite.
„Kann ich euch Gesellschaft leisten?“, wollte der hübsche Unbekannte wissen, und bedachte dabei Paula mit einem Lächeln, bei dem Emma es nicht gewundert hätte, wenn ihre Freundin einen Herzanfall bekommen hätte.
Er stellte sich als Zach vor und sagte, dass er erst vor kurzem hierher gezogen sei, weil er ein altes Häuschen von seinem Vater geerbt hatte. Er war zweiundzwanzig Jahre alt und studierte Wirtschaftslehre. Als er anfing, sich zu erkundigen, was Paula denn so machte, ließ Emma die beiden alleine. Sie füllte ihren Becher bereits zum zweiten Mal nach und befand, dass die Bowle überhaupt nicht mehr so schlecht schmeckte. Sie wollte gerade zu dem länglichen Tisch am anderen Ende des Raumes gehen, auf dem so viel Essen aufgetürmt war, dass es in dieser Nacht sicherlich von niemandem aufgegessen werden konnte, als kreischend Chloe und Hailey auf sie zugestürmt kamen. In der nächsten Sekunde fielen die beiden ihr gackernd um den Hals, offenbar hatten sie schon einiges getrunken.
„Guck mal, Emma!“, sagte Hailey und deutete mit dem Zeigefinger in Richtung der tanzenden Menge. Die meisten Paare sahen so aus, als wollten sie sich gleich hier auf der Tanzfläche an die Wäsche gehen. Schließlich konnte sie aber entdecken, auf was genau Hailey zeigte. Inmitten der tanzenden Menschen waren Matt und Olivia.
„Haben die beiden was am Laufen?“, wollte Chloe wissen.
„Eigentlich nicht, ich weiß nicht“, musste Emma zugeben. So viel also dazu, dass Jayden derjenige war, mit dem sie zum Ball gehen wollte. Eigentlich hätte sie sich das denken können, sie war schon überrascht gewesen, dass ihre Freundin sich überhaupt für ihren Adoptivbruder interessierte, schließlich gehörte er so gar nicht in ihr Beuteschema. Er war weder sonderlich beliebt, noch cool drauf. Natürlich konnte er nett sein, aber er war einfach eher ein Einzelgänger.
„Hey, Ladies!“, riss sie die Stimme von Dave aus den Gedanken. Genervt schaute sie ihn an. Der hat mir ja gerade noch gefehlt!, dachte sie sich.
„Wowowow, Emma, guck doch nicht so böse! Weißt du was, wir zwei trinken jetzt erst mal einen auf alte Zeiten!“ Die zwei hatten früher nebeneinander gewohnt, aber schon damals war Dave genauso ein dummer Idiot gewesen, wie er das jetzt immer noch war. Und wenn es nach ihren Freundinnen ging, war er auch da schon unsterblich in sie verliebt. Emma schüttelte sich bei dem Gedanken.
„Nein, danke“, giftete sie, drehte sich um und stapfte drauf los. Tatsächlich füllte sie sich ihren Becher noch ein Mal neu auf, damit sie etwas zu Trinken in der Hand hatte. Sie wollte sich gerade auf den Weg zur Toilette machen, da fasste eine Hand sie an der Schulter und drehte sie zu sich um. Es war Dave.
„Hey, was hast du denn? Ich dachte, wir sind Freunde.“
Das denkst aber auch nur du, schoss es Emma durch den Kopf und schüttelte seine Hand ab. Sie wusste allerdings, dass er erst Ruhe geben würde, wenn er den Eindruck hatte, dass alles so war, wie er es sich vorstellte, also gab sie sich Mühe, fürs erste freundlich zu ihm zu sein.
„Na klar, sind wir doch auch. Ich bin heute bloß ein bisschen mies drauf… weil ich doch in Geschichte einen Aufsatz schreiben muss. Wahrscheinlich muss ich einfach ein bisschen mehr trinken, dann kann ich mich schon davon ablenken.“ Sie lächelte ihm zu und wollte sich eigentlich umdrehen und gehen, doch für Dave war das anscheinend gar keine Option. „Das ist eine super Idee! Komm, wir holen uns noch was. Ich hab vorhin zufällig in der Küche bemerkt, wie Matt ein paar Flaschen Wodka in den Kühlschrank gestellt hat, wir nehmen uns einfach eine davon.“ Er strahlte, wie ein kleines Kind.
„Du, eigentlich wollte ich gerade ins Bad gehen…“, setzte Emma an, doch sie wurde unterbrochen.
„Ach, hier seid ihr!“ Neben Dave standen jetzt auch Bryan, Andrew, Chloe und Hailey. Auch die beiden Mädchen redeten auf sie ein. „Komm schon, nur ein Glas, das ist doch lustig!“
Emma seufzte und gab auf. Was war schon dabei? Nach einem Glas konnte sie ja einfach aufstehen und wieder gehen.

„Trink, trink, trink!“, riefen mindestens zehn Leute um den Küchentisch im Chor. Emmas Becher war endlich leer und sie knallte ihn auf den Tisch, um triumphierend ihre Arme in die Höhe zu reißen.
„Geschafft!“, rief sie. Bryan hatte, nachdem sie in der Küche angekommen waren, behauptet, dass Emma viel weniger vertragen würde, als er und irgendwie war daraus ein richtiger Wettbewerb geworden. Sie hatte all ihre Gegner geschlagen und durfte sich nun „Trink-Königin“ nennen, wie Dave stolz verkündete. Um sie noch mehr zu ehren, drückte er ihr einen Kuss auf die Wange, doch Emma stieß ihn weg. „Dave! Lass das!“ Während er vor sich hinfluchte und sich den Ellbogen rieb, mit dem er gegen eine Tischkante gekommen war, streifte Emmas Blick die große Wanduhr.
Scheiße, schon zehn vor zwölf!, bemerkte sie erschrocken. Wie sollte sie denn jetzt noch rechtzeitig nach Hause kommen? Schnell stand sie auf und lief, trotz des plötzlich eisetzenden Schwindels, weiter in das Wohnzimmer, wo die Musik inzwischen von rockig auf langsam gewechselt hatte. Die Tanzfläche in der Mitte des Raumes war nicht mehr ganz so voll und so konnte Emma Paula schnell erkennen. Sie tanzte tatsächlich mit diesen Zach, den sie am Anfang kennen gelernt hatten. Sie gab ihrer Freundin zu verstehen, dass sie jetzt gehen musste und lächelte ihr zu. Der Kerl musste wirklich Gold wert sein, wenn Paula sogar mit ihm tanzte.
Olivia hingegen war nicht zu sehen, genauso wenig, wie Matt. Emma konnte sich schon denken, wo die beiden waren und schüttelte den Kopf.
Sie holte ihre Jacke und zog sie, als sie in die kühle Nachtluft trat, noch etwas enger um ihre Schultern, damit ihr nicht kalt wurde.
Ihre Absätze hallten von den Häusern wider, als sie die Straße hinunter lief. Tatsächlich hatte sie viel zu viel getrunken und zu dem besorgniserregenden Schwindel kam noch ein nerviges Piepen in ihren Ohren.
Genüsslich atmete sie die klare, kühle Luft ein, als sie ein Knacken hinter sich hörte. Erschrocken wirbelte sie herum, doch außer der schwach beleuchteten, leeren Straße konnte sie nichts erkennen. Wahrscheinlich nur Einbildung, Emma. Du solltest demnächst nicht mehr so viel trinken, redete sie sich ein. Einige Meter lang konnte sie sich davon überzeugen, dass sie alleine auf der Straße war, doch dann meinte sie ein Kribbeln im Nacken zu spüren, so als ob sie jemand beobachtete. Erneut drehte sie sich um und vergewisserte sich, dass sie allein war. Trotzdem beschleunigte sie ihren Schritt und blickte mehrmals panisch über die Schulter. Deswegen konnte sie auch nicht sehen, dass jemand vor ihr auf die Straße trat. Sie rannte direkt in die Männergestalt hinein.
„Buh!“, machte er und Emma fing gleichzeitig an zu schreien. Ihr wurde eine Hand auf den Mund gepresst. „Hey, ich bin’s doch nur!“, sagte Dave und sie konnte sich wieder einigermaßen beruhigen.
„Musst du mich so erschrecken?“, fauchte sie.
„Tut mir leid“, stammelte er, offenbar ebenfalls betrunken. „Ich wollte bloß nicht, dass du alleine nach Hause gehen musst, das ist doch gefährlich!“
„Ich kann ganz gut auf mich selber aufpassen, danke!“ Emma wollte weitergehen, auch wenn es ihr nicht gelang, geradeaus zu laufen.
„Was geht hier vor?“, wollte eine schneidende Stimme wissen.
Oh nein, dachte sich Emma. Will hatte sie offenbar gehört und wartete jetzt nicht mehr vor ihrer Haustür auf sie, sondern stand direkt hinter ihr. Sie drehte sich um und öffnete den Mund, um zu antworten, als sie bemerkte, dass diese Frage gar nicht an sie gerichtet war, sondern vielmehr an Dave, der erst um seine Fassung ringen musste, war Will doch scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht. Emma musste lächeln, da er sich offenbar so um sie sorgte. „Ist schon okay, er hat es nur gut gemeint“, versuchte sie ihn zu besänftigen.
„Sei still!“, fuhr er sie an. Offenbar sorgte er sich doch nicht so sehr. Er brauchte sie nicht anzusehen, denn Emma wusste genau, dass er stocksauer auf sie war. Das Lächeln entglitt ihrem Gesicht schlagartig.
Dave hatte offenbar seine Sprache wiedergefunden, denn er baute sich vor Will auf – versuchte es zumindest, denn er war immer noch einen halben Kopf kleiner, als er – und sagte: „Wieso sprichst du so mit ihr? Was glaubst du, wer du bist? Gehst erst mit ihr aus, um sie dann dreckig abzuservieren und ihr das Herz zu brechen?“
Emma fragte sich, wie er darauf kam, dass Will sie abserviert hatte, denn schließlich war es anfangs umgekehrt gewesen. Und dass er ihr auch noch das Herz gebrochen haben sollte – also bitte!
„Dave, er hat nicht…“, setzte sie an, doch er hörte sie gar nicht und fuhr unbeirrt fort.
„Sowas hat sie doch überhaupt nicht verdient! Sie verdient etwas viel Besseres als dich, du…eingebildeter Schnösel!“
Emma sah von hinten, wie Will anfing, zu zucken, zuerst dachte sie, er bebe vor Wut, doch dann wurde ihr klar, dass er lachte. Dave sah ebenso verwirrt drein. Dann verebbte sein Lachen ruckartig.
„Ich habe sie nicht abserviert, geschweige denn ihr das Herz gebrochen“, sagte er mit fester Stimme.
„Du denkst vielleicht, dass sie eines dieser Mädchen ist, mit denen du dich ein Mal kurz vergnügen kannst, um sie dann fallen zu lassen, aber sie ist besonders!“ Dave war immer noch in Rage.
Emma meinte ein leises „Ich weiß, dass sie besonders ist“ zu hören, doch im nächsten Moment stand Will schon direkt vor Dave und legte die Hände an seinen Nacken. Eine Schrecksekunde lang dachte sie, dass Will ihn umbringen wollte, aber dann fing er an, zu sprechen.
„Ich will, dass du jetzt nach Hause gehst. Du hast Emma und mich nie zusammen gesehen und wirst nie wieder ein Sterbenswörtchen darüber verlieren, ist das klar?“
Daves Gesicht war inzwischen ausdruckslos geworden und er nickte.
„Schön“, sagte Will und klopfte ihm kumpelhaft auf die Schulter. Dann drehte er sich um und lief geradewegs an Emma vorbei.
„Komm!“, rief er ihr noch zu, ohne sie anzusehen.
Die restlichen zehn Minuten, die sie noch bis zu ihrem Haus brauchten, liefen sie schweigend. Emma konnte seine Wut schon fast schmecken.
Zu Hause angekommen schloss sie ganz leise die Tür auf – sie wusste ja nicht, was Will ihren Eltern erzählt hatte. Vielleicht hatte er sie genauso hypnotisiert, wie Dave gerade eben? Sie schnappte sich ihre kleine Tasche, in die sie bereits das Nötigste gepackt hatte, und lief damit nach unten. Will wartete im Auto auf sie.
„Ich hoffe, du weißt, wie spät es ist.“
Überflüssigerweise warf Emma einen Blick auf die Uhr und musste erschrocken feststellen, dass es schon zwanzig vor eins war.
„Tut mir leid“, sagte sie zerknirscht. Sie spürte immer noch diesen Schwindel und es kostete sie einige Anstrengung, die Wörter normal auszusprechen.
„Weißt du eigentlich, was ich mir für Sorgen gemacht habe? Du hättest tot sein können, Emma, tot!“ Wills Stimme war inzwischen zu einem Schreien herangewachsen.
„Ich hätte dich niemals auf diese Party gehen lassen sollen.“
„Ja, Papa“, sagte Emma mit einem Grinsen im Gesicht.
Will starrte sie für einen kurzen Moment ungläubig an, dass sie so frech zu ihm war. Dann verfiel er in eisernes Schweigen.
„Pass auf, dass du an deiner Wut nicht erstickst!“
„Wie bitte?“
Emma hätte fast gesagt, dass sie vergessen hatte, dass das gar nicht geht, weil Vampire doch nicht atmen mussten, aber sie konnte sich gerade noch so auf die Zunge beißen.
„Am liebsten würde ich jetzt anhalten und dich aus dem Auto schmeißen!“, rief er. „Aber das kann ich nicht, weil ich dein Mentor bin und ich die Verantwortung für dich habe! Du solltest froh sein, dass ich dir die Chance gebe, die Verwandlung zu stoppen, ich hätte dich auch einfach schutzlos und nichtsahnend verrotten lassen können! Dann würdest du entweder jetzt sterben, oder nach der Verwandlung, weil du nicht wüsstest, was du tun musst. Also rette ich hier dein Leben, und du hast lieber deinen Spaß und veralberst mich dann auch noch?“ Inzwischen waren die beiden vor einem großen, alleinstehenden Haus angekommen und Will knallte die Autotür zu.
Als er sah, dass Emma immer noch wankte, bildete sich eine leichte Zornesfalte zwischen seinen Augenbrauen.
„Weißt du eigentlich, dass du verdammt heiß aussiehst, wenn du so sauer bist?“, flüsterte Emma, wohlwissend, dass er sie hören konnte.
Im nächsten Moment bereute sie es direkt. Verdammt, habe ich das gerade wirklich gesagt?, schoss es ihr durch den Kopf. Blöder Alkohol!
Er sah sie erst irritiert an, doch er fand seine Fassung schnell wieder.
„Mein Gott, bist du betrunken“, sagte er und nahm sie, samt der Tasche, kurzerhand auf den Arm, um dann mit übermenschlichem Tempo auf die weiß gestrichene Veranda zuzulaufen. Es gab keine Klingel, nur einen altmodischen Türklopfer aus Messing. Will balancierte Emma kurz mit seinem Knie aus, um mit der freien Hand den Türknauf zu drehen. Als er sie in der großen Eingangshalle herunterließ, standen ihr gegenüber drei Personen – genauer gesagt, Vampire. Emma blickte in die Runde und wünschte sich prompt, nicht so viel getrunken zu haben.

Vier




Emma gab sich alle Mühe, sich zusammenzureißen. Sie hatte überhaupt nicht daran gedacht, dass Will sie später seinen Eltern vorstellen wollte. Jetzt stand sie hier und sah sicherlich aus, roch und sprach, wie…wie jemand, der viel Alkohol getrunken hat, eben. Sie lieferte einen perfekten ersten Eindruck ab. Nachdem sie diesen Gedanken gefasst hatte, wurde sie direkt rot.
Will hatte offenbar auch gar nicht vor, sie seiner Familie vorzustellen, denn er rauschte an Emma vorbei, die Treppe hoch, und ließ sie einfach stehen.
Verwundert schaute die dunkelhaarige Frau ihm nach. Die blonde, deren Locken wild ihr Gesicht umspielten, trat einen Schritt auf Emma zu und streckte ihr die Hand hin.
„Mach dir nichts aus ihm, manchmal ist er eingeschnappt, wie ein kleines Kind. Ich bin übrigens Zoey, die Schwester.“
Emma riss sich zusammen, lächelte und ergriff die Hand. „Ich bin Emma.“
Von Nahem betrachtet bemerkte sie, von welch leuchtendem Grün die Augen von Wills Schwester waren. Hinter sie traten jetzt auch die beiden anderen Vampire, welche seine Eltern sein mussten. „Ich möchte mich für das Verhalten meines Sohnes entschuldigen, ich kann mir nicht erklären, warum er sich so aufführt.“, sagte seine Mutter, die sich als Sharon vorstellte. Sein Vater hieß Ephraim.
„Möchtest du vielleicht etwas trinken?“
Emma zögerte kurz und als Zoey das merkte, lachte sie. „Wir haben alles da: Saft, Milch, Cola…“
„Ein Wasser wäre gut, danke.“
Das hübsche Mädchen führte sie durch einen Durchgang in eine Küche. Unter der Decke hing ein Kronleuchter und die hellbraun gestrichenen Wände schmückten geschmackvolle Stillleben von Landschaften und Obstschalen.
„Was ist denn passiert, dass er sich so aufregt?“, fragte Zoey mit einem Grinsen im Gesicht.
„Naja“, stammelte Emma. „Ich bin wohl etwas spät dran gewesen, weil ich noch auf einer Party war.“
Beschämt schaute sie auf den Boden und war etwas verwirrt, als Wills Schwester laut auflachte.
„Ich dachte schon, es wäre Gott-weiß-was vorgefallen. Aber du bist nur zu spät gekommen. Oh man, er nimmt diese Sache wirklich ziemlich ernst. Naja, er ist generell mehr der ernste Typ, aber er übertreibt es gerne ein bisschen. Diesen Hang zur Melodramatik hatte er schon immer.“
Emma war froh, dass Zoey das alles offenbar nicht so eng sah, sie hatte schon befürchtet, dass Wills Familie sie jetzt für unnormal halten würde. Dankbar nahm sie das Glas Wasser entgegen, das Zoey ihr hinhielt und trank in hastigen Schlucken.
Die Vampirin sah sie forschend an. „Wieso willst du eigentlich ein Mensch bleiben? Als Vampir hättest du doch so viele Vorteile!“
Mit dieser Frage hatte Emma gerechnet. Sie stellte ihr Glas auf den Küchentisch und setzte sich. Zoey nahm ihr gegenüber Platz.
„Ich habe mein ganzes Leben hier, es ist wirklich alles schon schlimmer geworden, seit ich überhaupt weiß, dass es euch gibt. Also ich meine, ich muss vor allen Geheimnisse haben, und meine Freundinnen sogar anlügen. Und ich will nicht zusehen, wie meine Familie stirbt, oder Blut trinken.“
Ihre Gesprächspartnerin hatte einen faszinierten Ausdruck in ihren Augen. „Versteh mich nicht falsch, ich will nicht, dass du das Gefühl hast, dich vor mir rechtfertigen zu müssen. Aber ich bin als Vampir auf die Welt gekommen, ich kenne es nicht anders. Deswegen finde ich es sehr interessant, zu wissen, was das Menschsein für Reize hat. Aber ich meine, als Vampir bist du schneller, du kannst besser sehen und hören. Du bist unsterblich und kannst deswegen alles machen, wozu du Lust hast. Du kannst sogar Einfluss auf den Geist mancher Leute nehmen.“
„Mancher? Nicht von allen?“
„Nein, die Menschen, die einen starken Willen haben, lassen sich von normalen Vampiren nicht beeinflussen. Nur, wenn der Vampir sehr mächtig ist, funktioniert das.“
„Und können Vampire sowas auch untereinander machen? Ich weiß ja nicht, wie viel Will dir erzählt hat, aber letzte Nacht…“
Da wurde Emma unterbrochen. „Kommst du jetzt, oder willst du lieber noch ein bisschen plaudern? Ich dachte, du müsstest morgen früh raus?!“ Will stand im Türrahmen und seinem Tonfall zufolge war er immer noch wütend. Wenigstens die Zornesfalte zwischen den Augen hatte sich gelegt.
„Was war denn letzte Nacht?“, wollte Zoey mit hochgezogenen Augenbrauen wissen. Offenbar hatte Will nichts erzählt.
„Nichts“, sagte er knapp, nahm Emma am Arm und zerrte sie förmlich mit sich.
„Au, das tut weh!“ Sie versuchte sich, aus seinem Griff zu befreien, aber er war viel stärker, als sie. Als sie schließlich vor der großen Wendeltreppe standen, die ein Geländer aus dunklem Holz besaß, stand Zoey auf ein Mal vor ihnen.
„Was ist letzte Nacht passiert?“
„Nicht das, was du denkst!“, knurrte Will und versuchte, an ihr vorbeizukommen.
„Was denkt sie denn?“, wollte Emma wissen und schaute ihn fragend an. Trotz des Wassers hatte die Wirkung des Alkohols noch nicht nachgelassen.
Genervt schaute Will sie an, doch Zoey zwinkerte Emma zu. „Genau, was denke ich denn?“
„Ich habe wirklich keine Lust auf eure Spielchen. Ist ja toll, dass ihr euch so gut versteht, ich werde jetzt schlafen gehen.“
Er wollte schon gehen, doch Emma hielt ihn fest. „Das kannst du nicht!“
„Was kann ich nicht?“
„Schlafen gehen! Du musst auf mich aufpassen! Sonst…“
„Sonst?“,fragte Will provokant.
„Sonst kommt einer der Ritter und sperrt dich ein!“ Zoey grinste über das ganze Gesicht.
„Ähm, ein Ritter?“, wollte Emma wissen.
„Du weißt nicht, was ein Ritter ist? Du kennst unser System nicht?“ Wills Schwester warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. „Was hast du ihr denn noch alles nicht erzählt? Ritter sind ein bisschen so was, wie die Polizei bei euch. Es ist Gesetz, dass der Mentor sich um seinen Schützling kümmern muss, bis er fertig verwandelt ist. Tut er das nicht, und der König bekommt irgendwie davon Wind, kommen die Ritter und sperren ihn ein. Und dann bekommt er seine gerechte Strafe.“
„König?“ Emma kam sich total dumm vor.
„Ja, was dachtest du denn? Wir brauchen auch ein funktionierendes System, sonst würde ja jeder machen, was er will.“
„Das hättest du mir ruhig auch mal erzählen können!“ Emmas Blick war nun ebenfalls missbilligend, doch als sie in Wills Gesicht sah, das verriet, dass er wahrscheinlich gleich platzen würde, fügte sie hinzu: „Ookay, wir zwei gehen dann wohl besser mal hoch, ist ja auch nicht soo wichtig.“ Sie wünschte Zoey, die leise vor sich hin kicherte, noch eine gute Nacht und ging dann an Will vorbei die Treppen hoch da er noch keine Anstalten machte, sich zu bewegen. Oben am Treppenansatz angekommen fand sie sich auf einem langen Flur wieder, auf dessen Holzboden ein roter Teppich ausgerollt war, um die Schritte zu dämpfen. Auch hier zierten die Wände Bilder, hier allerdings handelte es sich um Schlachten und Portraits von Frauen und Männern, die auf altmodischen Sesseln saßen. Emma wusste nicht, in welcher Richtung sich Wills Zimmer befand und so lief sie einfach nach rechts los, da der Gang auf dieser Seite heller ausgeleuchtet war. Ein Windstoß zog an ihr vorbei und mit einem Mal stand Will drei Meter vor ihr, was sie zusammenzucken ließ. Als Will bemerkte, dass er sie erschreckt hatte, huschte ihm ein kleines Grinsen übers Gesicht, welches jedoch schnell wieder verblasste. Er öffnete die Tür und Emma folgte ihm in einen mit Holz vertäfelten Raum. In der Ecke stand ein Bett aus dunklem Kirschholz und die Fenster waren von fließenden weißen Seidenvorhängen bedeckt. Noch bevor sie die herrliche Aussicht über den angrenzenden Wald genießen konnte, schlug Will etwas zu laut die Tür zu und fing an, auf und ab zu laufen. Emma setzte sich aufs Bett und schaute ihm eine Weile dabei zu. Unter dem grauen Shirt kamen seine Muskeln perfekt zur Geltung und seine blauen Augen sahen rastlos aus, als er stehen blieb und sie ansah. Wie von selbst standen Emmas Beine auf und liefen ein paar Schritte, bis sie direkt vor ihm stand. Sein Blick war fragend und weich zugleich, von seiner Wut war nichts mehr zu sehen.
Sie stellte sich leicht auf die Zehenspitzen und näherte sich Wills Gesicht. Er beugte sich etwas zu ihr hinab und schließlich spürte sie seine kühlen Lippen auf ihren. Emma keuchte, griff in seinen Nacken und zog ihn näher zu sich heran, während er einen Schritt zurück gegen die Wand drängte. Emma schlug die Augen auf, als er – eine Hand links und eine rechts neben ihrem Gesicht – plötzlich seine Position veränderte und sie hochhob, als wäre sie so leicht, wie eine Feder. Er trug sie in sein Bett und lag schließlich über ihr. Wills Küsse wurden drängender, doch als Emma ihm sein Shirt über den Kopf ziehen wollte, hielt er inne und fing leise an, zu fluchen. Schließlich sprang er auf und verließ den Raum.
Völlig perplex richtete Emma sich auf und versuchte, ihr schnell pochendes Herz zu beruhigen.
Als Will nur zwei Minuten später wieder hereinkam und sie keines Blickes würdigte, sagte sie: „Willst du mich eigentlich verarschen?“
„Nein, Emma, ich will dich nicht verarschen!“ Die Wut war wieder in seine Stimme zurückgekehrt. Sie fragte sich, ob sie daran schuld war, aber sie konnte keinen Grund finden. Sie hatte ihn geküsst, ja, aber er war schließlich nicht abgeneigt gewesen!
„Und was soll das dann?“, fragte sie, nun ebenfalls zornig.
„Du bist betrunken und das hätte niemals passieren dürfen, das weißt du! Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass zwischen uns nichts laufen darf! Weißt du eigentlich, was das für Folgen hat? Wenn das irgendjemand herausfindet, werden wir beide umgebracht!“
„Wie bitte? Du gibst mir daran die Schuld? Du hättest mich auch einfach wegstoßen können!“
„Jedenfalls darfst du niemandem davon erzählen, auch nicht meiner Schwester. Und so etwas wird nie wieder vorkommen.“ Will blickte sie jetzt mit einem eindringlichen Blick an und zum zweiten Mal an diesem Abend hatte er die kleine Zornesfalte im Gesicht.
Emma versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr er sie mit seinen Worten verletzte und gab trotzig zurück: „Schön, ich würde dich sowieso nie wieder küssen!“
Sie stand auf, um zu ihrer Tasche zu gehen und holte ihre Schlafsachen heraus. Dann begann sie, sich bis auf die Unterwäsche auszuziehen.
„Was machst du da?“, fragte Will und sie spürte seinen Blick auf ihrem Rücken.
Mit hochgezogenen Augenbrauen drehte sie sich zu ihm um und antwortete: „Da zwischen uns sowieso nichts mehr laufen wird, kann ich mich auch direkt hier umziehen, oder stört dich das etwa?“
Will murmelte etwas Unverständliches und seine Augen funkelten vor Zorn.
Fertig umgezogen legte sie sich in das große Bett, während Will schon auf einem eher unbequem aussehenden Stuhl Platz genommen hatte. Sie drehte sich zur Wand, damit er nicht sehen konnte, wie ihr Gesicht sich langsam entspannte und sich hinter der Maske, die sie in den letzten zehn Minuten aufgesetzt hatte, das Gefühl der Zurückweisung breit machte.
Der Schwindel hatte sich inzwischen auf ein leichtes Drehen minimiert und so fand Emma schon nach zehn Minuten in den Schlaf.

„Aufstehen, Emma! Das Frühstück ist fertig!“, flötete eine hohe Stimme und rüttelte leicht an ihrer Schulter. Schlaftrunken drehte sie sich von dem Störenfried weg, doch der Duft von frischen Brötchen hing in der Luft und, ohne, dass sie etwas dagegen tun konnte, fing ihr Magen laut an zu knurren. Jemand lachte hinter ihr. Emma kniff die Augen zusammen und konnte Zoey erkennen, die ihr eine dampfende Tasse Kaffee hinhielt.
„Du willst doch nicht zu spät zu deinen Freunden kommen, oder? Nachher stellen sie noch unpassende Fragen.“ Mit einem Schmunzeln fügte sie noch hinzu: „Also Will hätte dich ja weiterschlafen lassen.“
Emma murmelte „Danke fürs Wecken“, quälte sich mühsam aus ihrem Bett und nahm dankbar den Kaffeepott entgegen.
Zoey lief inzwischen schon gut aufgelegt zum Fenster und riss die Vorhänge zur Seite, sodass das Licht genau auf Emma fiel. Es schien unglaublich hell zu sein und ihr Kopf begann sofort zu dröhnen.
„Zieh dir einfach was über und komm dann runter. Aber beeil dich.“ Mit diesen Worten verließ Wills Schwester den Raum und Emma war allein. Sie wühlte in ihrer braunen Tasche nach frischen Anziehsachen und schlüpfte schließlich in ein ärmelloses Top und eine kurze Hose. Es war draußen noch erstaunlich warm für die Jahreszeit. Sie trat auf den langen Flur und hätte die Suche nach dem Bad sicher schnell aufgegeben, wenn sie es nicht hinter der zweiten Tür gefunden hätte. Nachdem ihre Haare gebürstet waren und ein hoher Zopf sie bändigte, lief Emma in die Küche, wo Zoey mit dem Rücken zu ihr stand und Spiegeleier briet.
„Setz dich ruhig“, sagte sie, ohne sich umzudrehen.
Emma tat wie geheißen und nahm sich ein Brötchen. Dabei sah sie sich suchend um. „Wo ist der Rest deiner Familie?“
„Will hat gesagt, er müsse etwas erledigen. Er war ganz schön mies drauf, was hast du denn nur mit ihm angestellt?“, fragte sie neckisch, doch Emma wurde direkt rot.
„Oh, es ist tatsächlich etwas passiert?“ Zoeys Augenbrauen schossen in die Höhe. Sie legte ein Ei auf Emmas Teller und eines auf ihren eigenen.
„Nein, es ist nichts passiert. Er war sicherlich nur noch sauer wegen der Party.“ Emma senkte den Blick. Ihr schossen Bilder von der letzten Nacht durch den Kopf. Auch wenn sie etwas verschwommen waren, spürte sie sofort einen merkwürdigen Stich im Herzen.
Zoey gab sich mit dieser Antwort offenbar zufrieden, denn sie schob sich eine große Gabel Spiegelei in den Mund und sagte dann kauend: „Und meine Eltern essen nicht. Nicht vielen Vampiren schmeckt die menschliche Nahrung, mir aber schon. Ich liebe es! Es ist so abwechslungsreich! Natürlich braucht mein Körper es nicht, aber es ist eine nette Abwechslung zum Blut.“
„Will hat gesagt, ihr trinkt kein Blut, sondern ernährt euch von dieser Pflanze…“
„ Menschenblut, ja. Allerdings sehen wir es sozusagen als Ergänzungsmittel an. Unsere Ernährung besteht nur fast zur Hälfte daraus.“
„Oh“, machte Emma, doch Zoey redete unbeirrt weiter. „Wohin soll euer Ausflug denn gehen?“
„Zum Marine Park.“
„Ach wie schön. Wollt ihr mich nicht mitnehmen?“, schmollte Zoey gespielt. Emma lächelte.
„So, wir müssen los. Da der liebe Herr Bruder sich lieber um seine eigenen Sachen kümmert, werde ich dich nach Hause fahren. Ich hoffe, das stört dich nicht.“
„Nicht im Geringsten.“ Emma war tatsächlich froh, dass sie Will heute noch nicht hatte sehen müssen.
Zehn Minuten später saßen die beiden in Zoeys rotem Mini und um viertel vor zehn war Emma zu Hause. So hatte sie noch Zeit, die Sachen für den Ausflug einzupacken, die sie brauchte. Außerdem belud sie das Auto schon mit Handtüchern, Stühlen und Proviant. Sie nahm einige ihrer Lieblingscds mit und gerade, als sie auch noch das schwarze Radio im Kofferraum verstauen wollte, standen Olivia und Paula vor der Tür. Die drei umarmtem sich fröhlich. Noch bevor jemand das Gespräch auf den gestrigen Abend bringen konnte, kamen Hailey und Chloe mit den beiden Kerlen um die Ecke. Bevor sie jedoch losfahren konnten, musste Emma tatsächlich noch ein Mal an Jaydens Tür klopfen, damit er mitkam. Alle hatten sich schon in den Bulli hinein gequetscht, weswegen Jayden sich direkt neben Olivia setzen musste, welche ihn prompt anfing, in ein Gespräch zu verwickeln. Emma musste grinsen. Dann setzte sie sich auf den Fahrersitz und startete den Motor.
Die Fahrt dauerte nur zwanzig Minuten, da der Park nur etwas außerhalb lag. Auf dem Weg redeten alle durcheinander und lachten. Auch Jayden konnte sich ein wenig integrieren, was größtenteils Olivia zu verdanken war. Man merkte jedoch, dass zwischen Dave, Andrew und Jayden keine große Freundschaft entstehen würde.
Das Wetter war nahezu perfekt: wolkenloser, blauer Himmel, 25 Grad Außentemperatur und fast kein Wind.
Sie stellten das Auto auf einem Parkplatz ab und legten dann den kurzen Marsch durch den Wald mit Gepäck beladen zu Fuß zurück. Durch den Park floss der Trask-River und als sie eine Stelle gefunden hatten, die nicht weit davon entfernt war, breiteten sie ihre Decken aus.
Dave rief: „Wer als letzter im Wasser ist, ist ne lahme Ente!“, und ausgelassen, wie sie alle waren, stiegen alle darauf ein. Emma streifte schnell ihre Kleidung ab – den Bikini trugen alle schon in weiser Voraussicht drunter – und rannte, so schnell sie konnte, auf das nahe Ufer zu. Olivia, die versucht hatte, sie zu überholen, quietschte, weil Emma schneller als sie war. Tatsächlich überholte sie auch noch Chloe, die im Langlaufteam der High-School war und letztendlich auch noch Jayden, Andrew und Dave.
„Erster!“, rief sie ausgelassen und streckte die Hände in die Luft, doch nur Bruchteile einer Sekunde später kam auch Dave an und drückte sie spielerisch unter Wasser. Als sie schließlich wieder hoch kam, waren alle schon im Wasser und spritzten sich gegenseitig nass, doch Jayden schaute sie mit großen Augen an. Schnell wandte sie den Blick ab. Sie hatte ganz vergessen, dass sie sich vielleicht ein bisschen zurückhalten sollte, da sie aufgrund ihrer Verwandlung natürlich schneller war, als alle anderen. Doch bevor sie sich näher darüber Gedanken machen konnte, tauchte Dave unter und unter ihr wieder auf, so dass sie auf seinen Schultern saß. Erschrocken versuchte sie, das Gleichgewicht zu halten.
„Hey, lass mich wieder runter!“, protestierte sie, und strampelte vergeblich mit den Füßen. Dave lachte nur. Jemand spritzte sie jetzt auch noch von hinten mit Wasser nass und Emma quietschte erschrocken, was Dave als Anlass nahm, um sie über seine Schulter ins Wasser zu werfen.

Eine halbe Stunde später saßen Paula und Emma auf der großen Picnicdecke, die sie ausgebreitet hatten. Olivia war mit Jayden noch im Wasser geblieben und auch Chloe und Hailey alberten mit ihren beiden Begleitern herum.
„Man könnte fast meinen, dass Hailey auf Dave steht“, bemerkte Paula trocken, die sich in ein Handtuch gehüllt hatte und gerade ihre nassen Haare bürstete. Dass sie nicht im Zopf waren, war für Emma ein seltener Anblick, doch es stand Paula wirklich ausgezeichnet. Emma grinste sie an. „Was mich nur wundert, ist, wie sich Olivia verhält“, fügte sie nachdenklich hinzu.
„Ja, das ist erstaunlich, oder? Ich habe sie noch nie so…natürlich gesehen.“
„Nein, ich meine nicht, wie sie sich verhält, sondern, dass sie überhaupt sowas mit Jayden macht. Schließlich hatte sie gestern Abend doch noch was mit Matt, da hatte ich gedacht, dass sie sich umentschieden hat.“
Paula sah sie mit einem überraschten Blick an. „Wie? Davon weiß ich gar nichts!“
„Naja, seitdem wir angekommen sind, hat Matt sich doch an sie rangemacht. Deswegen waren wir ja überhaupt erst eingeladen. Und später, als ich gegangen bin, waren beide auf mysteriöse Weise verschwunden.“
Zu Emmas Überraschung lachte Paula. „Die beiden hatten doch nichts miteinander! Olivia ist früher gegangen, als du, weil Matt sie küssen wollte. Sie hat ihm aber einen Korb gegeben. Und deswegen hast du sie auch nicht mehr gesehen.“
„Oh, wirklich?“ Emma war erstaunt. „Na dann hab ich mir ja umsonst Gedanken gemacht.“
In diesem Moment wurde ihre Aufmerksamkeit durch ein Schreien von Hailey unterbrochen, die Andrew unter Wasser tauchte. Lächelnd schaute sie dem Spektakel eine Weile lang zu, bis sie sah, wie Dave und Andrew kurz in ihre Richtung guckten und offenbar geheimnistuerisch tuschelten. Emma spitzte ihre Ohren, um die beiden verstehen zu können. Sie schaffte es tatsächlich, obwohl die beiden ein gutes Stück weit weg von ihr waren und dazu noch flüsterten. Sie ertappte sich bei dem Gedanken, dass ihre geschärften Sinne doch gar nicht so schlecht waren.
„Ich frage sie, wenn du fragst!“, meinte Andrew gerade zu Dave und deutete leicht in ihre Richtung. Oh nein, dachte Emma. Bitte nicht das, was ich denke!
„Alles klar!“, grinste Dave und die beiden liefen aus dem Wasser auf die beiden Mädchen zu. Emma stupste Paula mit dem Ellenbogen in die Seite und sagte: „Komm, wir gehen ins Wasser!“
„Aber wir waren doch gerade erst!“, meinte Paula. „Lass uns später noch mal gehen.“
Fieberhaft überlegte Emma nach einem Vorwand, möglichst viel Abstand zwischen sich und die beiden Jungs zu bringen, die, da war sie sich sicher, sie fragen wollten, ob sie nicht Lust hätten, sie zum Ball zu begleiten.
„Okay, ich muss mal, kommst du mit? Ich trau mich nicht, alleine in den Wald zu gehen!“
„Alles klar!“ Paula sprang auf und Emma zog sie schnell hinter sich her. Sie rief noch über ihre Schulter „Wir gehen mal eben ins Gebüsch“, dann wurden sie schon von den Bäumen verschluckt. Im Schutz der Äste und Zweige drehte sie sich noch einmal um und sah die verblüfften Gesichter von Dave und Andrew. Innerlich kicherte sie.
Sie suchten sich eine geeignete Stelle und Emma vergewisserte sich, dass kein Spaziergänger ihren Weg kreuzte, während Paula im Gebüsch verschwand, als sie eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahrnahm.
„Ähm, Paula…“
„Ja?“
„Ich würde mich beeilen! Da ist jemand, den du kennst, weißt du?“
„Na und?“
„Naja, er kommt hierher!“
Genervt seufzte sie auf und sagte ironisch: „Kann man nicht einmal in seinem Leben in Ruhe ins Gebüsch gehen?“
Sie konnte ja nicht ahnen, dass der Kerl, der sich gestern Abend als Zach vorgestellt hatte, und mit dem sie den ganzen Abend getanzt hatte, fast schon neben Emma stand und Paulas Satz genau gehört hatte.
„Tut mir sehr leid“, sagte er und lachte leise. In diesem Moment kam Paula hinter dem Busch hervor und blieb wie angewurzelt stehen, als sie Zach entdeckte.
„Oh!“, sagte Paula und wurde rot. „Was machst du denn hier?“
„Naja, wie man vielleicht sehen kann, wollte ich baden gehen.“
„Ganz alleine?“
„Ja, mir war so warm und ich wohne hier in der Nähe. Ich wollte nur einmal schnell ins kühle Wasser springen.“
„Willst du uns vielleicht Gesellschaft leisten?“, beeilte sich Emma zu fragen, und erntete dafür von Paula einen dankbaren Blick, denn sie selbst brauchte in Zachs Gegenwart offenbar länger, um vollständige Sätze zu bilden.
„Mh, wieso eigentlich nicht.“ Er lächelte charmant.
Schnell gingen sie zurück zum Fluss und Paula schien ihre Sprache wiedergefunden zu haben, denn Zach beherrschte es offenbar genauso gut wie Olivia, die Menschen in ein Gespräch zu verwickeln. Auf der Decke saß Jayden und Emma beschloss, sich zu ihm zu setzen, während die anderen beiden in Richtung Wasser liefen.
„Hey“, sagte sie, und ließ sich neben ihm fallen. „Ist doch schön hier, oder nicht?“
„Ja“, kam es zurück.
„Du verstehst dich ganz gut mit Olivia, oder?“
„Mhh.“
Da Jayden offenbar nicht sehr gesprächig war – was vielleicht daran lag, dass sein Gesprächsbedarf für die nächsten zwei Tage schon von Olivia abgedeckt wurde – beschloss Emma, sich hinzulegen, die Augen zu schließen, und die Sonne auf der Haut zu genießen. Sie wollte gerade über Kopfhörer mit ihrem Handy Musik hören, da stellte sie fest, dass sie eine Nachricht hatte. Gespannt öffnete sie sie. Als Emma sah, dass der Absender Will war, schlug ihr Herz etwas schneller. Vielleicht wollte er sich für gestern entschuldigen und hatte erkannt, wie sehr er sie verletzt hatte?
Nein, hatte er offenbar nicht. Seine Nachricht war knapp.

Wie viel Uhr heute Abholen?

Er hatte sich noch nicht ein Mal die Mühe gemacht, einen ganzen Satz zu bilden. Emma war enttäuscht. Sie wusste ja, dass die zwei keine Beziehung eingehen durften. Doch sie hatte nicht mit solchen Konsequenzen gerechnet! Und offenbar hatte ein kleiner Teil von ihr insgeheim gehofft, dass es nicht stimmte. Dass er sie troztdem wollte. Sie hatte gedacht, dass er das gleiche fühlte, wie sie…
Von Dave wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Er schüttelte seine nassen Haare absichtlich so, dass Emma nass wurde.
„Na warte!“, rief sie und sprang schnell auf die Füße. Eine wilde Verfolgungsjagd begann und Dave rannte im Zickzack vor ihr weg. Mühelos hätte sie ihn einholen können, aber sie wollte nicht noch mehr auffallen. Dave lief in den Wald und blieb nach kurzer Zeit atemlos stehen. Er beugte die Knie etwas und stützte seine Hände auf die Oberschenkel.
„Ha, hab ich dich!“, lachte Emma, als sie neben ihm stand. Plötzlich packte Dave sie am Arm und drückte sie gegen einen Baum, neben dem sie gestanden hatten.
„Und was willst du jetzt mit mir machen?“, fragte er. Sein Gesicht war ihrem ganz nah und ihre Körper waren so dicht aneinander gepresst, dass nicht mal mehr ein Blatt Papier zwischen sie gepasst hätte.
„Dave…“, setzte sie an, doch er legte seinen Zeigefinger auf ihre Lippen.
„Wir kennen uns schon so lange. Und immer, wenn ich dich ansehe, dann kribbelt es in mir. Es ist ein gutes Gefühl, ich muss dich einfach ansehen. Ich freue mich jedes Mal, wenn du mich grüßt und ich muss dauernd an dich denken.“
In Emma wuchs die Panik. Dieser Dave, der gerade vor ihr stand, war ganz anders, als der, den sie kannte. Er schien liebevoll und zärtlich zu sein und lies keinen einzigen seiner Macho-Sprüche ab. Und doch: das hier sollte offenbar ein ausgewachsenes Liebesgeständnis werden. Emma wollte sich gerade los machen, da merkte sie, wie er sich immer weiter näherte. Sie war zu perplex, um sich wehren zu können. Solche Worte hätte sie Dave niemals zugetraut.
Sie konnte seinen süßen Atem riechen und spürte kurz darauf seine Lippen auf ihren. Sie waren warm, ganz im Gegensatz zu Wills, und weich. Erst nach ein paar Sekunden konnte Emma sich wieder zusammenreißen und schob Dave entschieden von sich weg.
„Hör auf damit!“, sagte sie in einem Tonfall, der ihn offenbar verletzte. Im ersten Moment sah er überrascht aus, dann senkte er den Blick.
„Was ist hier los?“, ertönte plötzlich eine männliche Stimme direkt neben ihnen. Zu Emmas Überraschung stand dort Jayden, die Hände in die Hüften gestemmt.
„Hast du sie zu irgendetwas gezwungen?“, zog er voreilige Schlüsse, als er Daves Blick sah.
„Nein, hat er nicht, Jace. Es ist ok.“ Emma versuchte zu schlichten. Mit ihrer Abfuhr schien sie Dave sehr verletzt zu haben, und das tat ihr wirklich leid. Sie empfand aber einfach nicht dasselbe für ihn.
„Ich denke, es ist besser, wenn du zurück gehst!“, sagte Jayden zu ihm. Tatsächlich schlich er mit hängenden Schultern davon. „Also, was ist passiert?“, wollte Emmas Adoptivbruder von ihr wissen.
„Er hat mir bloß gesagt, dass er…etwas für mich empfindet. Dann hat er mich geküsst und ich habe ihn weggestoßen, mehr war nicht.“
„Der? Empfindet etwas?“ Offenbar war Jayden genauso überrascht, wie Emma. Doch dann sah er sie argwöhnisch an.
„Ich wollte gerade etwas zu Essen aus der Kühlbox holen. Gehst du schon mal zurück zu den anderen?“
„Wo hast du denn Olivia gelassen?“, fragte Emma neckisch. Böse blickte er sie an.
„Magst du sie?“, versuchte sie es weiter.
„Sie ist…nett.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und lief in Richtung Auto. Immerhin hatte er wenigstens ein bisschen mit ihr über seine Gefühle geredet, das war ein Fortschritt, versuchte Emma sich einzureden. Sie ging langsam zurück zu den anderen und sah schon von Weitem, dass Paula und Zach auf der Picnicdecke lagen und redeten. Emma grinste sie an und Paula streckte ihr unauffällig die Zunge raus. Um die beiden nicht zu stören, ging sie ins Wasser zu den anderen vier. Daves mied es, in ihrer Nähe zu sein und er schaute sie nicht direkt an. Es war ihm nicht zu verdenken.
Einige ganze Zeit später fing es bereits an, zu dämmern. Sie waren ausgeschwärmt, um geeignetes Holz für ein kleines Feuer zu sammeln und mittlerweile brannte es. Hailey und Chloes kramten gerade zwei große Tüten Marshmallows aus ihren überdimensionalen Taschen, welche unter Jubel von Dave und Andrew geöffnet wurden. Paula saß direkt neben Zach. Obwohl er nur vorhatte, kurz zu bleiben, war er immer noch da und es sah nicht so aus, als hätte er vor, noch vor uns zu gehen. Paula, die nun wieder einen Zopf trug, hatte sich an seine Schulter gelehnt. Jayden saß Emma gegenüber und neben ihm hatte sich Olivia niedergelassen. Die beiden schienen sich gut zu unterhalten, was Emma zum lächeln brachte. Es wäre wirklich schön, wenn die beiden sich weiterhin so gut verstanden, denn sie scheinen sich gegenseitig gut zu tun, fand sie.
Dave schien sich mit Hailey abzulenken und Emma selbst saß zwischen Chloe und Andrew. Alle hielten geduldig ihre Marshmallows in Feuer, bis sie hellbraun waren. Dazu machten eine Packung Butterkekse und eine große, undurchsichtige Saftflasche die Runde. Als sie Emma erreichte, schraubte sie sie auf und roch daran. Alkohol. Sie nahm einen großen Schluck und stellte erleichtert fest, dass der Orangensaft den Geschmack des Wodkas fast komplett überdeckte. Sie trank noch ein bisschen, reichte die Flasche dann aber an Chloe weiter. Schließlich sollte der Abend nicht so enden, wie gestern .Beim Gedanken daran, dass sie Will heute noch sehen würde, fing ihr Herz wieder an, sich zu beschleunigen.
„Hey Emma, gleich tropft dein Marshmallow ins Feuer!“ Andrew stieß sie an, um sie aus ihren Gedanken zu reißen. Tatsächlich war er schon sehr flüssig. Angewidert musste Emma feststellen, dass er an einigen Stellen sogar schon eine fast schwarze Kruste gebildet hatte. Sie pflückte ihn von ihrem Spieß und warf ihn weg. An die vielen Sinneseindrücke hatte sie sich inzwischen einigermaßen gewöhnt. Ihr wurde nicht mehr schlecht und Kopfschmerzen bekam sie von dem Brummen der unzähligen Geräusche auch nicht mehr.
Nach einer Weile sagte Andrew: „Wir haben in der Kühlbox im Auto noch mehr zu trinken. Ich geh mal was holen.“ Er drückte mir die Flasche in die Hand, von der er einen großen Teil getrunken hatte und erhob sich. Mit hastigen Schlucken trank ich den Rest und stellte die leere Flasche dann neben mich ins Gras. Das Feuer knisterte und in der Ferne hörte man leise die Grillen zirpen.
„Jetzt fehlt nur noch, dass jemand eine Gitarre rausholt und schöne Lieder singt“, sagte Chloe lachend zu mir. Ich stimmte in ihr Gelächter mit ein. Eigentlich war es ein wirklich schöner Ausflug gewesen, bis auf die unangenehme Sache mit Dave vielleicht. Alle hatten ihren Spaß gehabt und Olivia und Paula schienen im Moment glücklich zu sein.
In diesem Moment roch ich einen wunderbar süßlichen Duft. Es duftete fast wie…ach, es war unbeschreiblich! Allerdings schien er aus einiger Entfernung zu kommen.
„Riecht ihr das auch?“, fragte Emma in die Runde und alle schauten sie überrascht an.
„Was meinst du?“, wollte Paula wissen.
„Ich weiß nicht, irgendwas riecht hier gut.“ Emma stand auf und lief in Richtung Wald, um den Ursprung zu finden.
„Wohin gehst du?“, rief Jayden ihr alarmiert hinterher.
„Ich hab was im Auto liegen lassen“, antwortete sie. Als sie sich sicher war, dass die anderen sie nicht mehr beobachteten, lief sie mit fast unmenschlicher Geschwindigkeit los. Der Geruch führte einige Meter durch den Wald, dann wurde er auf ein Mal schwächer. Ich bin zu weit gelaufen, wusste Emma. Sie drehte sich um und erblickte Andrew, der sein Knie ansah. Sie musste schon in der Nähe des Parkplatzes sein.
„Hey, was ist los?“, fragte Emma und Andrew richtete sich auf.
„Ich bin gestolpert und hingefallen“, sagte er, versuchte aufzutreten und verzog dann vor Schmerzen das Gesicht.
„Hey, das sieht ja ganz schön übel aus. Und es blutet echt stark. Komm, setzt sich da vorne hin!“ Sie half ihm, zu einer Bank zu humpeln, die ein paar Meter weiter stand. Dann kniete sie sich hin und begutachtete sein Knie.
„Kannst du mir vielleicht ein paar Tücher aus dem Auto holen, damit es aufhört, so zu bluten?“, fragte Andrew, doch Emma nahm ihn gar nicht richtig wahr. Sie hockte vor seinem Knie und schaute gebannt dabei zu, wie die dunkelrote Flüssigkeit aus den langen Kratzern sickerte. Ihr war nun klar, woher der süße Duft kam. Sie saß mit ihrer feinen Nase direkt davor. Es war das Blut.
„Emma?“ Andrew schaute sie fragend an. Mit aller Gewalt riss sie sich los und lief zum Auto. Sie fand die Tücher schnell, konnte sich aber nicht dagegen wehren, dass sie auf dem Weg an mindestens fünf verschiedene Methoden dachte, wie sie ihn aussaugen könnte, ohne dass es den anderen auffiel. Jedes Mal, wenn sie daran dachte, wie sie ihre Lippen auf das blutende Knie legen und saugen würde, bekam sie ein intensives Ziehen im Unterbauch. Es war nicht dasselbe, wie körperliches Verlangen, doch trotzdem erregte es sie. Zusätzlich fühlte sie sich, wie ausgehungert. Das liegt daran, dass du heute fast noch nichts gegessen hast, wollte sie sich einreden. Doch insgeheim wusste sie es besser. Will hatte sie davor gewarnt, Blut zu trinken. Doch als sie überlegte, dass sie vielleicht nicht wieder zu Andrew und seinem blutenden Knie zurückkehren sollte, war es schon zu spät. Denn sie stand direkt vor ihm. Sie hatte die Tücher zwar in der Hand, hatte aber nicht vor, damit die Wunde zu versorgen. Der Duft hatte sich noch verstärkt und Emmas Kiefer begann zu schmerzen. Langsam ging sie in die Hocke. Fasziniert starrte sie auf das Knie und näherte sich ihm langsam. Sie hörte es schon gar nicht mehr, dass Andrew sie fragte, was sie da tat. Sie schloss die Augen und sog den Duft des Blutes gierig in sich auf. Dann näherte sie sich noch weiter und streckte vorsichtig die Zunge aus, um es zu probieren.
In diesem Moment hörte sie ein aggressives Knurren. Dann wurde sie umgeworfen und lag rücklings auf dem Waldboden. Ein Stein bohrte sich in ihren Rücken und jemand schweres lag auf Emma. Sie knurrte ihrerseits. Wer wollte sie davon abhalten, Andrews Blut zu trinken? Sie war fast außer sich vor Wut.
„Hast du sie noch alle beisammen?“, fuhr Will sie an, der immer noch auf ihr lag, um sie an der Flucht zu hindern. Zur Antwort knurrte Emma weiter. Doch als sie ihren Mund schloss, bemerkte sie, dass sie einen kleinen Tropfen des Blutes tatsächlich auf der Zunge hatte! Nur kurz genoss sie das Feuerwerk, das schon dieser kleine Tropfen in ihrem Mund verursachte. Ihre Gesichtszüge veränderten sich und Will bemerkte es.
„Nein!“, rief er. „Emma, du musst es ausspucken!“
Doch es war zu spät. Emma schluckte und sofort schien ihr Körper explodieren zu wollen. Sie fühlte sich unglaublich stark und schön. Sie fühlte sich, als könnte sie alles schaffen! Und vor allem war da wieder dieses Ziehen im Bauch, welches diesmal allerdings Will galt. Ohne nachzudenken und schnell, wie der Blitz, rollte sie Will von sich runter, sodass er auf dem Boden lag. Dann legte sie sich auf ihn. Jetzt, da sie oben lag, dachte sie, dass er ihr nicht so schnell entwischen konnte. Sie beugte sich zu ihm hinunter und wollte ihn gerade leidenschaftlich küssen. Will war jedoch viel stärker als sie. Mit übernatürlicher Geschwindigkeit packte er Emma, brachte beide auf die Beine und drückte sie gegen einen Baum, wie Dave nur wenige Stunden zuvor. Will jedoch war die Wut in die Augen geschrieben. Er brüllte: „Emma, beruhige dich! Du musst dich konzentrieren! Am besten auf irgendetwas Abstoßendes, egal was, aber du musst wieder zu dir kommen!“
Erst dachte sie gar nicht daran, sich zu beruhigen, doch dann merkte sie, wie er in ihren Kopf eingedrungen war.
Wieso bist du in meinem Kopf? Du hast mir gesagt, dass das nur geht, wenn wir uns auf das Gleiche konzentrieren! Vorwurfsvoll sah sie ihn an.
Es war nicht sonderlich schwer zu erraten, dass du dich auf Blut konzentrierst.
Emma spürte, wie ein Bild in ihren Kopf kam, das nicht aus ihren eigenen Gedanken stammte. Will zeigte ihr verschiedene Bilder, von denen er hoffte, dass sie sie dazu bringen würde, sich zu beruhigen. Sie sah eine dreckige Kanalisation, Menschen, die sich übergeben mussten, riesige Spinnen und sogar offene Wunden. Ob ekelig oder nicht – Will hatte seinen Zweck erfüllt. Emma hatte sich wieder beruhigt und konnte wieder klar denken. Sie sah, dass Andrew immer noch wie angewurzelt genau da stand, wo sie ihn gelassen hatte. Er starrte sie mit großen Augen und offenem Mund an. Emma gab sich Mühe, den Blick nicht runter zu seinem Knie wandern zu lassen und bemerkte dann, dass Will noch immer dicht gepresst an sie stand und ihr in die Augen sah. Es war, als wäre sie aus einer Trance aufgewacht.
„Kann ich dich jetzt loslassen?“, fragte er ruhig.
„Ja“, flüsterte sie.
Er ging zu Andrew und tat mit ihm offenbar dasselbe, was er auch am Vorabend mit Dave gemacht hatte. Er legte die Hände in Andrews Nacken und sah ihm eindringlich in die Augen. Dann sagte er mit einer fast schon monotonen Stimme: „Ich werde jetzt deine Wunde versorgen. Wenn du danach mit Emma wieder zurück zu den anderen läufst, wirst du dich nicht mehr daran erinnern, was du gesehen hast. Du bist bloß auf dein Knie gefallen und Emma hat dir geholfen, es zu versorgen…“
Mitten im Satz brach er ab und drehte sich zu Emma um. „Du hast Dave geküsst?“
„Wie…nein! Er hat mir gesagt, dass er Gefühle für mich hat und mich einfach geküsst! Aber ich habe ihn weggeschoben. Und woher weißt du das überhaupt?“
„Ich habe es in Andrews Kopf gesehen.“
„Und selbst wenn es so wäre, was würde es dich interessieren!“, fauchte sie.
Will ging nicht auf sie ein, sondern wandte sich wieder seinem Hypnose-Opfer zu. Andrew schien keinen starken Willen zu besitzen. Er redete noch ein bisschen auf ihn ein, während von seinem Gegenüber nur Nicken kam. Will drückte ihn wieder auf die Bank und versorgte mit den Tüchern, die er immer noch in der Hand hatte, sein Knie. Emma sah lieber in eine andere Richtung, bis er fertig war. Dann stand Will auf und kam zu ihr.
„Ich habe dir doch gesagt, dass du unter keinen Umständen Blut trinken darfst! Und du tust es trotzdem!“
„Es war keine Absicht! Und es war auch nur ein Minitropfen!“, versicherte sie ihm.
„Das tut nichts zur Sache. Verdammt, Emma! Wenn wir Pech haben, können wir die Verwandlung jetzt nicht mehr unterbinden!“
Sie starrte ihn an. Tief im Innern hatte sie das gewusst. Wieso sonst sollte sie kein Blut trinken? Eine Träne lief ihr über die Wange, sie ließ sich nicht zurückhalten.
Als Will das sah, kam er näher. „Wieso weinst du?“, wollte er wissen und seine Stimme klang dabei schon wesentlich freundlicher.
„Weil ich vielleicht ein Vampir bleibe. Und ich weiß nicht, ob ich das will. Außerdem“, schniefte Emma, „egal, was ich tue, immer mache ich irgendwas falsch und du bist sauer auf mich.“
Er stand nun vor ihr und zog sie in seine Arme. „Schht!“, machte er und strich ihr sanft über die Haare. „Alles wird wieder gut!“
So standen sie eine Weile da, bis Emma sich beruhigt hatte. Schließlich bemerkte sie, dass Andrew noch mit glasigem Blick neben der Bank stand.
„Sie machen sich sicher schon Sorgen!“, sagte Emma. „Wir müssen zurück.“
„Ich werde dich um halb zwölf abholen, okay?“
Sie lächelte ihm als Bestätigung zu. Dann lief sie mit Andrew zurück zu den Anderen.
„Wo wart ihr so lange?“, wollte Dave misstrauisch wissen. Er muss denken, dass wir im Wald rumgemacht haben, dachte Emma und musste schon fast kichern.
„Ich habe Andrew auf dem Weg zum Auto gefunden, er hat sich am Knie verletzt.“
„Ist es schlimm?“, fragte Paula besorgt.
„Nein, ich habe es auch schon versorgt. Aber ich möchte bald nach Hause fahren, so langsam bin ich etwas müde.“
Alle stimmten ihr zu und so packten sie ihre Sachen zusammen, löschten den kleinen Rest des Feuers und machten sich auf den Weg zurück zum Auto. Während sie alles verstauten, verabschiedete sich Zach. Emma sah zu, wie er Paula besonders lange in den Arm nahm und sie dann strahlend anlächelte.
Schließlich saßen alle erschöpft im Auto und Emma legte eine Cd mit entspannender Gitarrenmusik ein.

Fünf




„Will hat mir erzählt, was passiert ist!“, sagte Zoey, nachdem sie stürmisch die Türgeöffnet und Emma mit einer Umarmung begrüßt hatte. Sie schien die Sache nicht halb so schlimm zu finden, wie ihr Bruder. Will ging nach oben, während Zoey Emma mit sich in die Küche schleifte, wo schon zwei dampfende Becher mit Tee standen. Offenbar wollte sie ein bisschen mit Emma plauschen.
Die beiden setzten sich und Emma musste im Detail erzählen, wie alles passiert war.
„Und?“, fragte Zoey und grinste.
„Was und?“
„Es schmeckt ganz gut, oder?“
„joaa…“ Emma wurde rot und senkte den Blick.
„Willst du nicht doch lieber ein Vampir werden?“
„Durch diesen winzigen Tropfen steht ja noch gar nicht fest, ob wir es überhaupt schaffen, die Verwandlung aufzuhalten.“
Mitleidig schaute Zoey sie an. Dann erhellte sich ihre Miene. „Sag mal, läuft zwischen dir und Will was?“
„Wieso?“ Emma war alarmiert. Schließlich hatte Will zu ihr gesagt, dass sie es keinem erzählen sollte, nicht mal seiner Schwester. Hatte er es etwa getan?
„Naja, bloß, weil du dich verwandelst. In dieser Zeit hat man viele…Bedürfnisse“ Sie zwinkerte ihr verschwörerisch zu.
Emma lachte. „Wirklich? Das wusste ich nicht.“
Für kurze Zeit redeten sie noch über dies und das. Zoey und Emma verstanden sich wirklich ausgezeichnet. Als Emma jedoch anfing, zu gähnen, schickte Wills Schwester sie sofort hoch.
Oben angekommen klopfte sie gegen Wills Tür und trat dann ein.
Er lag im Bett und schlief. Offenbar waren die letzten Tage für ihn ebenso anstrengend, wie für sie gewesen und noch dazu kam, dass er nachts keinen Schlaf fand, sondern auf Emma aufpassen musste. Sie zog schnell ihre Schlafsachen und legte sich dann neben ihn. Eine Weile blieb sie still liegen und schaute ihm beim Schlafen zu, dann riss sie ihm die Decke weg, in der Hoffnung, dass ihn das aufwecken würde.
Auch ohne Decke atmete Will noch regelmäßig weiter. Allerdings fiel Emma auf, dass er nur Boxershorts trug. Er hatte ein Sixpack, bei dessen Anblick ihr kurz der Atem stockte.
Wie von selbst hob sich ihre Hand und ihr Zeigefinger setzte an seiner perfekt trainierten Brust an. Langsam fuhr sie damit über seine kühle Haut hinunter bis zum Bauchnabel. Von hier ausgehend verlief ein schmaler Streifen dunkler Härchen, dem sie mit dem Finger verfolgte.
Bevor Emma klar wurde, was sie da überhaupt tat, wachte Will auf. Nachdem er zwei Mal geblinzelt hatte, bemerkte er, wo sich Emmas Hand befand und er sog scharf die Luft ein.
„Entschuldige“, flüsterte sie und zog ihre Hand schnell zurück. Sie spürte, wie sie rot wurde und sah Will nicht in die Augen.
„Emma, du kannst so wirklich nicht weitermachen. Schau nur, was du angerichtet hast“, sagte er und deutete an sich hinunter. Tatsächlich konnte sie eine unverkennbare Beule in seiner Shorts sehen.
„Ich werde sonst irgendwann über dich herfallen und du weißt, wenn das jemand rausbekommt, dann sind wir beide tot.“
„Okay, tut mir leid“, murmelte sie und drehte sich auf den Rücken, um ihn nicht ansehen zu müssen. Auf ein Mal spürte sie neben sich eine Bewegung und schließlich lag Will auf ihr, stützte sich aber mit seinen Händen links und rechts von ihr ab. Sie konnte seinen heißen Atem im Gesicht spüren und ihr fiel auf, wie wunderbar er roch. Dann beugte er sich zu ihr und flüsterte ihr ins Ohr: „Glaub bitte nicht, dass ich es nicht will!“ Dann küsste er sie leicht auf die Stirn und sprang aus dem Bett. „Schlaf jetzt.“
Emma drehte sich auf die Seite. Ihr war ganz heiß. Zoey hatte wohl Recht gehabt mit den Bedürfnissen.
Der nächste Tag war Sonntag. Emma saß zu Hause an ihrem Schreibtisch und schrieb an ihrem Aufsatz, an den Paula sie netterweise noch ein Mal erinnert hatte. Will hatte sie heute Morgen nach Hause gefahren und inzwischen war es früher Nachmittag. Emma musste sich mit dem Aufsatz sehr beeilen, schließlich hatte sie nur noch heute. Trotzdem konnte sie sich nicht recht konzentrieren. Sie wollte eine kleine Pause einlegen, um zu duschen, und versprach sich, dass sie danach richtig loslegen würde.
Während das Wasser über ihre Haut lief, gab sie sich wirklich Mühe, über Dinge, wie Jayden und Olivia, oder Paula und Zach nachzudenken. Das gelang ihr allerdings nur in Maßen – ihre Gedanken wanderten immer wieder zu Will. Als sie aus der Dusche stieg, drehte sie das Radio auf laut und sang den Text der Lieder mit, doch nachdem sie abgetrocknet und eingecremt war, fiel Emma auf, dass sie sich überhaupt keine neuen Klamotten mit ins Bad genommen hatte. Also schlüpfte sie schnell in ihre Unterwäsche, vergewisserte sich, dass auf dem Flur niemand war, und huschte dann schnell in ihr Zimmer.
Sie schloss die Tür hinter sich und wollte geradewegs zum Schrank gehen, doch als sie sich umdrehte, sah sie, dass sie nicht alleine war. Emma fuhr zusammen und konnte sich einen Schrei gerade noch so verkneifen, indem sie die Hand vor den Mund riss. Will lag auf ihrem Bett und hatte Jakob, ihren alten Kuscheltierbären, in der Hand. Nachdenklich sah er von ihm zu ihr und als er sah, dass sie nichts anhatte, weiteten sich seine Augen ein bisschen.
Emma schnappte sich das Erstbeste, das sie finden konnte – in diesem Fall ein paar ihrer Hefte, was sich nicht sonderlich effektiv erwies – und versuchte, damit ihren Körper vor ihm zu verstecken. Statt wegzuschauen, grinste Will sie an und sagte: „Süßer Hund“, wobei er mit Jakob wedelte.
„Das ist kein Hund“, giftete Emma, „sondern ein Bär, das sieht man doch! Und was machst du überhaupt hier?“
„Na, in sieben Tagen ist Vollmond. Wir müssen heute mit dem Blut anfangen. Hast du das etwa schon vergessen?“
Tatsächlich hatte Emma in den letzten Tagen ein bisschen aus den Augen verloren, warum sie überhaupt so viel Zeit mit Will verbrachte, sie hatte sich schon an ihn gewöhnt.
„Natürlich nicht. Kann ich mir vielleicht erst mal was anziehen?“
„Tu dir keinen Zwang an.“ Weiterhin schaute er sie an, senkte dann aber seinen Blick, damit sie ungestört in ihre Sachen schlüpfen konnte.
Schnell legte sie die Hefte beiseite und nahm sich dann eine Jeans und ein Top aus ihrem Schrank. Sie stand mit dem Rücken zu ihm, während sie sich anzog. Als sie sich umdrehte, schaute er ihr in die Augen, er hatte ihr offenbar doch zugesehen.
Böse schaute sie ihn an. Will stand auf und ging zum Sessel, auf dem er seine Tasche platziert hatte. Er holte eine rote Kerze heraus, ein Messer mit weißem Griff und ein längliches Gefäß, das einem Reagenzglas aus dem Chemieunterricht glich.
„Schaffst du das überhaupt? Ich meine, das letzte Mal, als du mein Blut gesehen hast, hättest du mich fast umgebracht.“ Emma sah ihn misstrauisch an und sie sah, dass er sich in seiner Ehre gekränkt fühlte.
„Sicher schaffe ich das. So viel Selbstbeherrschung werde ich dann auch noch aufbringen. Kannst du dein Zimmer vielleicht abdunkeln?“
Emma nickte und ließ die Rollläden herunter. Sie wollte gar nicht wissen, was die Nachbarn von ihr dachten, wenn sie das so mitten am Tag tat. Schnell schloss sie noch die Tür ab und ging dann zu Will hinüber. Dieser hatte bereits die Kerze angezündet und auf den Nachttisch gestellt.
„Die Kerze ist von einer Hexe geweiht worden“, erklärte er und Emma wunderte sich mittlerweile schon gar nicht mehr. Er hätte ihr auch sagen können, dass in ihrem Garten kleine Gnome ihr Unwesen trieben, und sie hätte ihm geglaubt. Sie sollte sich jetzt hinsetzen, die Augen schließen und sich entspannen, sagte Will. Sie tat wie geheißen und nahm vor ihm auf der Bettkante Platz.
„Ich möchte, dass du an nichts Bestimmtes denkst, sondern deine Gedanken frei schweifen lässt.“
Emma wollte schon fast sagen, dass ihr das nicht so leicht fiel, da er inzwischen ihre Hand genommen hatte und mit dem Zeigefinger der anderen Hand ihre Vene nachzeichnete, um die richtige Stelle zu finden. Seine Berührung löste ein wohliges Prickeln auf ihrer Haut aus. Sie konzentrierte sich jedoch so gut es ging, nicht an Will, sondern besser an nichts zu denken.
Er schien die Stelle gefunden zu haben, denn er sagte mit ruhiger Stimme: „Es piekst jetzt kurz, aber du musst unbedingt so lange stillhalten, wie ich es dir sage.“
Sie nickte kaum merklich und in derselben Sekunde spürte sie ein leichtes Stechen in ihrer Armbeuge. Sie bildete sich ein, zu spüren, wie das Blut aus ihr heraus floss. Am liebsten hätte sie die Augen geöffnet, um zu sehen, wie Will sich schlug, doch sie traute sich nicht.
Schon nach weniger als einer Minute sagte er: „fertig.“ In seiner Stimme schwang ein leicht angespannter Unterton mit, doch er schien sich beherrschen zu können. Vorsichtig öffnete Emma erst das eine, dann das andere Auge. Seine Pupillen waren geweitet und die Iris schien dunkler geworden zu sein, doch Will stand auf und lächelte sie an. In seiner Hand hielt er das Fläschchen, das jetzt fast randvoll mit ihrem Blut war. Er hielt ihr ein Taschentuch hin, welches sie sich fest auf die blutende Stelle presste.
„Hast du nicht gesagt, dass du bei mir nicht so sehr in Versuchung kommst, weil ich schon dabei bin, mich zu verwandeln?“
„Eigentlich sollte es für mich auch nicht so schwierig sein. Vielleicht ist das bei mir anders… Bei Menschen ist es aber noch schlimmer.“ Er packte die kleine Ampulle vorsichtig in seinen Rucksack und schloss ihn langsam.
„So, ich hol dich heute Abend ab, ja?“ Er wandte sich zum Fenster.
„Ach, du gehst schon wieder?“
„Naja, du musst ja noch deinen Aufsatz weiter schreiben. Und ich hab auch noch das ein oder andere zu tun.“ Kurz bevor er aus dem Fenster sprang, drehte er sich aber noch ein Mal um. „Ach ja, Emma. Triff dich bitte nicht mit Dave, bis wir fertig sind… mit allem. Okay?“
Dave? „Ähh…“, setzte Emma an, doch da war er schon verschwunden. Wieso denn Dave, fragte sie sich. Dachte Will ernsthaft, dass sie was von ihm wollte?
Einige Stunden später, es war schon halb zwölf, hatte Emma den Aufsatz endlich fertig. Zoey hatte sich angeboten, ihr zu helfen und so war es gekommen, dass sie das Zimmer von Wills Schwester zu Gesicht bekam. Es war in Pastelltönen gestrichen und aufgrund der vielen Fenster sehr hell. Ein kitschiger Kronleuchter hing von der Decke.
Sie suchte ihre Zettel zusammen und dankte Zoey für ihre Hilfe.
„Sag mal, bist du dir sicher, dass du das durchziehen willst?“, fragte sie Emma da überraschend.
„Was meinst du?“
„Na, das mit dem Ritual.“
„Ich hab dir doch schon gesagt, dass ich ein Mensch bleiben möchte.“
„Ja, sicher. Aber es ist ja nicht ungefährlich! So weit, wie du im Moment bist, kann da einiges schiefgehen, weißt du das eigentlich?“
Skeptisch schaute sie Zoey an, was diese als Aufforderung auffasste, weiterzusprechen. „Da Ritual ist normalerweise schon nicht gerade angenehm, aber jetzt“, sie deutete auf Emma. „Wird es noch viel schlimmer. Und in einer Woche erst. Es kann sein, dass du dabei draufgehst, Süße.“
Die beiden Mädchen schauten sich eine Weile fest in die Augen, wobei Emma sehr darauf bedacht war, sich ihren Schock nicht anmerken zu lassen. Bei den ganzen Andeutungen, die Will immer von sich gab, hatte sie sich so etwas schon gedacht, nur wahrhaben wollte sie es nicht.
„Und woher weiß ich, ob ich es noch schaffen könnte?“
Zoey legte den Kopf schief. „Das weißt du nicht. Du musst es ausprobieren.“
„Trial and Error“, murmelte Emma mit einem bitteren Lachen. Es war ein Glücksspiel.
In diesem Moment klopfte es an der Tür und Will steckte seinen Kopf herein.
„Kommst du bitte? Es ist schon ziemlich spät.“ Gehorsam stand Emma auf, verabschiedete sich von Zoey und folgte dann Will über den Flur.
Eine halbe Stunde später lag sie in seinem Bett, wälzte sich jedoch unruhig hin und her. Sie konnte nicht schlafen.
„Will?“, flüsterte sie.
„Mhh“, kam es fragend von ihm zurück.
„Was ist, wenn ich es nicht überlebe?“ Sie drehte sich jetzt zu ihm und konnte im Mondlicht erkennen, dass er aufgestanden war und sich jetzt neben sie setzte. Sanft legte er seine Hand auf ihr Haar und streichelte ein paar Mal darüber.
„Hast du Angst?“, wollte er wissen.
„Ein bisschen“, gestand sie.
„Wir müssen es nicht machen! Du kannst dich auch in Ruhe zu Ende verwandeln und wir nehmen dich in unseren Clan auf und…“ Abrupt unterbrach er sich, denn er hatte gemerkt, was für einen freudig erregten Unterton seine Stimme angenommen hatte. Instinktiv zog er sich ein bisschen von Emma zurück. Sie bemerkte dies zwar, kommentierte es aber nicht.
„Ich frage mich, wer mich verwandeln will. Wenn es jemand wäre, der mich nett anzusehen fand, hätte er mich nicht erst verwandeln müssen, weil ihr ja schließlich alle diese Gedankenkontrolle beherrscht. Wenn es ihm um mehr ging, als eine Nacht, dann wäre er ja wohl selbst mein Mentor, anstatt du. Und jemand, der einfach nur mal kosten wollte, wäre nicht so oft wiedergekommen, wenn er sich den Folgen seines Handelns nicht bewusst gewesen wäre. Und da du gesagt hast, dass der Vampir sehr mächtig ist, kommt das auch nicht infrage. Es ergibt einfach keinen Sinn.“
Will schien ihr gar nicht richtig zugehört zu haben. „Nur mal angenommen, wir würden das Ritual einfach abbrechen – du könntest schon morgen Abend mit allem durch sein und wärst fertig verwandelt! Vampirsein ist gar nicht so übel Emma, wirklich. An das Bluttrinken gewöhnst du dich und du musst ja auch niemanden dafür umbringen. Außerdem hast du so viele Vorteile gegenüber deiner Spezies. Du bist schneller…“
„…hast bessere Reflexe, kannst besser Hören, Riechen, Sehen… Ja ich weiß schon“, beendete sie seinen Satz.
„Aber was wäre denn so schlimm daran?“ Will schaute sie nun eindringlich an. Ja was ist eigentlich so schlimm daran

?, fragte eine Stimme in Emmas Kopf, doch sie schob sie schnell in die allerhinterste Ecke ihres Gehirns.
„Warum willst du überhaupt, dass ich ein Vampir werde? Was interessiert dich das?“ Angriff ist die beste Verteidigung dachte sich Emma, doch dann merkte sie, wie Wills zuvor merkwürdig leuchtendes Gesicht sich verhärtete und zu der üblichen Maske wurde, die nichts über seine Gefühle preisgab.
„Es ist viel zu spät. Du musst schlafen.“ Seine Worte machten klar, dass er keine Widerrede duldete und beleidigt drehte sich Emma auf die andere Seite, um in einen unruhigen Schlaf zu finden.

Als Emma am nächsten Morgen unsanft geweckt wurde, dachte sie, jemand hätte ihr gerade reinen Alkohol eingeflößt. Ihre Kehle brannte so sehr, dass ihr unmittelbar die Tränen in die Augen traten.
„Was hast du gemacht?“, krächzte sie Will an, während ihre Hand an ihren Hals schnellte.
Erst sah er verwundert aus, doch dann wurden seine Augen zu engen Schlitzen.
„Was ist mit deinem Hals?“, fragte er ruhig, forschend.
„Ich… Er tut so weh.“ Emma konnte nicht verhindern, dass ihr eine Träne über die Wange rollte. „Mach, dass es aufhört!“, flehte sie Will an, der sie immer noch fixierte.
„Ich könnte dir helfen, aber das werde ich nicht tun.“
„Wieso?“ Ihre Augen wurden groß. In dem Moment kam Zoey herein und beantwortete die Frage an Stelle ihres Bruders. „Weil du Blut trinken müsstest, damit es aufhört, Süße.“
Ungläubig schaute Emma von Zoey zu Will und wieder zurück. „Wirklich?“
Zur Bestätigung nickten beide. Das blonde Mädchen hielt ihr die Hand hin. „Komm, du musst aufstehen. Dann werden wir etwas essen, du gehst zur Schule und gibst deinen Aufsatz ab und später machen wir irgendwas, was dich ablenkt. Shoppen oder so.“
Nur zögerlich ergriff Emma sie Hand, stand dann aber doch mühsam auf. Nachdem sie etwas gegessen hatte, ging es ihr tatsächlich schon etwas besser und schließlich fühlte sie sich auch stark genug, um in die Schule zu gehen.
Am nächsten Tag wusste Emma bereits, dass die Schmerzen in Schüben kamen. Sie gingen nie vollständig weg, aber wenn sie sich ablenkte, spürte sie nur ein hintergründiges Kratzen im Hals. Sie probierten alles Mögliche aus, doch auch Hustensaft und Inhalieren konnte ihr nicht helfen.
Will hatte ihr noch einmal eingeschärft, dass sie kein Blut trinken durfte, sonst könne sie sich direkt damit abfinden, solches den Rest ihrer Existenz zu schlürfen.
Zoey versuchte wirklich so gut es ging, sie abzulenken und sogar Will schien es ein bisschen leid zu tun, dass es ihr offenbar nicht gut ging.
In der Mittagspause warteten Paula und Emma vor der Cafeteria auf Olivia, die sich ein wenig verspätete.
„Ich habe mich gestern mit Zach getroffen. Wir waren erst Essen und danach hat er mich noch zum Teich gebracht und alles war in dieses dunkelrote Licht getaucht. Wir haben uns auf den Steg gesetzt und einfach geredet. Er ist so ein Gentleman, Emma. Ich glaube, er ist der Richtige.“ Paula strahlte, als sie das erzählte. „Zum Abschied hat er mich auf die Wange geküsst. Und er wird mich auf den Ball begleiten.“
Natürlich freute sich Emma für ihre Freundin, die wirklich glücklich zu sein schien. Doch im Hinterkopf war ihr bewusst, dass sie nun die Einzige war, die keinen Begleiter hatte. Bei dem Gedanken daran, dass sie zum Termin des Balls schon tot sein könnte, wurde ihr übel.
Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, kam Olivia zu ihnen gerannt. Als sie näher kam, konnte Emma Blut auf der hellen Hose ihrer Freundin erkennen.
„Was ist passiert?“, fragte sie geschockt, während Olivia aussah, als hätte sie soeben den Teufel höchstpersönlich gesehen.
„Jayden…draußen“, stammelte sie, griff Emma bei der Hand und zog sie mit sich. Auch Paula folgte ihnen alarmiert.
Auf dem Schulhof befand sich schon eine Menschentraube. Emma schubste sich hindurch, bis sie sehen konnte, was die Leute alle so anstarrten. Zu ihrem Entsetzen war es Jayden, der sich prügelte. Okay, nein, das stimmte nicht ganz. Es war Jayden, der verprügelt wurde. Sein Angreifer schien auch schon einiges abbekommen zu haben, doch im Moment bewegte sich Emmas Adoptivbruder nicht, während der andere auf ihm hockte und ihm mit der Faust ins Gesicht schlug.
„Spinnst du?!“, brüllte Emma den ihr unbekannten Jungen an, welcher daraufhin aufsprang. Während sie auf ihn zu stürmte, grinste er sie dreist an, trat dem auf dem Boden liegenden Jayden noch ein Mal mit voller Kraft in die Seite und rannte dann davon. Emma zögerte kurz, ob sie ihm hinterherlaufen sollte, doch sie entschied sich dagegen. Stattdessen kniete sie neben Jayden nieder, wo auch schon die weinende Olivia hockte.
„Was gafft ihr alle so, habt ihr nichts Besseres zu tun?“, rief Paula den umher stehenden Schülern zu, woraufhin sie sich mit Gebrummel verzogen.
Emma rüttelte leicht an Jaydens Schultern, weil er offenbar nicht bei Bewusstsein war. Sie prüfte seinen Puls, da bemerkte sie etwas Nasses an ihren Fingern. Langsam hob sie die Hand hoch und wünschte sich, sie könnte weggucken. Warm und dunkelrot lief das Blut ihren Zeigefinger herunter. Paulas und Olivias besorgte Blicke bekam sie gar nicht mit. Als ob es nicht ihre eigene Bewegung wäre, näherte sich der Finger immer weiter ihren Lippen.
„Was ist passiert? Braucht ihr Hilfe?“, drang in diesem Moment eine bekannte Stimme an Emmas Ohr. Im gleichen Moment wurde sie auf die Beine gezogen und Will hielt sie an den Schulter fest, um ihr eindringlich in die Augen zu sehen, doch sie versuchte, ihn abzuschütteln. Sie musste ihren Finger einfach in den Mund nehmen, um von dem wertvollen, köstlichen Blut etwas zu probieren. Ihre Kehle schmerzte so sehr, wie sie es nicht mal gestern Morgen getan hatte, und doch wusste Emma, dass dieser Schmerz nachlassen würde, sobald die warme Flüssigkeit ihren Hals hinab lief.
„Emma! Beherrsche dich! Du willst das nicht!“, raunte Will ihr aggressiv ins Ohr. Sie wollte „doch“ erwidern, aber Will schien das befürchtet zu haben. Kurzerhand nahm er ihren Finger und steckte ihn sich selbst in den Mund. Ein empörtes Fauchen entrann Emma, doch dann war es erneut so, als würde sie aus einer Trance aufwachen.
Plötzlich wurde sie sich dessen bewusst, dass sie dicht an dicht mit Will mitten auf dem Schulhof stand und er ihren Finger im Mund hatte. Noch viel schlimmer war, dass seine Augen fast schwarz waren und sie etwas Spitzes an ihrer Fingerkuppe spüren konnte… seinen Reißzahn! Schneller, als Emma rot werden konnte, aufgrund der Anzüglichkeit dieser Situation, bemerkte sie einen kurzen Schmerz in ihrem Zeigefinger. Ungläubig starrte sie Will an. Hatte er sie etwa gerade gebissen?
Die Antwort erhielt sie nicht mehr, denn eine bleierne Schwärze umgab sie.
Als Emma wieder erwachte, war es draußen bereits dunkel. Sie lag in einem Bett, das nicht ihres war. Vorsichtig schlug sie die Augen auf und bemerkte, dass jemand am Bettrand saß. Schnell setzte sie sich auf, doch sogleich drehte sich alles.
„Bleib liegen“, sagte Will sanft zu ihr.
Wie war sie hierhergekommen? Was war passiert? Bilder von einem leblosen Jayden und Blut flackerten über ihre Netzhaut.
„Was ist mit Jayden?“, fragte sie panisch.
„Dem geht’s gut, mach dir da mal keine Sorgen. Zwei seiner Wunden mussten genäht werden und er hat eine geprellte Rippe, aber er ist schon wieder zu Hause.“
„Wer war der Kerl, der ihn verprügelt hat?“, wollte Emma aufgeregt wissen.
„Ich weiß es leider nicht.“
Nach kurzem Überlegen kam ihr die ganze Situation wieder in den Kopf. Olivia hatte sie geholt… „Was ist mit Olivia und Paula?“ Schließlich hatten sie die ganze Szene mitbekommen und gesehen, wie Emma das Blut angesehen hatte, das Will dann schließlich genommen hatte… um sie dann zu beißen!
Trotz des Schwindels sprang sie auf und flüchtete in die am weitesten entfernte Ecke. „Du hast mich gebissen!“, schrie sie ihn an. An seinem Gesichtsausdruck erkannte sie, dass er offenbar schon mit ihrer Reaktion gerechnet hatte.
„Beruhige dich“, sagte er mit tiefer Stimme.
„Spinnst du?!“, fuhr sie fort und wurde dabei eher noch lauter, als leiser. „Jetzt können wir die Verwandlung nicht mehr stoppen! Jetzt werde ich ein Vampir! Du hast mein Leben ruiniert!“
Als sie die Worte aussprach, wurden sie ihr erst so richtig bewusst. Sie sank auf den Boden auf den Boden und legte den Kopf auf die Knie. . Der Schock saß noch zu tief, als dass sie hätte weinen können, ihr war sowieso mehr nach Schreien zu Mute.
„Hör mir zu“, setzte Will an und streckte seine Hand nach Emma aus, doch sie schlug sie weg. Gleichzeitig sprang sie auf und wollte so viel Abstand zwischen sich und dieses… bluttrinkende Monster bringen, wie möglich. „Ich will dich nie wieder sehen, du Arschloch!“
Kurzerhand rannte sie an ihm vorbei und aus dem abgedunkelten Zimmer und den Flur entlang. Im Foyer traf sie auf eine verdatterte Zoey, die ihr sogar ausweichen musste, so schnell war Emma. Als sie aus der Haustür stürmte, hörte sie, wie Zoey ihren Bruder fragte, was sie denn gestochen hätte, doch anscheinend nahm er sich nicht die Zeit, zu antworten.
Blindlings rannte Emma in den Wald hinein, sie wollte einfach nur noch weg.
„Warte doch! Es ist nicht so schlimm, wie du denkst!“, rief Will hinter ihr, was sie dazu anspornte, noch schneller zu laufen. Obwohl sie ein schon fast übermenschliches Tempo drauf hatte, war der Vampir natürlich schneller und stand auf ein Mal vor ihr. So schnell konnte sie nicht mehr bremsen, was zur Folge hatte, das sie zusammenprallten und auf den Boden fielen.
Bevor Emma sich aufrappeln konnte, drehte Will sich blitzschnell so, dass er auf ihr lag.
„So und jetzt beruhigst du dich mal wieder!“
Emma schwieg und funkelte ihn böse an.
„Ja, ich habe dich gebissen und das tut mir wirklich leid“, setzte er an, doch schnaubend unterbrach sie ihn.
„Es tut dir leid. Ja klar, ist ja auch nicht so, dass ich dadurch zum Vampir werde!“
„Hör mir doch mal zu! Du wirst kein Vampir, zumindest nicht, solange du das nicht willst und ich es verhindern kann. Es war wirklich keine Absicht, dich zu beißen, nur das Blut…“
„Ja, schon klar, du konntest dem Drang nicht widerstehen. Mein Leben war dir dabei scheißegal.“
Jetzt war es Will, der sie böse ansah. „Tu nicht so, als ob du besser wärest! Ich hab dich davor gerettet, die letzte Chance auf das Ritual zu zerstören! Wäre ich nicht gewesen, hättest du das Blut getrunken und dann wärst du spätestens heute Abend ein Vampir. Sicher war es nicht gut, dass ich die Beherrschung über mich verloren habe, aber es beeinträchtigt dich nicht. Mein Gift ist ein anderes, als das von deinem Macher. Ich musste dir nur mein Blut geben, damit es sich wieder herauswäscht.“
Misstrauisch guckte Emma ihn an. „Das heißt ich bin kein Vampir?“
„Nein. Kann ich dich jetzt loslassen, oder rennst du dann wieder vor mir weg?“, fragte Will und zog sie dabei wieder auf die Beine. Nachdem sie sich das Laub von der Hose abgeklopft hatte, richtete sie sich wieder auf. „Aber was ist mit den anderen? Die ganze Schule muss es mitbekommen haben.“
„Wir hatten Glück, dass die Pause schon seit fünf Minuten vorbei war. Nur noch Wir beiden und deine Freundinnen waren draußen.“
„Und was hast du ihnen gesagt?“
„Sie wissen nichts von unserem kleinen Zwischenfall. Olivia hat Jayden ins Krankenhaus begleitet und Paula ist wieder in den Unterricht gegangen, um den Lehrern zu erzählen, dass du deinen Bruder begleitest.“
Emma gefiel es gar nicht, dass Will die Gedanken ihrer Freundinnen manipuliert hatte…
„Warum gehst du eigentlich nicht mit Dave auf den Ball? Er wollte dich doch fragen, oder?“, wollte er belustigt wissen.
Sie schickte ihm einen giftigen Blick zu. „Halt dich da raus.“
„Bist du immer noch sauer, dass ich dich gebissen habe?“ Er grinste.
Anstatt etwas zu sagen, stapfte sie einfach an ihm vorbei, Richtung Haus. Sie hörte ihn hinter sich leise lachen.

In der Küche goss sie sich ein Glas Orangensaft ein. Die Zeiger der großen Uhr zeigten halb zwei nachts an. Plötzlich spürte sie einen Windzug und jemand stand hinter ihr. Will legte sein Kinn auf ihre Schulter und die Hände auf ihre Taille. Ein wohliges Kribbeln durchfuhr ihren Körper, als er ihr etwas ins Ohr flüsterte. „Sei bitte nicht mehr sauer. Ich kann schließlich nichts dafür, dass du so verboten gut schmeckst.“
Bei dieser Bemerkung hätte Emma ihn am liebsten gehauen, doch andererseits wollte sie auch die Situation nicht kaputt machen, wenn Will sie schon mal an sich ran ließ.
„Kommst du gleich nach oben? Wir müssen dir noch was abzapfen.“
Bei dieser Bemerkung drehte sie sich dann doch um und Will zwinkerte ihr zu. „Dieses Mal beherrsche ich mich auch, versprochen.“ Dann verschwand er aus der Küche.
Emma trank ihr Glas leer und ging dann ebenfalls die Treppe hoch. Gedankenverloren betrat sie den Flur, als mit einem Mal Zoey vor ihr stand und kicherte. „Du willst mir also weismachen, dass bei euch beiden nichts geht?“
Noch bevor sie antworten konnte, war Zoey schon die Treppe herunter gerauscht.

Sechs



„Wahrscheinlich gehst du heute besser nicht in die Schule“, sagte Will. Emma hatte nichts dagegen, einen Tag lang zu Hause zu bleiben. Sie wollte ungern noch mal in eine Situation wie gestern kommen.
Sie war dankbar, als er sie vor ihrem Haus absetzte, schließlich war sie seit gestern Morgen nicht mehr hier gewesen.
Will war weiter in die Schule gefahren, doch er hatte gesagt, dass sie bloß anrufen bräuchte, wenn irgendetwas nicht stimmte.
Emma spürte immer noch ein unangenehmes Kratzen im Hals, doch sie konnte es inzwischen einigermaßen in den Hintergrund schieben. Nachdem sie ausgiebig geduscht hatte, fühlte sie sich bereit, einen Blick in Jaydens Zimmer zu werfen.
Sie bekam zwar auf ihr Klopfen keine Antwort, doch die gab ihr Adoptivbruder nie, also drückte sie nach kurzem Warten einfach die Klinke herunter und marschierte in sein Zimmer. Die Vorhänge waren vor die Fenster gezogen und Emmas Augen mussten sich erst mal an die Dunkelheit gewöhnen. Jayden lag in seinem Bett und starrte an die Decke.
„Hey“, sagte sie leise.
Anstelle einer Antwort wandte er ihr seinen Blick zu und schaute sie abwartend an, weshalb sie erst mal unschlüssig vor seinem Bett stehen blieb.
„Wie geht es dir?“
„Sie haben mir Schmerzmittel gegeben. Auf der Stirn krieg ich eine Narbe, die am Kinn geht wieder weg. Und ich hab eine geprellte Rippe.“
Nachdem sie kurz geschwiegen hatte, stellte Emma eine Frage, die ihr schon seit dem Betreten des Raumes auf der Zunge gebrannt hatte: „Wer war der Kerl?“
„Keine Ahnung.“
„Keine Ahnung? Du kanntest ihn nicht?“, fragte sie ungläubig. Als er ihr nicht antwortete, sagt sie: „Und warum habt ihr euch dann geprügelt?“
„Halt dich da raus, Emma.“
„Wie bitte?“
„Ich meins ernst. Kümmer dich um deinen eigenen Kram. Wo warst du überhaupt?“
Emma war perplex, antwortete ihm aber dennoch, weil sie sich ertappt fühlte. „Ich… hatte einen kleinen Zusammenbruch.“ Das war ja schließlich nicht gelogen.
Jayden nickte nur.
„Naja, ich lass dich mal alleine.“ Sie hatte die Klinke schon fast in der Hand, da sagte Jayden: „Und, hat es ihm geschmeckt?“
Ruckartig drehte Emma sich um. „Was?“
„Will - hat ihm mein Blut geschmeckt?“
Emma verschluckte sich und konnte ihm erst nach einem kräftigen Hustenanfall in die Augen sehen. „Was meinst du damit?“, wollte sie forschend wissen.
„Du brauchst gar nicht erst Theater zu spielen. Ich hab alles gesehen.“
„Aber du… du warst ohnmächtig!“ Sie konnte nicht anders, als ihn anzustarren.
„Ich weiß. Ich hab es trotzdem mitbekommen, okay? Ich weiß, was er ist. Und ich weiß, wozu er dich macht. Wie kannst du nur, Emma?!“
„Er macht mich zu nichts! Er hilft mir, damit alles normal bleibt!“
„Du weißt doch ganz genau, was er ist. Es geht ihm um nichts, als dein Blut. Aber du bist ja auch nicht wirklich besser. Fast hättest du gestern…“
„Es tut mir leid Jace, wirklich. Das war ganz und gar nicht geplant. Wir versuchen es aufzuhalten, dann wird alles wieder gut.“
Jayden schnaubte. „Du kannst da nichts aufhalten. Du bist schon fast eine von ihnen. Ich seh das an deiner Aura. Die ist seit ein paar Wochen immer wieder düsterer geworden.“
„Du… kannst meine Aura sehen?“, fragte Emma verblüfft. Jayden nickte nur knapp.
„Wieso?“, wollte sie wissen.
„Ich kann das einfach.“ Fast kam sie sich vor, als wolle Jayden sie übers Ohr hauen, doch dann führte sie sich vor Augen, was sie selbst gerade wurde und stellte keine Fragen mehr dazu.
„Wenn du sagst, du sieht sie… Wie sehr ist sie denn wie die von Will?“
„Es dauert nicht mehr lange, dann bist du kein Mensch

mehr. Also lass mich in Ruhe, ich will den Rest meines Blutes gerne für mich behalten.“
Entgeistert starrte Emma ihn an. Nach kurzem Zögern verließ sie den Raum und blieb draußen erst einmal stehen. Der Flur kam ihr unnatürlich hell vor.
Erst rannten ihre Gedanken von hier nach dort, doch sie ermahnte sich, tief durch zu atmen. Betäubt nahm sie ihr Handy aus der Hosentasche und wählte Wills Nummer.
„Er weiß Bescheid“, begrüßte sie ihn kurze Zeit später. Sie war so durcheinander, dass sie gar nicht daran dachte, dass Will gar nicht wissen konnte, von wem sie gerade redete. Schnell erzählte sie ihm, was vorhin passiert war und er schaute sie entgeistert an.
Dann lief er ohne ein weiteres Wort an ihr vorbei und die Treppe hoch.
„Was machst du?“, rief Emma ihm hinterher, doch sie bekam - wie erwartet - keine Antwort.
Sie beeilte sich, ihn einzuholen, konnte Will jedoch nicht davon abhalten, Jaydens Zimmer zu betreten. Er klopfte gar nicht erst, sondern ging einfach hinein und baute sich vor dem Bett auf, wobei er so aussah, als ob er gleich explodieren würde. Emma blieb ängstlich im Türrahmen stehen. Jayden schaute ihn feindselig an. „Was willst du?“
„Sag mir, woher du von Vampiren weißt. Wer hat dir davon erzählt?“, forderte Will knurrend zu wissen.
„Niemand.“ Nachdem Will wartend schwieg, fügte Jayden hinzu: „Manche Personen haben einfach eine andere Aura, du zum Beispiel. Sie ist schwarz. Tot

.“
„Wieso kannst du Auren sehen?“
„Das kann ich seit ich ungefähr zehn Jahre alt bin. Aber ich weiß nicht, wieso.“
„Und deine Eltern?“
„Was ist mit meinen Eltern?“, blaffte Jayden.
„Konnten sie auch Auren sehen?“
„Ich weiß es nicht.“
„Seit wann kannst du schon Fernwahrnehmen?“
„Was?“
„Fernwahrnehmen – du hast uns gesehen, obwohl du ohnmächtig warst.“
„Ich hatte das vorher noch nie.“
Emma trat an Wills Seite und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Er ist verletzt, komm wir lassen ihn ein bisschen alleine.“
Jaydens Gesicht verhärtete sich. „Wie konntest du ihr das nur antun? Sie war ein Mensch! Unschuldig!“
Will schnellte vor und platzierte sein Gesicht unmittelbar vor Jaydens.
„Das ist nicht meine Schuld! Ich helfe Emma, damit sie das wieder los wird, also solltest du mir dankbar sein!“ Ohne ein weiteres Wort richtete er sich auf und verließ den Raum, in welchem er einen perplexen Jayden und eine erschrockene Emma zurückließ. Die Blicke der beiden trafen sich. In seinem Blick lagen ein Vorwurf und eine Abscheu, die bewirkten, dass sie schnell den Raum verließ.
„Will?“, rief sie, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. In ihrem Zimmer fand sie ihm, er stand mit dem Rücken zu ihr vor dem Fenster.
„Meinst du, es gibt noch andere, wie ihn?“
„Was glaubst du denn, was er ist?“, fragte Emma beunruhigt.
„Ich weiß es nicht, ich habe so etwas noch nicht gesehen, nur davon gehört. Wir müssen wissen, ob seine Mutter genauso war.“
„Wieso hast du nicht einfach sein Gedächtnis verändert?“, wollte sie wissen.
„Ich kann dein Gedächtnis schließlich auch nicht beeinflussen. Das geht nur mit Menschen.“
Emma stockte kurz der Atmen. „Du glaubst, er ist kein Mensch?“
„Naja, übernatürliche Fähigkeiten hat er auf jeden Fall und das reicht schon.“ Nach einer kurzen Pause drehte er sich zu ihr um und sah ihr in die Augen. „Pass auf, ich glaube, ich kann jetzt hier nichts mehr ausrichten. Ich werde noch mal kurz mit meinen Eltern sprechen, sie werden heute Abend nach Ohio aufbrechen, um noch etwas für das Ritual zu besorgen. Du musst noch mal mit Jayden reden. Er darf es keinem weitererzählen. Wenn er Fragen hat, beantworte sie ihm. Wir können es uns nicht leisten, dass etwas dazwischen kommt. Ich komme dann später vorbei.“ Er lächelte ihr zu und war im nächsten Moment verschwunden.

Na toll

, dachte sich Emma, als sie kurze Zeit später mit zwei Bechern Kakao bewaffnet zum dritten Mal an diesem Tag vor Jaydens Tür stand. Das kann ja heiter werden!


Sie hatte es nicht anders erwartet, als dass er den heißen Becher auf seinem Nachttisch ignorierte und auch während sie ihm erzählte, wie alles passiert war, so tat, als ob er ihr gar nicht zuhöre. Doch Emma wusste, dass er es insgeheim doch tat, und als sie fertig war, drehte er sich in ihre Richtung.
„Das heißt, irgendein Vampir, den du nicht kennst, war hier in unserem Haus und hat dich überall gebissen?“
Sie nickte und versuchte sich nichts anmerken zu lassen, doch innerlich freute sie sich, dass sie so etwas wie ernsthafte Sorge um sie in Jaydens Stimme gehört hatte. Sie war also tatsächlich zu ihm durchgedrungen.
„Und zwischen dir und diesem… Vampir, läuft da was?“
Emma schaute ihn entgeistert an und errötete. „N- Nein“, stotterte sie, doch Jayden grinste nur.
„Du magst ihn“, stellte er fest. Über so etwas Intimes hatte Emma mit ihm bisher noch nicht geredet.
„Es ist nur wichtig, dass du niemandem davon erzählst, okay?“
Jayden grinste sie immer noch frech an, als er nickte.
Emma setzte zum Konter an. „Wie sieht denn Olivias Aura aus?“, fragte sie und streckte ihm dabei die Zunge heraus. Ihr Bruder warf ein Kissen nach ihr und mit einem Lachen verließ sie sein Zimmer.

„Ich weiß ja nicht, ob ihr dachtet, dass ich euch den Aufsatz nur zum Spaß aufgegeben habe. Aber es war eine ernst zu nehmende Hausaufgabe, für die ihr ganze zwei Wochen Zeit hattet! Aber ihr Jugendlichen zieht es ja vor, an den Wochenende zu Trinken und mal ordentlich die Sau raus zu lassen. Macht ruhig weiter so, in ein paar Jahren, wenn ihr mit der Schule fertig seid, ist das Leben kein Spaß mehr. Dann müsst ihr vernünftig arbeiten, und mit der Einstellung, die ihr jetzt habt, werdet ihr gehörig auf die Schnauze fallen. Aber sagt später nicht, dass die Schule euch nicht darauf vorbereitet hätte!“
Mit diesem Vortrag stürmte Mr. Jason am nächsten Morgen ins Klassenzimmer. Emma hatte sich entschlossen, heute wieder zur Schule zu gehen, schließlich war es schon Freitag. In ihrem Hinterkopf tanzte ständig der Gedanke herum, dass dies wohlmöglich der letzte Schultag in ihrem Leben war.
Gestern waren Paula und Olivia sie nach der Schule besuchen gekommen. Olivia war sogleich mit einer Packung mitgebrachter Kekse in Jaydens Zimmer verschwunden. Paula hatte Emma erzählt, dass Dave nach ihr gefragt hatte. Offenbar hatte er ihr gegenüber durchscheinen lassen, dass er Emma eigentlich fragen wollte, ob sie ihn auf den Ball begleiten würde.
„Zach muss leider seit gestern das Bett hüten, er hat eine starke Grippe. Ich hab schon versucht, ihn ein bisschen gesund zu pflegen, aber bis morgen kommt er nicht wieder auf die Beine. Das heißt du kannst leider nicht mit Dave gehen, weil du mich begleiten wirst“, hatte Paula gesagt. Man konnte ihr anmerken, dass sie es schade fand, ohne Zach zu gehen, an dem sie offenbar wirklich Gefallen gefunden hatte. Emma war allerdings nicht böse darum, schließlich musste sie nun nicht alleine gehen.
Eine halbe Stunde später war Olivia freudestrahlend in Emmas Zimmer gekommen und hatte verkündet: „Leute, ich werde morgen Abend mit Jayden gehen!“ Die drei fielen sich um den Hals und Emma war wirklich froh, dass Jayden zugesagt hatte.
Später am Abend war Will nicht sonderlich begeistert davon gewesen, dass Emma auf den Ball gehen wollte, aber sie hatte ihn schließlich doch noch herumbekommen. Das war immerhin vielleicht ihre letzte Gelegenheit, so viel Zeit mit ihren Freunden zu verbringen und zu Feiern. Er hatte das eingesehen, bestand aber darauf, dass er auch hinging. Nachdem ihr Herz zuerst einen Hüpfer gemacht hatte, machte sich Emma schnell bewusst, dass er nicht ihre Begleitung war. Er würde bloß zufälligerweise am gleichen Ort wie sie sein und nicht mit

ihr. Trotzdem freute Emma sich auf den bevorstehenden Ball.

„Sie werden gleich der Reihe nach zu mir nach draußen kommen. Dort bekommen sie ihren Aufsatz zurück und ihre Note. Bunson!“ Ihr Geschichtslehrer riss Emma aus den Gedanken. Er verließ zusammen mit der aufgerufenen Paula den Raum. Eigentlich hatte sie kein schlechtes Gefühl gehabt, immerhin hatte sie fast acht Seiten geschrieben. Natürlich war auch sie erst auf den letzten Drücker fertig geworden, aber sie hatte doch Hilfe von Zoey bekommen, so schlecht konnte es doch also gar nicht sein, oder?
Ungeduldig rutschte sie auf ihrem Stuhl herum, bis sie endlich aufgerufen wurde. Paula hatte eine Zwei bekommen, womit sie nicht wirklich zufrieden war. Sie war keine typische Streberin, denn sie musste fast nie lernen, und trotzdem schrieb sie in praktisch jedem Fach nur Einsen. Emma hatte dieses Glück nicht, auch wenn sie nicht schlecht in der Schule war. Ein bisschen nervös trat sie auf den Flur, wo Mr. Jason sie schon erwartete.
„Wollen sie mich eigentlich auf den Arm nehmen, Miss Harper?“, fragte er sie.
„Äh… nein, wieso?“
„Das hier“ - er hielt ihr einige vollgeschriebene Zettel hin – „ist nicht ihre Handschrift!“
Verwundert nahm Emma sie entgegen und betrachtete die saubere, geschwungene Frauenhandschrift. Der Blick auf die letzte Seite verriet ihr auch, dass es sogar elf Seiten waren, anstatt zehn. Zoey schien ihren Aufsatz neu geschrieben und in ihr irgendwie untergejubelt zu haben.
„Wer auch immer diesen Aufsatz geschrieben hat, verdient zwar meinen ganzen Respekt, doch sie waren es sicher nicht.“
Mr. Jason war ein Mann Mitte vierzig. Er war klein und neigte in letzter Zeit zu einem kleinen Bierbauch. Emma behagte es ganz und gar nicht, doch es war ihre letzte Chance, keine Sechs für diese Arbeit zu bekommen. Sie fuhr sich durch die Haare und stellte sich so vor ihn hin, dass er einen guten Blick auf ihren Ausschnitt hatte. Dabei machte sie die Augen groß, blickte ihm genau in seine und sagte: „Bitte Mr. Jason, das ist meine Handschrift, wirklich. Ich habe mir Mühe gegeben, schöner zu schreiben, damit sie es auch lesen können. Tut mir leid, wenn ich sie damit verwirrt habe.“
Anstatt dass er wie erwartet ihren Oberkörper musterte, wurde sein Blick etwas glasig. Dabei sagte er: „Zeig doch noch mal her, Kleines. Oh ja natürlich, wie konnte ich das übersehen, natürlich hast du das geschrieben. Entschuldige, ich bin manchmal etwas schusselig. Dafür bekommst du eine Eins, das hast du toll gemacht! Sagst du bitte Amanda Bescheid, dass sie herauskommt?“ Er strahlte sie an und überreichte ihr erneut den Aufsatz. Emma war so geschockt, dass sie ohne ein weiteres Wort zurück in den Klassenraum ging. Schwer ließ sie sich auf ihren Stuhl fallen und versteckte die Zettel schnell in ihrer Tasche, damit Paula nicht bemerkte, dass sie nicht von ihr beschrieben wurden.
Später in Englisch hatte Emma den Vorfall schon erfolgreich aus ihren Gedanken verbannt. Den Kurs hatte sie nur mit Chloe zusammen, Olivia und Paula hatten eine Freistunde. Ihre Lehrerin, Mrs. Baker, wollte sich besonders intensiv mit Shakespeares Werk „Romeo und Julia“ befassen und so war der Englischkurs mehr zu einem Theaterkurs geworden. Die Schüler spielten eine erneuerte und moderne Version, was viele freute. Als die Rollen vor ein paar Wochen vergeben wurden, waren viele der Meinung, dass Emma die Julia spielen sollte, denn sie hatte ein bisschen Theatererfahrung sammeln können, als sie im Alter von 14 Jahren die Hauptrolle im örtlichen kleinen Theater belegt hatte. Danach hatte sie sich den Stress mit dem vielen Textlernen eigentlich ersparen wollen, doch die Lehrerin drängte sie und sah es somit als beschlossene Sache an. Als Romeo hatte Dave sich freiwillig gemeldet und er wurde auch prompt genommen, was Emma nicht unbedingt erfreute.
So kam es, dass sie jetzt zusammen mit ihm auf der Bühne stand. Sie probten eine Liebesszene und viele Schüler liefen um sie herum, setzten das Bühnenbild neu zusammen, oder verteilten Text. Emma konnte ihren schon auswendig.
Als es los ging und das Licht entsprechend der Tageszeit, die dargestellt werden sollte, gedimmt wurde, zwinkerte Chloe Emma zu. Wieso dachte eigentlich jeder, dass aus den beiden ein Paar werden sollte? Dann legte sich die Stille über die Kulisse, wie ein Schleier. Dave kam einige Schritte auf sie zu.
„Julia, du weißt, dass wir uns nicht mehr sehen dürfen! Es ist zu gefährlich!“
„Aber es ist Nacht und wir sind hier ganz allein. Mir ist niemand gefolgt.“
„Aber was, wenn es auffällt, dass wir nicht daheim sind?“
„Niemand wird das in Verbindung bringen. Sie sprechen ja nicht miteinander.“ Nach einem theatralischen Seufzen kam Emma noch ein bisschen näher zu Dave. Dann blickte sie ihm in die Augen und sagte: „Küss mich, Romeo. Ich bin sicher, dass du nach mir verlangst, so wie ich nach dir. Küss mich!“
Sein Gesichtsausdruck wandelte sich. Daves Augen wurden glasig, wie zuvor die von Mr. Jason. Schnell ging er den letzten Schritt auf Emma zu, die zu überrascht war, um sich zu wehren, und drückte sie gegen Bühnenwand. Er sah ihr noch ein Mal in die Augen und dann küsste er sie stürmisch.
„Hey!“, quiekte Mrs. Baker, doch Emma bekam das nur am Rande mit. Sie versuchte, sich von Dave zu lösen, doch er war viel stärker, als sie.
Nach einer gefühlten Ewigkeit stürmten zwei Typen an, die die Lehrerin anscheinend angewiesen hatte, Dave von Emma wegzuziehen. Er wehrte sich, doch sie waren stärker.
„Und jetzt ab mit ihnen zum Rektor, alle beide!“, schrillte die Stimme von Mrs. Baker durch den Raum.
Als sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, erwiderte Emma: „Aber Mam, ich hab doch gar nichts gemacht!“
„Keine Diskussion!“ Sie begleitete die beiden auf den Flur, da stand ihnen plötzlich ein bekannter schwarzer Haarschopf gegenüber.
„Ist alles in Ordnung, Mam?“, fragte Will aufmerksam.
„Ah, Mr. Lavie, wären Sie wohl so gut und bringen die beiden hormongesteuerten Teenager mal zum Rektor?“
„Natürlich“, sagte er mit seiner warmen Stimme, kam aber nicht umhin, Emma mit einem merkwürdigen Blick zu mustern. Dave schien das alles nur hintergründig wahrzunehmen und schaute sie unentwegt an.
„Was ist passiert?“, wollte Will wissen, nachdem die Lehrerin zurück in die Aula verschwunden war. Sein Ton war dabei ganz und gar nicht mehr warm, sondern eher kalt.
„Er hat mich einfach geküsst, gegen meinen Willen. Und er hat nicht mehr aufgehört.“
„Das stimmt doch gar nicht, du hast mir gesagt, dass ich dich küssen soll, und dass du es auch willst!“, unterbrach Dave sie.
„Ja, das war aber nur für das Theaterstück! Oder heißt du neuerdings Romeo?“
„Emma?“, lenkte Will ihre Aufmerksamkeit auf sich. „Sehe ich das richtig, dass du ihm beim Theaterspielen etwas gesagt hast, was er dann auch wirklich gemacht hat? Etwas, was er normalerweise nicht getan hätte?“
„Ja.“ Verwirrt schaute sie ihn an.
„Ist dir das schon mal passiert?“
Emma musste nicht lange überlegen. „Ja, heute mit dem Geschichtslehrer.“
Seine Miene verdunkelte sich.
„Wieso, ist das schlimm? Heißt das…“ Sie wollte den Satz nicht beenden.
Will vergewisserte sich erst, dass sie alleine auf dem Flur waren, dann beugte er sich zu Dave und sagte eindringlich zu ihm: „Du gehst jetzt zum Rektor. Sag ihm, was du für Emma empfindest und dass du so etwas nie wieder machen wirst. Du wirst sie nie wieder küssen. Aber sie verzeiht dir.“
Daves Augen wurden erneut kurz glasig, wie sie es auch schon zuvor waren, dann lief er zielstrebig in Richtung des Verwaltungsflurs.
„Es tut mir leid, dass das passiert ist. Ich wusste nicht, dass es schon so schlimm ist. Du musst vorsichtig damit sein. Die Vorstellung, dass dieser Jüngling dich angefasst hat… seine Gedanken sind animalisch! Wenn dir keiner geholfen hätte, dann hätte er dich noch auf der Bühne…“ Weiter sprach er nicht und sah zornig zu Boden.
„Seine Gedanken?“, fragte Emma und bemühte sich, sich den Ekel und ihr Unwohlsein nicht anmerken zu lassen.
„Hast du schon vergessen, dass ich sie sehen kann, wenn ich ihn beeinflusse? Alles, was er in der letzten Zeit gedacht hat strömt dann auf mich ein. Ich habe also gesehen, was gerade passiert ist und ich weiß auch, was er dabei gedacht hat, auch wenn ich darauf wirklich hätte verzichten können.“
Emma schluckte einen dicken Kloß im Hals herunter.
„Wenn ich jetzt Leute manipulieren kann… Kann ich das auch mit dir machen?“
Will lachte kurz. „Nein, das geht nur mit Menschen. Was würdest du mir denn sagen?“
„Nichts“, murmelte sie und senkte den Blick, als sie spürte, dass sie rot wurde.
Glücklicherweise läutete in diesem Moment die Schulklingel und die ersten Schüler strömten aus ihren Klassenräumen.
Um fünf Uhr traf Emma bei Paula ein, wo Olivia auch schon wartete. Da keiner von ihnen heute Abend vorhatte, auf Alkohol zu verzichten, mussten sie zur Schule laufen und Paulas Haus stand nur einige Blocks entfernt.
Gemeinsam machten die Mädchen sich fertig und Paula kümmerte sich wirklich geschickt um die Haare der anderen. Als sie nach fast zwei Stunden fertig waren, kam Paulas kleiner Bruder Benny herein und fragte, ob sie Prinzessinnen seien. Die drei lachten und nun betrat auch Paulas Vater den Raum, der ankündigte, dass er mit ihrer Mutter und Benny jetzt Essen gehen würde, damit sie das Haus für sich hatten. Gegen sieben kamen Chloe und Hailey mit ihren Ballbegleitern Dan und Garry, die zwar beide nicht schlecht aussahen, aber für eine tiefergehende Unterhaltung nicht sonderlich gut geeignet waren. Es kamen noch mehr Leute aus der Schule, auch Typen die wie Emma und Paula keine Begleitung hatten, und als gegen zwanzig nach sieben die letzten Leute eingetroffen waren, waren sie mindestens zwanzig. Auch Jayden kam und Olivia fiel ihm um den Hals. Sie fingen alle schon mal an zu trinken und drehten die Musik laut. Die Stimmung war ausgelassen.
Als sie um halb neun aufbrachen, konnte man die Musik von der Schule schon hören. Es dämmerte schon und der Mond stand blass am Himmel. Er war schon fast voll.
Alle bemühten sich, ihre alkoholischen Getränke auszutrinken, bevor sie um die Ecke der Schule bogen.
Offiziell hatte der Ball schon um halb neun begonnen, es war kurz nach neun, als sie die umfunktionierte Turnhalle betraten. Die Tanzfläche war schon ziemlich voll und es wurde Musik aus den Charts gespielt.
An einer langen Wand waren viele Tische errichtet, auf denen Käse-Spieße, Schnittchen und Kräcker standen. Ein bisschen weiter links verteilten Lehrer Bowle.
Olivia verschwand bald mit Jayden in der Masse und Paula ergriff Emmas Hand. „Komm, wir holen uns jetzt was zu Trinken“, sagte sie und zog sie mit sich. Dan, Chloes Begleitung, hielt ihnen verdeckt ein kleines Fläschchen hin, als sie mit den vollen Bechern wieder kamen. Sie hatten ein paar davon noch schnell bei Paula zu Hause abgefüllt und einige der Jungs hatten sich bereit erklärt, sie mitzunehmen. Kichernd gossen sie sich einen Schluck des Wodkas in ihre roten Becher.
Als Emma sich wieder aufrichtete, erblickte sie Will am anderen Ende der Halle, der sie anschaute. Unbemerkt hob sie ihren Becher und zwinkerte ihm zu.
Kurze Zeit später genehmigte sie sich einen Käsespieß, als sie von der Seite angesprochen wurde. „Emma, was hältst du von dem Kerl da? Der sieht lecker aus, oder? Also natürlich nur bildlich gesprochen.“
Sie zuckte zusammen, als sie neben sich Zoey erkannte, die wirklich fabelhaft aussah und ebenfalls einen Käsespieß im Mund hatte.
„Was machst du denn hier?“, fragte Emma überrascht.
„Naja, ich bin mit ihm da hier.“ Mit dem Kopf deutete sie auf einen Kerl, der in Wills Stufe ging. „Ich glaube, ich werde später mit ihm abhauen.“
„Aber du wirst ihm doch nichts tun?“, wollte Emma zweifelnd wissen.
„Na hör mal, ich bin satt. Aber eine Frau hat auch andere Bedürfnisse, das solltest du ja wohl am besten wissen.“ Zoey zwinkerte ihr zu und schritt dann mit katzenartigen Bewegungen auf ihre Begleitung zu, dessen Augen sich sofort weiteten, als er sie bemerkte.
Emma kicherte und schüttelte den Kopf. Sie nahm sich noch einen Käsespieß und wollte gerade zurück zu ihren Freunden gehen, als sie mit jemandem zusammenstieß.
„Oh, entschuldige. Ich wollte nicht…“
„Macht ja nichts“, erwiderte jemand, dessen Stimme Emma sofort als Wills identifizieren konnte. Sie schaute schnell hoch in sein Gesicht und grinste.
„Hey. Wie geht’s dir?“
Anstatt auf ihre Frage zu antworten betrachtete Will sie eingehend. „Sag mal, ist Dave hier?“
„Ich weiß nicht, wieso? Ich habe ihn noch nicht gesehen.“
„Ich habe ihn zwar beeinflusst, aber ich weiß nicht, ob er die Finger von dir lassen kann, wenn er dich sieht“, sagte er und schaute sie dabei mit einem so intensiven Blick an, dass Emmas Knie weich wurden.
In diesem Moment kam Zoey wieder. „Brüderchen, da bist du ja! Ich habe gerade beschlossen, mir ein neues Getränk zu holen. Kommt mit, wir drei müssen einfach einmal zusammen trinken.“
„Ich trinke heute Abend nichts“, sagte Will.
„Ach sei doch nicht so eine Spaßbremse“, meinte seine Schwester grinsend.
„Das hat mit Spaßbremse nichts zu tun, ich passe auf Emma auf.“
„Emma ist doch kein Baby mehr oder?“, fragte sie nun an Emma gewandt. Diese schüttelte den Kopf.
„Komm schon“, ermutigte Zoey ihn wieder.
„Du musst ja nur einen Becher trinken, uns zuliebe“, redete nun auch Emma auf ihn ein. Er seufzte und ergab sich.
„Aber nur einen!“
Zoey kam nur eine Minute später mit drei Bechern zurück. Als Emma einen Schluck davon nahm, musste sie sich bemühen, nicht gleich alles wieder auszuspucken, so viel Alkohol hatte Zoey anscheinend dazu gemischt. Emma hustete und ihr Rachen brannte.
Will nahm ebenfalls einen Schluck und schaute Zoey finster an. „Das kannst du ihr doch nicht geben, sie ist körperlich in vieler Hinsicht immer noch nur ein Mensch. Sie bekommt doch eine Alkoholvergiftung, wenn sie das jetzt austrinkt.“
Um ihn zu provozieren und weil der Alkohol des gesamten Abends schon bei ihr angesetzt hatte, grinste Emma ihn an und setzte das Getränk erneut an den Mund. Doch noch bevor sie trinken konnte, schnappte Will ihr den roten Becher aus der Hand und exte ihn. Er ließ sich nicht anmerken, wie schrecklich diese Mischung schmeckte.
Als Emma empört nach seinem Becher griff, nahm er auch diesen an den Mund und trank ihn komplett leer. Und obwohl mindestens 0,4 Liter hinein passten, griff er sich auch noch Zoeys, als Emma Anstalten machte, diesen zu nehmen.
Erstaunt schaute seine Schwester ihn an. „Hey, ich dachte du willst nichts trinken?“ Wills Blick war zornig, als er sich umdrehte und ging.
Emma sah ihn eine ganze Stunde nicht mehr, in der sie tanzte, mit Paula über die Leute lachte und trank. Ab und zu kamen Olivia und Jayden vorbei. Die beiden sahen wirklich glücklich miteinander aus, was Emma ein Lächeln übers Gesicht schickte. Nichtsdestotrotz machte sich der Alkohol nicht nur in Form eines Hochgefühls bemerkbar, sondern auch durch Druck auf der Blase.
Emma entschuldigte sich und verließ die große Halle auf dem Weg zum Flur mit den Umkleiden. Am rechten Ende des Ganges sah sie schon eine lange Schlange, an die sie sich fast angestellt hatte, doch dann bemerkte sie zwei Gestalten am anderen Ende des Gangs. In der einen erkannte sie ihren Vampir und mehr oder weniger gerade lief sie auf ihn zu. Die andere Person war ein Kerl, von dem Emma glaubte, ihn vom sehen zu kennen. Er ging in die gleiche Stufe, wie Will. Er verabschiedete sich jedoch mit einem Zwinkern, als Emma näher kam und ließ die beiden somit alleine.
„Hey“, sagte Will, als sie vor ihm stand. Er hatte ein Glas in der Hand, das mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit gefüllt war.
„Ich wusste gar nicht, dass sie hier Alkohol ausschenken“, bemerkte Emma.
„Tun sie auch nicht. Aber Mr. Hanson hat mir freundlicherweise – und ganz freiwillig, versteht sich – etwas von seinem privaten Vorrat im Schulkeller abgegeben.“
„Oh, das ist ja nett von ihm“, kicherte Emma. Sie griff nach dem Glas, weil sie mal probieren wolle. Doch Will zog es blitzschnell weg. Dadurch dass sie unerwartet ins Nichts griff, verlor sie das Gleichgewicht und stolperte nach vorne, direkt in seine Arme. Für einige Sekunden waren beide so überrascht, dass sie in dieser Pose verharrten. Emma nutzte es aus und tat etwas, wogegen er sich nicht wehren konnte: sie küsste ihn auf den Hals. Dann legte sie die Hände auf seinen Bauch und drückte sich von ihm weg. Wills Blick war unergründlich, doch Emma grinste ihn frech an.
Dann drehte sie sich um und ging in Richtung Toilette.
Zoey verkündete ihr schon um zwölf, dass sie mit zu einem Kerl fahren würde, sie bräuchten also später nicht auf sie zu warten. Der Typ, mit dem sie ging war allerdings ein anderer, als der, mit dem sie gekommen war.
Emmas Alkoholpegel war perfekt – sie war unendlich gut gelaunt, tanzte und hatte Spaß.
Sie hatte gerade mit einem Typ aus ihrer Stufe getanzt. Eigentlich hatte sie vor, sich noch ein Getränk zu holen, doch plötzlich stand Will mitten auf der Tanzfläche vor ihr.
„Pass bitte auf, mit wem du tanzt, ja?“, sagte er und beugte sich dabei herunter, damit sie ihn bei der Lautstärke verstehen konnte.
„Alles klar, dann tanz du mit mir.“
„Ich tanze nicht.“
Emma zog die Augenbraue hoch. „Spaßbremse. Na komm schon“, sagte sie, nahm seine Hand und zog ihn mit sich.
Tatsächlich konnte sie ihn überreden und nach und nach hatte sie den Eindruck, dass auch er daran Gefallen fand. Sie wusste nicht, wie betrunken Will war, oder ob er es überhaupt war, denn schließlich war er ein Vampir. Trotzdem wagte sie einen weiteren Schritt nach vorne. Sie zog ihn näher an sich heran und ließ die Hüften kreisen. Erst reagierte er nicht darauf, doch dann zog er sie noch ein Stück weiter zu sich. So nah, wie sie ihm jetzt war, legte sie ihm die Hände auf die Brust, spreizte die Finger und ließ sie langsam an ihm herunter gleiten. Dabei schaute sie ihm verführerisch in die Augen. Schließlich hakte sie die Finger lässig in den Bund seiner Anzughose ein, nahm sie dann aber nach kurzer Zeit weg. Als der Song zu Ende war, hauchte sie ein „Bis später“ und verschwand dann durch die Menge, um Paula zu suchen.

„Emma, sie haben sich geküsst!“, rief kurze Zeit später hinter ihr die aufgeregte Stimme von Paula. Dabei deutete sie auf einen Punkt inmitten der tanzenden Leute, wo Emma Olivia und Jayden ausmachen konnte.
„Wirklich?“ Sie staunte nicht schlecht.
„Ja, ich hab alles gesehen!“ Erst jetzt bemerkte Emma, dass Paula anscheinend auch recht gut dabei war.
„Ich hab dich mit Will tanzen sehen. Ich dachte, den hast du als Psychofall abgeschrieben?“
Emmas Augen wurden groß. „Ja, ich… naja, hab ich auch. Aber ich wollte ihm nicht so einen Korb geben, er tat mir leid.“
„Na dafür ging’s aber heiß her bei euch. Er sieht aber auch gut aus.“
„Da musst du dich vertan haben“, murmelte Emma, aber ihr wurde bewusst, dass Paula betrunken war und sich morgen an die Details des Abends nicht mehr erinnern würde.
Emma genoss den Abend in vollen Zügen und war regelrecht traurig, als Will ihr um halb drei mitteilte, dass die Veranstaltung jetzt langsam dem Ende zuging und er nach Hause fahren wollte.
Sie nahmen sich ein Taxi, denn zu Fuß war es noch ein gutes Stück bis zu Wills Haus. Während der Fahrt spürte sie immer wieder seine Blicke auf ihr ruhen und als sie ausstiegen, nahm er ihre Hand. Verwundert schaute sie von ihrer Hand zu ihm. Er sah ihren verwirrten Blick und lächelte.
„Wie viel hast du eigentlich getrunken?“, lallte sie.
„Naja, die paar Becher von Zoeys vermurkster Bowle… und zwei Flaschen Whiskey.“
Mit großen Augen sah Emma ihn an. „Und da bist du nicht betrunken?“
Mit einer schnellen Bewegung beugte er sich zu ihr. „Wer hat gesagt, dass ich nicht betrunken bin?“
Sie liefen die Auffahrt hoch, blieben aber auf der geräumigen Veranda stehen.
Emma stolperte, doch Will fing sie auf. Sie lachte und hielt sich dabei an ihm fest. Er schaute sie dabei interessiert an.
„Was war es eigentlich, weswegen du mich heute gefragt hast, ob du mich auch manipulieren könntest?“
„Ja, das wüsstest du gern“, kicherte Emma.
„Zugegebenermaßen, ja.“
„Wenn ich dich manipulieren könnte, würde ich dir sagen, dass du mich küssen sollst, wie du noch keine geküsst hast. Mit all deiner Leidenschaft. Und ohne, dass es dir später leid tut.“
Wills Gesicht, das sonst eher selten seine Gefühle preisgab, nahm nun einen leidenden Ausdruck an. Er legte seine Hände um ihre Hüften und zog sie näher an sich. „Du weißt, dass wir das nicht machen können. Es geht einfach nicht.“
Sie versuchte, gegen einen langsam aufkommenden Schwindel anzukämpfen.
„Zu schade.“ Aus einer unerklärlichen Intention heraus griff sie ihm bei diesen Worten in den Schritt und übte einen kurzen Druck aus. Sie sah noch, wie seine Augen sich weiteten, doch dann lief sie auf die Haustür zu.
Sehr weit kam sie nicht, denn im selben Moment wurde sie gegen die Tür gedrückt.
Will stütze seine Hände direkt neben ihrem Gesicht ab. Siedend heiß fiel Emma ein, dass sie das ganze Haus für sich hatten, denn Zoey war nicht zu Hause und seine Eltern waren in Ohio.
„Emma!“ Er sah sie eindringlich an. „Ich bin betrunken, du musst dringend damit aufhören.“
„Damit etwa?“, fragte sie unschuldig und fasste an seinen Hintern, um ihn näher an sich zu ziehen. Gleichzeitig drückte sie den Rücken etwas durch, damit ihre Brüste ihn streiften.
„Nur mal angenommen“, flüsterte sie in sein Ohr, wobei sie kurz an seinem Ohrläppchen knabberte. „Drinnen sieht uns doch niemand, oder? Wie soll das schon rauskommen?“
Sie zog sich zurück und schaute ihm direkt in die Augen. Seine Pupillen hatten sich ein paar Nuancen dunkler gefärbt.
Einen scheinbar endlosen Moment lang schien er mit sich zu kämpfen. Dann stieß er sich von der Tür ab, schob Emma ein Stück zur Seite und schloss dann auf.
Er ging auf die Garderobe zu und hängte seine Jacke auf.
Emma blieb perplex von dieser Abfuhr erst noch einen Moment draußen stehen, bevor sie schließlich eintrat und die Tür hinter sich schloss. Als sie sich wieder umdrehte, um zu schauen, ob Will schon nach oben gegangen war, stand er direkt vor ihr. Erneut drückte er sie gegen die Tür, diesmal von der anderen Seite. Sein Mund senkte sich auf ihren und Will küsste sie hart und fordernd. Emma keuchte auf und griff in seine Haare, um ihn noch näher an sich zu ziehen. Sie konnte seine Erektion an ihrem Bein spüren.
Mit scheinbarer Leichtigkeit hob er sie hoch und trug sie mit einem Wahnsinnstempo die Treppe hoch bis in sein Zimmer. Dort legte er sie auf dem Bett ab, schaut noch ein Mal schnell aus dem Fenster und schloss dann die Vorhänge.
Sofort war er wieder bei Emma. Während er sie küsste, knöpfte sie sein Hemd auf, unter dem seine perfekten Muskeln zum Vorschein kamen. Mit den Fingern fuhr sie diese entlang, bis sie am Bund seiner Hose ankam.
Er zog sie jetzt auf sich, sodass sie auf ihm lag. Eine bisher unbekannte Leidenschaft breitete sich in ihr aus und löste ein starkes Ziehen in ihrem Unterleib aus, als er den Reißverschluss ihres Kleides öffnete und ihre nackte Haut berührte.
Kurze Zeit später lag ihr Kleid neben seinem Hemd und seiner Hose und beide trugen nur noch Unterwäsche.
„Du bist so wunderschön, Emma“, raunte Will ihr ins Ohr, bevor er mit einer flinken Bewegung ihren BH aufspringen ließ. Sie sog scharf de Luft ein, als er ihre Brust berührte und mit dem Mund leicht daran saugte.
„Wenn du aufhören willst, musst du Bescheid sagen“, sagte Will heiser.
„Ich will nicht aufhören, glaub mir“, flüsterte sie und griff dabei in seine Shorts, was ihm ein kehliges Stöhnen entlockte.
Emma umfasste seine Männlichkeit und bewegte ihre Hand langsam auf und ab. Sie hörte, wie er die Zähne zischend aufeinander biss. Grinsend ließ sie von ihm ab und küsste ihn. Dabei biss sie ihm leicht in die Unterlippe. Keuchend ließ er die Hände an ihren Hüften entlang gleiten und Emma drückte den Rücken durch. Ihre Brüste trafen auf die heiße Haut seiner Brust und ein wohliger Schauer schlich sich ihren Rücken hinab. Will richtete sich auf, so dass sie auf seinem Schoß saß. Als seine Erektion gegen ihre Schenkel drückte, sammelte sich die Hitze mit einer solchen Kraft zwischen ihren Beinen, dass sie erregt aufstöhnte und die Beine enger um Wills Hüften schlang.
„Emma, du machst mich verrückt.“ Seine raue Stimme drang wie durch Watte an Emmas Ohr. Sie wollte ihm antworten, doch in diesem Moment war er mit der Hand an ihrem Tanga angekommen und ließ seine Finger fahrig über ihre Haut gleiten. Keuchend wand sie sich unter ihm und spürte, wie er scharf die Luft einsog, als sie gegen seine Erektion kam. Bevor Will ihr das störende Kleidungstück ausziehen konnte, legte sie ihre Hände auf seine Brust und drückte ihn wieder nach unten. Frech grinste sie ihn an und schaute ihm in die Augen, in denen sich die Überraschung spiegelte. Als er nun ihren Kopf mit einer Hand in ihrem Nacken zu sich herunter zog, trafen ihre Lippen in einem heißen fordernden Kuss aufeinander. Er schmeckte so gut. Ihre Hände, die sie noch auf seine Brust gestützt hatte, spürten jeden einzelnen festen Muskel. Langsam löste sich Emma von seinen Lippen und küsste seinen Hals. Immer tiefer ließ sie ihre Küsse wandern, über sein Schlüsselbein, die glatte Brust hinab, entlang des feinen Haarstreifens unterhalb des Bauchnabels, bis sie an seiner Shorts angekommen war. Als sie aufschaute, sah sie das Verlangen, das sich in seinen Augen widerspiegelte.
„So, ich mache dich also verrückt?“
Grinsend zupfte sie an seiner Shorts und sah ihm dabei in die Augen. Als sie seinen verzweifelten Blick nicht mehr aushalten konnte, senkte sie ihren Blick auf ihre Hände und konzentrierte sich darauf ihm die Shorts auszuziehen und sie zu den anderen Kleidungsstücken auf den Boden fallen zu lassen. Vorsichtig schielte sie auf seine Männlichkeit und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie beeindruckt sie von seiner Größe war. Sanft schob sie sich an seinem Körper hoch, um ihre Lippen auf seine zu legen. Seine Hände umfassten ihre Taille und mit einer einfachen Bewegung warf er sie auf den Rücken während er über ihr aufragte. Ihre Hände hielt er mühelos mit einer Hand über ihrem Kopf fest, sodass sie ihm ausgeliefert war.
„Genug gespielt!“
Sein heiserer Atem roch nach Alkohol, doch Emma war selbst zu berauscht, um davon abgeneigt zu sein, seine vollen Lippen erneut zu küssen. Doch nun war es an Will, seine Lippen über ihre Brüste wandern zu lassen und mit seinen Händen das letzte bisschen Stoff zu ergreifen, dass sie voneinander trennte. Dann lächelte er sie verführerisch an und rutschte an ihrem Körper hinab. Als sie Stoff reißen hörte und spürte, wie er Küsse an ihrer Hüfte verteilte, winkelte sie die Knie an um seinen sanften Küssen auszuweichen. ER machte sie verrückt. Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen und als er nun auch noch Küsse in ihrem Innenschenkel verteilte, stöhnte sie auf und wand sich unter ihm. Doch seine Hände fixierten ihre Beine.
Langsam fuhr er mit den Fingerspitzen vom Knie über die Innenseite ihres rechten Oberschenkels hinab. Das Ziehen in ihrem Unterleib wurde immer intensiver und Emma spürte mehr als deutlich, wie bereit sie war. Wills Finger wurden langsamer, je mehr er sich ihren intimsten Stellen näherte und Emma schloss die Augen, um ihre Qual ein wenig zu lindern. Doch schnell merkte sie, dass sie so alles noch viel intensiver spürte. Gerade, als sie die Augen wieder öffnete, spürte sie Will mit mindestens zwei Fingern in sie eindringen. Überrascht riss sie die Augen auf und stöhnte laut. Während er seine Finger in ihr bewegte, verteilte er Küsse auf ihrem Venushügel. Als seine warme Zunge ihre empfindlichste Stelle berührte, konnte Emma nicht mehr anders: Sie bog den Rücken durch und krallte sich im Laken fest. Ihrer Kehle entwich ein schon fast animalisches Stöhnen, über das sie selbst erschrocken war. Will spielte ein bisschen mit ihr, doch dann ließ er zu Emmas Enttäuschung von ihr ab.
Langsam hob er seinen Oberkörper, um Emma erneut auf die Lippen zu küssen und sie glaubte verglühen zu müssen, eine solche Hitze lag in diesem Kuss. Will stützte seine Hände neben Emmas Brüsten auf dem Bett ab und sie spürte seine Erektion an ihrem Oberschenkel. Hitzewellen schossen in ihr Unterleib und sie zog Will mit den Händen in seinem Nacken so dicht an sich, dass ihre Brüste seine Haut berührten. Sanft schob er seine Hüfte gegen ihre und sie konnte spüren, wie die Luft sich auflud. Die Hitze überflutete ihren ganzen Körper und sie spreizte die Beine in einer stummen Einladung. Will knurrte und seine Hände wuselten sich in ihre Haare.
Emma spürte seinen harten Penis nur Millimeter von ihrem Eingang entfernt. Nach einem letzten gierigen Blick in ihre Augen bewegte Will sein Becken nach vorne und drang in sie ein. Beide stöhnten lustvoll auf. Emma wand sich unter ihm und ihr Herz setzte für einen Schlag aus. Es fühlte sich so richtig an. Sie fühlte sich vollkommen. Mit sanften Stößen bewegte sich Will in ihr und Emma stöhnte in seinen Mund. Er beschleunigte seine Stöße und sein erregtes Keuchen ging in ein kehliges Stöhnen über. Seine Hände berührten erneut ihre Brust und reizten sie, bis sie den Orgasmus nicht mehr zurückhalten konnte. Will stieß sich weiter in sie und ließ sie auf einer Welle davon treiben. Mit letzter Kraft stöhnte er ihren Namen und Emma spürte, wie er sich zuckend in ihr entlud. Nach einigen Minuten löste er vorsichtig seine Hände aus ihren Haaren und rollte sich auf die Seite. Mit einer besitzergreifenden Bewegung zog er sie in seine Arme und vergrub den Kopf in ihrem duftenden Haar. Er spürte, wie sie gleichmäßig atmete. Nachdem er ihr noch einen Kuss auf die nackte Schulter gedrückt hatte, schloss auch er glücklich die Augen.

Sieben


Die Vögel zwitscherten und die Sonne schien auf Emmas Gesicht. Sie ließ die Augen geschlossen und räkelte sich genüsslich. Ein Gefühl von Entspannung und Glück überkam sie, auch wenn sie es sich nicht erklären konnte. Sie spürte, dass heute ein schöner Tag werden würde.
Emma setzte sich auf und sah, dass Will nicht da war. Vielleicht war er unter der Dusche, dachte sie sich.
Mit einem Gähnen stand sie auf und bemerkte, dass sie nur Unterwäsche trug. War sie gestern etwa vielleicht zu müde gewesen, um sich noch umzuziehen? Schließlich konnte sie sich daran erinnern, dass sie viel mit Paula getanzt hatte. Ihr kam auch das Bild in den Kopf, wie sie mit Chloe angestoßen hatte.
Da war noch etwas, das spürte sie ganz deutlich, doch sie kam einfach nicht darauf.
Also zog sie sich schnell etwas über und ging dann ins Bad, wo Will nicht, wie eigentlich erwartet, war. Emma duschte, schminkte sich dezent und zog sich dann neue Klamotten an. Sie ging nach unten, um nach Will zu schauen.
Tatsächlich stand er in der Küche. In der Hand hielt er ein Glas mit dunkelroter Flüssigkeit. Sein Gesichtsausdruck war ziemlich düster und er schien sie gar nicht zu bemerken.
„Hey“, sagte sie und schaute mit großen Augen auf sein Glas. Er zuckte zusammen und blickte auf. Als er sie sah, leerte er seinen Drink mit einem Schluck und spülte dann das Glas aus.
Anstatt ihr einen guten Morgen zu wünschen, schaute er sie nur böse an, während Emma sich einen Orangensaft aus dem Kühlschrank nahm.
„Was ist los?“, fragte sie ihn. Seine Stimmungsschwankungen fingen an, ihr allmählich auf den Geist zu gehen.
„Du fragst mich, was los ist?!“, schnaubte er.
Verwirrt schaute sie ihn an. „Ähm, ja?“
Dann ging ein Ruck durch Wills Mimik und er starrte sie ungläubig an. „Sag mir nicht, dass du dich an nichts erinnern kannst!“
„Was meinst du jetzt genau?“, fragte Emma, der langsam bewusst wurde, dass er Recht haben könnte. Sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, wie sie zu Will gekommen war. Hatte sie etwas Schlimmes getan?
Der Vampir fing an vor Wut zu beben, was ihr ein bisschen Angst einflößte. Mit einem Mal stand er vor ihr und sein Blick bohrte sich in ihren.
„Hab ich… Blut getrunken?“, fragte Emma, die ganz blass wurde.
Erst sah er sie verständnislos an, dann lachte er laut auf. „Nein, mach dir keine Sorgen, du bist immer noch ein Mensch. Aber wie lange du noch weiterleben kannst, oder auch ich, das kann ich dir nicht sagen.“
„Was meinst du damit?“, stammelte sie, doch sie hatte schon so eine Ahnung, wovon er sprach. In diesem Moment blitzten einige Bilder vor ihrem inneren Auge auf, und sie wusste, dass sie den fehlenden Teil des letzten Abends jetzt kannte. Sie und Will auf der Veranda, sie und Will im Flur. In seinem Bett…
„Oh“, hauchte Emma und schaute ihn ängstlich an. Ihr hätte es gestern klar sein müssen, dass er so darauf reagieren würde.
„Ja, oh!“, sagte er mit kalter Stimme.
„Es… tut mir leid, das hätte nicht…“, doch Will unterbrach sie.
„Da hast du Recht. Ich halte es für das Beste, wenn du gleich nach Hause fährst. Das Taxi ist schon auf dem Weg. Genieß den Tag mit deinen Freunden und deiner Familie. Bis heute Abend.“
Er verschwand, ohne dass Emma noch ein Wort dazu sagen konnte. Er hatte ihr ein Taxi gerufen! Offenbar sah er sich nicht mal mehr dazu in der Lage, sie selbst zu fahren! Und jetzt ließ er sie noch einfach so hier stehen…
Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken und vergrub das Gesicht in den Händen. Obwohl sie tief durchatmete und versuchte, sich zu beruhigen, konnte sie die Tränen nicht verhindern.
Er ging einfach weg, als wäre es ihm egal, dass Emma morgen Abend vielleicht sterben könnte. Dabei war es so schön gewesen zwischen ihnen beiden letzte Nacht… Und er hatte sie nicht einmal gefragt, wie es ihr jetzt ging! Will war mal wieder nur sauer auf sie, obwohl sie gar nichts gemacht hatte. Es gehörten doch immer zwei zu so einer Sache, oder? Sie hatte das Gefühl, dass sie alles falsch machte, ganz egal, was sie tat. Dazu kam noch, dass sie ihre Familie und ihre Freunde anlügen musste. Und was war überhaupt, wenn sie morgen tatsächlich sterben würde? Sie war doch erst 17!
Durch ein lautes Hupen wurde Emma aus ihren Gedanken gerissen. Anscheinend war das Taxi schon da. Schnell rannte sie nach oben, um ihre Sachen zu holen und achtete dabei darauf, Will nicht zu begegnen. Offenbar hatte dieser die gleiche Absicht gehabt, denn von ihm war nirgends etwas zu sehen.
Unten schloss Emma die Tür hinter sich und nannte dem Taxifahrer dann ihre Adresse.

Kurze Zeit später lag Emma zu Hause auf ihrem Bett und starrte an die Decke. Sie sollte sich bei ihren Freundinnen melden, um noch ein bisschen Zeit mit ihnen zu verbringen, aber sie brachte es nicht fertig, Olivias oder Paulas Stimme zu hören, ohne in Tränen auszubrechen und ihnen alles zu erzählen. Nach einer Weile klopfte es zaghaft an der Tür. Emma bat zwar nicht herein, doch Jayden betrat ihr Zimmer trotzdem.
„Hey“, sagte er leise. „Wie geht es dir?“
„Toll“, antwortete Emma ironisch. „Und dir?“
„Gut. Ich hatte einen schönen Abend gestern.“ Bei der Erinnerung musste er lächeln, was auch Emma ein Schmunzeln übers Gesicht huschen lies. „Wahrscheinlich wird mir Olivia später noch alles bis ins kleinste Detail erzählen.“ Jayden sah erst etwas erschrocken aus, lachte dann aber verlegen.
„Sag mal… Ich hab mich gefragt, ob du mir vielleicht helfen könntest, ein paar alte Dokumente durchzusehen. Von meiner Mutter und so. Vielleicht kann ich dann rausfinden, warum ich Auren sehen kann.“
Emma war überrascht, dass er sich ihr so öffnete, stimmte aber schnell zu, bevor er es sich anders überlegen konnte. So saßen sie einige Minuten später mit dampfenden Kakaobechern, die sie noch schnell organisiert hatte, auf dem Boden von Jaydens Zimmer. „Ein paar alte Dokumente“ stellten sich als ein riesengroßer Stapel von Papierkram heraus und die beiden hatten jede Menge zu tun.
Jaydens Mutter, Maria, schien selten etwas weggeschmissen zu haben und so fanden sich in dem Haufen nicht nur Babyfotos von ihrem Sohn, sondern sogar alte, schon leicht vergilbte Zeugnisse von ihr selbst.
Sie besahen sich jedes einzelne Stück und überlegten, ob es ihnen helfen konnte.
Zwei Stunden später blickten sie sich enttäuscht um, ob sie nicht doch noch etwas übersehen hatten, doch da lag kein Schnipsel mehr auf dem Boden. Das Einzige, was sie auf den Stapel der eventuell hilfreichen Papiere gelegt hatten, war ein Foto von Maria und einem Mann, dessen Gesicht unkenntlich gemacht wurde, und ein Brief an eine Freundin. Darin schrieb sie, dass sie sich gefangen fühlte und „hier“ raus wollte, auch wenn nicht klar wurde, wo sie sich überhaupt befand.
„Ob sie im Gefängnis war?“, vermutete Emma, doch Jayden schüttelte den Kopf.
„Das kann ich mir wirklich nicht vorstellen. Steht ein Datum drauf?“
Emma reichte ihm den Brief. „1988. Da war sie erst 23.“
„Und das war’s?“, fragte Emma. „Mehr Dokumente hast du nicht?“
Nach kurzem Zögern sagte Jayden: „Ich hab noch einen Safe aus ihrem Nachlass, den sie in unserem Keller versteckt hatte… Ich weiß aber nicht, was drin ist. Ich bekomme ihn einfach nicht auf.“
„Hat sie dir keinen Code, oder einen Schlüssel hinterlassen?“
„Nein, willst du’s selbst mal versuchen?“
Emma nickte und Jayden holte einen kleinen, dunkelgrünen Tresor aus der untersten Schublade seines Schrankes. Auf der Tür prangte ein altertümliches Zahlenschloss und die Ecken waren vom Rost schon angefressen.
„Hast du schon ihren Geburtstag ausprobiert? Deinen Geburtstag? Den Geburtstag ihrer Eltern? Hatte sie Geschwister?“
„Hab ich alles schon ausprobiert, es klappt nicht.“
Emma drehte unschlüssig ein bisschen an den Zahlen herum, in der Hoffnung, dass es überraschend „klick“ machen würde, und der Safe seinen Inhalt preisgab, doch nichts dergleichen geschah.
„Vielleicht eure alte Hausnummer? Telefonnummer?“
Die beiden probierten diverse Kombinationen, doch nichts klappte.
„Weißt du was, ich werde jetzt mal den Werkzeugkasten holen. Irgendwie muss dieses Ding doch aufzubekommen sein“, kündigte Emma an.
„Bleib sitzen, ich hol schon“, bot Jayden sich an und Emma kniete sich wieder auf den Boden. Nachdenklich nahm sie den Brief nochmal zur Hand. Dabei fiel das Foto herunter, sodass es mit der Rückseite nach oben zeigte.
Erstaunt kniff Emma die Augen zusammen. Da unten rechts in der Ecke, waren das etwa Zahlen? Schnell nahm sie das Foto hoch und betrachtete es genauer.
Tatsächlich standen dort in winziger Frauenhandschrift die Ziffern 8763

. Hastig machte sie sich daran, die entsprechende Kombination einzustellen.
Klack!


Die Tür sprang mit einem Quietschen auf.
„Jayden!“, rief Emma sofort, doch dieser schien schon in der Garage zu sein, denn er antwortete nicht.
Gespannt öffnete sie die Tür ein Stück weiter, um hineinsehen zu können. Dabei fielen ihr einige Zettel entgegen. Normalerweise hätte Emma gewartet, bis Jayden wieder da war, schließlich waren dies die letzten Sachen seiner Mutter, die er noch nicht gesehen hatte, doch ihr Blick blieb auf dem obersten Zettel hängen. „Schmidt & Partner – Adoptionsagentur“ stand ganz oben im Briefkopf als Logo. Sie hielt die Luft an, doch bevor sie weiterlesen konnte, hörte sie Schritte auf der Treppe. Jayden kam zurück. Schnell stopfte sie das Papier wieder ganz unten in den Safe. Sie wollte nicht, dass er dachte, dass Emma in seinen Sachen rumwühlte, denn genauso fühlte es sich gerade an.
„Hey, ich hab das Teil schon aufbekommen!“, sagte sie, als er zur Tür hereinkam. Mit einem Schnaufen stellte er den schweren Werkzeugkasten auf den Boden. „Jetzt echt? Wie hast du das denn geschafft?“
„Da war eine Zahlenkombination auf dem einen Foto… sagen dir die Zahlen 8763

irgendwas?“
Jayden überlegte kurz, dann schüttelte er den Kopf. „Was ist denn drin?“
Er hockte sich neben sie und öffnete die Tür. Er konnte ja nicht ahnen, dass sie das zuvor schon getan hatte.
Einerseits war sie wirklich neugierig, was sich noch in dem Safe befand, andererseits fühlte sie sich schuldig und wollte am liebsten kurz in die Küche, oder so.
Von diesem Dilemma erlöste sie ein Klingeln an der Haustür. Verwundert schaute Jayden sie an. „Erwartest du jemanden?“
Verwundert schüttelte sie den Kopf. „Das sind bestimmt nur die Nachbarn, die sich etwas Milch ausleihen wollen. Ich geh mal.“ Damit stand sie auf und ließ Jayden alleine in seinem Zimmer.
Vor der Tür stand ein Typ mit braunen Haaren und schwarzer Jacke. Irgendwie kam er Emma bekannt vor, doch sie konnte ihn nicht einordnen. Einer von Jaydens Freunden wahrscheinlich.
„Jayden da?“, wollte er wissen. Kannst du auch in ganzen Sätzen sprechen?

, fragte sie sich.
„Wer bist du?“
„Wer will’n das wissen?“ Die Dummheit in Person also.


„Ich?!“, sagte Emma ungeduldig.
Das schien ihm eine Erleuchtung zu kommen. „Wieso stehste auf mich?“ Dabei grinste er frech.
Und mit einem Mal fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: das war der Schläger! Dieser Junge hatte Jayden auf dem Schulhof bewusstlos geschlagen!
Drohend machte Emma einen Schritt auf ihn zu. „Was willst du hier?“ Sie war erschrocken über ihre eigene Stimme, die einem Knurren von einem wilden Tier ziemlich ähnelte. Der Junge war offenbar auch erschrocken, entschied dann aber, dass er vor einem Mädchen keine Angst zu haben brauchte.
„Jayden schuldet mir noch was“, sagte er lässig und kaute dabei auf seinem Kaugummi.
„Willst du ihn wieder schlagen? Wenn er eh schon am Boden liegt noch mal so richtig zutreten?“ Emma machte noch ein paar Schritte auf ihn zu und der Kerl wich vor ihr zurück. Trotzdem blieb er frech. „Kann er sich nicht selbst verteidigen?“
„Ich schätze, es sieht nicht so gut aus, mit einer geprellten Rippe und einem geschwollenen Gesicht.“ Sie musste ja nicht erwähnen, dass es Jayden inzwischen schon wieder gut ging. Sollte dieser Kerl ruhig wissen, was er angestellt hatte.
„Na das hatte er aber auch verdient.“ Entgegnete er anstatt sich zu entschuldigen. Da gab Emma ihm eine Backpfeife. Sie war immer noch nicht wirklich an solche Situationen gewöhnt und hatte sich schon gar nicht unter Kontrolle, wenn sie impulsiv handelte. Von daher landete der Junge direkt auf dem Boden und hielt sich seine Wange. Sie meinte, Blut riechen zu können und kam ihm deswegen nicht näher.
„Sag mal, geht’s noch?! Er hatte es wirklich verdient, er schuldet mir noch fast tausend Euro und die will ich wiederhaben!“
„Ja klar, was soll er sich denn für tausend Euro gekauft haben?“, fragte Emma sarkastisch und schnaubte.
„Weißt du das nicht?“, fragte der Junge sie nun ehrlich überrascht. Er lag immer noch auf dem Boden.
Misstrauisch fragte sie: „Was weiß ich nicht?“
„Jayden dealt mit Drogen!“
Im ersten Moment schaute sie ihn entgeistert an. Konnte das stimmen? Jayden hatte viele Probleme in letzter Zeit und so wirklich gut kannte sie ihn nicht…
Sie machte auf dem Absatz kehrt, ließ den merkwürdigen Typen in ihrem Vorgarten liegen und schloss die Tür hinter sich. Dann rannte sie die Treppen hoch und stieß in Jaydens Zimmertür mit ihm zusammen.
„Hoppla! Du glaubst nicht, was ich gerade gefunden habe!“, sagte er aufgeregt.
„Du glaubst nicht, wer gerade vor der Tür stand!“, erwiderte sie ernst.
Überrascht schaute er sie an. „Wer?“ Jetzt, da er auch ihre Aura wahrnahm, zogen sich seine Augenbrauen zusammen. „Was ist los?“
„Ich möchte bitte eine ernsthafte Antwort, Jace.“ Er nickte nur. „Dealst du mit Drogen?“
Emma spürte, wie er sich sofort verschloss.
„Wer war das an der Tür?“
„Ich weiß nicht, wie er heißt, aber das war der Kerl, der dich verprügelt hat. Aber das ist keine Antwort auf meine Frage.“
„Ich habe das gemacht, ja. Aber seit einer Weile nicht mehr, ich schwör’s! Ich hab aufgehört. Wegen… Olivia.“ Er schaute auf den Boden.
„Wieso hast du das denn gemacht? Und wieso schuldest du dem Kerl so viel Geld?“
„Ich bin da irgendwie so hineingeraten und man verdient so gut. Es ist auch nicht so leicht, da dann wieder auszusteigen. Beim letzten Kunden ist was schiefgelaufen und ich habe mein Geld nicht bekommen und bin auf dem Stoff sitzen geblieben, deswegen schulde ich ihm jetzt noch Geld.“
„Nimmst du selber auch Drogen?“, wollte Emma wissen.
„Ab und zu“, gab er zu. „Nach dem Tod meiner Mum…“
Das besänftigte sie ein bisschen. Plötzlich riss Jayden ruckartig seinen Kopf hoch und schaute sie an, als wäre ihm etwas eingefallen. Er hielt seine Hand hoch, in der er ein Papier hielt.
„Ich wollte dir was zeigen! Schau mal, wir sind Geschwister!“ Er schwenkte das Blatt vor ihren Augen, bis sie es ihm aus der Hand nahm.
„Ja, das ist ja jetzt nichts Neues.“
„Nein, nein“, sagte er aufgeregt. „Schau doch mal, ich meine richtige Geschwister!“
Emma schaute und schlug sich die Hand vor den Mund. In den Händen hielt sie Jaydens Geburtsurkunde. Als Eltern waren seine Mutter und ihr

Vater angegeben. Das nächste Blatt waren die Adoptionspapiere, die ihr vorhin schon entgegengeflogen waren. Hier wurde Jayden von seinem eigentlichen Vater, der sich so schnell wieder aus dem Staub gemacht hatte, adoptiert.
8763

, dachte Emma. Der Geburtstag ihres Vaters, 8.6.1963! Maria und ihr Vater waren nicht nur Freunde gewesen, sondern kannten sich besser, als gedacht.
Aber das hieß ja… Schnell schaute sie noch einmal auf die Geburtsurkunde. Jayden war am 12.05.1993 geboren. Da waren ihre Eltern schon verheiratet gewesen und nur ein gutes Jahr später war sie selbst auf die Welt gekommen! Entgeistert schaute Emma ihren Bruder an.
„Anscheinend war dein…äh, unser Vater nicht immer treu.“
Hinter ihnen räusperte sich jemand.
„Hi, ihr beiden“, sagte Daniel, Emma und auch Jaydens Vater. „Ich glaube, wir müssen reden.“
Daniel setzte sich mit den beiden an den Tisch und erzählte. Er sagte, dass es nach einer Betriebsfeier passiert sei, denn er und Maria arbeiteten in der gleichen Kanzlei. Nachher seien sie noch auf einen Absacker zu ihr gefahren, und es hatte sich mehr ergeben. Daniel wusste, dass Maria in ihn verliebt war, doch sie hatte nie etwas gesagt, weil sie seine Ehe nicht zerstören wollte.
Er war nur unglaublich enttäuscht und sauer, weil Christine, seine Ehefrau, anscheinend mit ihrem Fitnesstrainer geschlafen hatte. Er hatte gesagt, dass er ihr verzieh, doch er kam nicht so schnell darüber hinweg.
Er wusste, dass das nicht der richtige Weg war, aber dann war es auch schon zu spät.
Neun Monate später bekam Maria einen Sohn, doch sie war schon lange mit Allen zusammen, den Jayden immer für seinen biologischen Vater hielt.
Daniel wusste überhaupt nicht, dass Jayden sein Sohn war, bis Maria starb. Sie hatte ihm einen Brief hinterlassen, in dem sie alles erklärte. Dass sie ihn zu sehr liebe, als dass sie sein Leben kaputt machen wollen würde.
Daniel hatte seiner Frau sofort alles erzählt und natürlich hatte sie es nicht gutgeheißen, aber letztendlich hatte auch sie Jayden vollkommen akzeptiert und ihn adoptiert.

„Wieso habt ihr mir nichts gesagt?“, wollte Jayden wissen. Er hörte sich ziemlich sauer an.
„Ich weiß nicht. Ich schätze, wir wollten auf den richtigen Zeitpunkt warten, aber dann war es schon zu spät.“
Jayden schnaubte und ging nach oben. Emma lief ihm nicht hinterher. Wahrscheinlich war es besser, wenn er jetzt ein wenig Zeit zum Nachdenken hatte.
Beim Abendessen schien er sich wieder beruhigt zu haben. Er lächelte Daniel sogar einmal kurz zu. Emma wusste nicht, ob es nur Olivias Einfluss war, aber Jayden hatte sich extrem verändert, seit er bei ihnen eingezogen war. Er war längst nicht mehr so verschlossen und schien auch langsam ins Leben zurückzufinden.
Es gab Nudeln mit Pesto, an denen Emma sich satt aß. Die ganze Familie saß zusammen und sie genoss es, denn wer wusste, ob sie in Zukunft auch die Chance dazu haben würde? Nachdem sie die leeren Teller in die Spülmaschine gestellt hatte, nahm sie ihre kleine Schwester Rose auf den Arm und wirbelte sie herum. Diese quiekte vergnügt und konnte gar nicht genug bekommen. In zwei Monaten würde sie drei werden. War Emma dann noch da, um ihr beim Auspusten der Geburtstagskerzen zu helfen?
Schnell schob sie diese Gedanken beiseite, denn sie konnte schlecht auf einmal vor der ganzen Familie anfangen, zu weinen.
Sie blieb länger, als gewöhnlich im Wohnzimmer und blieb sogar so lange, bis es fast Zeit war, zu Will zu gehen. Schnell suchte sie ihre Sachen zusammen und stellte sich genau in dem Moment vor die Haustür, als ein weißer Audi die Auffahrt hochfuhr. Erstaunt erkannte sie Zoey hinter dem Steuer.
„Hey“, begrüßten sich die beiden.
Zoey schien zu merken, dass Emma verletzt darüber war, dass Will sie nicht abholte, doch sie nahm es ihr nicht übel.
„Er muss noch ein paar Besorgungen machen“, sagte sie tröstend.
„Klar“, murmelte Emma.
„Ich weiß ja nicht, was bei euch so los ist, aber er kann manchmal wirklich ein ganz schöner Sturkopf sein. Mach dir da nichts draus, der kriegt sich schon wieder ein.“
Da brach es aus Emma heraus. Mit irgendjemandem musste sie einfach darüber reden. „Es ist einfach nicht nur meine Schuld! Er hat mindestens genauso schuld!“
Wissend schaute Zoey sie von der Seite an. „Ja, manchmal merkt er sowas nicht. Aber ich weiß, dass ihm etwas an dir liegt, auch wenn er das nicht so gut zeigen kann.“
Überrascht sah Emma sie an. „Wie kommst du denn darauf?“
„Na komm schon, wir sind Geschwister. Ich kenn ihn gut genug.“ Zoey lachte. „Er hat es nicht so mit den Gefühlen, das hast du ja sicherlich schon gemerkt. Er vertraut den Leuten nicht schnell. Bei dir ist das irgendwie anders.“ Nach einem bedeutsamen Blick fuhr sie etwas leiser fort. „Deswegen wäre es auch wirklich schön, wenn du es dir nochmal überlegen würdest… Wenn du stirbst, verschließt er sich sicher wieder.“
Emma schwieg und dachte nach. Konnte es sein, dass Will etwas für sie empfand? So, wie er sich verhielt?
Kurz darauf verwarf sie den Gedanken wieder.
Zoey hatte inzwischen angefangen, über Dies und Jenes zu plappern. Offenbar hatte sie gemerkt, dass Emma das Thema nicht wirklich recht war.
Als sie kurze Zeit später das weiße Herrenhaus erreichten, sagte Wills Schwester: „Achja, meine Eltern wollen mal mit dir reden, um zu schauen, wie deine Chancen stehen.“
Emma wurde leicht nervös, denn sie hatte noch nie wirklich viel mit Wills Eltern gesprochen. Aber wahrscheinlich war es gut, sich ihre Meinung einmal anzuhören.
Trotzdem hatte sie ein flaues Gefühl im Magen, als sie die Veranda hochstieg.

Sharon und Ephraim Labeau waren im übergroßen Wohnzimmer. Abgesehen von Wills und Zoeys Zimmern und der Küche hatte Emma noch nicht viel von dem Haus gesehen, deshalb musste sie sich beherrschen, ihren Mund geschlossen zu lassen. Die Wände waren mit dunklem Holz vertäfelt und von der Decke hingen zwei altmodische silberne Kronleuchter. Im Kamin an der Wand prasselte ein Feuer und an den Wänden hingen große Gemälde. In einer Vitrine waren verschiedene Messer und merkwürdig aussehende Geräte, die Emma nicht kannte, zur Schau gestellt. Zu ihrer Verblüffung stand gegenüber der Sitzgruppe aus Leder ein Fernseher.
Zoey hatte die Hand auf ihren Rücken gelegt und führte sie ans andere Ende des Raums, an dem die beiden Vampire standen.
Ephraim begrüßte sie mit einem festen Händedruck, während Sharon sie herzlich umarmte. Die vier setzten sich auf das gemütliche Sofa.
„Morgen Abend ist es so weit und du muss eine endgültige Entscheidung treffen. Ich habe mir bloß gedacht, dass ich dir vielleicht ein bisschen über uns erzählen kann, damit du einen besseren Überblick hast“, sagte Sharon sanft.
„Und wir können mal nachschauen, wie weit du schon bist. Dann wissen wir auch, wie wahrscheinlich es ist, dass… naja, alles gut geht“, fügte ihr Mann hinzu.
„Danke, das ist wirklich freundlich von euch.“ Emma lächelte.
Wills Mutter erzählte, dass sich für sie zunächst natürlich einiges ändern würde, aber nach einer Weile könnte sie in ihr altes Leben zurückfinden.
„In der ersten Zeit kontrolliert dich der Durst, das ist ja klar. Das merkst du ja sogar schon jetzt. Aber später lernst du, damit umzugehen. Außerdem hast du wirklich enorme Vorteile gegenüber den Menschen. Du hast ausgeprägtere Sinne und bist schneller, aber das weißt du ja auch schon.“
„Und du kannst Leute manipulieren!“, fügte Zoey hinzu, was ihr einen bösen Blick von ihrer Mutter einhandelte.
„Aber dafür muss ich unschuldigen Menschen ihr Blut rauben“, warf Emma ein. „Was ist denn, wenn dabei einer stirbt? Ich hätte neulich fast das Blut meines Bruders getrunken!“
„Mit der Zeit lernst du, es zu kontrollieren. Und eine kleine Alternative haben wir ja auch…“
„Ja, aber das ist nur eine minimale Alternative. Außerdem wäre es viel zu schade, wenn ich kein normales Essen mehr schmecken könnte.“
„Hey, ich kann auch noch Sachen schmecken. Das ist anscheinend bei jedem anders“, empörte sich Zoey. „Willst du nicht für immer gesund bleiben und lange leben? Das ist doch toll!“
Emma schaute ihre Freundin von der Seite an. „Und was sage ich dann meiner Familie, wenn ich in dreißig Jahren immer noch genauso aussehe, wie jetzt? Ich will sie nicht alle sterben sehen. Und ich will Kinder bekommen!“
„Wenn dir das so wichtig ist, kannst du auch adoptieren. Es ist zwar sicherlich etwas anderes, aber trotzdem ist es dein

Kind.“
„Und dann soll ich es irgendwann auch zum Vampir machen?!“ Emma schüttelte es bei der Vorstellung. „Nein, es ist wirklich nett, dass ihr euch die Mühe gemacht habt, aber ich denke, mein Entschluss steht fest.“
„Und was ist, wenn du stirbst?“, flüsterte Zoey.
„Ich werde nicht sterben. Ganz einfach.“
„Will hat erwähnt, dass du mit der Verwandlung schon recht weit bist. Was ist dir denn so aufgefallen?“, fragte Ephraim.
„Naja, ich kann natürlich schneller rennen und reagieren, bin stärker, kann andere Menschen hypnotisieren….“
Wills Eltern warfen sich einen alarmierten Blick zu.
„Du kannst schon Leute hypnotisieren?“, fragte Sharon dann wieder an Emma gewandt.
Sie nickte nur.
„Du hast gesagt, dass dein Entschluss feststeht und das akzeptieren wir. Nur musst du wissen, dass wirklich alles auf dem Spiel steht. Du bist fast vollständig verwandelt und es in diesem Stadium noch zu stoppen ist äußerst gefährlich. Ich habe noch nie von einem Fall gehört, bei dem es so spät noch geklappt hat.“
Emma fuhr es kalt den Rücken herunter und sie erzitterte. Natürlich wusste sie, was auf dem Spiel stand, da hatte sie sich zu keinem Zeitpunkt etwas vorgemacht. Aber anscheinend war es nicht mal mehr wahrscheinlich, dass sie überlebte.

Zoey begleitete sie nach oben. Vor Wills Tür blieben sie stehen.
„Du weißt ja hoffentlich, was ich darüber denke“, setzte sie an. „Ich würde mich freuen, wenn du unserem kleinen Clan beitreten würdest und ich bin mir sicher, dass ich da nicht alleine bin.“ Mit dem Kopf deutete sie in Wills Richtung. Sie lächelte Emma noch ein Mal zu und ging dann.
Zögerlich klopfte Emma. Innerhalb einer halben Sekunde öffnete Will die Tür. Er lächelte schief, als er sie sah und bedeutete ihr mit einer Verbeugung, herein zu kommen. Emma runzelte verwirrt die Stirn, sagte aber nichts. Bis sie das Glas auf dem Schreibtisch sah. Neben den leeren Flaschen mit diversem Alkohol.
„Hast du das alles alleine getrunken?!“, fragte sie erschrocken und drehte sich zu ihm um. Er stand immer noch an der Tür.
„Ein alter Bekannter von mir war hier, er hat auch schon mal so ein Ritual durchgeführt und ich dachte, er könnte uns vielleicht helfen. Als uns klar geworden ist, dass das aber nicht so ist, haben wir auf die alten Zeiten angestoßen.“ Will grinste.
Emma fiel die Kinnlade herunter. Als sein Bekannter ihm erzählt hatte, dass er ihr nicht mehr helfen konnte, hatte Will also einfach mit den Achseln gezuckt und sich betrunken. Was soll’s, wo war das Problem? Wenigstens hatte er Emma dann nicht mehr am Hals, ziemlich praktisch. So viel zu den Gefühlen, die Zoey gemeint hatte, zu erkennen.
Sie drehte sich von ihm weg, damit er nicht sehen konnte, wie sehr er sie getroffen hatte. Natürlich stand er blitzschnell wieder vor ihr, auch wenn er kurz das Gleichgewicht verlor.
Wie viel mochte er wohl getrunken haben, schoss es Emma durch den Kopf. Schließlich war er ein Vampir und ihrer Erinnerung nach war er gestern Nacht längst noch nicht so weit gewesen, wie er es jetzt war. Wie sollte er so auf sie aufpassen? Sie hatte eher das Gefühl, dass sie

heute auf ihn aufpassen musste.
„Ich weiß, ich bin manchmal schwierig“, sagte er plötzlich und hielt seine Hand unter ihr Kinn, damit sie ihn ansehen musste.
„Vor allem bist du betrunken.“
Wills Blick wurde leidend. „Tut mir leid, das war keine Absicht. Aber ich habe meine Gründe dafür…“
„Ja, ein Bekannter war da, hast du schon erzählt.“
„Emma“, sagte er in einem ganz komischen Tonfall und zog dabei das „a“ in die Länge. „Dir ist ja wohl klar, dass das für mich kein Grund ist, so viel zu trinken.“
Verwirrt schaute sie ihn an. „Ähm.. sondern?“
„Du“, sagte er und zuckte die Schultern, als ob das auf der Hand läge.
„Ich?“, echote Emma. Er nickte.
„Weißt du eigentlich, wie schlecht ich mich fühle? Es ist ziemlich gut möglich, dass du morgen stirbst und das nur, weil du nicht so werden willst, wie ich.“
Erstaunt schaute sie ihn an. „Ich hatte nicht das Gefühl, dass das so schlimm für dich wäre.“
Seine Augen wurden groß. „Was?? Du glaubst, dass es für mich nicht schlimm wäre, wenn du stirbst?“
„Naja, vielleicht nicht unbedingt nicht schlimm, aber auf jeden Fall…“
Will unterbrach sie mitten im Satz. „Emma! Wenn du stirbst! Ich wüsste doch gar nicht, was ich machen sollte! Das wäre das Schlimmste

! Ich hätte nie gedacht, dass… Also ich weiß ja, dass ich nicht so gut bin mit Gefühlen und so. Aber ich wusste nicht, dass es so schlimm ist.“ Er sah wirklich verzweifelt aus.
„Wenn du mir immer das Gefühl gibst, dass ich irgendwas falsch mache und ich nicht mal weiß was und mir vorkomme, als würde ich dich unendlich nerven… Wie soll ich denn da denken, dass dir was an mir liegt? Du sagst ja nichts.“
Traurig schaute er sie an und legte seine Hand an ihre Wange. „Wenn du wüsstest, wie viel mir an dir liegt. Ich muss dir endlich was sagen. Ich…“
„Du sagst das jetzt auch nur, weil du betrunken bist, wie sonst was“, unterbrach sie ihn schnell. Ihr Herz klopfte bis zum Hals und das Peinliche an der Sache war, dass er es hören konnte. Was wollte er gerade sagen? Waren es etwa die

drei Worte gewesen? Oder interpretierte sie einfach zu viel?
„Du bist betrunken und musst jetzt deinen Rausch ausschlafen, oder was ihr Vampire auch immer macht. Ich werde auf mich selbst aufpassen.“
„Das kannst du nicht. Du musst schlafen. Ich passe auf dich auf.“
„Sag mal, musst du dich eigentlich auch übergeben als Vampir?“
„Ich mein das ernst! Ich kann auf dich aufpassen.“ Während er das sagte, kam er ihr gefährlich nahe. Sie konnte seinen wunderbaren Duft riechen. Sein Blick brannte sich in ihren und sie spürte seinen Atem, der trotz des Alkohols süß geblieben war, auf ihrem Gesicht. Sein Arm lag auf ihrer Taille.
Bestimmt schob Emma ihn ein Stück von ihr weg. „Das kannst du gleich vergessen mein Lieber, nachher bin ich nur wieder schuld. Ich geh zu Zoey.“ Sie nahm ihre Tasche und verließ Wills Zimmer.

Zoey war erstaunt, als Emma in ihr Zimmer stürmte.
„Er ist total betrunken“, gab sie als Erklärung an.
„Er ist was? Ist das dein Ernst?“
„Ja… Hättest du ein Problem damit, wenn ich heute bei dir schlafe?“
„Hmm, nein. Aber warte mal“, sagte sie und ging aus dem Zimmer.
Zehn Minuten später kam sie wieder. „Er hat sich wieder ein bisschen eingekriegt. In einer Stunde ist er nüchtern.“
„So betrunken, wie er war?“, fragte Emma erstaunt.
„Bei Vampiren ist das ganz einfach. Wir müssen einfach nur ein bisschen Blut trinken, um den Alkohol zu verdünnen.“ Nach kurzem Überlegen fügte sie hinzu: „Was hast du mit ihm gemacht? Er war völlig durch den Wind! Er hat gesagt, dass er sich wegen dir betrunken hat und…“
„Und was?“
„Ach nichts.“ Zoey winkte ab.

Eine Dreiviertelstunde später klopfte es an der Tür und Will steckte seinen Kopf herein.
„Emma, kommst du?“
Sie wechselte einen letzten Blick mit Zoey, dann folgte sie ihm in sein Zimmer. Er schien tatsächlich wieder nüchtern zu sein.
„Es tut mir leid, wie ich mich vorhin aufgeführt habe. Ich hätte nicht so viel trinken sollen.“ Will schaute ihr fest in die Augen. „Und trotzdem stimmt alles, was ich gesagt habe. Du bedeutest mir wirklich viel und ich will dich morgen nicht verlieren!“
So etwas aus seinem Mund zu hören, obwohl er nüchtern war, machte Emma sprachlos.
„Willst du es dir nicht noch einmal überlegen? Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass du das Ritual nicht überlebst. Bitte tu mir das nicht an.“ Nachdem Emma immer noch schwieg, fügte er hinzu: „Wenn du ein Vampir wirst, kannst du zu unserem Clan gehören und wir beiden…“ Er ließ den Satz unbeendet.
„Ja Will, was ist mit uns beiden? Wir kommen dann zusammen? Das ist ein wirklich schöner Gedanke. Aber wenn auch nur die geringste Chance besteht, dass ich ein Mensch bleiben kann, dann will ich sie auch nutzen. Ich müsste ja sonst mein ganzes Leben aufgeben, verstehst du?“
Er senkte den Blick. „Ja natürlich. Ich will bloß, dass du deine Möglichkeiten kennst. Ich würde für dich sorgen.“
„Für immer? Das ist eine ganz schön lange Zeit.“
„Die Entscheidung liegt bei dir. Du solltest jetzt schlafen, sonst lässt sich dein Körper noch leichter von dem Gift überwältigen.“
Emma spürte, wie die Müdigkeit sie überkam und stimmte Will zu. Sie würde jetzt schlafen, den morgigen Tag in vollen Zügen genießen und dann würde sie auch das Ritual überstehen.

Emma lief durch den Wald. Die Sonne war schon vor einer halben Stunde hinter den Bäumen verschwunden und so war es schon relativ dunkel. Emma fröstelte leicht und zog ihre Kapuzenjacke enger um die Schultern.
Sie hatte den heutigen Tag mit allen Menschen verbracht, die ihr wichtig waren: mit ihren Eltern, ihre kleinen Schwester, Jayden und mit Paula und Olivia.
Ihre beiden Freundinnen waren zu ihr gekommen und Olivia hatte berichtet, dass es wirklich ernst wurde zwischen ihr und Jayden. Paula konnte Ähnliches von Zach berichten und Emma freute sich wahnsinnig für die beiden. Wieder hätte sie ihnen am liebsten von Will erzählt, hätte ihnen alles erzählt, aber sie ließ es bleiben.
Zum Abschied musste sie sich wirklich zurück halten, damit sie nicht anfing zu weinen. Sie hatte Paula und Olivia gesagt, wie gern sie sie hatte und mehr konnte sie nicht tun.
Auch ihren Eltern hatte sie dies gesagt und der kleinen Rose. Jayden hatte sie sogar zum Anfang des Waldes gebracht. Hier erwarteten sie Zoey, Sharon und Ephraim.
„Will bereitet schon alles vor. Wir werden aufpassen, dass euch nichts passiert“, sagte Sharon.
Emma verabschiedete sich von ihrem Bruder und konnte es nicht mehr verhindern, dass ihr einige Tränen die Wangen hinunterliefen.
„Ich weiß, dass du das schaffst Emma“, beruhigte er sie. „Du musst einfach.“
Jetzt lief sie einen schmalen Waldweg entlang, der immer geradeaus führte. Ephraim hatte gesagt, dass sie an der Gabelung den linken Weg nehmen musste. Von dort aus sollte es nicht mehr weit sein.
Sie versuchte, ihre Umgebung in sich aufzusaugen. Das intensive Grün der Bäume, das langsam verstummende Gezwitscher der Vögel… Morgen früh würde die Welt ganz anders aussehen, wenn sie wieder aufwachen würde. Emma würde dann nicht mehr das Wispern der Bäume aus weiter Entfernung hören. Sie würde auch wieder etwas schlechter in Mathe werden, da ihr logischer Verstand sich verlangsamte.
Als sie merkte, dass sie nur über die Verluste nachdachte, versuchte sie sich zusammenzureißen und über die positiven Seiten des Rituals nachzudenken. Sie würde mit jemandem gemeinsam alt werden können, bräuchte kein Blut zu trinken und musste keine Geheimnisse mehr vor ihren Freundinnen haben.
Sie unterbrach sich selbst. Wills Anwesenheit war so deutlich zu spüren, als ob er direkt neben ihr laufen würde, doch Emma wusste, dass er noch ein Stück von ihr entfernt war. Sie konnte sogar seine Emotionen spüren, die er sonst immer so gut versteckt hielt. Er war aufgewühlt, verwirrt, betrübt und besorgt. In der Nacht des Blutmondes fühlen Vampire besonders stark

, erinnerte sie sich an den Artikel. Sie hätte nicht gedacht, dass er tatsächlich solche intensiven Auswirkungen hatte.
Der Mond hing schon blass am Himmel und hatte tatsächlich einen leichten rötlichen Farbton.
Sie näherte sich der kleinen Lichtung, auf der Will alles vorbereitet hatte. Er war gerade dabei, die sieben kleinen Ampullen mit ihrem Blut aus seiner Tasche zu nehmen und bemerkte sie nicht.
„Will“, sagte sie, als sie fast direkt hinter ihm stand. Erschrocken fuhr er herum, jeder einzelne Muskel seines Körpers war gespannt und er war zum Angriff bereit. Als er sie erkannte, entspannte er sich wieder.
„Musst du mich so erschrecken?“
„Tut mir leid, was bist du denn so schreckhaft?“
„Es wäre nicht undenkbar, dass dein Macher die Neutralisierung verhindern will.“
Will entzündete einen Holzstapel, über dem ein großer Eimer hing. Erst jetzt bemerkte Emma, dass sie sich in einem Kreis aus sieben weißen Kerzen befanden, die er ebenfalls anzündete.
Sie spürte eine merkwürdige Gelassenheit in sich und setzte sich im Schneidersitz auf einen Baumstumpf.
„In meiner Tasche sind kleine Ampullen mit durchsichtigen Flüssigkeiten, kannst du mir die geben?“, fragte er.
„Nur die zwei?“ Emma hielt entsprechende Fläschchen hoch. Er nickte und sie stellte sich neben ihn ans Feuer.
Will gab langsam drei Ampullen von ihrem Blut in den improvisierten Kessel. Dann folgte die Hälfte der Flüssigkeit aus der ersten durchsichtigen Ampulle.
Das Gemisch brodelte und nahm einen hellen Rotton an, nachdem Will mit einem Holzlöffel umgerührt hatte. Ein beißender Geruch stieg in die Luft und Emma rümpfte die Nase.
„Was ist das?“
„Wachholder-Essenz. Das reinigt dein Blut“, erklärte er.
Sie war fasziniert, dass ein Kraut sowas bewirken konnte. Er gab ihr restliches Blut dazu und auch den Rest der Wachholer-Essenz.
Nach einer Weile öffnete er das zweite Fläschchen. „Das ist Anis, das kennst du ja schon als Gegengift.“
Emma beobachtete, wie er es dazu gab. Das laute Zischen der Flüssigkeit ließ sie kurz zusammenschrecken. Das Gemisch war nun hell orange.
„Das war es eigentlich schon. Das Ganze muss jetzt zwei Stunden lang kochen, dann ist es ungefähr halb zwölf. Dann musst du den Großteil davon trinken und eine kleine Menge spritzen wir dir in Blut.“
Sie verzog angewidert das Gesicht. Das sollte sie trinken? Na lecker. Aber was tat man nicht alles, um Mensch zu bleiben….
„Du weißt ja, dass du bis kurz vor Mitternacht noch Zeit hast, dich anders zu entscheiden“, sagte Will mit einem traurigen Lächeln.
Die beiden setzten sich auf den Baumstumpf und warteten. Irgendwo im Wald rief ein Uhu und das Feuer tauchte die Szenerie in ein gespenstisches flackerndes Licht.

Später hatte Will Emmas Hand genommen.
Sie war mit ihren Gedanken beschäftigt. Natürlich versuchte sie sich krampfhaft davon abzuhalten, darüber zu rätseln, ob sie gleich überleben würde. Nur gelang ihr das nicht so gut.
Ihre Gedanken schweiften immer wieder zu ihrer Familie und ihren Freunden ab. Sie versuchte die Tränen zurückzuhalten, schließlich sollte Will nicht denken, dass sie an ihrer Entscheidung zweifelte. Sie würde gleich dieses Gebräu trinken und alles würde wieder gut werden, ganz bestimmt.
Zu allem Überfluss fing sie jetzt auch noch unkontrolliert an zu zittern. Will legte seinen Arm um ihre Schulter und zog sie ganz dicht zu sich heran, sodass sein Kinn auf ihrem Kopf ruhte.
Zu Emmas Erleichterung sagte er nichts, sondern fuhr nur mit seiner Hand an ihrem Arm auf und ab.
Nach und nach beruhigte sie sich wieder.
„Ich glaube, es ist Zeit“, sagte er. Will holte ein paar Blüten von einer gelben Pflanze aus einer Tüte, die Emma nur aus dem Biologieunterricht kannte. Es handelte sich um die Königskerze, von der früher geglaubt wurde, dass sie vor Dämonen schütze.
Er rührte im Kessel noch einmal um, zerrieb die Blüten dann mit seinen Fingern und ließ sie dazu rieseln. Als Emma einen Blick hinein warf, sah sie, dass die Flüssigkeit nun einen grün-gelblichen Ton angenommen hatte.
Will nahm den Eimer von der Stange, an der er angebracht war und stellte ihn auf den abgeknickten Baum. Mit einer Kelle schöpfte er etwas von dem Inhalt in einen kleinen Becher und bedeutete ihr dann, näher zu kommen. Erst hielt er ihr die Tasse hin, doch als sie sie gerade ergreifen wollte, ging ein Ruck durch seine Mimik. Sein Gesichtsausdruck war schwer zu beschreiben, aber am ehesten ähnelte er stiller Verzweiflung. Er ging den letzten Schritt auf sie zu und nahm sie fest in den Arm. Sie vergrub ihren Kopf an seiner Brust und er küsste sie aufs Haar. Erstaunt stellte Emma fest, dass auch sie in dieser Nacht intensiver zu fühlen schien.
Nach einer Weile löste sie sich von ihm. „Wir haben nur bis Mitternacht Zeit, richtig?“, fragte sie traurig lächelnd.
Er nickte und hielt ihr erneut den Becher hin. Zu ihrer Überraschung war der Geruch, den die Mischung verströmte, relativ angenehm. Es roch ein bisschen nach Kräutertee.
Das machte es Emma leichter, nicht auf die widerwärtige Farbe zu achten, oder Gedanken daran zu verschwenden, was sie da trinken würde.
Entschlossen setzte sie den Becher an, machte die Augen zu und leerte den Becher mit kräftigen Schlucken.
Sie musste sich wirklich Mühe geben, den Würgreiz zu unterdrücken. Bleich reichte sie die Tasse wieder an Will, der sie, ohne mit der Wimper zu zucken, erneut füllte.
Nach dem zweiten Becher spürte sie schon ein leichtes Brennen in ihren Eingeweiden. Nach dem Dritten wollte sie am liebsten eine Pause machen, doch die Zeit ließ es nicht zu. Sie mussten vor Mitternacht fertig werden. Ein leichter Schwindel setzte ein und ihre Sicht verschwamm immer wieder.
„Du hast es fast geschafft“, ermutigte Will sie.
Nach einem weiteren Becher war ihr speiübel und sie schien von innen heraus zu verbrennen.
„Bitte, ich will aufhören“, flehte sie ihn an, doch unerbittlich flößte er ihr noch zwei weitere Tassen ein, bis der Eimer endlich fast leer war.
Behutsam legte Will Emma auf dem Boden ab und bettete ihren Kopf auf seine Tasche. Den restlichen Inhalt des Kessels zog er in eine Spritze auf.
Emma fühlte sich, als hätte sie Ecstasy genommen, allerdings ziemlich schlechtes. Sie hatte ihr Zeitgefühl verloren, konnte nicht mehr denken. Innerlich litt sie Höllenqualen. Sie wusste nicht, ob sie schrie.
Dann tauchte Will wieder neben ihr auf. Er kniete auf dem Boden und nahm ihren Arm. Dabei schaute er ihr in die Augen und sagte: „Du musst jetzt ganz stark sein. Bald ist alles vorbei.“
Emma wusste nicht, ob sie antwortete. Sie starrte auf die Spritze und beobachtete, wie die lange Nadel sich langsam in ihren Arm schob. Es kam ihr vor, wie in Zeitlupe.
Bevor sie realisiert hatte, dass der Inhalt schon in ihr Blut abgegeben wurde, kam der Schmerz. Sie stieß einen gellenden Schrei aus und krümmte sich auf dem Boden zusammen. Sie fühlte sich, als hätte Will sie direkt ins Feuer geworfen und alles in ihr brannte.
Ihre Haut, ihre Arme und Beine, ihre Eingeweide und besonders ihr Herz.
Will kniete immer noch neben ihr und hielt sie nun an den Schultern fest. „Emma!“, rief er. „Emma!“ Seine Stimme drang zu ihr, als sei sie in Watte gepackt. Trotzdem widmete sie ihre Aufmerksamkeit für einen kleinen Augenblick dem schönen Vampir.
„Alles wird gut! Ich liebe dich.“
Hatte sie sich verhört? Hatte sie Halluzinationen? Emma wusste es nicht und die Schmerzen machten es unmöglich, es herauszufinden.
Sie schrie ein letztes Mal.
Dann wurde alles schwarz.

Impressum

Texte: Das geistige Eigentum unterliegt dem Copyright (c) by Stefanie M.
Bildmaterialien: Bildmaterial von Piqs.de (kstudi: "Mystic Lights") und http://browse.deviantart.com/resources/?q=Full+moon#/dwiv94
Lektorat: Kiki und Laura :)
Tag der Veröffentlichung: 28.11.2011

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /