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Feuer

Ich trat aus dem Hauseingang ins Freie. In Sekundenschnelle war ich bis auf die Haut durchnässt. Es regnete, wie es seit Wochen nicht mehr geregnet hatte und es war so natürlich. Natürlich regnete es, ich wäre wirklich erstaunt, hätte es nicht geregnet. Und es wäre auch nicht richtig gewesen. Zu den Tränen, die unablässig meine Wangen hinunterliefen, hätte auf keinen Fall strahlender Sonnenschein gepasst. Ich wollte wegrennen, dem Schmerz entfliehen und irgendwo einen schönen Ort finden, an dem ich nicht mehr weinen brauchte. Doch ich konnte mich nicht von der Hauswand lösen, ich fürchtete, würde mir dieser Halt genommen, würde ich hinfallen. Ich brauchte den Halt, ich brauchte jetzt jemanden, der mir Halt gab und mich trotzdem weglaufen ließ. Aus diesem Grund hatte ich meinen besten Freund angerufen. Er würde mich halten, doch er würde mich nicht bedrängen, er würde mir meine Freiheit lassen. Wie sehr ich ihn herbeisehnte. Unruhig spähte ich zur Kurve, um welche sein Wagen jeden Moment biegen musste. Ich zitterte, konnte mich kaum mehr auf den Beinen halten. Das ich immer wieder von meinem Schluchzen durchgeschüttelt wurde, trug auch nicht unbedingt zur Besserung der Lage bei.
Ach, wenn er doch nur schon da wäre.
Doch da sah ich auch schon das Licht der Scheinwerfer, welches die Regennacht hell durchschnitt. Auf den Gedanken, dass es ein anderes Auto, ein anderer Mensch hätte sein können, kam ich nicht. Er war es, ganz bestimmt. Das Auto hielt, die Scheinwerfer strahlten mich direkt an, in ihrem Licht tanzten die Regentropfen glitzernd. Doch das nahm ich gar nicht wahr. Ich wollte nur zu der Person, die ich im Inneren des Autos nur als Schatten ausmachen konnte. Also ließ ich ohne zu zögern los und rannte auf meinen nackten Füssen zum Auto. Ich riss die Tür auf und in dem Moment, als die Innenbeleuchtung anging und ich einen Blick auf ihn werfen konnte, musste ich laut aufschluchzen. Warum, wusste ich auch nicht. Vielleicht weil ich einfach mit der Situation überfordert war.
Kraftlos ließ ich mich auf den Sitz sinken und schloss die Tür. Angeschnallt hatte ich mich nicht, es schien mir überflüssig. Ich schaute ihn nicht an, ich wollte nicht, dass er sah, wie sehr ich um Fassung rang und dabei kläglich versagte. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen.
„Fahr.“ Ich konnte nur flüstern, meine Stimme brach. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie er kurz zögerte, dann aber den Gang einlegte und losfuhr. Die Innenbeleuchtung ging aus. Ich schloss meine Augen und lauschte dem Geräusch des Motors und den Reifen auf der Straße. Doch ich konnte mich nicht wirklich darauf konzentrieren, immer wieder kehrten meine Gedanken zu dem Schmerz zurück. Mein Herz klopfte wie wild und auf einmal hatte ich das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen.
Im nächsten Moment war es vorbei und mich überkam ein eiskalter Schauer. Ich schlang meine Arme noch fester um meinen Körper und schluchzte laut. Immer mehr Tränen verließen meine Augen. Wann würden wir nur endlich unser Ziel erreichen? Wobei ich noch nicht einmal wusste, wo sich dieses Ziel überhaupt befand. Ich wollte nur weg. Schließlich hielt der Wagen und als ich meine Augen öffnete, konnte ich schwach durch die beschlagenen Scheiben hindurch den Wald erkennen.
Schon hatte ich die Tür geöffnet und stolperte aus dem Auto. Es zog mich weiter, weiter weg.
Ich hörte wie auch er ausstieg und auf mich zukam. Das gab mir Sicherheit. Mit ihm an meiner Seite konnte ich loslaufen.
Es war so dunkel, nicht mal die Sterne schienen, sie wurden durch die Baumkronen verdeckt. Ich konnte kaum die Hand vor meinen Augen erkennen. Auch wenn ich hätte sehen können, so hätte ich doch nichts durch den strömenden Regen und meine Tränen erkennen können. Mir war kalt und ich war des Ganzen so satt. Ich stolperte immer weiter, meine Beine wollten mir vor lauter Zittern nicht recht gehorchen. Seine Schritte hinter mir beschleunigten. Und dann war da plötzlich seine Hand, die meinen Arm ergriff. Ich blieb stehen und im nächsten Moment brach ich einfach zusammen. Ich war nur ganz kurz bewusstlos, nur den Bruchteil einer Sekunde, dennoch fühlte ich mich so taub und so schwach. Ich hatte einfach nicht mehr die Kraft mich überhaupt noch zu bewegen. Über mir konnte ich den Umriss meines besten Freundes ausmachen, der sich zu mir herunterbeugte und mich hochhob. Es schien ihm nicht viel Mühe zu machen und ich fühlte mich so hilflos, wie ich da, einer Puppe gleich, in seinen Armen lag.
Festen Schrittes ging er zurück zum Auto. Dort legte er mich auf dem Rücksitz ab, stieg kurz nach vorne, machte die Heizung an und kam dann wieder nach hinten zu mir.
Er hatte eine Tür offen gelassen und ein Teil des Regens gelangte in das Wageninnere, doch dann bemerkte er dies und schloss die Tür. Das Rauschen des Wassers wurde ausgesperrt, doch dafür hörte man das Prasseln auf dem Autodach jetzt lauter. Langsam war ich es leid, immerzu zu weinen, ich fühlte mich so schwach, aber das wollte ich doch gar nicht sein, ich riss mich zusammen, wischte die Tränen von meinen Wangen, die nun leicht brannten, genau wie meine etwas geschwollenen Augen.
Doch es quollen keine weiteren Tränen hervor und für einen Moment fragte ich mich, ob sie nun ganz aufgebraucht wären.
Vorsichtig richtete ich mich auf. Er half mir mit sanftem Griff, dabei sah er mich besorgt und auch eine Spur traurig an. Der Regen prasselte laut auf das Dach und obwohl er die Heizung angemacht hatte, fror ich. Das Zittern kehrte wieder. Fest presste ich mich an seinen warmen Körper. Beinahe hätte ich wohlig aufgeseufzt, als er auch noch seine Arme um mich legte. Ich vergrub mein Gesicht in seiner Halsbeuge. Eine neue Welle des Schmerzes überkam mich, doch in seinen Armen konnte ich nicht weinen. Ein seltsames ersticktes Geräusch entfloh meiner Kehle. Er streichelte mir sanft über das Haar. Ja, diese Berührungen taten so gut. So unglaublich gut tat es, zu spüren, wie seine Brust sich langsam hob und wieder senkte, sein Atem auf meiner Haut. Ich wollte mehr davon, mehr von der Wärme. Ich wollte den Schmerz, die Kälte um mein Herz, mit seiner Wärme verbrennen.
„Mir ist so kalt“, ich wusste nicht, ob er mich gehört hatte, der Regen war ziemlich laut und meine Stimme so leise, so zerbrechlich. Doch ich wollte nicht zerbrechlich sein, ich wollte nicht zart, mit Samthandschuhen angefasst werden. Ich wollte gehalten werden, fest. Ich schlang meine Arme um ihn, zog ihn noch näher zu mir hin, ich saß schon fast auf seinem Schoß. Und doch war es nicht genug. Seine Wärme war noch nicht genug, sie ließ mich noch nicht vergessen. Ich brauchte mehr, mehr Wärme, mehr Berührung. „Halte mich. Halte mich ganz fest.“ Meine Stimme zitterte nicht mehr, sie war nicht mehr zerbrechlich.
Ich wusste, was ich wollte.
Er war mein bester Freund, die einzige Person, welcher ich voll und ganz vertraute und bei welcher ich mich sicher fühlte. Und er war wunderschön, so warm und zärtlich und dann doch wieder etwas gröber. Genau das, was ich brauchte.
Ich brauchte ihn.
„Küss mich.“ Im ersten Moment geschah gar nichts, doch dann schob er mich sanft, aber bestimmt von seinem Körper weg. Seine Hände lagen auf meinen Schultern, ich krallte meine in seinen Rücken. Ich wollte nicht weg, ich wollte nicht wieder zurück in die Kälte. Er schaute mich an. Er schaute mir einfach nur fest in die Augen, ganz tief.
Ich konnte seinen Blick nicht lesen. Nun kamen die Tränen doch wieder. Erst eine, dann eine zweite. Ganz langsam flossen sie über meine Wangen. Er lehnte mich ab.
Er half mir nicht. Die Eisschicht um mein Herz war weg. Sie wurde spielend leicht von der Enttäuschung und dem Schmerz zerstört. Nun, da kein Eis mehr mein Herz zusammenhielt, brach es auseinander. Früher oder später wäre es sowieso geschehen, aber dass es schon so früh geschehen würde, hatte ich nicht gewusst.
In meinem albernen Bestreben mein Herz durch Wärme und Berührung zu heilen, hatte ich diesen zerstörerischen Prozess nur beschleunigt.
Was hatte ich mir nur eingebildet?
Ich hätte wissen müssen, dass er meinen Wunsch ablehnen würde. Warum war ich so gierig gewesen? Ich hätte doch die Momente in seinen Armen genießen können. Vielleicht hätte mich das geheilt. Aber nein, ich wusste, dass Umarmung allein nicht ausreichen würde, um den Schmerz zu verbrennen. Etwas warmes, weiches berührte meine Wange und wischte die Tränen sanft weg. Erschrocken sah ich auf. Es war sein Daumen gewesen, seine Hand legte sich zart auf meine Wange. Sie war so warm.
So wunderschön. Ich konnte nichts dagegen machen, instinktiv schmiegte ich mich an sie. Die Splitter meines Herzens schöpften auch Hoffnung. Wie eine Blume sich den ersten Sonnenstrahlen nach dem kalten Winter entgegenstreckt, so verlangten sie nach der Wärme, die sein Körper mir schenkte. Ich hob meine Augenlider und blickte direkt in seine Augen. Sein Gesicht war so nah, aber ich zuckte nicht weg. Beinahe konnte ich seinen Atem spüren und ich fragte mich, wie es möglich war, dass die Splitter meines Herzens so kraftvoll in meiner Brust hüpfen konnten. Alle Gedanken und Fragen waren vergessen, als er die letzten Zentimeter, die unsere Gesichter trennten überbrückte und seine Lippen auf den meinen bettete. Zart lagen sie dort, so zart wie die Flügel eines Schmetterlings. So zart, dass ich fast meinte, dass es gar keine Lippen waren, sondern nur ein warmer Hauch. Und genauso schnell wie ein Hauch verschwinden konnte, verschwanden auch seine Lippen wieder. Zu schnell für mich, zu schnell, um zu reagieren. Er zog sich wieder ein Stück zurück, ich sah ihn verwirrt an. Sollte das schon alles gewesen sein?
Aber was war das eben kurz in seinen Augen gewesen? Unsicherheit? Zu spät, es war schon weg.
Schwach lächelte er, streichelte kurz mit seinem Daumen über meine Wange, dann hob er die andere Hand und legte sie der anderen Hand gegenüber. Beide umschlossen nun warm mein Gesicht und zogen es bestimmt an ihn heran. Und wieder legten sich seine Lippen auf meine. Doch diesmal war es kein Hauch, kein Schmetterlingsflügel.
Es war wie Samt, so weich. Zuerst konnte ich es gar nicht fassen, war etwas überrumpelt, doch dann begann ich, meine Lippen zögernd gegen seine zu bewegen.
Ich wusste, ich musste sanft sein, nicht zu hastig, nicht zu begehrend. Ich schob die Splitter meines Herzens, die nach mehr verlangten, in den Hintergrund und gab mich ganz diesem quälend sanften, bittersüßen Kuss hin. Meine Hände, die immer noch auf seinem Rücken gelegen hatten, wanderten nun höher, in seinen Nacken, in sein Haar.
Doch ich zog ihn nicht näher, ließ ihn machen. Ich wusste instinktiv, wenn ich jetzt etwas Falsches täte, wäre der Kuss zu ende, ohne, dass er richtig angefangen hatte.
Darauf konzentrierte ich mich besonders. Ich war so beherrscht von dem Gedanken, dass selbst der Schmerz sich etwas zurückzog. Aber er verschwand nicht, dazu war der Kuss zu kalt.
Langsam fand er einen Rhythmus, er schien nicht mehr so unsicher. Leicht öffnete ich meine Lippen und ich wagte es sogar, so weit zu gehen, dass ich mit meiner Zunge kurz über seine Lippen leckte. Er stockte für den Bruchteil einer Sekunde, doch den Kuss löste er nicht. Ich wurde langsam ungeduldig, das war nicht der heiße Kuss, den ich mir vorgestellt hatte. Meine Hände krallten sich in seine Haare, zogen ihn näher. Meine Lippen pressten sich fordernd auf seine. Und es schien, als hätte ich es geschafft, ein kleiner Funke hatte sich entzündet. Seine Hände lösten sich von meinem Gesicht, strichen über meinen Hals, über meine Brust, in welcher die Splitter meines Herzens verrückt spielten. Schließlich schlangen sich seine Arme um meine Taille. Ich konnte ein leises Seufzen nicht unterdrücken. Mir war nicht mehr kalt, seine Arme wärmten meinen Körper und sein Kuss mein Herz. Ich handelte nur noch nach Instinkt, mein Verstand hatte sich längst verabschiedet.
Ich nahm keine Rücksicht mehr auf ihn. Immer wieder schob ich meine Zunge vor, leckte ihm über die Lippen, bis mir schließlich Einlass gewährt wurde. Zuerst war ich noch vorsichtig mit dem mir unbekannten Gebiet, stupste nur zaghaft seine Zunge an, doch nach kurzer Zeit wurde ich mutiger, erforschte seine Mundhöhle, spielte kurz mit seiner Zunge und biss ihm sanft auf die Unterlippe. Es gefiel mir wirklich, es machte mir gar nichts aus, die Führung zu haben. Ursprünglich hatte ich gedacht, ich müsste stürmisch geküsst werden, meine Mundhöhle müsste in Besitz genommen werden, doch es war egal, ob ich nun der Passive war oder nicht, beides war heiß, so heiß, dass der Schmerz sich lieber total zurückhielt. Ich spürte ihn gar nicht mehr. Alles, was ich spürte, war das Feuer, die Berührungen.
So köstlich.
Von mir aus hätte der Moment ewig währen können, doch irgendwann geht selbst das Schönste zu ende. Seine Hände legten sich wieder auf meine Schultern, ich öffnete die Augen und sah erstaunt, dass die Sonne schon langsam aufging. Der Schmerz war fürs erste weg und wohlige Wärme machte sich in mir breit und es passte so gut zum Wetter. Zwar regnete es noch, aber nicht mehr so fest und die ersten Sonnenstrahlen färbten den Himmel über dem Horizont rot. Ich war zufrieden. Und da legte sich ganz von selbst ein Lächeln auf meine Lippen. Glücklich sah ich ihn an und als ich sah, dass auch er lächelte war ich noch glücklicher. Dann stieg er wieder nach vorne, ließ den Motor an und fuhr los. Ich war zufrieden, mir war warm, aber es regnete noch immer.


Regen

Ich schlief, traumlos, ich schlief tief und fest, als ich das Klingeln meines Handys hörte, welches ich zunächst nicht einordnen konnte, hatte den Eindruck, es kam aus der Wohnung meines Nachbarn.
Bis ich begriffen hatte, dass es meines war, war es aber bereits wieder verstummt. Sofort fuhr ich mit der Hand über die Seite meines Bettes, auf welcher sich häufig Krimskrams, Klamotten und eben auch mein Handy, welches ich abends immer aus meiner Hosentasche fischte und schließlich eher unsanft auf meinem Bett platzierte, sammelten.
Als ich dieses gefunden hatte und einen Knopf betätigte schien mir das Display grell entgegen und ich kniff die Augen sofort fest zusammen.
Einige Sekunden verstrichen, bis ich nachsehen konnte, wessen Anruf ich da, um viertel nach drei in der Nacht, verpasst hatte.
Als ich sah, dass es mein bester Freund gewesen war, wusste ich nicht, ob ich mich sorgen oder aufregen sollte. Entweder, es war etwas passiert, oder er war so sturzbesoffen, dass er sich von irgendwo abholen lassen wollte, weil er selbst nicht mehr fähig war, sich in sein Auto zu setzen, geschweige denn dieses sicher zu sich nach Hause in die Garage zu manövrieren. Ich seufzte tief, bevor ich schließlich zurückrief.
Als er den Anruf entgegennahm sagte er nichts.
Er sagte kein Wort, ich hörte nur seinen unregelmäßigen Atem.
"Soll ich vorbeikommen?", fragte ich und hätte eigentlich lieber weitergeschlafen. Ich hatte ein seltsames Gefühl, irgendwas stimmte nicht mit ihm. Er war normalerweise sehr redselig.
Alles was ich hörte, war monotones Ein und Ausatmen, er sagte nichts, kein Ton kam über seine Lippen, ich begann mir ernsthaft Sorgen zu machen.
"Ich komme sofort vorbei", murmelte ich schließlich in den Hörer, legte auf, war aufgestanden, suchte mir Pulli und Hose im Dunkel meines Schlafzimmers zusammen, griff nach meinem Haustür- und Autoschlüsse, welche beide am selben Bund befestigt waren und auch immer auf meinem Bett landeten, ich schlüpfte ich meine Stiefel und stürmte aus der Wohnung.
Draußen regnete es. Es war weicher Regen, er fiel nur ganz sanft, nicht, dass es Nieselregen gewesen wäre, es war ganz gewöhnlicher Regen, der den man Sonntags liebte, weil man mit ihm das Nichtstun begründen konnte, weil er einem das Gefühl gab, nichts zu verpassen.
So ein Regen war das und er fühlte sich ganz sanft an, fast schon liebevoll.
Einen Schirm hatte ich vergessen.
Als ich mich in meinen Wagen gesetzt und den Motor gestartet hatte, der die Stille der Nacht und das leise Prasseln des Regens durchschnitt begann es stärker zu regnen, als wolle der Regen lauter sein als der Motor. Geräuschvoll prasselten die Tropfen auf die Windschutzscheibe und der Scheibenwischer schlug schnell von rechts nach links und zurück, zwischen jeder seiner Bewegungen sammelten sich wieder unendlich viele kleine Tröpfchen auf der Scheibe und wieder wischte er sie weg, als wären sie Spuren einer bösen Tat und er wollte sie alle verschwinden lassen.
Der Weg war nicht weit. Ich fuhr weniger als fünf Minuten, was aber auch am geringen Verkehr lag und ich weil hier und da die Geschwindigkeitsbegrenzung außer Acht ließ. Ich machte mir Sorgen. Große Sorgen. Sein Schweigen hieß nichts gutes, niemals.
Die Heizung tat ihr bestes, es wurde angenehm warm im Auto, ich hatte angefangen zu frieren, vom Bett in den Regen zu müssen war selten angenehm.
Im Radio spielten sie schlechte Musik, aber ich kannte den Song und sang trotzdem ein wenig mit.
Ich parkte den Wagen.
Er stand vor seiner Wohnung, trug nur ein dünnes Shirt und eine Pyjamahose, Schuhe hatte er keine an.
Was war hier los? Er sah verweint aus, er war durchnässt, ich wollte gerade aussteigen, da stieß er sich von der Hauswand ab, torkelte kurz und kam dann schnellen Schrittes, auf nackten Füßen über den nassen Asphalt zu meinem Auto gelaufen, riss die Tür auf, setzte sich mit einer schnellen Bewegung auf den Beifahrersitz und schlug die Tür wieder zu. Er schaute mich nicht an.
"Fahr" flüsterte er bloß und ich wagte nicht zu hinterfragen, es schien nicht, als hätte er ein Ziel.
So fuhren wir bestimmt eine halbe Stunde, ohne zu sprechen.
Er weinte nur und schluchzte und jedes Mal, als ich dachte, er hätte sich ein wenig beruhigt, ging es wieder von vorne los.
Schließlich hielt ich an einem Waldrand, ich wollte mit ihm reden, aber er stieg ohne Worte aus und lief einfach in den Wald.
Ich sprang aus dem Auto, ich hatte mittlerweile keine Lust mehr, da hatte er mich mitten in der Nacht aus dem Bett geklingelt, ich kam bei ihm vorbei und dann wollte er mir nicht einmal sagen, was los war, stürzte stattdessen aus dem Wagen und rannte ins unbekannte Dunkel des Waldes.
Als ich ihn erreichte griff ich nach seinem Arm. Er war erschreckend kalt.
Sofort zog ich ihn an mich, er sackte zusammen, er war leicht, vielleicht ein wenig zu leicht.
Ich brachte ihn ins Auto, legte ihn vorsichtig auf die Rückbank, stellte die Heizung etwas höher, stieg aus, schloss die Fahrertür, setzte mich dann zu ihm und schloss letztlich auch die eine Tür, die noch offenstand, dem Regen Einlass gewährte und ihn zittern ließ.
Er starrte mich an, ich war unsicher, ob ich fragen sollte, was los war. Ich wollte ihn nicht zwingen, zu sprechen. Er weinte, ich war verunsichert.
Ich hatte keine Erklärung für sein Verhalten, erst vorgestern waren wir noch zusammen weg gewesen und er hatte gute Laune gehabt. Ich verstand es nicht, aber ich konnte ihn einfach nicht fragen, irgendwas hinderte mich daran, zu fragen, was passiert war, es war ein wenig so, als wäre ich mit einem Strick angebunden und konnte mein Ziel fast mit den Fingerspitzen erreichen, aber eben nur fast, es war einfach nicht zu fassen. Ich hielt weiterhin den Mund, stattdessen nahm ich ihn in den Arm, er war so kalt, er fühlte sich so zerbrechlich an und ich fühlte mich plötzlich so grob, nicht fähig, ihn zu halten. Aber ich tat mein Bestes. Ich schaute ihn an, seine Augen waren rot.
"Mir ist so kalt", murmelte er leise, so leise, dass ich mich fragte, ob er es tatsächlich gesagt hatte, er zitterte sichtbar, seine Lippen schimmerten leicht blau, vielleicht lag das aber auch nur an der spärlichen Beleuchtung im Auto.
Er war nass. Ich war nass, aber nicht so schrecklich nass wie er, ich fragte mich, wie lange er eben im Regen gestanden hatte, weshalb er nicht in der Wohnung auf mich gewartet hatte, weshalb er es so eilig gehabt hatte und es dann doch vorgezogen hatte, mich nur anzuschweigen.
Sein Blick war nicht zu deuten und ging einfach ins Leere.
Plötzlich schaute er auf. Er wischte sich seine Tränen weg und es erinnerte mich an den Scheibenwischer. Wischte die Tränen weg, als wären sie Spuren einer bösen Tat, als wolle er diese beseitigen, dann schlang er seine dünnen Arme um mich. Ich zögerte kurz, aber wahrscheinlich für ihn nicht merklich. Ich hätte lieber gewusst, was los war, statt ihn zu umarmen.
Er zog mich so nah an sich ran, ich wusste kaum damit umzugehen, ich ließ ihn einfach tun, ich wollte ihn trösten und wenn es half, dann würde ich die ganze verbleibende Nacht und den nächsten Morgen, wenn es müsste, auch den ganzen Tag, mit ihm hier sitzen, ignorierend, dass ich hätte arbeiten müssen.
"Halte mich. Halte mich ganz fest" Seine Stimme war überraschend fest. Sie war laut und ich hätte mich fast erschrocken, schließlich hatte ich nicht damit gerechnet, dass er sich gefangen hatte, dass er bereits wieder fordern konnte, aber ich tat, wie mir geheißen.
Ich versuchte ihm die Sicherheit zu geben, die er brauchte, auch wenn ich den Grund dafür nicht kannte. Er war mein bester Freund und ich sah es als selbstverständlich an, immer für ihn da zu sein.
Sein Haar war nass und es klebte an meinem Hals, es war ein wenig unangenehm, aber ich sagte nichts. Sein Shirt war nass und seine Hose auch und ich machte mir ein wenig Gedanken um meine Autositze, auch wenn sie schon alt waren und sicherlich schon viel hatten mitmachen müssen, da war so eine nasse Hose wohl das geringste Übel.
Es quälte mich fast, nicht zu wissen, was mit ihm los war. Es war schrecklich, nicht zu wissen, für was ich ihn festhielt. Aber es war einfach so. Ich würde ihn einfach so lange halten, bis er wieder glücklich war, so stellte ich mir das jedenfalls vor.
"Küss mich" forderte er weiter. Nein.
Um ehrlich zu sein, war ich weder vor den Kopf gestoßen, noch komplett angewidert oder aber freute ich mich. Mir war es in gewissem Maße egal, aber ich schob ihn kurz von mir. Es würde ihn sicherlich nicht glücklich machen. Vielleicht für einen Moment, vielleicht für wenige Sekunden, vielleicht für eine halbe Stunde, aber am Ende war ich der Böse. Ich wusste nicht, was ich von dieser Forderung halten sollte.
Weshalb war er so unglücklich? Und warum sollte ein Kuss dieses Unglück verschwinden lassen können? Warum sollte mein Kuss ihn dieses Unglück vergessen lassen können? Ich verstand es nicht, aber es war mir irgendwie egal. Ich wollte ihm doch nur Sicherheit geben.
Ich ließ meine Hände auf seinen schmächtigen Schultern verweilen und spürte, wie er seine in den Stoff meines Shirts grub.
Wie lange ich schließlich nur da saß und weder vor noch zurück gewusst habe, wusste ich nicht, wie lange ich einfach nur in seine Augen gesehen habe, bis sie sich erneut mit Tränen füllten, sie immer mehr wurden und schließlich hinausschwappten und über seine bleichen Wangen liefen, ich erinnerte mich nicht.
Ich nahm meine rechte Hand von seiner Schulter, vorsichtig wischte ich mit dem Daumen die Tränen fort, die mir noch immer wie Spuren böser Taten vorkamen.
Endlich schaute er mich auch wieder an. Einen kurzen Moment lang fragte ich mich, wann ich ihm so nah gekommen war, erst hatte ich vor, mich wieder von ihm zu entfernen, aber ich entschied mich um. Und ehe mich die Vernunft wieder hätte packen können, die mir meinte sagen zu müssen, dass es ihn nicht trösten würde, täte ich das gleich folgende, hatte ich ihn so leicht, so zögernd geküsst, dass ich mich selbst fragen musste, ob ich es tatsächlich getan hatte oder ob ich mir die Berührung nur eingebildet hatte.
Ich war irritiert, ich hatte das wirklich getan. Er schaute mir in die Augen. Ich war unsicher, wie sollte ich mich richtig verhalten? Die ganze Situation war mir so suspekt, es kam mir vor, wie ein seltsamer Traum und ich würde gleich aufwachen. Zögerlich lächelte ich ihn an, ich wollte ihn aber nicht merken lassen, dass ich unsicher war, dass ich nicht wusste, wie ich handeln sollte und mein Verstand und mein Herz gerade einen Kampf der Extraklasse ausführten, in welchem es nur darum ging, ob es nun korrekt war, ihn nur für einen kleinen Augenblick glücklich zu machen und doch zu wissen, dass es wirklich nur ein kleiner Augenblick war.
Irgendwie kam mir die Pflicht, als Freund für ihn da zu sein so groß vor, dass ich erneut auf ihn zuging. Natürlich war es mir nicht zuwider, aber es kam mir auch nicht korrekt vor. Aber er brauchte jemanden und wenn ich nun einmal dieser auserwählte Jemand war, dann sollte ich mich darüber freuen. Und in diesem kurzen Moment der Freude und des nicht Nachdenkens, umfasste ich sein zierliches Gesicht mit meinen Händen, die mir plötzlich so riesig und grob vorkamen, zog ihn zu mir heran und in dem Moment, in dem meine Lippen auf seine trafen, war die Welt mit einem Mal so schrecklich laut.
Der Regen schien meine Aufmerksamkeit gewinnen zu wollen, als wollte er uns davon abhalten, uns zu küssen, als wollte er mir zeigen, dass es falsch war und mit einem Mal verstand ich die Scheibenwischer.
Wir waren ein wenig wie Scheibenwischer. Ich war wie ein Scheibenwischer, wischte seine Tränen fort, die Spuren schlechter Taten, wollte ihn glücklich machen, dass seine Sonne wieder schien. Ohne dafür etwas zu verlangen.
Der Regen wurde immer lauter, mir wurde fast schlecht von dem Prasseln des Regens auf das Autodach, ich sollte mich auf ihn konzentrieren, er sollte alles sein, das ich spürte, aber ich konnte den Kuss kaum wahrnehmen, es war, als wäre eine unsichtbare Wand zwischen uns, durch die ich ihn küsste, die alle Gefühle aufsog und nur das Handeln durchließ. Aber ich wollte ihn glücklich machen und wenn es ihm half, dann würde ich das auch tun. Wenn es ihm half, würde ich dieses Gefühl des Nichtsfühlens auf mich nehmen, stundenlang, solang es ihn glücklich machte. Solange es dazubeitrug seine Tränen fortzuwischen.
Der Wind wehte kräftig durch den Wald und die Bäume raschelten laut, aber das alles war lange nicht so schlimm wie der Regen, wie das ewige Klopfen an die Fensterscheibe an meinem Ohr und den Kuss trotzdem nicht zu beenden.
Ich durfte nicht vergessen, weshalb ich das tat. Er war mein bester Freund und ich wollte, dass er glücklich war, das war alles.
Der Regen wurde noch lauter, als seine Zunge meine Unterlippe anstupste, ich fragte mich allen Ernstes, ob er das wirklich getan hatte oder ob ich mir das nur eingebildet hatte, ich war so benebelt, aber der Regen log nicht. Er war lauter geworden. Ganz sicher.
Und ich begann mich selbst zu verlieren, der Regen und seine Tränen, ich konnte es nicht mehr unterscheiden, ich musste sie fortwischen. Seine Hände griffen unsanft in mein Haar, es ziepte ein wenig, aber ich ließ ihn nicht los.
Ich fühlte mich wie ein Marionette, die von zwei verschiedenen Personen gespielt wurde, er und der Regen, ich war hin und hergerissen und ich wusste nicht mehr, was hier überwog. Ich musste ihn glücklich machen.
Meine Hände ließen sein Gesicht los, strichen sein Haar zur Seite, ich war vorsichtiger als er. Ich streichelte seinen Hals, meine Hände waren nicht mehr meine. Er ließ sie über seine Brust gleiten, auf seinen Rücken, ich spürte meine Arme seine Taille umfassten, ihn an mich ziehen, ich hörte wieder seinen Atem, welchen ich die ganze Zeit nicht wahrgenommen hatte, lauter als den Regen, es schien mit einem Mal, als hätte ich es geschafft. Ich hatte seine Tränen fortgewischt, wie die Scheibenwischer die Regentropfen auf meiner Windschutzscheibe, ich hatte es geschafft, es fühlte sich richtig an.
Ich erwiderte seinen Kuss nun endlich und ich fühlte keinen Zwiespalt mehr.
Es war richtig gewesen, ich hatte alles richtig gemacht.
Ich hörte den Regen leise gegen das Fenster tropfen.
Einen kurzen Moment versuchte ich ihn noch zu fühlen, zu schmecken, dann löste ich meinen Griff um seine Taille, ich legte meine Hände, wie zu Beginn auf seine Schultern und beendete den Kuss. Ich öffnete meine Augen und konnte mich nicht erinnern, wann ich sie geschlossen hatte, ich wusste nicht, was das gewesen war. Die Übelkeit war verschwunden, aber ich kam mir vor, als wäre das alles nicht wahr gewesen.
Aber er lächelte mich an und das freute mich. So hatte ich das gewollt.
Ich war glücklich, als ich ihn ansah. Er sah zufrieden aus, trotz seiner glasigen Augen, die wieder tränenüberfüllt aussahen und seinen leicht geröteten Wangen, in welche ich gern gekniffen hätte, wie es Großmütter immer taten.
Er gab mir einfach das Gefühl, richtig gehandelt zu haben.
Die Sonne ging langsam auf, brachte am Horizont den Himmel ein wenig zum Glühen, das bisschen rot, das sich in den grauschwarzen Himmel mischte, ließ diesen aussehen, als würde er rosten.
Ich war glücklich, lächelte ihn an.
Dann stieg ich aus, schloss die Tür sanft, setzte mich hinter das Steuer und fuhr los, um ihn nach Hause zu bringen. Der Motor heulte auf und es regnete noch immer.

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Tag der Veröffentlichung: 20.07.2011

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