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Der Mäuse-Sprecher

Eine Fabel


„Werden wir eigentlich bezahlt für das hier?“
Aischa hatte Khamis versprochen, dass sie sich unauffällig verhalten würde; jene Frage freilich vermochte sie sich nicht zu verkneifen. Offenbar hat aber nicht nur der neben ihr arbeitende Omar sie gehört: Denn ehe der antworten kann, meldet sich jemand von ganz hinten zu Wort: „Lohn, fragst du? Das Einkommen ist ein zwingendes Bedürfnis der Maus. Deshalb sollte in der mäusischen Gesellschaft niemandes Einkommen aus Lohn, der aus irgendeiner Quelle kommt, oder aus der Wohltätigkeit von irgendjemandem bestehen. Denn in einer mäusischen Gesellschaft gibt es keine Lohnempfänger, nur Partner.“
Der Sprecher legt eine feierliche Pause ein. Gravitätisch senkt er den Blick auf seine Partner – auf die drei Reihen von je zehn Mäusen, die den Wagen ziehen, auf welchem als einzige Maus er sitzt. Erst da merkt er, dass der Trupp gestoppt hat, um sich ihm zuzuwenden und zu lauschen. „Und jetzt weiter: Wir müssen zurück sein, ehe es dunkel wird!“
Auf ein Kommando der Vor-Maus an der Spitze des Trupps legen sich alle 30 Mäuse in die Riemen, um den Wagen wieder in Bewegung zu setzen. Der Start – das merkt nun auch Aischa – ist das Schwerste; wie der Wagen aber wieder in Gang gekommen ist, geht es relativ leicht voran; so kann Omar der einzigen Mäusin im Trupp unbemerkt etwas zuflüstern: „Bist du das, Aischa? Mit den weißen Flecken an der Seite ... Ich hätte schwören können, dass du Khamis bist!“
„Ist der Sinn der Sache. Ein bisschen Milchpulver ... Kein Problem!“
„Kein Problem!? Dieser Khamis! Hat dir dein Bruder nicht gesagt, dass nur der an den Käse-Transporten teilnehmen darf, der vom Chef persönlich ausgewählt wurde? Und nur Mäuseriche, keine Mäusinnen!?“
Da er keine Pfote frei hat, wackelt die Maus mit den Ohren gen Wagen hin. Aischa freilich hätte auch so gewusst, dass er vom Mäuse-Sprecher ihres Volkes sprach, der eben jenen Monolog zum Besten gab. „Was soll schon passieren? Khamis hat sich die Hinterpfote verstaucht; er kann heut nicht.“
„Für so etwas gibt’s Reserve-Mäuse im Trupp.“
„Khamis will sich seine makellose Bilanz nicht vermiesen lassen. Drei Jahre im Transport-Trupp, zuverlässig Woche für Woche ...“
Und sie selber wollte schon lange mal bei einem Transport dabei sein – aber das verschweigt Aischa. Ihre Neben-Maus antwortet eh nur mit einem enervierten Fiepsen: Einerseits fehlen ihr die Worte, andererseits die Luft: Denn bisher rollte der Wagen auf ebenem Beton-Grund dahin; nun aber erreicht man eine Rampe.
Oft schafft man diese erst im zweiten oder dritten Versuch; auch davon hat Khamis berichtet. Eigentlich kennt auch Aischa die Umgebung; als gelernte Sammlerin gehört das in ihrem Volk zum Job. Es ist aber eine Sache, ein paar Körner oder Brotkrümel durch das Gelände zu tragen, und eine ganz andere, den Käse-Wagen zu ziehen; das wird Aischa nun klar. Und dabei ist der Wagen jetzt noch unbeladen ... Jetzt versteht sie auch, warum sich Khamis so oft über die massive Bauweise des Gefährts beschwert. Muss dessen Boden wirklich derart dick sein? Sooo schwer ist der Käse doch auch wieder nicht ...
„Denkt immer daran: Die Maus arbeitet in der neuen Gesellschaft für sich selbst, zur Sicherung ihrer materiellen Bedürfnisse, oder sie arbeitet für einen mäusischen Betrieb, in dessen Produktion sie Partner ist, oder im Dienstleistungsbereich für die Gesellschaft, die für ihre materiellen Bedürfnisse sorgt.“
Diesmal bleibt keiner stehen, um dem Mäuse-Sprecher zu lauschen; täte man dies, würde der Wagen sofort die Rampe runter rumpeln. Dass die Kommentare des Sprechers nicht immer hilfreich sind, hatte auch Khamis schon mehrfach angedeutet; mehr als Andeutungen aber sind selbst unter Geschwistern nicht empfehlenswert.
Endlich erreicht man das obere Rampen-Ende. Man stoppt kurz, um durchzuschnaufen, aber niemand entspannt sich: Denn nun wechselt man vom Gelände der Molkerei auf das der benachbarten Käserei – und damit betritt man das Katzen-Areal.
Auf ihren Sammel-Touren wagt sich Aischa nur dann auf dieses Gebiet, wenn sonst nirgends was zu finden ist: Die diversen Absperrungen halten die Katzen ziemlich zuverlässig aus der Molkerei fern; inzwischen ist es mehrere Monate her, dass zuletzt ein Kater aus einem der riesigen Milch-Tanks gefischt wurde, wo er sich vollgesoffen hatte. Dafür stromern die Krallenträger umso zahlreicher durch das Gelände der Käserei; schließlich sollen sie die Mäuse fernhalten. Und darin sind sie ziemlich gut: Zwei-, dreimal ist ihnen Aischa selber nur knapp entwischt; kaum eine Woche vergeht, ohne dass ein weniger glücklicher Sammler erlegt wird. Und das sind nur die Gefallenen aus Aischas Volk; die Zahl der Opfer aus anderen Mäuse-Völkern beträgt ein Vielfaches: Denn schließlich zieht die Käserei Mäuse von nah und fern an. Aber niemand ist auch nur annähernd so erfolgreich darin, Ware aus der Käserei zu organisieren wie Aischas Volk; nur dieses war und ist dazu in der Lage, ausgewachsene, ausgereifte Käselaibe im Stück in ihren Bau unter der Molkerei zu transportieren. Auf welche Weise ihr Sprecher dies zu organisieren vermag, ist Aischa ebenso ein Rätsel wie ihrem Bruder, aber offenbar funktioniert es: Auch heute erreicht der Trupp – nach dem Erklimmen der Rampe und dem Passieren einer Schutzklappe – unbehelligt die Käserei.
Jetzt – erst jetzt! – versteht Aischa auch, warum für diesen Trupp nur Mäuse mit schwachem oder gänzlich fehlendem Geruchssinn rekrutiert werden: Sie selber ist stolz darauf, ein einzelnes Gerstenkorn, den kleinsten Käsekrümel aus einer Entfernung von hundert Schwanzlängen riechen zu können; dementsprechend überwältigt ist sie von dem Aroma, dass sich hier ihrer Nase aufdrängt: Käse... Käse! Käsekäsekäse! Mehr Käse, als Aischa je auf einem Haufen sah; mehr, als sie sich vorzustellen vermochte! Krampfhaft umklammert sie das Zugseil des Wagens: Nicht um diesen fest-, sondern um sich selber zurückzuhalten: Sonst würde sie sofort die Regale rauf krabbeln, die dort lagernden Käselaibe anknabbern, zerlegen, verzehren und verdauen, bis sie platzt. Ein Mäuse-Schlaraffenland ...
„Es gibt jene, die horten, aber nicht verbrauchen, und es gibt jene, die betteln, weil sie beraubt sind – das sind die, die ihre Rechte an dem Reichtum ihrer Welt fordern und nichts finden, was sie verbrauchen können. Das sind Akte von Plünderei und Diebstahl, die aber nach den ungerechten und ausbeuterischen Regeln dieser Welt legitim sind. Endlich sollte alles, was über die Befriedigung der Bedürfnisse der einzelnen Maus hinaus geht, im Eigentum aller Mäuse bleiben.“
Dieser Monolog des Sprechers ernüchtert Aischa wieder ein wenig. Erst jetzt gelingt es ihr, nach Katzen Ausschau zu halten; sie kann aber keinen einzigen Krallenträger erspähen.
Glück? Zufall? Oder exzellente Planung ihres großen, genialen Sprechers? Aischa kommt nicht dazu, sich darüber ihr Köpfchen zu zerbrechen: Denn sobald sichergestellt ist, dass die Bahn frei ist, fiepst die Vor-Maus ein Kommando, und das Gefährt setzt sich wieder in Bewegung. Zielsicher steuert man ein Regal am Rand des Lagers an, rollt das Gefährt auf das Gitter davor – ein tückischer Balanceakt so kurz vor dem Ziel – und während vier Mäuse die Zugseile vom vorderen zum hinteren Ende des Wagens ziehen, erklimmt der Rest das Regal. Bis auf den Sprecher, heißt das, aber Aischa bemerkt, dass selbst dieser nun von seinem Gefährt steigt.
Wo er sich hin begibt, entgeht ihr: Denn nun schiebt sich der erste Käselaib auf dem untersten Regal-Brett in ihr Blickfeld. Ein überwältigender Anblick: Der Laib ist doppelt so hoch wie sie selber, und alle Mäuse des Trupps zusammen können ihn gerade mal umfassen. Ihr Volk wird davon eine Woche zehren können, und ein Blick nach links und rechts verrät Aischa, das dieser Laib zur kleinsten Kategorie gehört!
Inzwischen hat sich die Sammlerin so weit unter Kontrolle, dass sie sich auf das Kommando der Vor-Maus hin mit an die Arbeit machen kann: Alle stemmen sich gegen den Laib, und auf ein „Zu-gleich!“ hin drückt man diesen ein, zwei Pfotenbreit gen Regal-Rand. Das wiederholt sich dutzendfach, und nach einigen Minuten hat man den Käse so weit, dass er zu einem Drittel über den Rand hinaus ragt.
Wie man kurz pausiert, tritt Aischa an die Regal-Kante, und nun meint sie auch zu verstehen, warum der Wagen so massiv gebaut ist: Der Weg nach unten ist doppelt so weit, wie der Laib breit ist. Den Käse derart gezielt vom Regal zu schubsen, dass er erstens auf dem Wagen landet – der kaum breiter ist als der Laib – zweitens nicht wieder von ihm herunter prallt und drittens das Gefährt nicht zerschmettert, das ist der kniffeligste Part; Khamis meinte, dass dies im Schnitt erst beim zweiten Versuch klappt. An guten Tagen gelingt es auf Anhieb; einmal brauchte es fünf Versuche, doch ohne Käse musste man noch nie heim fahren.
Etwas anderes fällt Aischa erst auf den zweiten Blick auf: Unten steht eine Maus auf dem Wagen, um dem Trupp Anweisungen zu geben; eine andere Maus – offenbar Omar – befestigt noch die Zugseile, und zwei stehen Wache. Der Sprecher jedoch ist nirgends zu sehen.
Das verwundert die Maus nicht sonderlich. Dann aber steigt ihr ein anderer Geruch in die Nase: ein Aroma, das gewiss nur Mäuse mit außergewöhnlich gutem Geruchssinn registrieren würden, da es von dem intensiven, fast betäubenden Käse-Duft überlagert wird. Aischa jedoch erkennt das Aroma sofort: Es riecht nach Milch.
Auch dies verwundert sie zuerst nicht sonderlich; schließlich wird in dieser Käserei die Milch der Molkerei verarbeitet. Dann aber geht der Maus auf, dass dieses Aroma bis eben sicher nicht da gewesen ist. Wo kommt es also so plötzlich her?
Aischa überlegt, ob sie ihre Mit-Mäuse warnen soll: Denn wenn sie die Milch riechen kann, dann wittern die Katzen diese erst recht, und was Käse ist für Mäuse, das ist Milch für Katzen! Aber so würde herauskommen, dass sie für Khamis eingesprungen ist ...
Aischa beschließt, selber der Quelle des Duftes auf den Grund zu gehen; so klettert sie in einem unbeobachteten Augenblick vom Regal. Unten versteckt sie sogleich unter den Wagen, und noch ehe sich ihre Äuglein an das Zwielicht gewöhnt haben, bemerkt sie, dass das Milch-Aroma hier unten sogar den Käse-Geruch überduftet. Dann sieht sie es: Direkt vor ihr, nur zwei Schwanz-Längen entfernt, werkelt der Mäuse-Sprecher mit irgendetwas herum. Sei es, weil er mit dem Rücken zu ihr steht, sei es wegen seiner gerüchteweise behaupteten Schwerhörigkeit; jedenfalls hat der Sprecher Aischa noch nicht bemerkt, so dass sie sein Handeln einige Momente unbeobachtet beobachten kann. Es dauert etwas, bis sie das unbegreifliche begreift: Es ist ein Schlauch, mit dem er da hantiert; oben ist er an den Wagen angeschlossen, und er führt durch das Gitter nach unten. Das aufsteigende Aroma und das Glucksen im Schlauch verraten, das Milch aus dem doppelten Boden des Wagens abgelassen wird; ein weißliches Schimmern von unten deutet an, dass sie dort in einer Schüssel aufgefangen wird.
Der Mäuse-Sprecher schmuggelt Milch aus der Molkerei heraus! Wie Aischa dies begriffen hat, wird ihr sofort auch manch anderes klar: Deshalb war der Wagen derart schwer! Deshalb ist weit und breit keine Katze zu sehen!
„Ziemlich raffiniert!“ bemerkt Aischa; unbewusst spricht sie ihre Gedanken laut aus. Der Sprecher schrickt herum, stolpert über den Schlauch, rutscht auf dem schmalen, milchbeschmierten Gitterstab aus und stürzt in die Tiefe. Instinktiv springt Aischa über mehrere Gitterelemente weg, hängt sich an den Schlauch und streckt sich weitmöglichst zwischen die Stäbe hinab: Denn etwa eine Schwanzlänge unter ihr hat sich der Mäuse-Sprecher am Milch-Schlauch festklammern können.
„Reicht mir Eure Pfote!“ ruft ihm Aischa zu; wenn sich beide Mäuse strecken, sollte sie ihn retten können. Der Sprecher nimmt sogleich eine Pfote vom Schlauch. Dann aber blickt er Aischa mit merkwürdiger Miene an: „Du bist doch nicht Khamis!? Diese Stimme ...“
„Ich bin Aischa, seine Schwester. Khamis hat – Wen schert das!? Gebt mir Eure Pfote!“
Der Sprecher nimmt wieder die rechte Vorderpfote vom Schlauch; beide Mäuse strecken sich weitmöglichst, und tatsächlich kann Aischa die andere Pfote umfassen: „Zieht Euch rauf; allein schaffe ich das nicht!“
Aber der Sprecher hängt wie ein nasser Sack an Aischas Pfote, und während diese sich kaum noch am Gitterrand festkrallen kann, beginnt die andere Maus wieder zu monologisieren: „Die Mäusin ist weiblichen Geschlechts, der Mäuserich männlichen. Eine Mäusin zu nötigen, die Aufgabe eines Mäuserichs zu übernehmen, ist ein ungerechter Angriff gegen ihre Weiblichkeit, mit der sie die Natur ausgestattet hat ...“
„Ich habe Khamis angeboten, für ihn einzuspringen.“ wirft Aischa ächzend ein; der Sprecher jedoch lässt sich nicht unterbrechen: „Denn Mäuserich-Aufgaben verhüllen die Schönheit der Mäusin, die für die weiblichen Rollen geschaffen wurde. Die modernen Mäuse-Völker sind unzivilisiert: Denn sie veranlassen die Mäusin, körperliche Arbeiten zu übernehmen und die natürlichen, von Schönheit, Mutterschaft und Seelenfrieden geprägten Rollen aufzugeben. Diese modernen-“
Womöglich hätte Aischa einen schweigenden Sprecher noch so lange halten können, bis Hilfe gekommen wäre. Dieser Vortrag jedoch gibt ihr den Rest: ‚Dann eben nicht!’ sagt sie sich, löst ihren Griff und lässt den Mäuserich fallen. Es folgt ein kurzes, schrilles Fiepsen; dann verrät ein Aufklatschen, dass der Sprecher in der Milch gelandet ist. Einige Momente hört man es noch plätschern, dann herrscht Stille.
„Was hast du getan!“ ruft darauf eine herbeieilende Maus aus; wie sich Aischa umdreht, erkennt sie Omar. „Er kann nicht schwimmen ...“
„Was hat er getan!“ erwidert Aischa, während sie sich aufrichtet und ihren schmerzenden Arm massiert. Da Omar nichts erwidert, beantwortet sie ihre Frage selber: „Von wegen großer, genialer Führer und Planer ... Er hat die Katzen mit der Milch hier bestochen; deshalb ließen die uns in Ruhe! Wie viele wissen davon?“
„Nicht viele.“ murmelt Omar. Er blickt immer noch durch das Gitter, und wenn man genau hinsieht, erkennt man einen grauen Fleck, der in der weißen Milch treibt. „Vier oder fünf ...“
„So weiß es jetzt ein Mäuserich weniger – und eine Mäusin mehr. Aber da sind noch die anderen ...“
Beide blicken nach oben, in die Richtung, wo die anderen Mäuse des Trupps am arbeiten sind ...
WUMMS!
Fast hätte Aischas Herz vor Schreck gestoppt: Ein ohrenbetäubendes Krachen ließ den Wagen erbeben, kurz abheben und scheppernd wieder landen: Der Käse ist gelandet, und das fröhliche Fiepsen der Mäuse verrät, dass er diesmal auf Anhieb auf dem Gefährt liegen geblieben ist. Gleichzeitig verrät ein verstummendes Glucksen, dass dadurch ein letzter Schwall Milch aus dem Tank getrieben wurde.
„Wir brauchen den Käse, und die Katzen die Milch ...“ murmelt Omar, wie man sich vom Schreck erholt hat. Aischa nickt: „Noch ...“

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Tag der Veröffentlichung: 22.09.2011

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