Liebe Leser,
dieses Buch bildet den Abschluss meiner Buchserie um Alexandra Weidelmann und ist zugleich eine Fanfiktion mit den Musikern meiner absoluten Lieblingsband The BossHoss.
Mir selbst gehört natürlich keiner der erwähnten Musiker, sondern sie gehören sich natürlich selbst und können selbst entscheiden, wie sie handeln. Für diese Geschichte habe ich meiner Fantasie freien Lauf gelassen und sie mir mitsamt ihren Songs quasi ausgeliehen, ebenso ist die Beschreibung des Studios von The BossHoss nur angelehnt und wurde für die Geschichte passend angeglichen.
Sämtliche Firmen-, Marken- und Eigennamen sowie alle weiteren erwähnten und/oder zitierten Songs gehören mir ebenfalls nicht und sind nur ausgeliehen, um die Geschichte anschaulicher zu gestalten.
Die zweite Band, die in dieser Geschichte eine wichtige Rolle spielt, sind die Rockland Rangers. Diese Musiker, ihre Managerin, ihre Songs sowie die Rockland Ranch und der Radiosender Radio NewMusic entspringen ausschließlich meiner Fantasie und dürfen ohne meine schriftliche Erlaubnis nicht kopiert werden.
Die komplette Handlung ist natürlich frei erfunden, der Beginn lehnt sich an mein eigenes, erstes The BossHoss-Konzert mit Soundcheck an. Weiterhin kann man diese Geschichte auch auf meinem Fanfiktion-Account finden.
Diese Geschichte ist derzeit noch unlektoriert und wird nach Lust und Laune (und Zeit) fortgesetzt.
Viel Spaß beim Lesen,
Mia Monocerus
Mein Blick fällt auf das Ticket an der Pinnwand und mein Herz macht vor Freude einen Sprung. Ich werde zum Konzert von The BossHoss fahren. Ich werde meine Lieblingscowboys endlich live sehen!
Ich lasse mich auf den Sitzsack plumpsen und schließe die Augen. In meinen Gedanken ziehen die Bilder meines achtzehnten Geburtstages vorbei.
„Für dich.“ Jesse lächelt. „Na los, jetzt mach’ schon auf.“
Ich nehme mein Geburtstagsgeschenk so vorsichtig entgegen als wäre es aus Glas. Wer weiß, vielleicht ist es zerbrechlich?
Einen Augenblick lang überlege ich, ob ich es schütteln soll. Ob es wohl klappern würde? Andererseits kann der Inhalt kaputt gehen, wenn es tatsächlich zerbrechlich ist…
Jesse bemerkt mein Zögern und lacht. „Ich verspreche es hoch und heilig“, fängt er an. „Es geht nicht kaputt und du wirst gleich schreiend zuerst an die Decke und dann mir um den Hals springen.“
Da ist ja mal jemand ganz und gar von sich und seinem Geschenk überzeugt. Kampfeslustig funkele ich meinen Freund an. „Und wenn nicht?“
Er zieht eine Augenbraue hoch, legt den Kopf schief und grinst unwiderstehlich. „Sollte das tatsächlich der Fall sein, schenke ich dir meine Epiphone“, geht er darauf ein und deutet auf die wunderschöne Jumbo-Gitarre in Vintage Sunburst. Seine Bühnengitarre, die sonst niemand überhaupt nur berühren darf.
Ich bin sichtlich beeindruckt. „Hast du dir das gut überlegt?“, frage ich und ziehe meinerseits eine Augenbraue nach oben.
„Natürlich, oder hat dich jemals ein Geschenk von mir enttäuscht?“
Nein, hat es nicht. Das erste damals war anonym abgegeben worden, nachdem ich felsenfest davon überzeugt war, er hätte mich schon längst vergessen. Eine silberne Gürtelschnalle mit einem Pferdekopf und zwei Federn darauf, die mich stets an meinen Wanderritt und die Lagerfeuerabende erinnern wird. Auch den Zettel, welcher dabei lag, habe ich noch deutlich vor Augen: „Damit du mich nicht vergisst, J.“
Das zweite Geschenk kam ebenfalls mit der Post und ging diesmal nicht nur an mich, sondern auch an meine beste Freundin Dina. In einer schmalen, kleinen Schachtel lag eine CD mit einem einzigen Song darauf: Talisman. Jesse und sein besten Freund Elyas hatten ihn zusammen geschrieben, eingespielt und gesungen. Dabei lag ein Zettel: „Ein besonderer Song für zwei besondere Ladys, E. & J.“
Sofort habe ich die Melodie wieder im Kopf, höre Jesses englische und Elyas’ spanische Stimme. Dazu spielen beide Gitarre – Jesse auf seiner Bühnengitarre und Elyas auf dem Erbstück seines Großvaters, einer alten Archtop-Gitarre, die ihm heilig ist.
Der Song ist der einzige auf meinem MP3-Player, der nicht von The BossHoss stammt, eben etwas ganz Besonderes.
Nein, seine Geschenke haben mich noch nie enttäuscht. Warum soll es diesmal anders sein?
Auf einmal komme ich mir lächerlich vor, reiße das blaue Geschenkpapier ab und zerfetze es dabei. Jesse lacht aus vollem Hals.
Ich reiße den Karton auf und stocke. Ein schwarzes T-Shirt mit einem weißen Druck in meiner Größe. Aber nicht irgendein T-Shirt, sondern das der Stallion Troopers, dem Fanclub von The BossHoss.
Sprachlos sehe ich ihn an und er nickt, als ob er meine Gedanken lesen kann. „Ganz genau, du bist jetzt eine Trooperin. Das war doch immer dein großer Wunsch, nicht wahr? Und jetzt, volljährig, kann dich da ja niemand mehr dran hindern.“
Und ob das mein großer Wunsch ist! Stallion Troopers, und ich bin endlich mit dabei! So richtig glauben kann ich das noch gar nicht.
Ich will aufspringen, doch Jesse bremst mich aus. „Moment, erst zu Ende auspacken“, erklärt er streng. Vorsichtig nehme ich das T-Shirt aus dem Karton und falte es auf.
Wow, ich bin eine Trooperin. Unglaublich!
Eine Karte fällt zu Boden. Ich hebe sie auf und erstarre erneut. Eine Autogrammkarte von The BossHoss. Original unterschrieben, das sehe ich sofort – der Edding von Hoss hat offenbar kurz darauf den Geist aufgegeben und ist schwächer zu lesen als der Rest.
Oben in der Ecke hat Hoss mit dem sterbenden Edding „Liebe Alex, alles Gute zum 18. Geburtstag“ geschrieben und es verschlägt mir die Sprache. Wie hat Jesse es geschafft, an ein solches Autogramm zu kommen?
„Tante Lizzy hat Verbindungen“, beantwortet er mir die Frage und grinst. „War trotzdem nicht ganz einfach, die Jungs haben wohl viel um die Ohren derzeit.“
Wieder will ich aufspringen und ihm um den Hals fallen. Mein Gott, ich bin jetzt bei den Troopers und mir haben The BossHoss persönlich zur Volljährigkeit gratuliert – das kann man doch nicht mehr toppen!
Jesse schüttelt den Kopf, bremst mich wieder aus. „Du bist noch nicht fertig“, sagt er bestimmt und ich starre ihn ungläubig an. „DAS kannst du noch toppen?“
Er nickt. „Vermutlich, ja“, gibt er zu. „Schließlich steht hier die Zukunft meiner Epiphone auf dem Spiel.“
Ich entdecke einen Briefumschlag im Karton. Als ich ihn öffne, hämmert mein Herz gegen meine Brustwand.
Gleich darauf kreische ich, springe an die Decke und ihm um den Hals – genauso, wie er es vorausgesagt hat. Eine Konzertkarte für The BossHoss und einem Ausdruck, auf dem steht, dass eine Nutzerin namens Lady.Alex zum Soundcheck darf. Letzteres bin ich, den Spitznamen hat Jesse mir persönlich verpasst.
„Oh, mein Gott! Oh, mein Gott! Oh, mein Gott!“ Ich kann es nicht oft genug schreien, kann es nicht fassen. Ich darf sie live sehen, ich darf zum Soundcheck, ich bin Trooperin, ich hab ein Autogramm! Ahhh!
Jesse lacht. „Wette gewonnen?“, fragt er nach. Ich nickte heftig und drücke ihm einen Kuss auf die Lippen. „Behalte die Gitarre, ich fahre zum Konzert!“
Mein Handy klingelt und reißt mich aus der Erinnerung – mit einer Erinnerung an das Konzert morgen Abend. Als ob ich so etwas Fantastisches je vergessen würde!
Ich überlege, ob ich den Klingelton – Shake & Shout – abstellen soll und entscheide mich dagegen. Ist doch eigentlich der perfekte Soundtrack, um meine Sachen für morgen zusammen zu suchen.
Ich hieve mich aus dem Sitzsatz und nehme das Ticket von der Pinnwand. Das darf auf gar keinen Fall fehlen.
Genauso wenig wie der Textilmarker, den ich mir spontan gekauft habe. Irgendwo habe ich mal im Internet gelesen, dass man unbedingt seinen eigenen Stift mitbringen muss, wenn man ein Autogramm haben möchte. Bei Künstlern bekommen diese Dinge offenbar Beine und ich will kein Risiko eingehen.
„Warum fängst du nicht mit einer Tasche an?“ Dina steht plötzlich hinter mir und ich fahre vor Schreck zusammen. „Wenn du alles einzeln auf das Bett legst, kannst du heute Nacht nicht darin schlafen.“
„Hast du noch mehr schlaue Tipps auf Lager?“ Ich schaue sie skeptisch an. Seit wann ist sie so eine Besserwisserin?
„Nein, aber dafür eine Gürteltasche.“ Sie zieht eine kleine Tasche hinter ihrem Rücken hervor. „Taschentücher, dein Führerschein und der Ausdruck von deinem Trooper-Profil sind schon drin.“
„Wofür brauche ich denn Taschentücher? Ich bin nicht erkältet“, werfe ich verwirrt ein. „Und wie kommst du an mein Trooper-Profil?“
„Falls es traurig wird“, gibt sie schulterzuckend zur Antwort. „Hat Mama immer gesagt: Dina, nimm Taschentücher mit, falls es traurig wird. Und dein Passwort hat Jesse gespeicht.“
Ich versuche, nicht in einen Lachanfall zu rutschen, doch es gelingt mir nicht. Dina steigt mit ein und wir schaukeln uns gegenseitig hoch, bis Sam in der Tür steht.
„Ladys? Alles okay bei euch?“, fragt er zögernd mit einer hochgezogenen Augenbraue und sieht dabei so komisch aus, dass ich mich gleich noch einmal vor Lachen krümmen muss.
„Äh, ja“, versucht es Dina. „Ich denke schon. Alex hat nur Taschentücher eingepackt.“
„Taschentücher? Ich dachte, sie will zum Konzert?“ Sam runzelt die Stirn und wendet sich dann an mich. „Oder bist du erkältet?“
„Nein, aber Taschentücher sind wichtig – falls es traurig wird“, kommt es von Elyas, der auch noch in meinem Zimmer auftaucht. Ist das hier ein spontanes Bandmeeting?
„Jungs, ich würde gerne weiter alles zusammen suchen, was ich morgen brauche“, erkläre ich und überwinde meinen Lachanfall.
Dann werfe ich einen Blick in meine Tasche. „Ticket, Trooper-Profil, Führerschein, Stift…“ Ich schaue Dina tief in die Augen. „Taschentücher“, sage ich betont langsam und Dina nickt zustimmend. „Was fehlt?“
„Geld“, schlägt Sam vor. „Ich weiß ja nicht, wie viele Konzerte du schon erlebt hast, aber Geld ist immer gut – für Getränke und so. Du kannst ja nichts mit in die Halle nehmen.“
Ich suche mein Portemonnaie und ziehe einige Geldscheine heraus. „Das sollte reichen, oder?“, frage ich meine Berater und erhalte ein einstimmiges Nicken.
„Dann habe ich doch alles, stimmt’s? Ich kann zum Konzert rein, zum Soundcheck auch, kann mir etwas zu trinken kaufen und mir ein Autogramm geben lassen...“, zähle ich auf. „Und mich ausheulen.“
So richtig vergessen kann ich das mit den Taschentüchern immer noch nicht. Auch wenn mir morgen bestimmt nicht nach heulen zumute sein wird – hoffe ich.
„Wie kommst du hin?“, hakt Elyas nach und ich weiß nicht, worauf er hinaus will. „Ich fahre mit Jesses Auto zum Bahnhof, dann mit dem Zug zur …“
„Hast du überhaupt eine Fahrkarte?“, unterbricht mich Dina. „Für den Zug, du kannst doch nicht einfach schwarz fahren!“
„Ach, herrjee“, entfährt es mir und ich schaue hilflos in die Gruppe. Sam erbarmt sich schließlich: „Ich kaufe dir eins online, aber das Geld hätte ich gern zurück.“
„Kein Problem“, erwidere ich rasch. „Danke, Sammy. Du bist mein Held des Abends.“
„Und ich dachte immer, das wäre ich.“ Nun steht auch noch Jesse in meinem Raum und ich seufze.
„Okay, liebe WG“, setze ich an. „Ist nett, dass ihr mir alle helfen wollt, aber so groß ist mein Zimmer jetzt auch nicht und mit Dina habe ich die beste Beratung an meiner Seite. Jungs, haltet eurer Bandmeeting woanders ab.“
Alle drei schauen mich verwirrt an. Dann setzt sich Sam in Bewegung. „Ich kaufe dir mal ein Ticket, Alex“, erklärt er und geht. Elyas und Jesse werfen sich fragende Blicke zu.
„Ich glaube, Alex meint es ernst“, kommt mir Dina zu Hilfe. „Schatz, Jesse, ich hab hier alles unter Kontrolle. Sie wird nichts vergessen, dafür sorge ich.“
Als sie gegangen sind, werfe ich meiner besten Freundin einen dankbaren Blick zu. Sie lächelt. „Und jetzt noch mal von vorn: Ticket, Ausdruck, Stift, Taschentücher, Geld, die Fahrkarte ist in Arbeit“, zählt sie auf. „An dein Handy muss ich dich wohl nicht erinnern. Da bleibt nur noch die Frage: Was ziehst du an?“
„Mein Band-Top und eine Jeans“, schlage ich vor. „Wenn sich die Gelegenheit ergibt, dass ich ein Autogramm bekommen kann, dann lasse ich mir das Top signieren.“
„Klingt nach einem Plan“, stellt Dina fest. „Wie wäre es mit der Röhrenjeans und dazu die Boots?“
„Cowboystiefel zum Konzert? Ich weiß nicht“, gebe ich zu und Dina grinst. „Hey, das sind doch auch Cowboys – da passen die Stiefel wunderbar hin. Dazu der Gürtel mit Jesses Schnalle und schon…“
„… fühle ich mich wieder wie beim Wanderritt damals“, ergänze ich kopfschüttelnd. „Ist das nicht ein bisschen lächerlich?“
„Du kannst den Cowboyhut weglassen“, schlägt Dina vor. „Dann siehst du nicht mehr ganz so extrem wie ein Cowgirl aus.“
„Der heißt Stetson“, korrigiere ich sie automatisch. Obwohl ich den Hut seit über einem Jahr besitze, kann sie sich das Wort einfach nicht merken.
„Dann eben so“, ist sie einverstanden. „Ich hab noch eine karierte Bluse im Schrank, die würde wunderbar dazu passen.“
Ich schüttelte den Kopf und ziehe eine Jeansweste hervor. „Die hier noch viel mehr“, behaupte ich. „Jeans ist rockig, ist country, ist cool. Die ziehe ich an.“
Dina schlägt vor, dass ich das Outfit probeweise anziehen soll und ich komme dem Vorschlag nach. Als ich fertig bin, drehe ich mich einmal im Kreis. „Ich hatte recht, das passt zusammen, das sieht gut aus“, verkünde ich und meine beste Freundin nickt.
„Sehr gut“, bewertet sie meine Kleidung. „Jetzt nur noch die Gürteltasche um die Hüften. Nein, besser unter den Gürtel.“ Sie fummelt an meinem Gürtel herum, bis die Tasche endlich rechts über der Hosentasche hängt.
Ich betrachte mich ausführlich im Spiegel. Dina hat recht, die Westernstiefel passen wie die Faust aufs Auge dazu.
Hinter mir ertönt ein anerkennender Pfiff und ich drehe mich um. Sam wedelt mit der Fahrkarte. „Ganz ehrlich, ich muss Jesse warnen“, gibt er zu Bedenken. „Du siehst klasse aus, Lady Alex. Er sollte aufpassen, dass er keine Konkurrenz bekommt…“
„Keine Bange, Sam, ich bin treu“, verspreche ich ihm, bevor Dina ihn wieder aus dem Zimmer scheucht, damit ich mich umziehen kann.
„Alex, verdammt!“
Ich grummele vor mich hin und drehe mich auf die andere Seite. Nervt mich nicht, ich will schlafen.
Gleich darauf patscht mir eine Hand im Gesicht rum. Ich schlage sie weg und ziehe meine Decke über den Kopf.
„Ist jetzt nicht dein Ernst, Alex!“, meckert die Stimme.
Ich brauche noch ein paar Sekunden, bevor ich sie zuordnen kann. Dina. Was in aller Welt will die denn so früh am morgen? Lass mich schlafen!
Kaum habe ich den Gedanken zu Ende gedacht, klatscht mir eine gefühlte Badewanne voll Wasser ins Gesicht. Mit einem Ruck sitze ich klatschnass im Bett.
„Dina!“, fauche ich sie an. Die Badewanne ist tatsächlich nur eine Kaffeetasse und klatschnass ist auch nur mein Kopf.
„Sag mal, hast du den Wecker nicht gehört!?“, kreischt sie mir ins Ohr. „Dein Zug fährt in einer Stunde und du bist gerade mal wach!“
Ich zucke zusammen, verziehe das Gesicht. Was denn für ein Zug?
„Alex, du hast doch nicht im Ernst das Konzert vergessen, oder?“ Sie sieht mich fragend an und plötzlich fällt mir alles siedendheiß ein: The BossHoss, heute.
Mit einem Sprung verlasse ich das Bett. „Oh, verdammt!“, entfährt es mir und ich starre meinen Wecker an. Warum hat dieses Scheißteil nicht geklingelt!?
Der Wecker tickt müde vor sich hin und dann fällt mir ein, dass ich ihn nicht einmal eingeschalten habe, so dringend musste ich ja ins Bett – hat Dina mir befohlen. Damit ist doch klar, wer Schuld am Desaster hat: Dina.
„Alex, ich bitte dich“, sagt sie und verschränkt die Arme vor der Brust. „Mir die Schuld zu geben, weil du deinen Wecker nicht stellst… Das ist lächerlich!“
Ist es, ja. So viel muss ich dann doch zugeben.
„Los, ab unter die Dusche, ich gehe Kaffee kochen!“, schlägt ihr Befehlston durch. Als ob ich ein kleines Kind wäre, das nichts allein könnte. „Haare waschen, mit der Frisur kann ich dir helfen.“
Im Laufschritt gehe ich zum Badezimmer und bin erleichtert, dass niemand aus der WG gerade auf Toilette sitzt. Das hätte mir noch gefehlt.
Ich ziehe mein T-Shirt aus und stelle mich unter das prasselnde warme Wasser. Vielleicht doch lieber eine kalte Dusche, um richtig wach zu werden?
Prüfend drehe ich das Wasser kälter und sofort wieder auf warm. Nee, ich lasse mich ganz bestimmt nicht schockfrosten – egal wie müde ich noch bin!
Der Orangenduft des Shampoos steigt mir in die Nase, als ich es in meine langen blonden Haare einmassiere. Für Locken habe ich heute wohl keine Zeit mehr, dabei hatte ich mich irgendwie darauf gefreut.
Ich spüle das Shampoo ab, öffne die Duschtür und angle mir ein kleines Handtuch, welches ich mir um den Kopf schlinge. Wie gut, dass ich beim Frisör mal aufgepasst habe. Eigentlich ist das kinderleicht.
Dann steige ich aus der Dusche und trockne mich ab. Dina – clever wie sie ist – hat gestern dafür gesorgt, dass ich mein Outfit im Badezimmer deponiere. Fand ich das gestern noch albern, bin ich ihr heute sehr dankbar dafür.
Kaum bin ich fertig mit dem Anziehen, steht sie neben mir mit einer dampfenden Tasse Kaffee. „So, meine Liebe“, eröffnet sie mir. „Hinsetzen, Kaffee trinken, Stillhalten.“
Sie drückt mich auf den Hocker vor dem Spiegel, hängt mir ein Handtuch um die Schultern und macht sie dann an meinem Turban zu schaffen.
„Locken werden nichts mehr, das sollte dir klar sein, oder?“, sagt sie und ich nickte ergeben. Habe ich mir schon gedacht.
Sie greift nach dem Föhn und ich nehme einen großen Schluck Kaffee. Ja, so langsam werde ich tatsächlich wach.
Währenddessen kämpft Dina mit ein paar Knoten in meinem Haar, dann sehe ich nichts mehr. Der Föhn pustet mir die Strähnen ins Gesicht.
Ich warte geduldig ab, erlaube mir nicht den kleinsten Widerspruch – dafür ist jetzt wirklich keine Zeit mehr.
Als Dina endlich fertig ist, erkenne ich mich trotzdem erst auf den zweiten Blick. Die blonde Mähne fällt wellig auf meine Schultern herab. Rechts und links ist eine Strähne französisch geflochten, so dass ich allzeit freie Sicht haben sollte.
„Zufrieden?“, fragt sie mich und folgt meinem mich musternden Blick. Ich nicke langsam. „Ja, ich denke, ich sehe ganz gut aus.“
„Ganz gut?“ Dina ist irritiert. „Na, Moment, da habe ich was.“ Sie schwirrt davon, ein paar Sekunden später steht sie wieder neben mir und dreht mich vom Spiegel weg.
„Augen zu“, lautet ihre knappe Ansage, dann spüre ich, wie sie mir Kajal und Lidschatten verpasst.
„Wimperntusche mache ich selber“, werfe ich ein und nehme ihr die Mascara ab. Das Ergebnis kann sich sehen lassen, auch wenn ich jetzt irgendwie genauso aufgedonnert aussehe wie zu meinem Abschlussball. Aber egal, mir gefällt es.
Mein Blick fällt auf die Uhr. Ich habe noch genau fünf Minuten, bis ich allerspätestens aus dem Haus muss und mein Kaffee ist gerade so ausgetrunken.
Ich sprinte zurück in die Küche, schenke mir noch einen Kaffee ein und trinke ihn in einem Zug aus. Nur das Frühstück werde ich nicht mehr schaffen.
„Breakfast to go“, verkündet die beste Freundin der Welt und hält mir eine Papiertüte hin. „Ich habe dir mal schnell ein paar Brötchen geschmiert, damit du mir nicht verhungerst.“
Ich falle ihr spontan um den Hals. „Ohne dich bin ich am Arsch“, gebe ich zu. „Wie kann ich das jemals wieder gut machen?“
„Ach, feier’ du mal die Cowboys ab, das macht mich glücklich genug“, meint sie lässig. Ich löse mich von ihr und springe in die Westernstiefel.
Mit der Gürteltasche um der Hüfte, der Papiertüte in der Hand und dem Autoschlüssel in der Hosentasche stehe ich schließlich im Flur der gesamten Band gegenüber.
In Reih’ und Glied stehen sie vor mir, wie Zinnsoldaten. Ich muss lachen. „Was ist denn mit euch los?“
„Och“, meint Martin, der ganz links steht und alle einen Kopf überragt. „Wir wollen dir nur viel Spaß wünschen.“
„Und eine gute Fahrt“, kommt es von Sam, dem kleinsten Bandmitglied, ganz rechts.
„Und dass du mir ja die Cowboys grüßt“, fügt Nino augenzwinkernd hinzu, ebenfalls Fan von The BossHoss.
„Und dich ordentlich benimmst.“ Elyas dunkelbrauner Blick sagt mir ganz eindeutig, dass er sich auf Jesses Seite stellen wird, wenn ich einen fremden Kerl auch nur angucken würde.
„Und auf dich aufpasst“, fügt Jesse noch hinzu. „Damit du unbeschadet zu mir zurück kommst.“
„Äh, ja…“, bringe ich hervor. „Mach ich. Aber ich muss jetzt wirklich, wirklich los. Sonst fangen die ohne mich an.“
„Die schlafen noch, aber die sind auch schon in der richtigen Stadt“, wirft Lizzy ein, die plötzlich hinter mir steht. „Rock die Show, Alex.“
Ich grinse die Truppe an, umarme Dina noch einmal schnell. Mit einem „Tschüss bis morgen früh“ haste ich aus dem Haus und springe in Jesses schwarzen Peugeot.
Der schwarze Peugeot fliegt über die Straße. Zumindest habe ich das Gefühl, denn der Tacho sagt mir eindeutig, dass ich mich genau an die vorgegebene Geschwindigkeit halte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit in Panik biege ich auf den Parkplatz ein und lasse das Auto in der nächstbesten Parklücke einfach stehen, für ein ordentliches Einparken habe ich keine Zeit mehr. Ein bisschen verloren sieht er dort aus, als ob er versehentlich vergessen wurde.
Während ich die Tür öffne, fällt mir ein, was ich völlig vergessen habe: Kleingeld für den Parkautomaten. Das Schicksal kommt mir zu Hilfe und bietet mir an, mein Parkticket über eine SMS zu kaufen.
Hastig ziehe ich das Handy aus der Tasche und mache ein Foto von der Anleitung und vom Kennzeichen des Autos, mit der anderen Hand versperre ich per Funk die Autotüren.
Im Laufschritt haste ich los zum Bahnhof, im Slalom durch den Vorraum und dann viele Treppenstufen nach oben zu den Gleisen. Zum Glück hat der Bahnhof hier nur drei Gleise und auf dem ersten scheint nie ein Zug zu fahren.
Schnaufend stehe ich auf dem Bahnsteig, stütze mich mit den Händen auf den Knien ab. Für solche sportlichen Einlagen sind meine Boots nicht besonders geeignet.
In dieser Minute fährt der Zug ein und hält zu meinem Glück genau so, dass sich die Tür vor meiner Nase befindet. Ich steige ein und setze mich auf einen Platz am Fenster.
Bevor ich es mir bequem machen kann, fährt der Zug rumpelnd an. Überrascht stelle ich fest, dass ich allein im Abteil bin.
Während ich hin und her überlege, ob ich das gut oder schlecht finden soll, höre ich ein Klirren und Scheppern. „Heiße Wiener, Kaffee, Kuchen“, singt eine ältere Dame. „Heiße Wiener, Kaffee, Kuchen.“
Kaffee. Das klingt richtig gut. Ich bin eben doch irgendwie der Kaffeesucht verfallen.
Sie schiebt den kleinen Wagen an mir vorbei, immer noch singend. Ich setze mich mit einem Ruck auf und schaue sie an: „Kaffee, bitte.“
Sie bricht abrupt mit ihrem Gesang ab und schaut mich verwundert an, als ob sie mich gar nicht bemerkt hätte. „Oh“, macht sie, dann schenkt sie aus einer Kanne Kaffee in einen Pappbecher und reicht ihn mir. „Zwei Euro, bitte.“
Ich reiche ihr einen Fünf-Euro-Schein und sie gibt mir passend raus. Dann setzt sie sich mit dem Wagen wieder in Bewegung und ihre Stimme schallt durch den Zug. „Heiße Wiener, Kaffee, Kuchen.“
Während ich die Münzen einstecke, fällt mir mein Parkticket wieder ein. Ich stelle den heißen Kaffee in den Getränkehalter des Tisches und zücke mein Handy. Dann suche ich das Bild mit der Anleitung.
Hey, ist ja total einfach. Kennzeichen und die Nummer des Parkplatzes eingeben und an die angegebene Telefonnummer schicken. Leider kann ich das Kennzeichen von Jesses Auto auf dem Foto nur teilweise erkennen, also beginne ich zu raten.
Der Ort ist klar. JR sind die Buchstaben, das weiß ich auch. J für seinen Vornamen und R für Ranger, seinen ehemaligen Spitz- und jetzt Künstlernamen.
Bei den Zahlen hat die Sonne geblendet und ich versuche, mir irgendeinen Reim darauf zu machen. Sein Geburtstag? Bandgründung? Nichts passt so richtig mit der einzelnen Zahl zusammen, die ich erkennen kann.
Nach gefühlten Stunden habe ich die Lösung: Ein Datum. Der Tag, an dem er mir Greenhorn vorgespielt hat. Seinen ersten selbst geschrieben Song und ich durfte ihn zuerst hören. Auf dem Wanderritt.
Zufrieden tippe ich das Kennzeichnen und die Parkplatznummer ein und schicke die SMS ab. Dann wende ich mich wieder meinem Kaffee zu und summe leise die Melodie von Greenhorn, jenem Song, der die Rockland Rangers auf Erfolgskurs gebracht hat.
Und an dem ich nicht ganz unschuldig bin. In gewisser Weise steckt da ja auch die Geschichte von Lynn und mir drin – wie ich mein Pferd kennen und irgendwann auch lieben gelernt habe.
„Just be a Greenhorn.“
Egal, was du machst, wie neu du auf diesem Gebiet bist – lass dich nicht unterbuttern. Steh auf und kämpfe, du machst das schon. Ein Song über Vorurteile, wenn man es genau nimmt.
In meinen Gedanken blitzt der Moment auf, in dem ich zum ersten Mal auf einer Bühne stand, wenige Wochen vor meinem Abiturball, hinter mir die Rockland Rangers als Verstärkung. Und alles nur, weil mich meine liebste Klassenfeindin blamieren wollte.
Hat sie aber nicht geschafft. Stattdessen bin ich nun endlich seit ein paar Wochen frei von meiner Bühnenphobie. Ich weiß jetzt, dass ich singen kann. Und ich weiß, dass andere es gut finden, wenn ich singe.
Und ich weiß jetzt auch, dass es großen Spaß macht, mit Jesse zu singen – am Lagerfeuer, auf dem Weidezaun, auf der Bühne. Solange Jesse an meiner Seite ist, kann gar nichts Schlimmes passieren.
Aber heute werde ich ohne Jesse und nur als Fan singen, mich in der Masse treiben lassen, meinen Traum genießen, endlich meine Lieblingscowboys live zu erleben. Viel zu viele Jahre habe ich darauf warten müssen.
„Ist hier noch frei?“
Ich schrecke zusammen, habe gar nicht bemerkt, dass ich eingeschlafen bin. Ich reiße die Augen auf und blicke in das Gesicht einer kleinen Brünetten mit Jeansrock und dem Dos Bros-Tour-Shirt.
„Äh, ja“, gebe ich verschlafen zu Antwort. „Du willst wohl auch zum Konzert, oder?“
Eigentlich ist meine Frage überflüssig, aber man kann ja nie wissen. Zumindest haben wir ja schon mal ein Thema, worüber wir quatschen könnten.
Sie lässt sich auf den Sitz mir gegenüber fallen und streckt mir die Hand hin. „Ich bin Lucy“, sagt sie. „Und ja, wir scheinen den gleichen Weg zu haben.“
„Alex“, stelle ich mich vor und erwiderte den Handschlag. „Wo genau sind wir hier inzwischen? Ich bin vorhin vermutlich eingeschlafen?“
Sie nennt mir eine Haltestelle und ich habe trotzdem keine Ahnung, wie lange ich schon gefahren bin oder wie lange ich noch fahren muss. In diesem Moment fällt mir die App von der Bahn ein und ich tippe meine Daten ins Handy ein. Ah, ein Dreiviertel der Strecke liegt schon hinter mir.
Lucy beginnt ein Gespräch mit mir und wir tauschen unsere bisherigen Fan-Karrieren aus. Sie ist ein paar Jahre älter als ich, hat bereits eine handvoll Konzerte erlebt und ein Plektrum von Russ T. Rocket fangen können, welches sie stolz als Halskette trägt. Prompt werde ich ein bisschen neidisch auf sie.
Als die Frau mit dem Speisewagen wieder vorbei fährt, stelle ich fest, dass mein Pappbecher immer noch halb voll ist. Leicht angewidert kippe ich den kalten Kaffee herunter – hab dafür ja schließlich bezahlt – und verabschiede mich kurz von Lucy, um die Toilette zu suchen.
Die Toilette ist ein wahrer Alptraum: dreckig, nur noch ein paar Fetzen Papier auf der Rolle und die Seife klebt scheinbar überall. Ich schlucke meinen Ekel herunter und nehme Platz. Nie wieder ohne Desinfektionsmittel reisen, nehme ich mir ganz fest vor.
Als ich aufstehen will, fährt der Zug hart um eine Kurve und bremst dann ab. Ich knalle gegen die Wand der Zugtoilette und verziehe das Gesicht. Der Zug steht endlich und ich nutze die wenigen Sekunden, die das so bleiben wird, um mich fertig zu machen und zu meinem Platz zurück zu eilen.
Lucy lehnt quer über die Sitze, ihre Chucks ragen in den Mittelgang. In ihren Ohren stecken kleine Kopfhörer und sie hat die Augen geschlossen. Ich möchte es ihr zu gern nachmachen, doch ausgerechnet heute habe ich meinen MP3-Player natürlich nicht mit.
Stattdessen klicke ich mich durch die Seite der Stallion Troopers – wenn ich jetzt schon ein Teil davon bin, dann ich will jetzt auch alles darüber wissen. Meine Internetverbindung ist da nicht ganz meiner Meinung, aber ich bin beschäftigt.
„Stallion Troopers?“ Lucy sitzt mir wieder aufrecht gegenüber. „Du bist auch dabei? Cool!“
„Du bist Trooper?“, frage ich langsam nach und Lucy nickt.
„Bist du denn auch beim Soundcheck dabei?“, fragt sie mich und ich nickte aufgeregt mit dem Kopf. „Mein erstes Konzert und auch noch mit Soundcheck“, gebe ich zu. „Ein Geschenk von meinem Freund.“
„Da hast du ja das volle Programm gleich beim ersten Mal“, meint sie lachend. „Ich kann dir ja zeigen, wie das so läuft.“
Und schon sind wir mitten in einem Gespräch über den Fanclub und Treffen mit den Bandmitgliedern. Wie genau so ein Soundcheck abläuft, will sie mir nicht verraten. Ich soll mich einfach nur überraschen lassen.
Mit Lucy vergeht die Zeit wie im Flug und mitten in unserem Gespräch wird unsere Haltestelle angesagt. Gemeinsam steigen wir aus dem Zug.
„Sag mal, Alex, kommst du noch mit zum Italiener hier im Bahnhof?“, fragt Lucy mich. „Ich hab einen Bärenhunger, schließlich ist schon Mittagszeit.“
Ich nicke freudig. „Pizza klingt super“, willige ich begeistert ein und merke jetzt auch, wie sehr mein Magen knurrt.
Lucy hat mir bereits erzählt, dass sie schon einmal hier auf einem Konzert war und kann uns eine gute Pizzeria empfehlen. Ich trotte ihr gehorsam hinterher, während sie sich ihren Weg durch die Menschen im Bahnhof bahnt.
„Hier drüben ist es“, ruft sie und geht etwas schneller. „Schau mal, die haben nur noch einen Tisch frei.“ Sie wechselt in einen Laufschritt und ich sprinte ihr hinterher.
Als wir uns gerade so an den Tisch gezwängt haben, sehe ich ein älteres Ehepaar, welches traurig den Blick durch die Nische schweifen lässt. Alle Tische sind besetzt und ich grinse Lucy an. „Wir haben’s geschafft!“
Sie hält mir die Hand hin und ich schlage ein. Gleich darauf steht ein junger Kellner neben uns und reicht uns die Karten. „Wollen die Damen schon etwas trinken?“
Ich blättere schnell zur Getränkekarte. „Eine Cola“, bestelle ich. Lucy nimmt eine Zitronenlimonade. „Und ich möchte die Pizza Funghi“, fügt sie noch hinzu.
„Oh, und Sie? Haben Sie sich auch schon entschieden?“ Der Kellner schaut mich fragen an. Spontan bestelle ich die erste Pizza, die mir einfällt: „Ich nehme eine Pizza Calzone.“
„Cola, Zitronenlimonade, Pizza Funghi, Pizza Calzone“, wiederholt der Kellner und wir nicken im Gleichtakt. „Sollte in einer Viertelstunde fertig sein.“
„Ist es hier eigentlich immer so voll?“, wende ich mich an Lucy, als der Kellner gegangen ist. Sie zuckt mit den Schultern. „Naja, so richtig leer war es hier noch nie“, meint sie. „Aber so voll wie heute habe ich es auch noch nicht erlebt.“
Genau eine Viertelstunde später stehen zwei dampfende Pizzen auf unserem Tisch. Ich koste den ersten Bissen und bin angenehm überrascht. Es ist köstlich. Genießerisch langsam kaue ich Champignons, Salami und Mozzarella.
„Schmeckt’s?“ Lucy lacht. Ich strahle sie an. „Und wie!“
„Sieht man“, behauptet sie grinsend. „Du siehst aus, als würdest du gerade das absolute Gourmet-Menü verspeisen.“
„Keine Ahnung, wo ich etwas gegessen hätte, wenn ich dich nicht kennen gelernt hätte“, gebe ich zu. „Vielleicht wäre ich bei McDonalds mit einem dieser Cheeseburger gelandet. Das Zeug kann man auch nur in der Not verspeisen.“
„Sehe ich genauso“, gibt sie mir recht. „Das Einzige, was man dort genießen kann, sind die Nuggets. Und vielleicht noch der Wrap. Aber der Rest… Pfui!“
Die restliche Zeit über genießen wir stillschweigend unsere Pizzen. Hin und wieder lasse ich meinen Blick durch die Menge schweifen, aber die Tische bleiben allesamt voll besetzt. Ich kann unser Glück kaum fassen.
Plötzlich kommt mir Dina in den Sinn und ich frage mich, wie sie sich mit Lucy verstehen würde. Wer weiß, vielleicht sehe ich Lucy auch nach dem Konzert irgendwann noch einmal – abgeneigt wäre ich auf jeden Fall nicht. Sie ist echt nett und ich bin froh, dass sie sich im Zug neben mich gesetzt hat.
Lucy winkt nach dem Kellner, damit wir bezahlen können. Über den Preis bin ich angenehm überrascht, denn irgendwie habe ich bei so einer Pizza mit dem Doppelten gerechnet.
Mein Blick fällt auf Lucys Armbanduhr. „Verdammt, es ist ja schon um zwei!“, rufe ich erschrocken aus. „Und wir sind noch nicht einmal bei der Konzerthalle.“
Sie schaut mich belustigt an. „Dein erster Soundcheck, ich merke es“, gibt sie zu. „Keine Angst, wir haben noch eineinhalb Stunden Zeit. Mit der Straßenbahn sind wir in wenigen Minuten da – wir werden nichts verpassen.“
So ganz beruhigt bin ich noch nicht. Straßenbahn – braucht man da eigentlich auch ein Ticket? Irgendwie habe ich an so etwas gar nicht gedacht.
Lucy nimmt meine Hand und zieht mich quer durch das Bahnhofsgebäude Richtung Straßenbahn. Sie kennt sich hier definitiv gut aus und ich hoffe, dass wir auch gemeinsam zurück fahren werden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich ohne sie niemals wieder das passende Gleis finden werde.
Wenige Minuten später sitzen wir in der richtigen Straßenbahn. Ich habe natürlich ein Ticket gekauft, eines mit Rückfahrt, damit ich das später nicht versäume.
Das Erste, was mir einfällt, als ich den kühlen Bahnhof verlasse, ist die unsagbare Hitze. Ich bin definitiv völlig falsch gekleidet: Stiefel und lange Hosen im Hochsommer, dazu noch eine Weste, unter der sich der Schweiß sammelt. Ich beneide Lucy um ihren Jeansrock.
In der Straßenbahn schlägt mir die stickige, schweißgetränkte Luft entgegen. Vermutlich hat einfach niemand damit gerechnet, dass es im September noch einmal so warm werden kann.
Als die Bahn hält, bin ich überglücklich, der abgestandenen Luft zu entkommen – und stehe gleich darauf in der prallen Sonne. Ein dünnes Rinnsal läuft mir dem Rücken hinab, dabei hat das Konzert nicht einmal angefangen. Im Gegenteil, bis zum offiziellen Beginn sind es noch über fünf Stunden.
Lucy streckt ihr Gesicht in die Sonne und schließt für einen Augenblick die Sonne. Dann schenkt sie mir ein Lächeln und geht voraus. „Komm, Alex, wir schauen, ob schon andere Trooper warten“, ruft sie mir über die Schulter zu.
Vor der Konzerthalle warten tatsächlich schon andere Trooper und Lucy begrüßt sie mit Umarmungen. Dann werde ich kurz vorgestellt: „Das ist Alex, eine Neue in unserer Runde.“
Ich lächele den Mädels zu und bin ein bisschen verwundert, dass kein männlicher Fan dabei ist. Andererseits, irgendwie kann ich das auch verstehen. Sind eben Frauenschwärme, die Cowboys.
Elyas’ Warnung kommt mir wieder in den Sinn. Wie gut, dass ich meinen eigenen, absolut echten Cowboy habe. Und dass Jesse mich versteht und mich für The BossHoss schwärmen lässt, mich sogar allein zu deren Konzert schickt. Einen größeren Vertrauensbeweis kann er mir eigentlich nicht machen.
Inzwischen ist eine Stunde vergangen und es sind noch etliche Trooper-Damen dazu gekommen. Zwischen uns ist eine heiße Diskussion entbrannt über die Frage, welcher der Cowboys eigentlich warum der absolut Coolste ist. Ganz vorn dabei sind Alec, Sascha und Ansgar, die das Rennen unter sich auszumachen scheinen.
Plötzlich ist die Frage an mir und ich bin völlig überfordert. „Ähm… Ich mag sie alle…“, gebe ich zögernd zu. „Hab da noch nie drüber nachgedacht.“
„Komm schon, Alex“, fordert mich eine Rothaarige mit Kurzhaarfrisur auf, die sich als Sindy vorgestellt hat. „Stell dir vor, du hast die Chance, ein Foto mit einem von ihnen zu machen – wen würdest du auswählen?“
Im Geiste gehe ich die Cowboys durch und lande schließlich bei den beiden Frontmännern, zwischen denen ich mich nun wirklich nicht entscheiden kann. Lieber Sascha oder lieber Alec?
Ich bin mitten in Gedanken versunken, als plötzlich alle lachen. „Die Antwort ist genial!“ Lucy klopft mir auf die Schulter. „Mit so einer Begründung kam garantiert auch noch keine daher.“
Äh, Moment. Hatte ich überhaupt schon was gesagt? Oder laut gedacht?
Rasch rief ich mir meinen letzten Satz in Erinnerung, der durch meine Gedanken gerauscht war: „Ich nehme Alec, denn Sascha ist so viel größer als ich, da passt entweder mein Kopf oder seiner nicht mit auf das Foto.“
„Aber so klein bist du doch gar nicht“, wirft Sindy kichernd ein. „Notfalls muss sich Sascha halt ein bisschen kleiner machen.“
„Oder du bekommst eine Fußbank“, meint eine Trooperin namens Jana und wechselt dann das Thema. „Habt ihr eigentlich einen Lieblingssong?“
Schon flammt die nächste Diskussion zwischen uns auf und diesmal kann ich meine Favoriten sofort beisteuern, als die Runde an mir ist. „My personal Song, Rodeo Queen und Close“, erkläre ich stolz. „Und Leuchtturm, der ist noch schöner als im Original.“
Die Begründung für meine Wahl verrate ich den Anderen nicht, auch wenn mir die Geschichte hinter jedem Song durch die Gedanken flimmert.
My personal Song ist schon ewig mein Favorit und damals, als ich Jesse richtig kennen gelernt habe, war das auch mein Wunschsong am Lagerfeuer.
Auch mit Rodeo Queen verbinde ich eine Geschichte mit Jesse. Vor gefühlten Ewigkeiten, als ich noch nicht wusste, wer er war, hatte mich Dina zum Konzert einer Band namens Rockland Rangers geschleift, die im Bowlingclub in meiner Heimatstadt Neustadt gespielt hatten. Und mitten im Konzert hatte Ranger, der Sänger, einen Song an die Dame im grauen T-Shirt mit dem buckelnden Pferd darauf gewidmet – mich.
Ein halbes Jahr später hatte ich einen Wanderritt gewonnen, der mich zu Jesse geführt hatte. Und wie das Schicksal es so wollte, hatte ich auch eben dieses T-Shirt dabei und erinnerte ihn damit an ein Mädchen auf einem seiner Konzerte, an die er damals eben dieses Lied gewidmet hatte: Rodeo Queen. An seiner Art, diesen Song zu spielen und zu singen, erkannte ich ihn als Ranger wieder und so hatten wir schließlich zueinander gefunden.
Close war ebenfalls ein magischer Moment zwischen uns. Wir hatten ihn als ein Duett gesungen, bevor ich wieder nach Hause fahren musste. Das zweite Lied, das nach Leuchtturm jemals über meine Lippen gekommen war - nach fast einem Jahrzehnt.
Jesse und ich gaben uns mit diesem Song das Versprechen, füreinander da zu sein, wenn es jemals irgendwie irgendwo klemmen würde. Und wir waren da: erst ich, um ihm beim Videodreh zu seinem ersten selbst geschriebenen Song zu unterstützen, dann er, um mich von meiner Bühnenphobie zu befreien.
Und Leuchtturm, einen Song, den ich schon in der Originalversion geliebt habe, war der Song, mit dem ich meine Singstimme wiederentdeckt habe. Jesse hat mich förmlich dazu gezwungen, mitten in der Nacht, und irgendwann kamen die Worte „Komm geh’ mit mir den Leuchtturm rauf“ gesungen über meine Lippen.
„Alexandra Weidelmann?“
Huch, was hab ich denn nun schon wieder verpasst?
Lucy tippt mir auf die Schulter. „Ist hier“, bestätigt sie dem jungen Mann, der sich mit einer Liste zu uns gesellt hat. Dieser nickt und setzt einen Haken. Wo kommt der eigentlich so plötzlich her?
„Dann sind wohl schon alle da“, erklärt er. „Ich frag mal nach, wann der Soundcheck startet.“ Er zieht sein Walkie-Talkie vom Gürtel und dreht sich um. Was genau er sagt, kann ich nicht verstehen.
„Du warst eben ja ganz schon weg, oder?“, fragt mich Lucy besorgt. „Was war denn los?“
„Ach, ich hab mich nur daran erinnert, warum meine Lieblingssongs so etwas Besonderes für mich sind“, antworte ich ihr. „Die haben alle auf eine besondere Art und Weise meinen Weg gekreuzt und meistens etwas mit meinem Freund zu tun.“
„Ich dachte schon, es geht dir nicht gut“, gibt sie zu. „Du hast nicht mehr reagiert, als ich dich angesprochen habe. Als ob du in einer völlig anderen Welt warst.“
„Das war ich vermutlich auch“, gebe ich lächelnd zurück. „Aber etwas Gutes hat das ja auch: Jetzt muss ich nicht mehr so lange in dieser brütenden Hitze warten.“
Der Schweiß steht mir tatsächlich schon auf der Stirn, mein Rücken ist zumindest feucht und meine Handflächen kleben ein wenig. Wie hätte ich auch wissen können, dass ausgerechnet jetzt der Hochsommer noch einmal vorbei schaut?
Gleichzeitig verfluche ich den Veranstalter, der freundlicherweise zwei Sonnenschirme aufgestellt hat, die sehr viel Schatten spenden. Allerdings stehen beide meterweit vom Eingang weg und nützen so eigentlich niemanden.
„Okay, Mädels“, der junge Mann dreht sich wieder zu uns. „In einer Viertelstunde können wir rein.“ Wir seufzen im Chor. Weiter im Sonnenlicht warten.
„Ist jemand von euch eigentlich musikalisch, als spielt ein Instrument oder so?“, fragt er und lässt seinen Blick über die Runde schweifen. Niemand meldet sich und auch ich verschweige besser mal, dass ich singe.
Er erzählt, dass er selbst schon in ein paar Bands gespielt hat, und wechselt dann das Thema. Wir unterhalten uns über die Menge von besuchten Konzerten, Fangeschichten und Tattoos. Vor meinem inneren Augen blitzt mein Tattoo-Wunsch auf, den ich mir jedoch schlichtweg nicht leisten kann – den Blitz des Bandlogos am Fußknöchel.
Ich folge der Diskussion, während ich immer wieder auf Lucys Armbanduhr schaue, um die Zeit zu entziffern. „Hey, wir verpassen schon nichts“, raunt sie mir zu. „Entspann dich.“
Der junge Mann erzählt uns von einem Praktikanten, der für die Band gearbeitet hat, und eine Trooperin namens Mira fragt gleich darauf, wie man denn Praktikant werden kann. Er lacht und schenkt uns dann ein breites Lächeln.
„Für dich wird es schwer, wir sind ein beinahe reiner Männerhaufen, da passt eine Frau einfach nicht rein. Zickenkrieg und so“, gibt er zu. „Männer sind da eben einfacher zu händeln.“
„Dann schneidest du dir die Haare ab und bewirbst dich als Miro!“, schlägt Jana vor. „Dann klappt das bestimmt.“
„Habt ihr echt keine weiblichen Helfer?“, will Sindy wissen. Er schüttelt den Kopf. „Nein, eigentlich nicht. Außerdem kann man bei dem Job hier unmöglich Fan sein“, erklärt er. „Wenn man jedes Mal fast in Ohnmacht fällt und Herzrasen bekommt, wie will man dann mit denen zusammenarbeiten?“
Ich hätte das Problem vermutlich nicht, schießt es mir durch den Kopf. Immerhin bin ich jetzt schon so lange unter den Rockland Rangers, dass ich inzwischen die männliche Denkweise beherrsche, deren Witze verstehe und mir auch Blondinenwitze nichts mehr ausmachen.
So eine Tussi, die glaubt, in ihren Star verliebt zu sein, hätte es da tatsächlich schwer, wenn sie mit diesem auf professioneller Ebene zusammenarbeiten soll, das muss ich zugegeben. Aber so bin ich nicht. Und ich falle auch nicht in Ohnmacht und Herzrasen ... naja, vielleicht. Weiß ich ja noch nicht.
„Ladys, wir können“, ruft der junge Mann begeistert. „Mir nach!“
Wir jubeln im Chor und springen durch den Einlass. Gleich werde ich sie sehen, die besten Cowboys der Welt. Na gut, abgesehen von den Rockland Rangers, aber das ist auch eine andere Liga.
Die angenehme Kühle schlägt mir entgegen, als ich hinter den in das Foyer der Konzerthalle trete. Bestimmt fünf Grad kälter als draußen und die Rinnsäle auf meinem Rücken versiegen allmählich.
Als ich ein Schild mit der Aufschrift „WC“ sehe, habe ich plötzlich genau dieses Bedürfnis. Und als ob Mira meine Gedanken teilt, fragt sie prompt: „Könnte ich fix noch runter auf Toilette?“
Ich nickte eifrig und sehe den jungen Mann bettelnd an. Aus den Augenwinkeln heraus bemerke ich, dass ich damit nicht die Einzige bin.
„Geht klar“, sagt er. „Ihr habt drei Minuten Zeit.“
Mira läuft los und ich haste ihr hinterher. Die Toilette finde ich sonst garantiert nicht, vom Rückweg ganz zu schweigen. In Gedanken verfluche ich meinen scheinbar nicht vorhandenen Orientierungssinn. Wie gut, dass ich mir heute keine Platznummern merken muss, darin bin ich ganz schlecht.
Sie verschwindet in der ersten Kabine und ich in der zweiten. Die anderen Trooper-Ladys, die uns gefolgt sind, beachte ich nicht mehr. Bloß so schnell wie möglich fertig werden und auf gar keinen Fall Mira verpassen.
Ich glaube, in so einem Rekordtempo war ich noch nie zuvor auf Toilette. Ich trockne mir bereits die Hände ab, als Mira aus ihrer Kabine kommt, und verlangsame meine Bewegungen augenblicklich.
Dann folge ich ihr wieder hinauf. Der junge Mann sieht auf seine Uhr, dann sagt er etwas in sein Walkie-Talkie. Ich drehe mich kurz um, es fehlen noch zwei.
Ich bin so erleichtert, dass ich wieder zurück bei der Gruppe und pünktlich bin, dass ich eine Weile brauche, bis ich Schlagzeug und E-Gitarre höre. Irgendwer spricht irgendwo in ein Mikrophon und Panik breitet sich in mir auf.
„Lucy, fangen die etwa schon ohne uns an?“, raune ich ihr leise zu und sie lacht. „Keine Angst, wir sind pünktlich“, erwidert sie. „Entspann dich, es ist alles gut.“
In diesem Moment gesellen sich die beiden Trooper zu uns und der junge Mann zählt prüfend noch einmal nach. Alle vollständig.
„Mir nach“, ruft er und in ordentlicher Zweierreihe marschieren wir ihm hinterher gerade auf die große Tür zu, hinter der sich die Konzerthalle befindet. Es ist viel dunkler darin und ich brauche ein paar Sekunden, ehe sich meine Augen daran gewöhnt haben.
Dann fällt mein Blick auf die Bühne und ich sehe sie endlich zum ersten Mal live: The BossHoss.
Sie spielen gerade Wait for me und schauen auf, als wir in die gespenstig leere Halle kommen. Schön, dass sie auf uns gewartet haben.
Lucy und Sindy winken wild und ich tue es ihnen gleich. Alec grinst und winkt zurück, Sascha unterbricht kurz sein Gitarrenspiel, um uns ebenfalls zu winken.
In meinem Kopf nenne ich sie automatisch bei ihrem Vornamen und vermute, dass es bei den Sängern wohl so ähnlich ist wie bei Jesse – normale Menschen, bis sie ihre Show beginnen. Aus Jesse wird Ranger, aus Alec und Sascha werden Boss Burns und Hoss Power.
Ich stelle mich ganz vorn an die Bande und nehme mir einen Augenblick, meine Lieblingsband ganz genau anzuschauen. Oh, mein Gott, sind die nah!
Alec sieht zu mir herüber und ich stelle überrascht fest, dass ich sogar so nah bin, dass ich jede Regung in seinem Gesicht sehen kann. Bei Sascha ist es nichts anderes.
Meine Hände beginnen gleich darauf mit der Schweißproduktion und das Abwischen an der Jeans ist zwecklos. Ich bin überwältigt von der Nähe, die ich mit einem Schlag zu meiner Lieblingsband habe.
Und ich kann nicht aufhören, die beiden Frontmänner genau zu mustern. Alec in Band-Top, grauer Jogginghose und Turnschuhen, Sascha in Bandshirt, Jeans und Turnschuhen. Sie sehen so völlig normal aus. Erstaunt stelle ich fest, dass einem Alec sogar dieser Schlabberlook steht und ihn attraktiv wirken lässt.
Zum Glück kann Jesse gerade nicht in meinen Kopf gucken. Andererseits weiß der, dass mein goldenes Herz nur ihm allein gehört.
Außerdem weiß Jesse, dass ich die beiden Frontmänner heiß finde. Aber das war es dann auch schon, schließlich sind beide längst vergeben, haben Kinder.
Sascha stimmt Do it an und ich höre, wie alle mitsingen. Begeistert stimme ich mit ein und freue mich über jedes Lächeln der Bandmitglieder, als wäre es ganz persönlich an mich gerichtet.
Diese Nähe ist überwältigend. So nah werde ich denen wohl nie wieder kommen. Es ist mein absolutes Highlight in meinem bisherigen Leben. Ich kann einfach nicht genug davon bekommen, hier unten vor der Bühne zu stehen, vor mich hin zu tanzen und zu singen und dabei zur besten Band der Welt aufzuschauen.
„Was könnten wir noch spielen?“, fragt Alec seine Bandmitglieder und von ganz hinten höre ich Ansgar lachen. „Eye of the tiger“, ruft dieser scherzhaft und augenblicklich entlockt Sascha seiner weißen E-Gitarre, die ersten Töne. Yeah, klingt gut, so aus dem Stegreif. Stefan und André stimmen ein, Ansgar ebenfalls. Ich bin zutiefst beeindruckt und werde prompt an das Wunschkonzert der Rockland Rangers erinnert. Songs auf Zuruf spielen kann nicht jeder.
Ich fiebere dem Text entgegen, suche schon mal die richtigen Worte, um gleich mit einsteigen zu können, als er abrupt abbricht. Für eine Sekunde bin ich enttäuscht. Ich hätte so gerne mal Saschas und Alecs Stimmen auf diesem Song gehört.
„Viva Dos Bros!“, ruft Alec, Dos Bros beginnt und ich klatsche, singe und tanze mit. Plötzlich habe ich das Gefühl, als hätten wir hier unser ganz privates Konzert. Wer braucht schon hunderte Menschen, wenn er sieben Cowboys so nah haben kann?
Nach dem Song stellt Stefan seine Gitarre ab, Sascha tut es ihm gleich. Ansgar und Tobi treten nun auch nach vorn, Malcolm legt die Muntermonika beiseite. Hey, Moment, ihr wollt doch nicht einfach aufhören! Gerade jetzt, wo es so fantastisch ist!?
Alec steht von seinem Barhocker auf und schiebt das Mikrophon in den Ständer. Mein Blick fällt auf Lucys Uhr. Wir waren hier ja echt schon eine Ewigkeit drin, dabei habe ich das Gefühl, gerade erst in die Halle gegangen zu sein.
Bin ich eigentlich die Einzige, die so traurig ist, dass der Soundcheck schon vorbei ist und wir wieder nach draußen müssen? Scheinbar. Ich verstehe das nicht.
Alec beugt sich nach vorn, nah an das Mikro heran und lässt seinen Blick über uns zwölf Trooper streifen. „Wir kommen jetzt runter“, sagt er mit seiner tiefen Stimme, die mich so sehr fesselt, dass ich den Inhalt des Satzes erst nach einigen Sekunden begreife.
Wir kommen jetzt RUNTER? Wohin runter? Zu … uns?
Ich bin immer noch damit beschäftigt, zu überlegen, ob die Band jetzt wirklich zu uns vor die Bühne kommen wird. Deshalb zucke ich auch unmerklich zusammen, als sich mir eine Hand hinstreckt. „Hi.“
Überrascht blicke ich auf. Vor mir steht André. „Hi“, antworte ich und greife nach seiner Hand, während ich versuche, meine Verwirrung zu überspielen.
Prüfend lasse ich meinen Blick schweifen. Sie sind alle hier unten, bei uns. Viel weiter komme ich nicht, denn schon wird mir die nächste Hand hingestreckt. Malcolm.
„Hi, how are you?“, fragt er und ich habe die Kontrolle über mich zurück. „I’m fine, thank you“, antworte ich lächelnd. Er lächelt zurück, dann geht er zur nächsten Trooperin.
Wo ist eigentlich Lucy?
„Hallo.“ Wieder eine Hand, diesmal die von Tobi. Ich bin überwältigt, wie nett die alle sind. Und so normal. „Hallo“, erwidere ich ihm und so langsam schleicht sich ein Grinsen auf mein Gesicht.
Es wird direkt von Alec aufgefangen. „Hi“, höre ich seine Stimme in meinem Ohr. Ich bin überhaupt nicht darauf vorbereitet und liege plötzlich in seinen Armen. Huch!
„Hi“, kommt es leise von mir.
Und er riecht auch noch so gut, aber nach sich selbst, nach Mann. Für einen Augenblick genieße ich seine Wärme. Ich habe so ein Gefühl, dass wir uns gut verstehen würden, auf der gleichen Wellenlänge sind. Wie damals bei Jesse und seinen Kumpels.
Komisch, vorhin hab ich Wärme noch verflucht, warum genieße ich gerade die Umarmung eines verschwitzten, warmen Mannes, den ich bisher nur auf Fotos gesehen habe?
Viel zu schnell löst er die Umarmung auf und geht weiter. Ich trauere dem ganzen kurz nach, bis mir klar wird, dass ich gerade Alec Boss Burns Völkel umarmt habe. Oh, mein Gott! Wie soll der Tag heute jemals getoppt werden?
Da streckt mir Ansgar seine Hand hin. „Hey“, sagt er und ich mustere ihn kurz. Sein blondes Haar ist zu einem Knoten zusammen gebunden und ich weiß nicht, ob ich das jetzt total hässlich oder ganz cool finde. Irgendwie beides. „Hey“, antworte ich ihm und drücke seine Hand.
Er geht weiter zur nächsten Trooperin, die er prompt umarmt und ihr Wangenküsschen gibt. Ich bin ein wenig eifersüchtig. Okay, Alec hat mich umarmt, aber dem Rest durfte ich nur die Hand reichen. Ich will auch mal ...
„Was, du küsst alle?“ Saschas Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Er steht direkt vor mir. „Dann küssen wir auch.“
Wenn ich bei Alec schon überrascht war, ist es vermutlich nichts im Vergleich zu jetzt. Kaum habe ich seine Worte verarbeitet, liege ich in seinen warmen Armen und bekomme links und rechts ein Wangenküsschen. Die Stellen fangen sofort Feuer und ich hoffe, dass ich hier nicht als Tomate ende.
Und, wow, er riecht auch so unglaublich gut. Nicht nach Parfüm, sondern nach verschwitztem Mann. Muss wohl was dran sein an der Geschichte, dass verschwitzte Männer bei Frauennasen gut ankommen.
Als er sich wieder löst, merke ich erst einmal, wie riesig er tatsächlich ist. Stand ich je zuvor einem so großen Mann gegenüber? Na gut, Martin kann es vielleicht mit ihm aufnehmen, wenn er Glück hat…
Oh, mein Gott! Ich wurde gerade von Sascha auf die Wange geküsst! Zweimal!
Meine Wangen glühen immer noch. Ich merke exakt die Stellen, an denen Saschas Lippen getroffen haben. Wie paralysiert begrüße ich Stefan. Mein Kopf versucht immer noch zu verarbeiten, dass er gerade zwei Küsschen von Sascha Hoss Power Vollmer abbekommen hat.
Bin ich eigentlich gerade feuerrot? Es fühlt sich so an, aber Gefühle können auch trügen…
„So, wir machen jetzt ein Gruppenfoto“, schaltet sich der junge Mann ein, der uns hierher geführt hat. Ich muss zugegeben, ich hatte ihn eigentlich schon vergessen.
Mein Gott, Sascha hat mir Wangenküsschen gegeben! Das stellt nun alles andere wirklich in den Schatten. Der Sascha. Ich kann es noch immer nicht fassen und wünsche mir so sehr, ich könnte genau dieses Gefühl einfangen.
Der junge Mann scheucht uns zu einem Haufen zusammen. Ich weiß nicht, wer hinter mir steht, aber derjenige legt mir eine Hand auf die Schulter. Ich traue mich nicht, nachzusehen und grinse stattdessen in die Kamera.
Wenn die mir schon so ein Dauergrinsen ins Gesicht zaubern, wie soll das nachher beim eigentlichen Konzert werden?
Dann löst sich die Gruppe wieder auf und der junge Mann würde uns gern nach draußen begleiten. „Für Einzelfotos haben wir keine Zeit“, erklärt er kurz.
„Blödsinn“, schaltet sich Jana ein. „Wir sind nur zwölf und Fotos gehen doch schnell. Jeder ein Einzelfoto mit der gesamten Band, da sind wir noch nur ein paar Minuten länger hier.“
Ein paar Sekunden später heißt es plötzlich: „Sucht bitte mal alle etwas, womit man fotografieren kann.“
Ansgar schwingt sich auf die Absperrung, der Rest der Band stellt sich davor. „So, die Erste kann sich hinstellen“, erklärt der junge Mann und Mira macht den Anfang.
Sascha, der hinter Malcolm steht, hat seine Arme auf dessen Schultern abgelehnt und macht sich nun einen Spaß dazu, dem deutlich kleinerem Mann die Augen zuzuhalten.
„Wäre es nicht besser, wir nehmen den Fan in die Mitte?“, schlägt Alec vor und schiebt Mira zwischen sich und Sascha, der Malcolm die Augen wieder öffnen lässt.
Der junge Mann schießt ein paar Fotos, dann ist die nächste Trooperin an der Reihe. Schlag auf Schlag werden Fotos gemacht und ich suche mein Handy heraus, welches ich sofort auf den Kameramodus einstelle.
Und dann bin ich dran. Ich gebe dem jungen Mann mein Handy, dann stelle ich mich mitten in die besten Musiker der Welt. Mein Herz hämmert, ich spüre immer noch das Brennen von Saschas Wangenküsschen.
„Komm ruhig ran“, murmelt Alec und legt einen Arm um meine Hüfte. Sascha wirft ihm einen fragenden Blick zu, dann legt er seinen Arm auf meiner Schulter ab und grinst. Sein Grinsen ist wahnsinnig ansteckend und ich zwinge mich, nach vorn in die Kamera zu schauen. Grinsend natürlich.
Wow, ich stehe hier zwischen Alec und Sascha. So etwas erlebe ich garantiert nicht noch einmal. So eine Chance hat niemand zweimal. Schon gleich gar keine Alex…
Ich löse mich nur ungern aus der Gruppe und hole mir mein Handy zurück. Für einen Augenblick überlege ich, meine Wangen zu berühren, doch ich habe Angst, dass dann das Gefühl von den Küsschen weg ist und lasse meine Hand wieder sinken.
Mir fallen Ninos Grüße und mein Textil-Marker wieder ein. Da war ja noch was.
Die Gruppe hat sich wieder aufgelöst und Alec, Ansgar und Sascha werden belagert, um Fanfotos zu schießen. Ich nutze meine Chance und stürme auf Tobi und Malcolm zu.
„Viele Grüße von meinem Kumpel“, richte ich vermutlich polternd vor Aufregung aus und reiche ihnen den Stift. „Und könnt ihr bitte auf meinem Top unterschreiben?“
„Sure“, meint Malcolm und nimmt den Stift, Tobi nickt zustimmend.
Sobald ich beide Unterschriften habe, nehme ich die Nächsten in Angriff: Stefan und André. Auch hier richte ich meine Grüße aus, aber schon etwas weniger aufgeregt und gebe ihnen den Stift.
Ansgar will gerade an mir vorbei gehen, als ich auch ihn anspreche. „Kannst du bitte auf meinem Top unterschreiben?“
Fehlen nur noch die Frontmänner, die mit unterschiedlichen Trooperinnen plaudern. Lieber Alec oder lieber Sascha? Und wie spreche ich sie eigentlich an?
Ich entscheide mich spontan für Sascha, die Damen-Gruppe um ihn herum ist einfach kleiner. Fehlt nur noch eine Anrede, unterschreiben kann man ja auch während einem Gespräch.
Hoss? Hoss Power? Sascha? Herr Vollmer?
Ich entscheide mich für die persönlichste Variante: Sascha. Hey, schließlich hat er mich vorhin umarmt und geküsst, da wäre der Rest doch viel zu förmlich!
„Ähm, Sascha“, fange ich an und werde von seinem Dauergrinsen förmlich aus den Stiefeln gehauen. Ich brauche einen Moment, um mich zu sammeln. „Viele Grüße von meinem Kumpel Nino“, richte ich ihm aus und falle dann prompt in seine wahnsinnig schönen brauen Augen. „Und könntest du auf meinem … Top … unterschreiben … Bitte?“
Er nimmt mir den Stift aus der Hand und ich merke es kaum. Das Braun ist plötzlich überall, als ob es mir Geborenheit gibt. Das Wellenlängen-Gefühl kommt zurück und ein bisschen bin ich traurig darüber, dass ich kein Star bin, der eine Chance auf eine echte Freundschaft zu den sieben Musikern hat. Ich bin eben einfach nur ein Fan, dafür aber ein großer.
„Bitteschön.“ Sascha strahlt mich an und ich bin immer noch hin und weg von seinen braunen Augen. Ehrlich, so schöne Augen sollten verboten sein.
Ja, Jesses Augen sind auch braun. Und ein Blick in dessen reicht auch, um mein Herz zur Höchstleistung anzutreiben. Ich liebe meinen Cowboy eben über alles, aber das mit Alec und Sascha, die mich so faszinieren, ist etwas völlig anderes. Keine Liebe, nur echte und ehrliche Bewunderung. Bin ich etwa doch so ein aufgedrehtes Fangirl?
Ich blicke mich suchend nach Alec um. Er ist gerade dabei, zu gehen. Als er sich noch einmal nach - vermutlich - Sascha umdreht, fange ich seinen Blick ein. Ebenso wunderschöne, funkelnde Augen. Ich fürchte schon, dass ich mich in seinem Blick verliere, als er sich zurück dreht.
Ich laufe los, schließlich fehlt mir noch sein Autogramm. Und dann ist er weg. Wieder hinter der Bühne verschwunden. Ich bin enttäuscht von mir selber. Vor lauter Augen und Wangenküsschen habe ich nicht einmal alle Autogramme bekommen.
Prüfend sehe ich an mir herunter. Links über den Druck steht Hoss, unter dem Druck verteilen sich die anderen Autogramme. Nur Alecs fehlt.
„Ihr müsst leider wieder raus“, teilt uns der junge Mann mit. „Ganz raus, vor die Tür. Es tut mir leid, aber da ist nichts zu machen.“
Die Begeisterung darüber fehlt vollständig, doch wir trotten ihm brav hinterher. Oh, mein Gott, ich habe Wangenküsschen von Sascha bekommen!
Wieder vor dem Eingang und immer noch brütend heiß hier draußen. Warum genau hab ich eigentlich eine lange Hose und vor allem Stiefel an? Ich muss doch echt bescheuert gewesen sein gestern Abend!
Die Troopers beginnen ein Gespräch untereinander, doch ich schaffe es einfach nicht, mich darauf zu konzentrieren. Sascha hat mich auf die Wangen geküsst!
Ich spüre wieder das Brennen auf meinen Wangen. Schade, dass ich das nicht einfangen kann. Ich will es behalten, immer wieder mich daran erinnern können.
„Sag mal, Alex, bist du eigentlich noch da?“
Irritiert stelle ich fest, dass ich die Augen geschlossen habe, um mir das Erlebnis gerade eben noch einmal in Gedanken wiederholen zu können. Nun reiße ich sie auf und starre Lucy an.
„Äh, was?“, gebe ich von mir und Lucy lächelt. „Ach, Alex, da bist du ja wieder“, sagt sie schmunzelnd. „Wie gut, dass ich dir die Überraschung nicht verdorben habe, oder?“
„Welche Überraschung?“ Kann sie denn nicht einmal Klartext reden?
„Na, dass du die Jungs beim Soundcheck nicht nur nah, sondern hautnah erleben wirst“, erklärt sie. „Du bist ja scheinbar immer noch hin und weg. Und alles nur wegen zwei Wangenküsschen.“
Lucy lacht und ich blicke sie verwirrt an. „Woher willst du wissen, dass es an den Wangenküsschen liegt?“
„Weil du seitdem so abwesend bist?“ Lucy grinst mich an. „Und ich stand neben dir. Du warst ja völlig von der Rolle, als Sascha deine Wangen geküsst hat.“
Ertappt. Aber sie nimmt es mit Humor, da kann es nicht so schlimm gewesen sein. Bei dem Gedanken an die Wangenküsschen ist das Brennen wieder da. Dabei kann ich nicht einmal genau sagen, wie sich seine Lippen angefühlt haben – es war einfach zu schnell vorbei.
Jana gesellt sich zu uns und Lucy fällt ihr um den Hals. „Boah, Jana, ich bin so froh, dass du es geschafft hast, den zu überzeugen“, ruft sie glücklich und hat meine Wangenküsschen schon vergessen. „Endlich hab ich ein Bild mit der ganzen Band. Du bist einfach klasse, Jana. Danke, danke, danke.“
Ich lächele sie an und nickte heftig. „Von mir auch ein großes Danke“, stimme ich Lucy zu. „Die scheinen das ja nicht immer zu machen.“
„Weil es meistens zu viele Fans sind“, erklärt Jana. „Bei dreißig Leuten würde so etwas ewig dauern, aber wir waren ja nur zwölf.“
Mein Blick fällt auf ihren Tour-Becher, als sie einen Schluck trinkt. Hätte ja schon was, so ein Andenken…
„Jana, hat der Becher eigentlich Pfand?“, frage ich kurzerhand. Wenn der nur gering ist, er wäre es mir wert. Leider nennt sie einen Preis, den ich nicht bezahlen kann. Ich kann ja nicht all mein Geld hier ausgegeben.
Nach einer gefühlten Ewigkeit dürfen wir endlich wieder hinein. Erst nur wir Trooper, dann der ganze Rest. Ich bin megaglücklich über meinen Platz in der ersten Reihe. Beinahe wie vorhin, nur vermutlich ohne Wangenküsschen und Umarmungen.
Die Bühne ist mit einem großen Vorhang verkleinert, wirkt jetzt geradezu winzig. Zwischen all den Instrumenten werden sich die Musiker der Vorband wohl ständig auf den Füßen stehen.
Die Zeit kriecht und bei den Gesprächen habe ich schon längst den Faden verloren. Meine Gedanken kreisen um die Wangenküsschen und die Umarmungen. Und um dieses Wellenlängen-Gefühl. Irgendwie weiß ich, dass wir uns gut verstehen würden – wären sie nicht Stars und ich kein Fan. Andererseits fing das ja bei den Rockland Rangers auch so an…
Hör auf, darüber nachzudenken, Alex! Das bringt nichts. Sie spielen in einer anderen Liga, ein Fan ist ein Fan und kein Freund. Das bringt doch alles nichts…
Ich schüttele meinen Kopf, um die Gedanken zu vertreiben. Tatsächlich keimt in mir der Wunsch auf, mit ihnen zu singen. Also so richtig, nicht nur als eine von vielen im Konzert. Aber das ist ein Wunschtraum - utopisch und unerfüllbar.
Warum kann ich mich nicht mit dem zufrieden geben, was ich habe? Die Rockland Rangers, meinen Fanclub-Vorsitz, meine Duette mit Jesse, das Konzert als Trooper zu erleben…
Eine E-Gitarre reißt mich in die Wirklichkeit, die Vorband ist auf der Bühne. Sie stehen gedrängt dort oben, können sich kaum frei bewegen. Und trotzdem machen sie gute Laune, dabei verstehe ich weder den Text der Songs noch irgendetwas, was der Sänger zwischendurch sagt. Ich hab nicht einmal den Bandnamen verstanden.
Egal, ich kann auch so mit abrocken. Und das haben die Herren dort oben echt verdient. Ihr Sound ist mitreißend und ich wippe im Takt dazu, während ich mich an der Absperrung festhalte, um ja nicht von meinem Platz gedrängt zu werden. Dabei versucht das überhaupt niemand.
Urplötzlich überfällt mich eine Sehnsucht nach der Bühne. Ausgerechnet mich, die bis vor kurzer Zeit panische Angst davor hatte, eine Bühne zu betreten – selbst wenn gar kein Publikum davor stand. Ich verstehe mich selbst nicht so richtig.
„Dankeschön!“, ruft der Sänger ins Mikrophon. Das erste Wort von ihm, das ich verstehe. Und offensichtlich auch das letzte, denn die Band verlässt die Bühne. Schade, irgendwie haben die doch ganz gut Stimmung machen können.
Aber Moment, das heißt ja jetzt, dass bald die Cowboys selbst dran sind. Meine Hände werden schweißig. Ich sehe Alec und Sascha noch mal. Zum zweiten Mal an diesem Tag und ich bin gespannt, wie sie den Soundcheck übertreffen wollen.
Meine Wangen brennen wieder. Ach ja, die Wangenküsschen von Sascha waren schon irgendwie etwas Besonderes. Die will ich nie vergessen. Zögernd hebe ich die Hand, doch ich entscheide mich erneut dagegen, meine Wangen zu berühren. Das Gefühl von Saschas Lippen soll sich dort einbrennen, nicht weg gewischt werden.
Die ersten Takte von A Cowboys Work Is Nerver Done verbreiten sich in der Konzerthalle. Mit dem Einsetzen des Schlagzeuges macht mein Herz einen saltoähnlichen Sprung, bevor es im gleichen Takt weiter hämmert.
Die Musik umfängt mich, hüllt mich ein und reißt mich mit. Ich kann gar nicht anders als mich zu bewegen, versinke im Song und in den Stimmen von Alec und Sascha, die gerade aus dem Nebel auftauchen.
Nein, das sind nicht mehr Alec und Sascha, sondern Boss und Hoss, die Rockstars. Vollkommen in schwarz gekleidet, Hoss mit einem weißen Stetson und der Gitarre in der Hand.
Die Band wechselt zu Wait For Me und Boss klettert auf seinem Barhocker herum. Ich habe Angst, dass er kippen könnte. Tut er aber nicht. Stattdessen blitzt das schwarze Top unter der Weste auf.
Zwei Songs später hat er diese zumindest schon mal geöffnet, tanzt über die Bühne und lässt die Hüften kreisen. Ich schlucke schwer, seine Gürtelschnalle zieht mich in den Bann und ich begreife, warum er sie trägt. Der Adler wippt hin und her, während er die Hüften schwingt. Mir wird schlagartig heiß, angenehm heiß.
Boss, zieh die Weste aus! Meine Gedanken knurren, während ich mich der Musik hingebe. Ich will seinen Körper sehen, seine Tattoos, von denen es so viele Bilder gibt. Aber ich will es live sehen.
Genau in diesem Moment trifft er meinen Blick und ein Schauer rauscht mir über den Rücken. Ich lecke mir über die trockenen Lippen, um sie anzufeuchten. In Gedanken sabbere ich vermutlich. Die Show ist heiß und mitreißend, seine Bewegungen so unglaublich sexy und verführerisch.
Ich winke und klatsche mit den anderen Fans im Takt, fühle mich frei und glücklich. Aus vollem Hals singe ich mit und achte trotzdem darauf, dass ich sauber singe. Keine Ahnung, warum, aber ich habe das Gefühl, dass ich sonst schief angeschaut werden könnte.
Immer wieder habe ich das Gefühl, von Hoss und Boss beobachtet zu werden. Täuscht wahrscheinlich, denn in meiner Richtung stehen so viele Fans. Die können mich doch gar nicht meinen, aber ich bilde es mir trotzdem ein. Ist ein irres Gefühl.
Dann steht Frank auf, kommt nach vorn und nimmt auf einem Cajón Platz. Boss hat inzwischen seine Weste ausgezogen und achtlos fallen gelassen, nachdem hunderte von Fans sich bestimmt gewünscht haben, sie würde ins Publikum fliegen.
Die drei Musiker fesseln meinen Blick, fesseln meine Gedanken. Ich kann nicht anders, als sie anzuhimmeln und mitzufeiern. Bei My Personal Song hängt mein Blick an den Fingern von Hoss, die so liebevoll die Saiten der Gibson spielen. Seine Ringe blitzen im Bühnenlicht auf.
Ich kann nicht sagen, wie lange ich hier bin, wie lange The BossHoss bereits spielt. Wäre ich noch kein Fan, würde ich spätestens jetzt einer sein.
Boss und Hoss herrschen über uns, schicken uns hin und her, lassen uns winken und ausrasten. Ich will ihnen jeden Wunsch erfüllen, mache wie von selbst mit. Und immer wieder habe ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich hoffe, ich werde nicht paranoid…
Boss wird entkabelt, dann steigt er von der Bühne herab und steht kurz darauf einen halben Meter von mir entfernt. Meine Hand streicht über sein Bein, während er alle animiert, die Hände nach oben zu nehmen. Ich will ihn mit tragen, dränge mich näher an die anderen Fans von ihm heran.
Und er springt.
Einen Augenblick lang fühle ich die Lackjeans unter meinen Fingern, dann wird er auch schon weiter getragen. Handys und Kameras werden nach oben gehalten. Ich habe nur meine Hände oben, pfeife, kreische, jubele. Ich lasse alles raus, was ein aufgedrehtes Fangirl ausmacht und es ist mir in diesem Moment völlig egal.
Etliche Meter von mir entfernt wird er schließlich von der Security wieder in Empfang genommen, springt auf die Bühne von verbeugt sich. Sein Haar ist zerzaust, lässt ihn rockig, wild und noch heißer aussehen. Und dieser unglaubliche Mann hat mich vor wenigen Stunden umarmt!
Genau in diesem Moment schaut mir Hoss direkt in die Augen und meine Wangen fangen wieder an zu brennen. Er hat mir Wangenküsschen geschenkt!
Ich gebe noch mehr, obwohl ich schon alles gebe. Meine Kleidung ist schweißgetränkt, eine Strähne hat sich aus meiner Frisur gelöst und fällt mir ins Gesicht. Die Band sieht genauso aus – verschwitzt und trotzdem bringen sie vermutlich mit jedem Song noch mehr Herz und Leidenschaft auf die Bühne. Wir Fans rasten aus.
Was muss das für ein Gefühl sein? Ich wünsche mir, ich könnte das alles einmal von oben sehen, von der Bühne aus. Wie die Fans einem zujubeln, im Takt klatschen und feiern. Für ein paar Sekunden lang wäre ich gern in der Haut von Boss oder Hoss.
Und plötzlich lassen sie alles stehen und liegen und gehen von der Bühne. Zum Glück haben mich das Livealbum und ein paar Videoclips darauf vorbereitet. Sie werden wieder kommen, doch es dauert gefühlte Ewigkeiten.
Langsam komme ich wieder zu Atem, die Strähne klebt auf meiner Stirn. Meine Wangen brennen, mein Top ist durchnässt. Panisch werfe ich einen Blick nach unten. Die Unterschriften strahlen noch alle wie zuvor. Nur die vom Boss fehlt…
Ein Klavier wird auf die Bühne geschoben, dann geht Hoss allein auf die Bühne. Er setzt sich und ich bin mir sicher, noch nie jemanden so fantastisch spielen gesehen zu haben. Lady JD fühlt sich an, als würde er einen Seelenstriptease hinlegen.
Ein einsamer Cowboy, von Liebeskummer durchzogen, am Klavier. Ich glaube ihm jedes einzelne Wort und mir steigen Tränen in die Augen. Ich kann diesen Song fühlen, er atmet, er lebt. Ich würde Hoss so gerne in den Arm nehmen und ihm sagen, dass alles gut wird. Bescheuert, ich weiß.
Dann ist der Moment verflogen, die Band ist wieder vollständig auf der Bühne und scheint irgendwie noch mehr Energie zu haben. Unglaublich! Ich rocke mit, singe aus voller Kehle und versuche, alle Töne zu treffen. Meine Hüfte bewegt sich von selbst, lässt mich vor der Bühne tanzen.
Dann steht Frank auf und ein anderer Mann setzt sich ans Schlagzeug. Eine Minute später geht er an der Absperrung vorbei und wählt Ladys aus für die Bühne. Er reicht ihnen die Hand, dann hebt die Security die Damen über die Absperrung.
Bevor ich darüber nachdenken kann, ob ich mich verstecke oder versuche, aufzufallen, halte ich seine Hand und treffe mit meinem Blick seine blauen Augen. Die Security lässt mich umdrehen und hebt mich über die Absperrung.
Ich folge den anderen Frauen auf die Bühne, Boss greift nach meiner Hand und führt mich auf eine Kiste ganz von auf der Bühne. Mir rutscht das Herz in die Hose, als ich all die Fans sehe. Dagegen waren die Konzerte der Rockland Rangers beinahe schon Familienfeiern.
Und warum stehe ich eigentlich ganz vorn, als ob das hier meine Show wäre?
„We’ve got ladies!“, ruft Hoss begeistert in sein Mikrophon. Ich drehe meinen Kopf in seine Richtung. Er sitzt zwei Meter neben mir, die Gitarre auf dem Schoß. Hallelujah!
Bloß nicht ins Publikum schauen, bloß nicht ins Publikum schauen, bloß nicht…
In diesem Moment beginnt Word Up und all meine aufkeimende Bühnenangst verschwindet im Nirgendwo. Okay, ihr wollt mich hier vorn haben, dann mach ich das! Ich bin fest davon überzeugt, dass hier einfach zu genießen, abzurocken und meine eigene Show durchzuziehen.
Ich tanze, klatsche und fühle mich wie in einer anderen Welt. Begeistert falle ich in den Gesang von Hoss und Boss ein: „Say W-O-R-D Up!“
Ich schließe die Augen, singe weiter, gehe in der Musik auf und fühle mich auf dieser riesigen, gigantischen Bühne plötzlich wie zu Hause. Vielleicht hat Jesse recht – die Bühne ist meine wahre Bestimmung.
„Say W-O-R-D Up!“
Ich zucke zusammen, singe trotzdem weiter. Aber Moment, das hier ist meine Stimme, die durch die Konzerthalle fliegt!
Ich reiße die Augen auf, singe immer noch weiter und starre dabei auf ein Mikrophon, das mir vor die Lippen gehalten wird. Von einer Hand mit einem schwarzen Handschuh. Boss
Mein Blick bewegt sich leicht nach rechts und mir hämmert das Herz im fünffachen Tempo, wenn das überhaupt möglich ist. Neben mir steht Boss, ein Fuß auf der Kiste, lange Schrittstellung, das Mikrophon in der Hand, seine andere zeigt auf mich. Ganz ähnlich dem, wie sie ihre Bandmitglieder abfeiern.
Auf der anderen Seite taucht plötzlich Hoss auf, die Gitarre unter dem Arm festgeklemmt, und gibt dem Publikum ebenfalls zu verstehen, dass sie mich abfeiern sollen.
Obwohl ich die Zeile nur dreimal gesungen habe, kommt mir der Moment wie eine Ewigkeit vor. Warum um alles in der Welt darf ich hier gerade singen und werde von The BossHoss persönlich abgefeiert???
Boss nimmt das Mikrophon wieder an sich. Dann singt Hoss allein weiter und Boss klopft mir auf die Schulter. „Bin beeindruckt“, dringt an mein Ohr. Ich verstehe die Welt nicht mehr und fühle mich großartig, als ob ich ein Teil der besten Liveband ever wäre.
Den Rest des Songs erlebe ich wie in einem Rausch. Ich fühle mich frei, fühle mich sicher. Zwei Dinge, von denen ich bis zu diesem Moment geglaubt habe, sie niemals auf einer Bühne denken zu können.
Bier spritzt mir auf das Top und ich erkenne, dass auch Lucy hier oben ist. Sie hat die Ehre, die Bierflaschen für Frank auszuschütten.
Der Song verklingt, und irgendjemand hilft mir von diesem Kasten herunter. Wir stellen uns zu einer Gruppe zusammen, ich kann nicht anders als strahlen. Ich stehe hier oben, auf einer Bühne. Mit The BossHoss auf einer Bühne.
Dieser Tag kann niemals wieder in irgendeiner Art getoppt werden, dessen bin ich mir nun hundertprozentig sicher. Ich zeige mit beiden Händen einen Daumen hoch, als das Foto gemacht wird.
Dann werden wir von der Bühne geführt und Hoss lässt nur seine Gitarre umgedreht auf dem Barhocker zurück. Ich bin froh, dass es so viele Mädels sind, die wieder von der Bühne müssen. Allein hätte ich bei dem riesigen Ding hier garantiert Karte und Kompass gebraucht und mich trotzdem verlaufen.
„Respekt für die Stimme“, sagt jemand neben mir. „Und dass du das so einfach gemacht hast – vor Tausenden zu singen.“
Ich drehe mich zur Seite und schaue Lucy an. „Ich weiß auch nicht, wie es dazu kam“, gebe ich zögernd zurück. Komplimente für meine Stimme sind mir immer noch ein wenig … suspekt.
„Machen die das öfters?“, will ich von ihr wissen und Lucy schüttelt den Kopf. „Also in der Art hab ich das noch nie erlebt. Keine Ahnung, warum sie ausgerechnet dich dafür auserkoren haben. Vielleicht wissen die ja, dass du singen kannst.“
„Woher sollen die das wissen?“, gebe ich zurück. Ein komisches Gefühl schleicht mir über den Rücken. „Ich habe ein Jahrzehnt meine Singstimme vergraben, jetzt erst seit ein paar Wochen wieder ausgepackt und stand auch nur zweimal auf einer Bühne. Naja, zumindest war das der Standpunkt vor dem Konzert.“
„Dann war es einfach nur ein grandioser Zufall, den du noch grandioser gemacht hast.“ Lucy scheint davon überzeugt zu sein und ich stimme ihr nickend zu. „Muss ja wohl so sein“, ist mein Kommentar.
„Ich mein, spontan sind die ja schon, also der Alec und der Sascha“, führt sie fort. „Rücken an Rücken abrocken mit Fans ist da keine Seltenheit, aber dich allein singen lassen…“
„Was für eine Stimme!“, dringt von der anderen Seite an mein Ohr und ich höre nicht mehr, was Lucy sagen wollte. Neben mir steht einer der Helfer, zumindest trägt er so einen Ausweis um den Hals.
Ich spüre, wie ich rot anlaufe. So eine absolut tolle Stimme hab ich doch gar nicht. Ja, gut, ich hab durchweg versucht, die Töne zu treffen. Das war es aber dann auch schon, ich war einfach nur ich – ein Fan auf einem Konzert.
Eine Aftershowparty gibt es leider nicht an diesem Tag, erfahre ich wie zufällig. Ein bisschen traurig bin ich darüber schon, schließlich habe ich gelesen, dass alle, die auf die Bühne dürfen, mitfeiern könnten. Jetzt war ich schon da oben und bekomme trotzdem keine Aftershowparty. Menno.
Hör auf zu bocken, Alex! Du bist ja so was von undankbar!
Ich gebe der Stimme in meinem Kopf recht. Kann ich denn nie genug haben? Immer noch ein drauf setzen, noch mehr wollen, nie zufrieden sein? Ich muss bescheuert sein.
Die Band verabschiedet sich von uns und ich stehe schweißgebadet im Foyer. Scheiße, das Autogramm von Boss. Jetzt hätte ich doch die Möglichkeit gehabt. Doch es ist zu spät, die Band ist weg.
Mein Blick fällt auf den Stand vom Trashville Store und ich kratze mir meine letzten Euros zusammen, um mir ein T-Shirt zu kaufen. Ich schwanke zwischen den verschiedenen Motiven hin und her, bis ich mich endlich entscheiden kann.
Mit dem T-Shirt eile ich nach unten zur Toilette und ziehe mich rasch um. Ich kann nicht so völlig verschwitzt aus der Halle in die kühle Nacht hinaus gehen, zwei Stunden mit dem Zug und dann noch ein paar Minuten mit dem Auto fahren, ohne dass ich krank werde.
Vor dem Spiegel betrachte ich mein neues Outfit. Die Jeansweste über dem T-Shirt hat auch was, könnte ich in Zukunft ruhig öfter so tragen.
Dann gehe ich langsam in das Foyer zurück und plötzlich trifft mich der Schlag. Scheiße, ich stand da echt grade mit den Musikern auf der Bühne, die seit ihrer Gründung mein Leben beeinflusst haben. Ich habe gerade tatsächlich auf deren Konzert, deren Bühne in deren Mikrophon gesungen. Scheiße, wie krass ist das eigentlich???
Ich schließe die Augen, höre erneut, wie meine Stimme sich plötzlich in der Konzerthalle breit macht, wie sich meine Augen öffnen und das Mikrophon erblicken. Sehe, wie Boss neben mir steht, mich abfeiern lässt. Wie Hoss dazu kommt…
Jemand rempelt mich an und ich reiße erschrocken die Augen auf. Man, lauft doch einfach an mir vorbei und nicht durch mich hindurch!
Mein Blick fällt auf die große Uhr im Foyer. Ach du meine Güte, so spät schon? Mit dem Top über dem Arm krame ich nach meinem Zugticket. Heilige Scheiße, mein Zug fährt gleich! Und wo ist eigentlich Lucy?
Ich bin allein, habe immer noch keine volle Orientierung und bin auch noch in Eile. Es klingt nicht nur wie eine Katastrophe, es ist sogar eine!
Im Slalom beginne ich, durch die Menschen zu hasten. Zumindest weiß ich noch grob, wo die Straßenbahn fährt und ich vertraue einfach mal auf das Schicksal, dass noch eine fahren wird, so dass ich pünktlich zum Bahnhof komme.
Sobald ich durch die Tür der Konzerthalle trete, lege ich einen olympischen Sprint hin, von dem ich mich in ein paar Minuten sicher fragen werde, wie ich das überhaupt geschafft habe – schließlich habe ich immer noch Stiefel an den Füßen und bin eigentlich erschöpft vom Feiern. Adrenalin fließt in Sturzbächen durch meine Adern. Das muss es sein, was mir plötzlich Heldenkräfte verleiht.
Schlitternd bleibe ich an der Haltestelle der Straßenbahn stehen, die nächste Bahn fährt in einer Minute. Ich pumpe und ringe nach Luft. Mein Herz hat sich garantiert gleich einen Weg nach draußen durchgeschlagen. Und verflucht, seit wann schmerzen meine Füße eigentlich so extrem?
Die Straßenbahn fährt ein und hält an. Ich springe hinein und bete, dass ich schnell genug am Bahnhof sein werde. Sonst hänge ich hier fest, vollkommen mittellos. Ein Glück, dass ich wenigstens schon alle Tickets beisammen habe.
Ruckelnd setzt die Straßenbahn sich in Bewegung, meine Augen fixieren den Verlauf der Haltestellen. Zum Glück hat ein kluger Mensch die Haltestelle, an der ich aussteigen muss, Hauptbahnhof genannt – sonst wäre ich wohl irgendwo im Nirgendwo gestrandet,
Fahr schneller, schneller, schneller! Während ich die Straßenbahn in Gedanken anfeuere, fängt ein anderer Teil meines Gehirns an, Go Go Go abzuspielen.
Wie ich zwei Dinge gleichzeitig denken kann, weiß ich nicht. Ich verstehe meinen Kopf auch nicht immer, aber lasse mich schließlich auf den Song ein. Es ist nämlich furchtbar anstrengend, sich auf beides zu konzentrieren – und der Song ist eindeutig dominanter.
„Au!“ Mit einem Schlag bin ich wieder komplett in der Realität, der Song in meinem Kopf bricht abrupt ab. Wer zur Hölle latscht mir hier ans Schienbein!?
„Nächste Haltestelle: Hauptbahnhof“, erklingt aus dem Lautsprecher. „Next stop: Central Station.“
Meine Haltestelle!
Mit einem Ruck sitze ich kerzengerade auf meinem Platz und greife nach dem vorderen Sitz, um schnell aufstehen und hinaus rennen zu können.
Ich danke stumm dem Schicksal, dass es mir den Trampel geschickt hat. Wer weiß, ob ich ohne den Tritt überhaupt bemerkt hätte, dass ich jetzt aussteigen muss. Irgendwo da oben muss ich einen Schutzengel haben…
Die Straßenbahn bleibt ruckelnd stehen und ich springe auf. Noch bevor die Türen richtig geöffnet sind, renne ich hindurch und mitten in den Bahnhof hinein.
Äh, welcher Gleis? Und wo ist der überhaupt?
Mein Blick fällt auf eine gigantische Anzeige. Ich scanne so schnell ich kann die Abfahrtszeiten der Züge und bleibe an einer hängen, die zu meinem Zug passt.
Gleis 7. Abfahrt in drei Minuten.
Scheiße, wo verdammt noch mal ist Gleis 7!? Ich werde panisch, will blindlings loslaufen, als die Anzeige umspringt.
Zu meinem Glück werfe ich noch einen kurzen Blick darauf und ich danke dem Schicksal erneut. Wäre ich nicht mitten in der Öffentlichkeit, würde ich mich jetzt glatt auf dem Boden fallen lassen und ein Dankesgebet ausrufen – der Zug hat zehn Minuten Verspätung.
Ich atme tief durch, versuche den Schmerz in meinen Füßen zu verdrängen und mich zu orientieren. Gleis 7.
Müsste Lucy nicht den gleichen Zug nehmen? Vielleicht finde ich sie schneller als das richtige Gleis?
Suchend schaue ich mich um. Unglaublich, wie viele Menschen hier nachts noch unterwegs sind! Nur Lucy fehlt.
Okay, Alex, du bist schon groß. Dann fragst du dich eben mal durch, einer wird sich hier schon auskennen.
Ich straffe meine Schultern, hebe meinem Blick und laufe auf den erstbesten Mann zu, den ich sehe. „Entschuldigung“, spreche ich ihn an. „Ich suche Gleis 7. Wissen Sie, wo ich den finde?“
Der Mann schaut mich verwirrt an und gibt mir dann eine Antwort in einer Sprache, die ich nicht einmal ansatzweise verstehe. Und er versteht mich auch nicht, deute ich seine Gesten.
Den Versuch, die Frage in Englisch zu stellen, wage ich erst gar nicht. Der ältere Herr sieht nicht so aus, als ob er Fremdsprachen können würde.
„Dankeschön trotzdem“, murmele ich freundlich und steuere auf eine junge Frau zu. Doch je näher ich ihr komme, desto mehr schlägt mir ihre Fahne ins Gesicht. Igitt. Sie wankt, hält sich an der Wand fest. So zu wie die ist, bekomme ich von der wohl auch keine Antwort.
Moment. Mein Blick fällt auf ein Schild hinter ihr: „Gleis 3+4“. Wenn Gleis 3 und Gleis 4 dort drüben liegen, ist Gleis 7 vielleicht nicht weit weg.
Ich gebe meine Fragerunde auf und renne so gut es geht in die Richtung, die das Schild angibt. Das Top habe ich eng an meine Brust gedrückt, damit dem ja nichts passiert. Immerhin sind da sechs Autogramme drauf. Und meine Wangen erinnern mich mit einem Brennen wieder an die Küsschen vor dem Konzert....
Überraschend schnell finde ich Gleis 3 und Gleis 4. Und zu meinem Glück liegen daneben auch Gleis 5 und Gleis 6. Nur Gleis 7 habe ich immer noch nicht entdeckt.
Mein Blick fällt auf die Bahnhofsuhr. Verflucht, von den dreizehn Minuten, die ich dank der Verspätung habe, sind schon sieben wieder vergangen. Ich muss jetzt Gleis 7 finden, denn über Nacht hier in diesem Bahnhof will ich auf gar keinen Fall bleiben.
Panik überrollt mich wieder. Wo zur Hölle ist Gleis 7!?
Plötzlich ist mein Schutzengel wieder da, schickt mir eine Gruppe Menschen vorbei, die sich über die Endstation meines Zuges unterhalten. In der Hoffnung, dass sie dort wirklich hin fahren wollen, hefte ich mich an ihre Fersen und nach ein paar Metern lande ich tatsächlich vor einer Treppe mit der Aufschrift: „Zu den Zügen – Gleis 7+8“.
Grenzenlose Erleichterung überfällt mich, als ich die Treppe hinauf sprinte. Ich bin richtig, auf dem richtigen Gleis und …
Rumpelnd fährt mein Zug ein, die Lautsprecheransage verstehe ich nicht. Ich ziehe mein Ticket hervor und vergleiche die Zugnummern. Tatsächlich, das hier ist mein Zug. Erschöpft steige ich ein und lasse mich auf einem Fensterplatz in dem beinahe leeren Zug fallen.
„Alex, Mensch, da bist du ja!“
Lucy lässt sich mir gegenüber fallen. „Du warst auf einmal weg“, sagt sie besorgt. „Aber ich sehe, du hast den Weg zurück allein gefunden.“
„Frag’ ja nicht, wie“, antworte ich und Lucy lacht. Ich ziehe die Augenbrauen hoch.
„Ach, die großen Bahnhöfe sind alle nicht so leicht zu durchschauen, wenn man das erste Mal dort unterwegs ist“, gibt sie zu. „Ich habe mich hier schon mehr als einmal verlaufen, weil ich die Toiletten gesucht habe.“
Ich sehe sie fragend an. Lucy und sich verlaufen?
„Ich bin auch nicht im Zug aufgewachsen“, kommentiert sie meinen fragenden Blick. „Aber mit der Zeit kennt man sich aus. Außerdem sind Züge toll – man trifft trotz so vieler Katastrophen immer wieder auf nette Menschen. Dich zum Beispiel.“
Ich lächele matt. „Dann hoffe ich einfach mal, dass ich beim nächsten Konzert mich nicht mehr durch den halben Bahnhof fragen muss, um das richtige Gleis zu finden.“
Lucy grinst. „So, und jetzt erzähl’ mal, was du gemacht hast. Warum warst du plötzlich weg? Und wo warst du eigentlich?“, bombardiert sie mich mit Fragen.
Ich setze mich gerade hin und beginne zu erzählen. Vom T-Shirt-Kauf, dem fehlenden Autogramm, dem Olympia-Sprint zur Straßenbahn und vom Trampel, der mich an die Haltestelle erinnert hat.
Als ich ihr von meiner Fragerunde durch den Bahnhof berichte, kringelt sie sich fast vor lachen. Ich weiß nicht, was daran so lustig ist, wenn man panisch durch einen Bahnhof jagt.
„Oh, man, Alex!“, seufzt sie grinsend. „Du hast ja ein richtiges Abenteuer hinter dir.“
Ich nicke langsam. „Ja“, stimme ich ihr zu. „Aber jetzt, wo das Adrenalin aus meinen Adern entweicht, bin ich auch echt müde. Ich hoffe nur, dass ich mich zu Hause leise genug in die Wohnung schleichen und ins Bett kann. Wenn meine WG aufwacht, muss ich sonst erst noch einen Erlebnisbericht liefern.“
„Klingt aber irgendwie nach einer coolen WG“, meint Lucy. „Wie viele seid ihr denn?“
„Ähm…“, fange ich an und zähle die komplette Band inklusive ihrer Freundinnen auf. Lucy bekommt große Augen. „… naja, und Lizzy und Danny, also Jesses Eltern, aber die wohnen nicht direkt mit in der WG, sondern nur mit auf der Ranch. Also sind wir nur zu neunt.“
„Wow, ist aber eine echt große WG“, staunt Lucy. „Und so viele Herren dabei.“
„Naja, irgendwie sind wir lauter Paare“, erzähle ich ihr. „Also fast. Die Jungs kennen sich schon seit dem Kindergarten und machen seit dem zusammen Musik. Als das Häuschen am Rande der Ranch zum Verkauf stand und die bisherige WG von Sam, Nino und Elyas gekündigt wurde, haben sie das Haus gekauft und umgebaut. Martin ist mit seiner Freundin dann auch dort eingezogen, Jesse auch. Nach unserem Abitur haben die Jungs meine beste Freundin Dina und mich auch mit aufgenommen und inzwischen ist ja auch Sams Freundin Sarah bei uns eingezogen.“
„Aber dann ist ja ein Kerl übrig“, stellt Lucy berechtigterweise fest. „Der ist ja ständig im Nachteil.“
„Irgendwie schon, ja“, gebe ich zu und plötzlich tut mir Nino leid. „Aber der sucht halt immer noch seine große Liebe, der Nino.“
Für eine Weile herrscht Schweigen. „Du könntest uns ja mal besuchen, Lucy“, schlage ich vor. „Also die WG und mich. Ich bin mir sicher, die werden dich alle ganz schnell ins Herz schließen.“
Ihre Augen leuchten begeistert. „Das klingt toll, nach allem, was du mir erzählt hast“, erklärt sie mit leuchtenden Augen und zieht ihr Handy hervor. „Tauschen wir die Handynummern aus?“
Als Lucy ausgestiegen ist, fühle ich mich einsam und müde zugleich. Ich vermisse ihre freundliche Art, ihr Lachen.
Auf der anderen Seite will ich nur noch die Autofahrt überstehen, mich in die WG schleichen und in mein Bett. Hoffentlich wacht Jesse dabei nicht auf.
Das Gähnen kann und will ich nicht unterdrücken. Ich bin allein im Abteil, genau wie bei der Hinreise. Und irgendwie ist mir inzwischen kalt.
Ich falte das Top auseinander, fahre liebevoll über die sechs Autogramme. Unglaublich, ich habe sie alle live gesehen. Meine Cowboys. Die Erschaffer meines Lebenselixiers.
Ich habe allen die Hand geben dürfen. Und ich habe Alec umarmt. Und Sascha. Meine Wangen beginnen wieder zu brennen. Endlich traue ich mich und berühre vorsichtig die Stellen, an denen ich Saschas Lippen gespürt habe. Sie fühlen sich ganz normal an, so wie immer. Das Brennen bleibt.
Ich seufze tief, schließe die Augen. Sehe mich erneut auf dieser unglaublich großen Bühne, das Mikrophon vom Boss vor der Nase. Höre meine Stimme, die plötzlich durch die Halle schwebt. Und ich kann immer noch nicht begreifen, dass ich dort oben stand, zwischen Hoss und Boss singen durfte.
Mich überfällt eine tiefe Sehnsucht. Ich will noch mal. Ich will noch mal auf so eine Bühne, ich will noch mal mit ihnen singen. Mein Herz schlägt einen Salto, als ich mir vorstelle, dass ich mit den Cowboys singen würde. Der Song ist egal. Ich kann sie alle, jede Zeile…
Meine Haltestelle wird durchgerufen und ich steige langsam aus. Die kühle Nachtluft schlägt mir ins Gesicht. Eine Gänsehaut überzieht meine Arme. Es ist so kalt geworden.
Ich setze mich langsam in Bewegung, krame den Schlüssel aus meiner Gürteltasche. Mein Blick fällt flüchtig auf die Bahnhofsuhr. Es ist kurz vor um drei, mitten in der Nacht.
Jesses Auto blinkt mir freudig zu, als ich die Fernbedienung betätige. Ich öffne die Tür und lasse mich auf den Sitz fallen, dann drehe ich die Heizung hoch, starte den Motor und schalte das Licht ein.
Was ist das denn?
Ich stelle den Motor hab. Unter meinem Scheibenwischer klemmt ein Zettel. Müde und mit Zeitlupenbewegungen steige ich aus und nehme den Zettel an mich.
Schlagartig fällt mir die Parkticket-SMS ein und ich gehe ein paar Schritte zurück, um das Nummernschild zu begutachten. Obwohl ich mir sicher bin, dass ich mit dem Kennzeichen richtig gelegen habe, zücke ich mein Handy und vergleiche es mit der Nachricht. Alles richtig.
Schulterzuckend lasse ich mich wieder auf dem Fahrersitz nieder und schalte das Licht im Innenraum ein. Irgendwie rechne ich damit, dass es nur so eine komische Anzeige mit „Wir kaufen dein Auto“ oder so ist.
Mit einem Schlag bin ich hellwach. Ich habe falsch geparkt, sagt der Zettel. Ohne Parkschein geparkt.
Nanu, das kann doch gar nicht sein!?
Das Kennzeichen war richtig, der Rest auch und trotzdem habe ich ein Knöllchen gefangen. Irritiert suche ich den Zettel nach einer Information ab, die ich vielleicht übersehen habe. Irgendetwas, was mir erklärt, warum ich angeblich falsch geparkt habe.
Mein Blick bleibt an der Uhrzeit hängen und ich habe einen unschönen Verdacht. Prüfend schaue ich noch einmal auf meine SMS und seufze. Das kann doch jetzt nicht wahr sein!
Ich hatte kein Netz, als ich die SMS geschrieben habe, sondern erst eine Dreiviertelstunde später wieder. Und so lange stand ich ohne Parkschein auf dem wohl am meisten kontrollierten Parkplatz der Stadt. Na, fein. Jesse wird sich freuen.
Der Zettel landet in meiner Gürteltasche, dann schalte ich das Licht aus und starte den Motor erneut. Wird Zeit, dass ich ins Bett komme.
Der schwarze Peugeot tuckert gemütlich los und ich hoffe, dass alle tief und fest schlafen, keiner einen Erlebnisbericht will. Ich bin hundemüde, muss das Konzert erst einmal verdauen. Und Saschas Wangenküsschen auch.
Wie schön sich das doch angefühlt hat, die Cowboys zu umarmen. Als wären wir alte Bekannte, Nachbarn oder so. Zu schade, dass sie berühmt sind, ich hätte sie wirklich, wirklich gerne als Freunde.
Die Straße schlängelt sich gemütlich hin, ich bin die Einzige, die so spät noch unterwegs ist. Wie automatisch biege ich zur Rockland Ranch ab und halte vor unserem WG-Häuschen. Bitte, lass jetzt bloß niemanden wach sein!
So leise wie möglich ziehe ich die Handbremse an, stelle Motor und Licht ab. In Zeitlupe, um ja kein Geräusch zu machen, steige ich aus und schließe die Tür. Dann schleiche ich mich zur Haustür, verriegele das Auto und lege meine Hand an den Türdrücker.
Ganz vorsichtig drücke ich sie nach unten und ziehe die Tür auf. Ich schlüpfe aus meinen Schuhen, als mein Blick auf die Wohnzimmertür fällt. Sie ist geöffnet und dahinter ist alles glockenhell. Nachts halb vier.
Auf Zehenspitzen schleiche ich mich zur Treppe und muss dafür am Wohnzimmer vorbei. Einen vorsichtigen Blick erlaube ich mir dann doch.
Scheiße.
Auf dem riesigen Sofa sitzen alle versammelt und spielen Rommé, der Fernseher läuft. Und wenn ich alle sage, dann meine ich auch alle: Jesse, Dina, Elyas, Martin, Cindy, Sarah, Sam, Danny, Nino und Lizzy.
Sogar Martins kleine Schwester Pauline und Sams großer Bruder Jonathan sitzen mit auf dem Sofa. Die beiden habe ich schon ewig nicht mehr gesehen. Wusste gar nicht, dass die heute zu Besuch kommen wollten.
Was ist hier eigentlich los? Vollversammlung vom Feinsten, oder was?
Ich ahne das Schlimmste, setze einen Fuß auf die Treppe und will mich aus dem Staub machen, als Dina freudig durchs Haus brüllt: „Alex, du bist ja wieder da!!!“
Dina umarmt mich stürmisch. Ich bin zu müde und zu überrascht, dass ich nur noch schwachen Protest schiebe, als sie mich gleich darauf ins Wohnzimmer zerrt.
„Alex, du bist die Beste!“, springt Jesse mir um den Hals. „Danke für das Konzert, wir werden es rocken!“
Ich erwidere seine Umarmung, fahre automatisch in die Spitzen seines Haares. Mhmm, Jesse. Eine Mischung aus Pferd, Lederfett und seinem Eigengeruch schlägt mir entgegen und ich atme tief ein, kann nicht genug von ihm bekommen.
Meine Sinne nehmen ihn auf. Ja, ich hab ihn vermisst, obwohl ich nur einen Tag lang von ihm getrennt war. „Aber beim nächsten Mal kommst du mit zum Konzert“, murmele ich in sein Ohr und küsse die Stelle unterhalb.
Jesse löst die Umarmung und schaut mich irritiert an. Und ich bin ebenso irritiert, weil ich seine Wärme plötzlich nicht mehr spüren kann. Die Härchen auf meiner Haut, die sich gerade so angenehm aufgestellt haben, fallen prompt wieder um.
„Danke für das Konzert, Alex“, wiederholt Jesse strahlend und über meinem Kopf bildet sich ein leuchtendes, rotes Fragezeichen. Moment, kein Erlebnisbericht? Und wieso dankt er mir für ein The BossHoss-Konzert, für das er mir die Karte geschenkt hat?
„Wie jetzt? Danke für was für ein Konzert?“, entgegne ich. Was ist denn mit dem los? Oder habe ich im Halbschlaf irgendetwas überhört?
„Na dafür, dass du uns das Konzert verschafft hast“, fängt Jesse erneut an, grinst wie ein Honigkuchenpferd und zu meinem Fragezeichen gesellt sich ein zweites.
Ein Konzert verschafft? Wie jetzt? Prüfend schaue ich zu Dina, dann wandert mein Blick durch die Reihen. Auch keine Hilfe.
„Falls du es nicht bemerkt hast: Ich war auf einem Konzert“, sage ich betont langsam. „Bei The BossHoss, für das du mir das Ticket geschenkt hast.“
„Ja, und du hast uns das Konzert geholt“, erklärt Jesse. Aber was für ein Konzert soll ich denn geholt haben?
Ich war abrocken, bei The BossHoss. Aber mehr nicht. Weniger allerdings auch nicht, wie mich meine plötzlich wieder brennenden Wangen erinnern.
„Und du warst gigantisch auf der Bühne“, fügt Elyas hinzu. Mein Blick springt zu ihm. Moment, woher wusste der, dass ich auf der Bühne war!?
Mich beschleicht der Verdacht, dass mir die gesamte Band nachgereist ist. Allerdings sehen die meisten Bandmitglieder dafür viel zu … unzerrockt … aus. Ein besseres Wort will mir nicht einfallen.
Außerdem hätte ich sie dann doch gesehen. Die hätten sich nie im Leben Sitzplätze gekauft und als Fan steht man nun mal vorn – und da stand ich auch. Da ich sie nicht gesehen habe, muss es eine andere Möglichkeit geben, wie Elyas von meinem Bühnenauftritt erfahren haben könnte.
Man, wieso muss ich hier eigentlich Rätselraten spielen!? Ich bin müde, verdammt! Ich will ins Bett! Ich will schlafen!
Das nächste Fragezeichen, das über meinem Kopf auftaucht, wird von Elyas offenbar schnell gesehen und ich bekomme die erste sinnvolle Antwort in dieser Nacht, mit der ich etwas anfangen kann.
„Es war eine Liveübertragung ins Fernsehen“, erklärt der Drummer und deutet auf den großen Bildschirm. Martin krallt sich derweil die Fernbedienung und beginnt zu spulen. „Wir haben es dir aufgenommen“, sagt er und gleich darauf sehe ich, wie ich selbst auf der Bühne klettere.
Ich wende den Blick ab. Nein, das kann ich mir morgen garantiert auch noch anschauen, wenn ich nicht fast am Einschlafen bin.
„Wieso waren da keine Kameras?“, frage ich stattdessen, schließe die Augen und versuche mich daran zu erinnern, ob ich Kameras gesehen habe. Nein, definitiv nicht.
„Da waren welche, Alex“, behauptet Dina. „Stand sogar groß in der Fernsehzeitung, deshalb sitzen wir ja alle hier. Wir wollten auch ein bisschen The BossHoss sehen. Aber du warst so in der Musik versunken, dass du die garantiert übersehen hast“
Na schön, waren da eben Kameras.
Moment, Kameras!? Dann war ich live vor wie vielen Millionen Menschen mit meiner Stimme? Oh mein Gott! Ich schlucke schwer. Heilige Scheiße, was kommt denn als Nächstes?
Kann ich jetzt bitte erst mal schlafen!? Mein Kopf platzt gleich, ich muss das erst mal verdauen!
Mit unmerklichen Schritten schleiche ich rückwärts zu Tür. Im Türrahmen wird meine Flucht jedoch bemerkt. Jesse springt auf, zieht mich zurück in die Runde.
„Aber trotzdem hast du uns das Konzert unseres Lebens geholt!“, ruft er freudig und ich habe immer noch keine Ahnung, was er meint. Hilfesuchend wende ich mich an Dina. Die wiederum sieht Lizzy an.
„Also, Jesse, ehrlich“, fängt seine Tante an und verschränkt die Arme vor der Brust. „Jetzt red’ endlich Klartext mit Alex! Sie ist doch schon genug gestraft, dass sie zuletzt davon erfährt.“
Wovon erfährt?
Trotz eines weiteren Fragezeichens ist meine Neugierde geweckt, die die Müdigkeit schlagartig verdrängt. Was wird hier hinter meinem Rücken gespielt?
„Na schön“, rückt mein Freund endlich mit der Sprache heraus. „Wir haben einen Gig. Den besten, den größten Gig überhaupt. Auf einer größeren Bühne als wir je standen.“
Muss ich jetzt ernsthaft nachts um vier mit Jesse die Konzertplanung durchsprechen? Das ist der Teil, in den ich noch nicht eingeweiht bin? Ernsthaft!?
Mir rutscht ein Gähnen heraus. „Jess, ich geh’ pennen“, verabschiede ich mich kurz und knapp und will mich gerade so umdrehen, als mich Lizzy zurückhält.
„Moment, Alex“, greift sie ein. „Ich übernehme das jetzt mal, denn Jesse ist offenbar etwas zu sehr durch den Wind, um dir die Zusammenhänge zu erläutern.“
Na fein, auch noch Puzzlespielen und nicht nur Rätselraten. Und das mitten in der Nacht.
„Okay, schieß los“, gebe ich mich geschlagen und lasse mich auf einem Hocker fallen. Ich werde die Bande hier sowieso nicht los, bevor ich nicht weiß, was Jesse mit dem Konzert meint. Und irgendwie bin ich ja auch neugierig.
„Die ganze Sache beginnt damit, dass Radio NewMusic ein Hörerkonzert veranstalten will. Dabei werden zweihundert Mal jeweils zwei Tickets verlost an alle Hörer, die bei einem Quiz zur Band alles richtig beantwortet haben“, erklärt Lizzy. „Die Tickets gibt es übrigens schon seit ein paar Wochen zu gewinnen, aber ich schätze, du hörst kaum normales Radio, oder?“
Ich nicke. Tatsächlich habe ich seit meinem Umzug auf die Rockland Ranch nur flüchtig noch meinen Lieblingsradiosender gehört. Von dem Gewinnspiel habe ich daher keinen blassen Schimmer.
„Die Band, um die es im Quiz geht und die auch dort spielen wird, sind The BossHoss“, fährt sie fort und plötzlich geht mir ein Licht auf.
„Jesse, du hast bei dem Gewinnspiel Karten gewonnen und wir fahren dort hin!“, rufe ich begeistert. „Mensch, klasse! Da sehe ich die ja bald schon wieder. Wann und wo findet das Konzert statt?“
Mit einem Schlag bin ich deutlich wacher, doch Jesse schüttelt den Kopf. Hä, wie jetzt? Doch keine Karten?
„Nein, Karten haben wir nicht gewonnen“, kommentiert Sam an seiner Stelle. „Keiner von uns, aber das ist ja auch unwichtig.“
Wieso unwichtig? Hallo, das hier ist meine Lieblingsband!? Die sind ja wohl nicht unwichtig!
„Stopp, Alex“, unterbricht mich Lizzy, bevor ich überhaupt genug Luft holen konnte. „Ganz so einfach ist das jetzt nicht.“
Ich schaue sie verwirrt an, doch dann spricht Elyas weiter. „Naja, The BossHoss wollten es gerne ein bisschen größer aufziehen und möchten eine Vorband“, erklärt er. „Fand Radio NewMusic gut, hat aber auch eine Bedingung gestellt: Die Band muss in den letzten beiden Jahren mindestens einmal zu Gast in deren Studio gewesen sein.“
„Und da kommt Jesse ins Spiel“, schaltet sich Nino ein. „Der hat uns nämlich bei The BossHoss als Support-Band beworben, schließlich waren wir ja vor ein paar Wochen erst in der Radiosendung zu Gast. Die haben alle Bewerber unter die Lupe genommen und drei davon in ihre engere Auswahl.“
Ich hole Luft, um das zu kommentieren, doch Dina gibt mir mit einem Zeichen zu verstehen, dass ich erstmal weiter zuhören muss. Allerdings ist das hier auch gerade so spannend, dass ich selbst meine Müdigkeit beinahe vergessen habe.
„The BossHoss hatten sich für einen unserer Konkurrenten entschieden, als sie plötzlich ein verwackeltes Handyvideo im Netz entdeckten. Zumindest hat ihre Managerin mir das so erzählt am Telefon“, meint Lizzy mit einem Schmunzeln. „Ein Video von eurem Auftritt mit Close, als du mitten aus dem Publikum auf die Bühne gegangen bist.“
„Und trotz katastrophaler Qualität waren sie sofort begeistert von dir und Jesse“, fügt Sam hinzu. „Eure Stimmen, eure Inszenierung zu ihrem Song. Sie haben uns gesucht im Netz, allerdings auch nur uns gefunden. Von dir gibt es nur dieses eine Handyvideo, Alex.“
„Deshalb hatte ich kurzerhand ihre Managerin an der Leitung“, fährt Lizzy fort. „Ich sollte ihnen was über dich erzählen, wer du bist und so. Jesse stand gerade zufällig neben mir und da fiel mir prompt ein, dass du ein riesengroßer Fan der Cowboys bist.“
„Sie wollten dich unbedingt kennen lernen“, sagt Dina grinsend. „Aber so natürlich wie möglich, also als Fan auf einem Konzert.“
„Das leider ausverkauft war“, wirft Jesse ein, der nun endlich wieder zu Wort kommt. Mein Blick springt zwischen allen Erzählern hin und her, während ich versuche, alle Informationen aufzunehmen. Kommentieren schaffe ich nicht, dafür sind die alle zu schnell.
„Aber zu meinem Glück hat das Konzert auch Radio NewMusic veranstaltet.“ Er strahlt mich an. „Ich hab bei denen angerufen und erklärt, wir sind vermutlich der Support für ihr Hörerkonzert und wenn sie nicht augenblicklich dafür sorgen, dass ich noch eine Karte bekomme, gehen wir nie wieder in deren Studio.“
„Offenbar war er so beeindruckend am Telefon, dass die prompt eine Karte geschickt haben.“ Martin lacht und legt Cindy eine Hand auf den Oberschenkel. „Der Ranger bekommt scheinbar alles, was er will.“
„Von wegen, Marty!“, wirft Jesse ein und schenkt ihm einen protestierenden Blick, der in ein Grinsen übergeht. „Damit The BossHoss dich auch wirklich kennen lernen kann, hab ich dich bei den Stallion Troopers und beim Soundcheck angemeldet.“
„Und um auf Nummer ganz sicher zu gehen, hat er ihnen auch noch ein Foto von dir gemailt“, ergänzt Nino. Ich werfe Jesse einen erschrockenen Blick zu. Na hoffentlich sah ich da gut aus!
„Keine Angst, Alex“, sagt Nino beschwichtigend. „Ich hab persönlich drüber geschaut, du sahst gut aus.“
Erleichtert atme ich aus. Ein schönes Foto von mir also, damit kann ich leben. Schließlich ist das die Prominenz, die mein Bild bekommen hat.
„Nun ja, es war also auch kein richtiger Zufall, dass du auf die Bühne durftest“, schließt Lizzy ab. „Nur das mit dem Mikrophon war nicht abgesprochen, das ist wohl Alecs spontane Idee gewesen…“
Mit einem Mal legt sich ein Schalter in meinem Kopf um. „Stopp!“, rufe ich aus. „Wollt ihr mir damit sagen, dass ihr mich quasi nicht zum Konzert, sondern zum Undercover-Casting geschickt habt!? Und ihr wusstet das alle!?“
Vollkommen synchron nicken alle. Ich schlucke schwer. Wo war ich da nur wieder hineingeraten? The BossHoss weiß, wer ich bin. Die haben mich tatsächlich beobachtet, ich hab mir das nicht eingebildet. Scheiße!
„Wir haben dich übrigens nur als Lady Alex vorgestellt“, sagt Jesse, steht auf und grinst über beide Ohren. „Und eine halbe Stunde nach dem Konzert kam ein Anruf rein. Alec Völkel persönlich richtete uns aus, dass wir den Gig haben, wenn du dabei bist. Du hast sie überzeugt. Alex, wir sind der Support von The BossHoss!“
Ich springe ihm um den Hals, als ich realisiere, was er da gesagt hat. Wir, also die Rockland Rangers und ich, sind der Support von The BossHoss, der besten Band der Welt! Ich darf auf der gleichen Bühne singen, auf der anschließend The BossHoss spielen.
Jesse ist vollkommen überrumpelt, ich reiße ihn förmlich von den Füßen. Sein Stetson landet auf dem Boden, als er rückwärts mit mir in den Sessel knallt, der sogleich die Lehne nach hinten kippt und die Fußstütze ausklappt.
In einer ziemlich eindeutigen Position finden wir uns schließlich wieder, die wir prompt ausnutzen. Er zieht mich zu sich herunter und küsst mich leidenschaftlich. Ich kann all seine Freunde über den Gig und seine Liebe zu mir in dem Kuss spüren. Seine Zungenspitze berührt meine, fängt mit ihr einen wilden Tanz an.
Automatisch atme ich seinen Duft ein, vergrabe die Hände in seinem blondgesträhnten Haar. Seine Hände fahren unter den Saum meines T-Shirts und dann langsam an meinen Seiten entlang nach oben…
„Ey, nehmt euch ein Zimmer!“, unterbricht uns Dina. Abrupt lösen wir uns voneinander. Jesse setzt sich auf, zieht mich auf seinen Schoß und klappt den Sessel wieder zusammen. Dann schlingt er seine Arme von hinten um mich und legt den Kopf auf meine Schulter.
„Wieso?“, grinst er frech. „Wir wohnen hier!“ Dina verdreht die Augen und bekommt dafür einen tadelnden Blick von Elyas, indem noch so viel mehr steht.
Zwei Tage später sitze ich mit Dina in unserem Band-Büro und bearbeitete die Aufnahmeanträge für den Fanclub. Dass wir in drei Wochen als Support für The BossHoss spielen werden, habe ich immer noch nicht so richtig realisiert.
Dafür kam die Nachricht bei den Hörern offenbar gut an, denn prompt haben sich vierzehn neue Fans bei den Greenhorns angemeldet, wie wir den Fanclub liebevoll nach dem ersten eigenen Song der Rockland Rangers getauft haben.
„Alex, guck mal kurz.“ Dina sieht von ihrem Grafiktablett auf und dreht den Monitor des Computers zu mir um. „Ich arbeite gerade an einem Logo für die Greenhorns. Wie findest du das?“
Ich schicke die Bestätigung der Aufnahme ab und sehe auf. Das Logo zeigt sich derzeit noch schwarz-weiß, gefällt mir aber jetzt schon ganz gut – die fünfzackige Windrose des Band-Logos hat die Hörner von einem Stier bekommen und trennt den Schriftzug Greenhorns in der Hälfte.
„Also, die Hörner werden jetzt noch grün und den Rest lasse ich schwarz-weiß. Oder den Schriftzug lieber dunkelgrün?“, fragt mich Dina ratlos. Ich zucke mit den Schultern, kann mir das nicht vorstellen, wie es fertig aussehen könnte. „Mach beides“, rate ich ihr. „Da sollen die anderen Bandmitglieder dann mit abstimmen.“
Dina ist zufrieden mit meiner Antwort und dreht den Monitor zurück, während ich die nächste Mail anklicke. Ich speichere die Daten des neuen Mitglieds und schicke eine Bestätigung zurück. Noch fünf eMails, dann bin ich durch mit den Aufnahmeanträgen.
Im Nebenraum höre ich Jesse, der an einem neuen Song zu arbeiten scheint. Er spielt immer wieder das Gleiche auf seiner Gitarre, als ob er etwas ausprobieren möchte.
Ich versinke im schwachen Klang der Musik, die durch die Tür dringt, und klicke die nächste eMail auf. Als ich die Maske öffne, um die Daten einzutragen, stocke ich. Das hier ist gar kein Aufnahmeantrag, sondern eine eMail von … The BossHoss?
Mit einem Schlag bin ich wieder voll konzentriert und klicke die Nachricht an. Schluckend überfliege ich den Text.
Howdy, liebes Fanclub-Team der Rockland Rangers,
könnten Sie uns bitte eine Telefonnummer bereitstellen, unter der wir die Band, vor allem Lady Alex und Mister Ranger erreichen können, um einige Details bezüglich des Konzerts für Radio NewMusic zu klären.
Greetings from Berlin,
Boss Burns & Hoss Power
(The BossHoss)
Ich lese die Nachricht ein zweites und ein drittes Mal. Die Frontmänner meiner Lieblingscowboys wollen Jesse und mich persönlich sprechen. Telefonisch.
Mein Herzschlag verdreifacht sich und ich merke, wie Dina mich verwundert anschaut. „Alex?“, fragt sie besorgt. „Alles okay bei dir?“
Ich nicke langsam, wie in Zeitlupe. Dann vergrößere ich die Nachricht am Computer und drehe ihr meinen Monitor um. „Hier, lies mal.“
Dinas Augen leuchten begeistert, als sie die Nachricht liest. „Hey, cool“, ruft sie aus. „Los, schick die Nummer vom Büro hin, ich hole Jesse.“
Ich zögere. „Vielleicht sollte doch besser Lizzy…“, setze ich an, aber meine beste Freundin und Kollegin unterbricht mich augenblicklich. „Alex, da steht ‚Lady Alex und Mister Ranger’, nicht ‚Lizzy Maxwell’. Die wollen mit euch sprechen, nicht mit der Chefin“, betont sie und springt von ihrem Stuhl auf.
„Ich hole Jesse, du schickst die Telefonnummer“, schlägt ihr Befehlston durch und ich nickte gehorsam. Oje, ich soll mit denen telefonieren. Mit Sascha und Alec.
Moment, wie spreche ich die dann eigentlich an? Mit Sascha und Alec oder mit Hoss und Boss?
Stell dich nicht so an, Alex! Du hast die beiden schon persönlich kennen gelernt, sie beide umarmt und angesprochen – wo ist dein Problem? Meine Wangen kribbeln wieder. Elende Verräter!
Ich gebe die Telefonnummer des Büros ein und schicke sie mit einem kurzen Text zurück, indem nur steht, dass wir gerade erreichbar sind. In diesem Moment öffnet sich die Tür und Jesse steht im Büro.
Er strahlt über das ganze Gesicht. „Ich bin so aufgeregt“, sagt er und tritt von einem Bein auf das andere. „Was die wohl für Details mit uns besprechen wollen…?“
Das Telefon klingt und er greift hastig danach. Zum Glück ist wenigstens einer von uns so telefonierfreudig.
„Rockland Rangers, Sie sprechen mit Ranger“, meldet er sich und grinst. „Ja, Moment, ich stelle auf Lautsprecher.“ Er drückt nimmt das Telefon vom Ohr, drückt einen Kopf und platziert es auf dem Schreibtisch.
„Howdy, Lady Alex, Mister Ranger“, begrüßt uns eine Stimme, die selbst am Telefon so markant ist, dass ich Sascha sofort wiedererkenne.
„Howdy ... Ho-Hoss P-Power...“, antworte ich holprig, kann mich beim Sprechen nicht ganz entscheiden, wie ich ihn nun nennen werde. Irgendwie will mir grade kein vernünftiges Wort flüssig über die Lippen kommen.
„Ah, das schöne Stimmchen von Lady Alex“, erklingt Alecs tiefe Stimme durch den Lautsprecher. „Freut mich, dass ihr so schnell Zeit gefunden habt für uns.“
„Das ist doch selbstverständlich“, erklärt Jesse überzeugt. „Es ist uns eine große Ehre, als euer Support auftreten zu dürfen.“
Uh, wo kommt denn die komische geschwollene Sprache her? Jesse, alles in Ordnung? Ich sehe ihn fragend an.
Sascha lacht leise. „Wir haben uns ein paar Tage frei schaufeln können“, erklärt er ruhig. „Wir wollen euch vorher gern offiziell kennen lernen, bisschen mit euch plaudern und schauen, wie die Zusammenarbeit mit euch so läuft und ....“
„Was der Hoss damit sagen will“, kürzt Alec die Rede seines Freundes ab. „Wir wollen uns mit euch treffen. Kennt ihr eine hübsche kleine Bar oder so was, wo man weitestgehend ungestört quatschen kann und nicht ständig von Fans belagert wird, die ein Autogramm wollen?“
Jesse schaut mich fragend an, Dina schüttelt den Kopf und mir rutscht ein „Wirklich ungestört ist man bei uns nur im Proberaum“ heraus.
Meine beste Freundin schlägt sich die Hand vor die Stirn, Jesse schüttelt den Kopf und aus dem Telefon klingt ein zweistimmiges, amüsiertes Lachen. „Klingt aber eigentlich ganz cool“, meint Sascha schließlich und ich bin mir ziemlich sicher, dass er dabei breit grinst. „Proberaum. Da habt ihr Heimspiel, das ist ganz gut.“
Jesse und ich tauschen einen irritierten Blick. Boss Burns und Hoss Power bei uns auf der Rockland Ranch im Proberaum? Oh, mein Gott!
„Eigentlich haste recht“, höre ich Alecs Stimme. „Gibt’s da auch was zu trinken?“
„Eine Bar wie ihr haben wir nicht, aber eine Kaffeemaschine.“ Wow, Alex, die doofen Antworten kommen aber auch immer von dir! Halt die Klappe, du redest nur Stuss!
„Kaffee klingt super.“ Wieder Sascha. „Wie sieht’s aus? Morgen auf drei Uhr bei euch im Proberaum?“
Was, so bald schon!? Ach du Scheiße!
Ich halte mir mit beiden Händen den Mund zu, damit ich nicht wieder irgendwas Blödes von mir gebe und uns endgültig blamiere, was mir von Dina ein Grinsen einbringt.
„Ja, das sollte klappen“, antwortet Jesse währenddessen ruhig, obwohl er immer noch von einem Bein auf das andere springt. Aber er behält im Gegensatz zu mir die Nerven und gibt dann die Adresse der Rockland Ranch durch. „Wir freuen uns auf euch.“
„Wir uns auch, oder Sasch?“ Alecs Stimme. Dann wieder Sascha: „Klar freuen wir uns. Bis morgen. Und wir sind auch pünktlich, nicht wahr, Al?“
„Jap. Bis morgen.“
Dann ist die Verbindung beendet und Dina bricht in ein schallendes Gelächter aus. „Alex, aufgeregt bist du zum Schießen komisch!“, ruft sie und hält sich den Bauch vor Lachen. „Aber scheinbar mögen die Cowboys Kaffee und Proberäume. Sascha fand dich ja offenbar ganz sympathisch.“
Ich verdrehe die Augen. Ach du Scheiße, morgen die Cowboys bei uns auf der Ranch. Ich bin ja jetzt schon ein reines Nervenbündel, wie soll ich das Treffen morgen überleben?
Seit einer halben Stunde laufe ich ruhelos über den Hof und durch den Stall, dabei habe ich noch eine gefühlte Ewigkeit Zeit, bis wir unseren prominenten Besuch bekommen. Jesse sitzt gemütlich auf dem Weidezaun. Ich bewundere es, wie er so absolut cool und ruhig bleiben kann.
Den halben Vormittag habe ich damit verbracht, vor meinem Kleiderschrank zu stehen und ein Outfit nach dem anderen zu verwerfen. Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Diese Seite kenne ich an mir so gar überhaupt nicht.
Schlussendlich renne ich jetzt mit Jeans, meinen Boots und dem Top mit den Autogrammen herum, das ich allerdings unter einer Karobluse verborgen habe. Ich brauche unbedingt noch das Autogramm von Alec, der Stift steckt schon bereit in meiner Hosentasche.
Alex, reiß dich zusammen! Du machst ja die Pferde scheu!
Oder auch nicht, denn die sind im Vergleich zu mir auch völlig cool. Das wäre ich auch gern – einfach nur in der schattigen Box herum stehen und genüsslich Heu mampfen. Stattdessen warte ich hier auf die Frontmänner von The BossHoss.
Scheiße, man, warum hab ich ausgerechnet den Proberaum vorgeschlagen? Die kommen zu uns, noch privater und persönlicher geht ja wohl nicht mehr!
Und ausgerechnet heute muss natürlich die ganze Band irgendwie verplant sein. Cindy ist mit Martin losgefahren, um ihr Auto zu verkaufen, und wird von Nino begleitet, der unser ultimatives Verhandlungsgenie ist. Sam und Sarah feiern den Geburtstag von Jonathan, und Dina hat ausgerechnet heute einen wichtigen Arzttermin und braucht Elyas zum Händchen halten.
„Na, zwei gegen zwei – passt doch“, waren ihre letzten Worte, als ich sie hilfesuchend ansah und bettelte, dass sie ihren Termin doch verschieben möge.
„Keine Chance, Alex, ich warte schon vier Monate“, erklärte sie bestimmt. „Mein Gott, stell dich nicht so an. Du hast die doch alle schon kennen gelernt.“
Ja, schon. Aber damals war ich einfach nur Fan. Einer von vielen. Und jetzt? Jetzt bin ich irgendwie immer noch Fan, aber auf einer anderen Ebene. Wie viele Fans bekommen wohl privaten Besuch von den Cowboys?
Mit quietschenden Reifen hält ein unscheinbares, kleines Auto. Schwarzer Lack, getönte Heckscheiben. Wer kommt denn jetzt bitte noch?
Jesse hüpft vom Zaun und schlendert zu mir. Inzwischen kenne ich ihn gut genug und sehe, wie nervös er ist. Aber er hat sich besser im Griff als ich mich, stelle ich fest und spiele an meinem Kettenanhänger. Ein Plektrum von Jesse, mit dem ich einmal kurz auf seiner Lagerfeuergitarre spielen durfte.
Die Türen öffnen sich. Auf der Beifahrerseite steigt Alec aus und mustert neugierig seine Umgebung. Er sieht so vollkommen normal aus – kein Schmuck, Turnschuhe, Jeans und ein Top mit einem Aufdruck von Metallica.
Auf der Fahrerseite schieben sich zwei Füße heraus und dann steht Sascha plötzlich neben dem kleinen Auto. Unwillkürlich frage ich mich, wie er eigentlich mit seiner Größe in so ein winziges Auto passt. Er trägt ebenfalls Turnschuhe und Jeans, dazu ein schwarzes T-Shirt mit einem Elvis-Print.
Ich werfe einen kurzen Blick auf Jesse. Jeans und dazu das T-Shirt, das Dina für die Rockland Rangers entworfen hat. So gesehen zeigen wir heute wohl alle ganz öffentlich, wessen Musik wir mögen. Abgesehen von mir, denn ich verstecke es ja unter einer Karobluse.
Die Autotüren fallen zu, Sascha verriegelt das Fahrzeug und die beiden Männer schlendern mit absolut beeindruckender Coolness zu uns herüber. Ich muss mich so stark darauf konzentrieren, dass ich nicht auf der Stelle herum hüpfe. Verdammt, die sind gerade wirklich hier – auf der Rockland Ranch!
„Hey“, ergreift Sascha das Wort und grinst. Meine Wangen erinnern mich prompt wieder an den Soundcheck. Vergeht dieses Kribbeln eigentlich nie?
„Howdy“, begrüßt uns Alec, während seine Augen uns und die Ranch mustern. Ich nehme meinen Mut zusammen und schaue ihn an. „Hi“, kommt es leise über meine Lippen. Obwohl ich ihn schon mal gesehen habe, kommt er mir beeindruckend vor.
Seine Augen funkeln belustigt, als er ein schiefes Grinsen aufsetzt. „Lady Alex“, spricht er mich an. „So sieht man sich also wieder.“ Und bevor ich irgendetwas sagen kann, hat er mich in eine Umarmung gezogen. Er riecht ja immer noch so gut, so natürlich…
Huch! Ohne Vorwarnung bekomme ich rechts und links ein Wangenküsschen. Sein wilder Bart streift mir über die Wange und ich kann für einen Moment gar nichts mehr denken.
„Boss B-Burns“, bringe ich atemringend hervor und er lacht, während er die Umarmung löst. „Alec reicht vollkommen, wir sind doch jetzt quasi so was wie Kollegen“, antwortet er und ich schüttele kurz den Kopf. „Okay, dann reicht auch Alex.“
Er zwinkert mir zu und plötzlich liege ich schon bei Sascha im Arm, der prompt die Wangenküsschen auffrischt. Als ob ich die ohne Auffrischung jemals vergessen könnte!
„Alex also, so so“, meint er und blendet mich mit seinem Sascha-Grinsen. „Schön, dich wiederzusehen. Ich bin Sascha.“ Als ob ich das nicht schon vorher gewusst hätte!
„Ich freue mich, dass wir Sie ebenfalls kennen lernen dürfen, Mister Ranger.“ Alec reicht Jesse die Hand und dieser kämpft sichtlich darum, seine coole Fassade zu halten. „Vergesst den Ranger“, antwortet er nervös grinsend, als Sascha sich zu ihm dreht. „Ich bin Jesse.“
„Interessanter Name“, meint Alec. „Wie kommt man denn auf Ranger?“
Mein Freund zuckt mit den Schultern und lächelt unsicher. „War mal mein Spitzname, den mir die Jungs verpasst haben. Nach diesem Typ beim Schuh des Manitu.“
Eine lange Minute schauen wir vier uns einfach nur an. Keiner weiß so richtig, wie es eigentlich jetzt weitergehen soll.
Mit all dem Mut, den ich aufbringen kann, ergreife ich schließlich die Initiative. „Ähm, ich würde mal sagen, ich zeige euch mal unseren Proberaum.“
„Gute Idee“, stimmt Sascha mir zu und sieht seinen Freund an. „Sag mal, Al, hast du das Gastgeschenk überhaupt mit aus dem Auto genommen?“
Alec überlegt kurz und Sascha reicht ihm wortlos den Schlüssel. Während Alec zum Auto trabt, tauschen Jesse und ich einen verwirrten Blick. „Gastgeschenk?“, fragt Jesse langsam. „Aber das wäre doch gar nicht nötig gewesen.“
„Doch, natürlich“, antwortet Sascha bestimmt. „Als Dankeschön dafür, dass wir hier sein dürfen. Ist ja nicht selbstverständlich, dass man andere in den Proberaum gucken lässt.“
Weder Jesse noch mir fällt eine kluge Antwort darauf ein, so dass wir einfach nur warten, bis Alec wieder zu uns stößt – mit zwei Six-Packs BossHoss-Beer.
Plötzlich breitet sich ein amüsiertes Grinsen auf meinem Gesicht aus. „Sagt mal, Cowboys, wie wollt ihr wieder nach Berlin fahren, wenn ihr die alle geleert habt?“
„Wo denkst du hin!“, erwidert Sascha lachend. „Die sind für euch. Naja, vielleicht teilen Alec und ich uns eins zum Anstoßen.“ Worauf denn anstoßen?
„Jetzt bin ich aber wirklich gespannt auf euren Proberaum“, ergreift Alec das Wort und schaut sich suchend um. „Wo geht’s denn lang?“
Jesse lässt es sich nicht nehmen und geht vorweg, so dass Sascha und Alec mich in ihre Mitte nehmen, während sie die Rockland Ranch mit ihren Augen förmlich aufsaugen.
Dann öffnet mein Freund das große Stalltor und die angenehme Kühle schlägt uns zusammen mit dem Duft von Pferd entgegen. Die Stallgasse ist so gewissenhaft gefegt, dass man beinahe vom Boden essen könnte, schließlich haben wir ja prominente Gäste dabei.
„Sasch, das ist ja ein richtiger Stall“, sagt Alec und lugt über eine Boxentür. „Mit richtigen Pferden.“
„Ich glaube, wir sind hier bei den Wild-West-Cowboys gelandet“, gibt Sascha zurück und grinst mich an. „Und natürlich auch Cowgirls.“
„Könnt ihr eigentlich reiten?“, fragt Jesse, obwohl er die Antwort eigentlich schon kennt. „Hier hättet ihr die Möglichkeit dafür…“
Alec und Sascha tauschen einen erschrockenen Blick, der jedoch nur auffällt, wenn man genau hingeschaut hat. „Nein“, antwortet Sascha knapp. Ich gehe inzwischen einen halben Meter hinter den beiden.
Mit einem Mal schiebt sich der pechschwarze Kopf von Hyperion, Jesses Pferd, über die Boxentür, der seinen Reiter wohl erkannt hat. Genau in diesem Moment läuft allerdings Sascha vorbei und der schwarze Wallach stupst ihn neugierig mit seinem weichen Maul an.
Sascha zuckt zusammen, bleibt abrupt stehen und sieht das Pferd irritiert an. „Äh, hallo, Pferd“, sagt er und scheint zu überlegen, ob er die Hand nach dem weichen Maul ausstrecken soll oder nicht.
Jesse ist ebenfalls stehen geblieben. „Ah, Hyperion, willst wohl auch unsere Gäste kennen lernen“, meint er und plötzlich ist all seine Nervosität verschwunden. „Hyperion, dass sind Alec und Sascha von The BossHoss – kennst du ja, läuft hier im Stall ja oft genug.“
Zur Antwort nickt das schwarze Pferd und schnaubt. Ich muss grinsen und plötzlich ist auch meine Anspannung und Nervosität ein Stück weit verschwunden. Mit einem Schlag fühle ich mich geborgen und der Promi-Status unserer Gäste verfliegt langsam in meinen Gedanken.
„Sascha, Alec – das hier ist Hyperion, mein wundervolles Pferd“, stellt Jesse Hyperion vor und wendet sich dann an Sascha, der immer noch skeptisch das Pferd mustert. „Der beißt nicht, du kannst ihn streicheln.“
Dann streckt dieser vorsichtig die Hand aus. Alle Blicke sind auf seine Finger gerichtet, die schließlich die Nüstern berühren. Sascha lächelt und geht einen Schritt auf Hyperion zu, krault ihm die Stirn und den Schopf.
„Hyperion“, murmelt er leise, ohne seinen Blick von dem Wallach abzuwenden. Mit seiner sanften, tiefen Stimme fährt er im gleichen Rhythmus fort: „Mensch, Al, der ist total lieb.“
Jesse, Alec und ich sind gleichermaßen von dem Augenblick fasziniert. Sascha fährt mit seinen Fingern durch die lange, schwarze Mähne und Hyperion schließt genüsslich die Augen...
„AAH!!!“
Synchron zucken wir alle – Hyperion ebenso – zusammen und drehen uns um. Rhea, meine geliebte Tigerscheckenstute, schnaubt und Alec hält sich die Hände auf den Hinterkopf. „Der kleine Onkel da hat meine Haare gefressen!“
Jesse und ich brechen in ein Lachen aus. Sascha stimmt mit ein. Der Anblick ist aber auch zu komisch!
„Was lacht ihr denn jetzt alle so!?“, ruft Alec hilflos. „Der frisst einfach meine Frisur auf, das geht doch nicht!“
Breit grinsend geselle ich mich an Rheas Seite. „Du kannst die Hände wieder herunter nehmen“, fordere ich Alec auf. „Und übrigens: Der kleine Onkel da ist eine Sie.“
„Was?“ Zögernd nimmt er seine Hände nach unten, scheint dem Frieden nicht zu trauen und ich muss schmunzeln. „Dann mache ich euch eben auch miteinander bekannt. Alec, Sascha – das hier ist Rhea, eine Pferdedame“, erkläre ich und betone das Ende dabei ganz besonders. „Rhea, das sind Alec und Sascha.“
Die Cowboys schauen mich skeptisch an. Dann ergreift Alec das Wort und schaut Rhea fragend an. „Wenn du eine Dame bist, wieso frisst du mir dann die Haare vom Kopf?“
Ich unterdrücke einen Lachanfall. „Du bist halt ein Mann, Alec“, erwidere ich und bekomme mein Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht. „Sie findet dich offenbar sehr gut, deshalb wollte sie ein bisschen auf Tuchfühlung gehen.“
„Das Pferd steht auf mich!?“ Alecs Miene schwankt zwischen Belustigung und Schreck. Ich nicke langsam, streiche Rhea über den schwarz-gepunkteten Kopf. Sie legt den Kopf schief und streckt den Hals, genießt die Streicheleinheiten.
„Sieht wohl so aus. Außerdem steht sie auf Haare“, füge ich hinzu. „Komm her, dann kannst du sie kennen lernen.“ Vorsichtig macht Alec einen Schritt nach vorn.
„Ernsthaft, Al? Hast du etwa Angst vor einer Lady?“, fragt Sascha amüsiert, die Hand immer noch an Hyperions Hals. Alec macht noch einen vorsichtigen Schritt auf Rhea zu, dann scheint er selbst zu bemerken, wie lächerlich die Situation doch ist und geht zügig auf die Stute zu.
„Hey, kleiner On… Äh, Moment…“ Er schielt auf das Namensschild an der Box. „Rhea heißt du. Okay, noch mal. Hey, Rhea.“
Er legt seine Hand auf die Nüstern des Pferdes, dann fährt er langsam nach oben zur Stirn. Rhea brummelt leise und Alec schaut den Tigerschecken fasziniert an, scheint plötzlich in einer anderen Welt zu sein.
„Und da soll noch jemand sagen, dass Pferde langweilig sind“, kommentiert Jesse. „Die können sogar ein noch so steifes Treffen auflockern und dazu sich mit Cowboys anfreunden, die gar nicht reiten können.“
„So sind sie halt, unsere beiden Vierbeiner“, seufze ich und betrachte abwechselt Sascha und Alec, die scheinbar gar nichts von ihrer Umwelt bemerken. „Wie gut, dass die den Proberaum bewachen, sonst wäre das Eis nie gebrochen.“
Nahezu gleichzeitig lösen sich Alec und Sascha von den Pferden und schauen uns erwartungsvoll an. „Okay, jetzt aber wirklich in den Proberaum“, beschließt Sascha. „Warum ist der eigentlich im Stall?“
„Och, der ist gar nicht im Stall“, antworte ich. „Aber man muss durch den Stall hindurch. Es hat nicht jeder das Privileg, die heiligen Hallen der Rockland Rangers zu besichtigen…“
Ein lauter Knall unterbricht mich und Sascha schaut alarmiert in die Box neben Hyperion, die letzte vor dem Proberaum. „Al, guck mal!“, ruft er begeistert wie ein kleiner Junge. „Ein Pferd im Miniatur-Format!“
Alec schaut seinem Freund über die Schulter, dann auf das Namensschild. „Du bist also Lynn“, stellt er fest. „Hast du vergessen zu wachsen?“
Plötzlich fühle ich mich komplett sicher in der Gegenwart unserer Gäste und traue mich sogar, ein bisschen anzugeben. Ich schiebe die Boxentür auf und Lynn schaut mich mit ihren großen Augen an.
„Lynn, das hier sind prominente Gäste – Alec und Sascha von The BossHoss“, erkläre ich ihr. „Begrüßt du sie bitte anständig?“ Gleichzeitig gebe ich einen Wink mit der Hand und die Stute schiebt brav das linke Vorderbein unter den Bauch, senkt den Kopf.
„Sasch, die verbeugt sich ja vor uns“, stellt Alec erstaunt fest und deutet ebenfalls eine Verbeugung an. „Freut mich, dich kennen zu lernen, Lynn.“
„Wie süß!“, ruft Sascha leise aus und ich gebe Lynn, die inzwischen wieder normal steht, ein zweites Zeichen. Mein Herz glüht vor Stolz, als sie sich auf die Hinterbeine stellt.
„Ich glaub, das fand sie jetzt nicht so gut“, gibt Alec zu bedenken, weicht einen Schritt zurück. „Brr, aus, sitz!“
Ich habe genau das kommen sehen und gebe Lynn ein weiteres Zeichen. Die Stute setzt sich brav auf die Hinterbeine und die beiden Cowboys sehen mich irritiert an. „Macht die das von alleine?“, fragen sie synchron. "Versteht sie uns etwa?"
Grinsend schüttele ich den Kopf. „Nein, das ist das Ergebnis von langem Training“, erkläre ich. „Schlag ein, Lynn!“
Ich halte ihr meine Faust hin und das Pony hebt einen Huf an diese, als würden wir einschlagen. „Alex geht mit ihr sogar skaten“, wirft Jesse ein, der sich hinter die Cowboys gestellt hat. „Tja, so was sieht man nicht mal in Berlin, oder?“
Alec und Sascha nicken langsam. „Hab gar nicht gedacht, dass man bei euch so viel erleben kann“, gibt Sascha zu und wirft einen letzten Blick auf Lynn. „Und ich habe auch nicht damit gerechnet, dass wir tatsächlich auf einer richtigen Ranch landen. Und du wolltest in eine langweilige Bar.“ Er trippt Alec auf die Schulter.
Ich lächele die beiden an, als würden wir uns schon ewig kennen. Auch die letzte Nervösität fällt von mir ab und ich habe das Gefühl, ich bin hier plötzlich nicht mehr ein Fan, sondern unter guten Bekannten.
„Nun ja, dann seid ihr ja jetzt bereit für unseren Proberaum“, beschließe ich und hole den Schlüssel aus meiner Hosentasche. „Willkommen auf der Rockland Ranch.“
Ich öffne die Tür zum Proberaum und trete zur Seite, damit Alec und Sascha eintreten können. Sascha schüttelt den Kopf: „Ladies frist, Alex“, grinst er mich an und ich lächele zurück. Gentleman also, ist ja interessant.
„Willkommen im Proberaum der Rockland Rangers. Fühlt euch wie zu Hause“, erkläre ich stolz und bekomme ein doppeltes Lächeln zurück. „Bier könnt ihr erstmal unter den Tisch stellen und wir fangen mit einer Runde Kaffee an, würde ich …“
Weiter komme ich nicht, denn Sascha scheint meine Aufforderung direkt umzusetzen, fühlt sich offenbar heimisch und geht gradewegs an mir vorbei. „Oh, toll“, höre ich seine Stimme.
Langsam drehe ich mich um und mein Herz setzt kurz aus. Oh Gott, nein!
Sascha sitzt bereits auf unserem abgewetzten Ledersofa, mit einer winzigen 1/2-Gitarre auf dem Schoß, die angesichts seiner Größe noch viel kleiner wirkt, als sie sowieso schon ist. Jesses erste Gitarre, ein Relikt und Heiligtum der Band.
„Kann man die noch spielen?“, fragt Sascha und wartet die Antwort gar nicht ab, während er die Gitarre nach Gehör stimmt. Unsicher schweift mein Blick zu Jesse, der einen Edding in der Hand hält und Sascha genauso entgeistert anschaut.
Bevor irgendwer auch nur einen Ton sagen kann, beginnt Sascha auch schon zu spielen. Ich kann ihm ansehen, wie viel Konzentration es ihm kostet, bei dem schmalen Griffbrett die Saiten genau zu treffen. Aber er strahlt wie ein kleines Kind, während er einfach so drauf los spielt.
Obwohl ich Angst um Jesses alte Gitarre habe, bin ich gleichzeitig vollkommen fasziniert, mit welcher Selbstverständlichkeit er die Gitarre ausprobiert. Dieser riesige Sascha und die kleine Kindergitarre mit heller Holzdecke und dunkelbraunem Hals.
Seine Finger fliegen über das Griffbrett, so langsam hat er sich an die Größe gewöhnt. Ich bin mir sicher, diese Gitarre wurde noch nie so meisterlich gespielt. Es ist schier unglaublich, welche Töne ihr Sascha entlockt.
Völlig unerwartet hört er auf und strahlt uns an. „So eine kleine Gitarre hatte ich noch nie in der Hand“, freut er sich und strahlt über das ganze Gesicht.
Dann hängt gleich eine ehrlich gemeinte Entschuldigung an. „Es tut mir leid, dass ich nicht gefragt habe, aber ich musste sie einfach ausprobieren. Eine Gitarre kann ich nicht einfach nur anschauen. Und ich soll mich ja wie zu Hause fühlen und da nehme ich auch jede Gitarre in die Hand. Ich kann eben nicht ohne…“
„Schon … okay…“, bringt Jesse mühsam hervor. „Es ist nur… Sie ist etwas Besonderes, diese Gitarre und…“
„Deine erste Gitarre, oder?“, fragt Sascha stattdessen mittenrein. „Wie alt warst du denn, als du mit dem Spielen angefangen hast?“
Jesse nickt langsam. „Ich habe sie an meinem fünften Geburtstag bekommen. Von meiner Tante“, erklärt er langsam, seine Augen fest auf die kleine Gitarre gerichtet. „Lizzy. Sie hat immer daran geglaubt, dass ich Musiker werde.“
„Und was sind das eigentlich für Unterschriften?“, klinkt sich Alec in das Gespräch ein und Sascha scheint diese erst jetzt zu bemerken. Er dreht die Gitarre um und betrachtet die Decke genauer.
„Da haben ja sich ja schon einige verewigt“, stellt er überrascht fest. „Hat das etwas zu bedeuten?“
Jesse lässt sich auf das Sofa fallen und streckt den Arm aus, um über den Hals der Gitarre zu streichen. „Diese Gitarre ist das letzte Instrument, mit welchem die Band gegründet wurde, das noch existiert“, gibt er zu. „Abgesehen natürlich von Sams Muntermonika, aber die spielt er ja auch noch.“
Er macht eine kurze Pause und ich sehe ehrliches Interesse auf den Gesichtern unserer beiden Gäste. „Jeder, der diesen Raum hier je betreten durfte, hat sich auf dieser Gitarre verewigt. Das Privileg bekommen nicht viele“, erzählt Jesse und lässt die Gitarre nicht aus den Augen. „Aber jetzt seid ihr hier. Das erste Mal, dass so berühmte Musiker auf diesem Sofa sitzen. Würdet ihr … auch unterschreiben?“
Zögernd reicht er Sascha den Stift. Dieser schaut die Gitarre ehrfürchtig an. „Wann habt ihr euch denn gegründet? Die Gitarre scheint ja schon einige Jahre alt zu sein“, fragt er nach und unterschreibt oberhalb des Schalllochs, bevor er Alec den Stift reicht.
„Wir waren alle gerade mal acht Jahre alt. Außer Sam, der war erst sieben“, gibt Jesse zu und sieht auf. Sein Gesicht wird von einem Lächeln überzogen, als er sich erinnert. „Unsere Musikschule hat ein Konzert für die Schüler veranstaltet und ihre haben uns quasi hinter der Bühne kennen gelernt, also die Jungs und ich. Alex kam erst vor kurzem dazu.“
„Acht Jahre? Wie kommt man denn in dem Alter darauf, eine Band zu gründen?“, fragt Alec belustigt nach und nimmt Sascha die Gitarre aus der Hand, um über dessen Unterschrift zu unterschreiben.
„Dankeschön. Jetzt wird sie sogar richtig wertvoll“, stellt Jesse begeistert fest und hängt die Gitarre dann wieder vorsichtig an ihren Platz an der Wand. „Der Chef der Musikschule hatte einen runden Geburtstag und wir fünf keine bessere Idee, als ihn mit unseren Instrumenten und Happy Birthday auf dem Flur abzufangen. Sam hat damals noch Klavier gespielt, Elyas saß noch hinter dem Schlagzeug.“
In der Zwischenzeit betrachtet Alec bereits die Fotos, die an der Wand rund um die Gitarre hängen. „Sasch, guck mal“, fordert er seinen Freund auf und zeigt auf ein Foto, auf dem die Rockland Rangers am Lagerfeuer sitzen. Im Hintergrund steht Josh, Jesses erstes eigenes Pferd, der inzwischen leider verstorben ist. „Die spielen ja tatsächlich schon Ewigkeiten zusammen. Und so richtig am Lagerfeuer...“
Ich lasse Jesse mit Alec und Sascha allein, die meinen Freund weiter über seine bisherige Bandkarriere ausquetschen, und werfe die Kaffeemaschine an. Sicherheitshalber stelle ich neben den vier Tassen auch Milch und Zucker mit auf das Tablett, ebenso die Cookie-Dose. Ich weiß ja auch nicht, wie Urban-Cowboys ihren Kaffee mögen.
Mit dem Tablett gehe ich zurück zum Sofa und muss grinsen. Sascha lümmelt auf dem Sofa, die Füße – zum Glück ohne Schuhe – auf dem Tisch. Dieser Tisch zieht Füße förmlich an, erinnere ich mich an meine ersten Minuten auf diesem Sofa. Ich saß genauso dort wie Sascha jetzt. Alec sitzt neben seinem Kumpel und lässt sich von Jesse dessen Tattoos zeigen.
Ich stelle das Tablett auf den Tisch und setze mich ebenfalls aufs Sofa. „Dann ist das also quasi eure Biografie?“, fragt Alec interessiert und Jesse nickt. Sein Arm ist bunt bemalt mit Zeichen, Symbolen, Unterschriften und römischen Zahlen.
Er hat die gesamte Bandgeschichte auf seinem rechten Arm verewigt, lässt sich immer ein neues Tattoo stechen, wenn etwas Wichtiges bei den Rockland Rangers passiert ist. Das aktuellste Tattoo ist meine Unterschrift, als Zeichen, dass ich jetzt fest zur Band gehöre.
Normalerweise trägt Jesse abseits der Bühne lange Ärmel und erhofft sich davon, nicht erkannt zu werden. Er will erfolgreich werden, doch er fürchtet schon jetzt die Presse und seine fehlende Privatsphäre.
„Ah, Kaffee“, macht Alec und reißt mich aus meinen Gedanken. Er beendet das Gespräch und greift nach einer Tasse. „Und Cookies, sehr gut.“
Sascha grinst. „Wie gut, dass wir zum Kaffeetrinken eingeladen worden sind. Ich habe einen Bärenhunger“, erwidert er und nimmt sich gleich mehrere Kekse auf einmal. „Ich muss schon sagen, ihr hab es echt gemütlich hier. Keine Bar wie bei uns, aber eine sehr familiäre Atmosphäre.“
Ich fasse das als Kompliment auf und werde glatt rot. Unsere prominenten Gäste fühlen sich also wohl, das ist doch schon mal ein guter Anfang. Dabei fange ich versehentlich Alecs belustigten Blick ein, der meine Gesichtsfarbe noch verstärkt.
Und meine Wangen brennen auch schon wieder.
„Sag mal, sehe ich so gut aus, wenn ich Cookies esse?“ Die Frage reißt mich in die Realität zurück und erschrocken stelle ich fest, dass ich die ganze Zeit Sascha anstarre. Daran sind nur diese nervigen Wangen schuld!
Ich werde schon wieder feuerrot, glaube ich. „Ähm…“ Toll, sehr einfallsreiche Antwort, Alex!
Sascha grinst mich an und beißt noch ein Stück ab. „Spielst du eigentlich auch?“, fragt er mich und wischt sich eine Krümel von seinen Lippen.
Spielen? Was denn spielen?
„Gitarre“, antwortet er kurz, als er meinen irritierten Blick einfängt. Ich nehme eine Schluck von meinem Kaffee. Gedanken ordnen, nicht drauf los quatschen, Alex.
„Äh, nein“, antworte ich und versuche, ruhig zu bleiben. „Wie kommst du denn darauf, dass ich spielen könnte?“
Er nickt in meine Richtung. „Das Plektrum an deiner Kette“, sagt er und ich spüre eine gewisse Neugier in seiner Stimme. „Kein Print von einer Band, auch sonst nicht besonders auffällig. Eines, was man zuhauf bekommt. Und außerdem abgespielt. Deshalb dachte ich, du hättest es gespielt und hast es als Erinnerung aufbewahrt…“
Meine Hand fährt automatisch zu dem kleinen Anhänger meiner Kette, streicht mit dem Daumen darüber. „Das war tatsächlich ich“, gebe ich zu. „Aber spielen kann ich deshalb trotzdem nicht.“
„Sie wollte sich unbedingt ausprobieren an meiner Lagerfeuergitarre“, wirft Jesse ein. „Also haben wir zu zweit gespielt – Alex den Rhythmus, ich die Akkorde.“
Sascha nickt anerkennend. „Und was habt ihr gespielt?“
„Ein Kompliment von den Sportfreunden Stiller“, sage ich mit einem gewissen Stolz in der Stimme. „Hab ich am Ende sogar fast im passenden Tempo die Achtel-Abschläge geschafft.“
„Das ist doch ein guter Anfang. Vielleicht solltest du es lernen“, schlägt Sascha vor. „Ich habe das Gefühl, dass in dir ein großes musikalisches Talent schlummert, das möglicherweise über das Singen hinaus geht…“
Darauf fällt mir keine passende Antwort ein und ich nehme noch einen Schluck Kaffee. Ich und Gitarre? Das kann ich mir gerade gar nicht vorstellen…
„Sasch, guck mal.“ Alec hat schon wieder ein interessantes Foto an der Wand entdeckt und mit einem leichten Schreck erkenne ich, dass es das Bild aus dem Programm vom Benefizkonzert ist.
Damals stand ich kurz vor meinem Abitur und mein Jahrgang wollte unbedingt Spenden sammeln. Leta, meine beste Feindin, hat dafür gesorgt, dass wir ein Benefizkonzert veranstalten, das gleichzeitig ein Wettbewerb ist. Abgestimmt wurde mit Spendengeldern - wer das meiste Geld zusammen bekommt, gewinnt - und Leta rechnete sich große Chancen auf den Sieg aus.
Der schien ihr auch recht sicher zu sein, hatte sie doch mit Abstand die schönste Stimme des Jahrgangs und dazu auch noch einen berühmten Pianisten sowie ein Streichquartett für ihren Auftritt gewinnen können.
Die Konkurrenz wurde ausgelost – und mich hat es getroffen. Ausgerechnet mich, die damals einen großen Bogen um alle Bühnen gemacht hat. Sich nicht einmal getraut hat, vor der Klasse ein Lied auf Zensur zu singen.
Und dann hat Jesse das Unmögliche geschafft – er und die Rockland Rangers haben mich nach und nach von meiner Bühnenphobie befreit, mir ihren ersten eigenen Song Greenhorn gegeben und mich auf die Bühne geschickt. Wir haben das Ding gerockt, ich den Wettbewerb eindeutig gewonnen.
Auf dem Bild tragen wir unsere damaligen Bühnenoutfits, die Dina kurzerhand zusammen gestellt hat: Die Jungs ihre Boots, schwarze Stetsons, Lackjeans, große silberne Gürtelschnallen und ein Hemd aus schwarz-glänzender Seide.
Mich dagegen hat Dina in eine ebenso schwarz-glänzende Bluse mit einem für meinen Geschmack zu tiefen Ausschnitt und hautengen Lederhosen sowie einen ebenso schwarzen Stetson gesteckt. Dazu meine Glückbringer: Das Plektrum, die Gürtelschnalle mit dem Pferdekopf und meine Boots.
Während ich mir das Bild heute, beinahe ein halbes Jahr später, anschaue, muss ich feststellen, dass wir echt gut aussahen. Rockig, heiß, wild und mit einer kleinen Portion Glamour – sowohl die Rockland Rangers als auch ich. Wir haben zu recht gewonnen…
„Alex?“
Ich zucke zusammen, als sich eine Hand auf meine Schulter legt. Ich reiße den Kopf hoch und starre in die Richtung der Hand. Alec.
„Warst wohl grade nicht ganz bei uns, oder?“, fragt er mit einem leichten Grinsen auf den Lippen. Ich nicke langsam. Wie lange bin ich weg gewesen?
„Seitdem ich das Video von euch mit Close gesehen habe, wollte ich euch unbedingt mal live singen hören“, erklärt er und Sascha nickt eifrig. „Würdet ihr unseren Song einmal nur für uns beide singen?“
„Bitte, Alex“, schaut mich Sascha mit einer Art Hundeblick an, der mich grinsen lässt. Und ich dachte bisher immer, den könnten nur Frauen!
Ich sehe Jesse fragend an. „Ich hab schon zugestimmt, du warst ja abwesend“, antwortet mir mein Freund.
Es liegt also an mir. Ich soll singen. Vor den Frontmännern meiner absoluten, ungeschlagenen Lieblingsband. Die ausgerechnet bei uns im Proberaum sitzen und mich mit Dackelblicken anschauen.
Und dann auch noch ihren Song. Close.
Ich kann doch nicht vor dem Komponisten diesen wunderschönen Songs singen! Was ist, wenn er enttäuscht ist? Ich habe Angst vor seinem Urteil.
Plötzlich kann ich nachvollziehen, wie aufgeregt die Musiker in der Fernsehsendung sind, wenn sie ihren Kollegen deren Songs vorsingen sollen. Ich fühle mich gerade genauso.
„Alex, was ist denn los?“, fragt Sascha besorgt und Jesse fixiert mich mit einem Blick, der mir sagt, dass gar nichts schief gehen kann. Dass ich gerade grundlos Angst habe.
Die beiden Cowboys setzen sich so, dass sie mich in ihrer Mitte haben. „Wir würden dich nicht darum bitten, wenn wir wüssten, dass du es nicht könntest“, beginnt Sascha vorsichtig. „Wir lieben eure Version und wir …“
Hilfesuchend schaut er Alec an und ich folge seinem Blick. „Wir wollten einfach nur einmal diesen Moment erleben, der so verwackelt auf dem Handyvideo zu sehen war“, antwortet dieser. „Du kannst das, Alex. Du hast vor tausenden Menschen gesungen, ohne mit der Wimper zu zucken.“
Ich atme tief durch. Eigentlich ist meine Panik unbegründet. Mein Gott, dann hören Alec und Sascha eben zu, na und?
Ich straffe meine Schultern und sehe Jesse an. „Na los, hol deine Gitarre“, fordere ich ihn auf, bevor ich es mir anders überlegen kann. Von rechts und links kommt ein zweistimmiges „Danke“ zurück, welches sich warm um mein Herz legt. Sie glauben an mich.
Jesse steht auf und holt seine geliebte Epiphone, seine Bühnengitarre. Dann setzt er sich auf eine Ecke des Sofas, neben der ein Ständer für die Gitarre steht. Er hasst es, seine Gitarren einfach nur irgendwo abzulegen.
„Komm rüber, Alex“, meint er und klopft mit der Hand auf das Sofa neben sich. Ich stehe auf und gehe an Sascha vorbei, bevor ich mich neben meinen Freund setze. Bewusst drehe ich unseren beiden Gästen den Rücken zu.
Jesses Blick ruht auf mir. Unser gemeinsamer Satz liegt in der Luft, ich kann es spüren. Nicht denken, fühlen.
Ich schließe die Augen und Jesse beginnt, unsere Version von Close zu spielen. Er hat den Song umgearbeitet, hat ein Zupfmuster entwickelt, mit dem er den Song spielt.
„No matter where you are“, höre ich seine tiefe, rauchige Stimme, die mich sofort einfängt und beschützt. Ich kann das. Ich fühle es. „You’re with me“, antworte ich ihm und öffne die Augen. Er lächelt.
„No matter how you feel“, singt er und ich fühle mich, als wäre ich in meiner eigenen Welt. Alles fühlt sich so richtig an, als ich ihm die nächste Zeile entgegen singe: „I’ll feel the same.“
„You can count on me…“ Oh ja, definitiv und ohne jeden Zweifel. Er war für mich da. „I’ll care for you“, höre ich meine eigene Stimme und ich weiß, dass es stimmt. „I’ll always be so…“
„…close to you and you're gonna be so close to me. No matter how far you're away from me, you'll be right by my site, close to me“, mischen sich unsere Stimmen, schmiegen sich aneinander und umarmen sich. Rauchiger Bariton und heller, leuchtender Sopran. „So close to me, so close to me.“
Ich genieße den Song, versinke völlig darin. Die Melodie legt sich um mich, wiegt mich sanft hin und her. Ich schaue Jesse in die Augen, sehe seine Liebe darin. Seine Liebe zu mir. Close. Unser Versprechen.
„I hold you in my arms“, begann ich die zweite Strophe, wartete auf Jesses Antwort: „Won't let you slip away.“
„You’ll just think on me...“ Ich schließe die Augen, in meinem Kopf gibt es nur noch Jesse, seine Gitarre, mich und Close. Der Rest ist unwichtig.
„..and I will be running to you.“ Ich weiß, dass es so ist. Was auch immer sein mag, er ist bei mir, wenn ich nur daran denke. Und umgekehrt gilt das Gleiche.
„No matter where you are, and I endlessly I'm gonna, I'm gonna be so…“ Ich lasse meinen Emotionen freien Lauf, meine Gefühle herrschen über mich. Die Zeit steht still, während ich darauf warte, dass Jesses Stimme sich erneut mit meiner vermischt.
„…close to you, and you're gonna be so close to me.“ Es fühlt sich an wie ein Traum und wie eine Erneuerung unseres Versprechens, für immer füreinander da zu sein. Komme, was wolle.
„No matter how far you're away from me, you'll be right by my site close to me, so close to me, so close to me.“ Mein strahlender Sopran tanzt mit Jesses rauchigem Bariton, wir lassen uns gegenseitig schweben. Es gibt nichts, wovor ich Angst haben muss, solange Jesse bei mir ist.
„I'll allways be so close to you, and you're gonna be so close to me. No matter how far you're away from me, you'll be right by my site close to me.“
Nicht denken, fühlen. Und ich fühle alles, jeden Ton, jedes Wort. Und ich fühle mich richtig. Das hier ist es, wofür ich geschaffen bin. Für Close. Mit Jesse.
„So close to me, so close to me, so close to me, so close to me.“
Die letzten Töne seiner Gitarre verklingen und ganz langsam komme ich zurück in die Realität. Ich sitze immer noch auf dem abgewetzten Sofa im Proberaum.
Aber ich bin nicht mehr mit Jesse allein. Angst überkommt mich. Angst vor dem harten Urteil der Cowboys. Angst vor Sascha, der diesen Song geschrieben hat. Was ist, wenn ich ihn total versaut habe? Was ist, wenn er unsere Version jetzt hasst?
Jesse strahlt mich an und stellt die Gitarre zur Seite. Ich sehe die Zuversicht in seinen Augen und trotzdem habe ich Angst vor Saschas Urteil.
„Wenn ich nicht genau wüsste, dass ich den geschrieben hab“, fängt dieser sogleich an und das Herz schlägt mir bis zum Hals. „Ich hab Close kaum wiedererkannt…“
Scheiße, wir haben es versaut. Wenn der Komponist seinen Song nicht mehr erkennt, dann kann es doch nur schlecht gewesen sein...
„Alex? Noch anwesend?“ Ich zucke zusammen, als sich Saschas Hand auf meinen Arm legt. „Du sagst ja gar nichts dazu.“
Wozu? Dass wir verkackt haben? Dass Sascha seinen Song nicht mehr erkannt hat, weil wir ihn verstümmelt haben?
Unsicher sehe ich Jesse an, der immer noch strahlt wie eine 1000Watt-Glühbirne. Freut der sich etwa, dass unsere Version nicht so gut angekommen ist?
„Es tut mir leid“, bringe ich zögernd hervor und schaue die beiden Cowboys zum ersten Mal nach dem Song an. Sie lehnen nebeneinander im Sofa, Alec hat die Arme auf der Lehne drapiert, so dass es beinahe so aussieht, als wolle er Sascha umarmen.
„Was tut dir leid?“, fragt Sascha verwirrt. „Ich verstehe nicht, was du meinst…“
„Dass wir den Song so kaputt gemacht haben, dass er euch nicht gefallen…“, fange ich an, mein Sprechtempo erreicht Rekordgeschwindigkeit.
„Stopp!“ Alec. Ich breche abrupt ab, starre ihn an. „Hey, hast du Selbstzweifel?“, fragt er und grinst schief. Jetzt bin ich es, die verwirrt schaut. Meine Hand tastet suchend nach Jesse, ich brauche ihn jetzt.
„Guck mich mal an.“ Bevor ich etwas darauf sagen kann, greift Sascha mein Kinn und dreht meinen Kopf so, dass ich ihm unweigerlich ins Gesicht schauen muss. Ich starre auf die Bartstoppeln an seinem Kinn.
„Und jetzt schau mir mal in die Augen.“ Zögernd hebe ich den Blick, bis meine blauen Augen auf sein tiefes Braun treffen. Augenblicklich versinke ich darin. Ich liebe braune Augen.
Aber Moment, da ist etwas anders als beim letzten Mal. Das Braun schimmert feucht. Ich blinzele, sehe noch einmal genau hin. Seine Augen schimmern immer noch feucht.
„Und jetzt schau mal in Alecs Augen“, sagt Sascha, dessen Hand immer noch unter meinem Kinn liegt, und dreht meinen Kopf so, dass ich seinen Freund sehen kann. Noch mehr tiefes, schönes Braun. Ich will ebenfalls darin versinken, doch auch bei diesem Braun ist etwas anders als vorher. Ebenso ein Schimmer.
Ich reiße mich von dem Anblick los und sehe, wie Alecs Hand sich auf Saschas Schulter legt. „Ich glaube, sie hat’s gesehen“, meint dieser langsam.
„Was denn gesehen?“, frage ich irritiert nach. Warum hatten die Beiden feuchte Augen? Waren wir so schlecht?
„Mein Gott, Alex!“ Jesse verschränkt seine Finger mit meinen. „Ist doch glasklar – wir haben unsere Gäste beinahe zu Tränen gerührt.“
Ich habe keine Ahnung, wie mein Gesichtsausdruck ist, als ich diese Worte verdaue. Die waren gerührt? Von unserer Version von Close?
„Ich schwöre dir, ich hab den Song noch nie so gehört“, gibt Sascha zu. „Und jetzt schmeiß mal die Selbstzweifel über Bord, das hast du doch nicht nötig. Jesse und du und Close – das passt einfach.“
„Also … fandet ihr unsere Version jetzt … gut?“, frage ich vorsichtig nach, rechne mit einer negativen Bemerkung. Sascha lacht, Alec stimmt mit ein.
„Gut?“ Alec zieht die Augenbrauen hoch und legt den Kopf schief. „Mein Gott, ihr wart der Wahnsinn. Wer mich einmal soweit bekommt, dass ich feuchte Augen habe, der war nicht einfach nur gut.“
„Ich habe bis heute nicht gemerkt, wie viel noch in diesem Song steckt außer unserer innigen Freundschaft. Wie viele Gefühle man aus diesem Song rausholen kann“, gibt Sascha zu und grinst Alec an. Keine Ahnung, was sie da ohne Worte austauschen. „Und ich sollte es ja eigentlich wissen, hab den ja schließlich geschrieben.“
Spätestens jetzt leuchte ich garantiert wie eine Tomate. Die Frontmänner der besten Band der Welt finden Jesse und mich gut, sind gerührt von Close. Ich bin grenzenlos erleichtert. Ist das nicht der Traum eines jeden Fans?
„Eigentlich wollten wir ja mit euch eure Setliste besprechen, damit wir uns nicht mit Songs überschneiden, die ihr von uns gecovert habt“, ergreift Alec das Wort. „Aber egal, was ihr geplant habt, …“
„Close ist auf alle Fälle euer letzter Song“, beendet Sascha den Satz. „Für das Hörerkonzert gehört Close euch ganz allein, und es ist die perfekte Überleitung zu uns.“
„Wir dürfen Close spielen?“ Jesses überwältigende Freude schwingt in seiner Stimme mit, während er mich in seine Arme zieht. „Tausend Dank!“
Sascha grinst. „Eine Frage hab ich da allerdings noch“, sagt er und mustert uns mit einem Blick, den ich nicht einordnen kann. Dann Schweigen.
Na, was denn nun? Stell sie doch einfach!
„Seit ihr zusammen?“ Ich bin kurz irritiert und weiß gar nicht so recht, was ich darauf eigentlich antworten soll, als Jesse meine Lippen versiegelt. Seine Zunge stupst meine an und ich erwidere seinen Kuss, der mich für den Augenblick alles vergessen lässt.
Viel zu schnell löst er sich von mir und grinst Alec und Sascha an. „Antwort genug?“, fragt er mit einem Augenzwinkern. „Oder wollt ihr’s noch mal sehen?“
Die Cowboys lachen. „Nein, nein“, sagt Sascha und greift nach einem Cookie. „Ich glaube es euch auch so. Irgendwie hab ich schon bei Close gespürt, dass ihr nicht einfach nur Freunde seid. Der Song bedeutet euch eine Menge, auch persönlich. Nicht wahr?“
Wir nicken synchron. Ist das so auffällig, dass ich mich in den tollsten Mann der Welt verliebt habe? Und er in mich? Dass wir auf ewig zusammen gehören? Dass Close unser gemeinsames Versprechen ist?
„So, jetzt aber zum eigentlich Grund, warum wir hier sind“, lenkt Alec das Thema wieder in die richtige Richtung. „Habt ihr eure Setliste schon ausgearbeitet? Was wollt ihr denn spielen?“
Setliste? Irgendetwas in der Richtung hatte Jesse mir heute Morgen erzählt, aber ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, worum genau es ging. Da war ich bereits viel zu aufgeregt wegen unserem Besuch.
Jesse zieht einen Zettel aus der Hosentasche und ich bin überglücklich, so einen durchorganisierten Freund zu haben. Er faltet das Papier auseinander und dann erinnere ich mich plötzlich.
Ja, genau. Ob wir Magneten wieder spielen wollen. Und ob ich erstmals mit Leuchtturm auf die Bühne möchte. Unsere beiden Cover, die so eng mit uns verwoben sind wie Close. Ich hatte allem zugestimmt, ohne groß darüber nachzudenken.
„Zeig mal her“, meint Sascha und nimmt Jesse den Zettel aus der Hand. Alec beugt sich zu ihm hinüber und überfliegt ebenfalls die Liste.
„Im Grunde genommen haben wir da gar nichts einzuwenden“, kommentiert Sascha. „Aber der letzte Song ist Close, ja? Moment, ich schreib das besser gleich mal auf. Al, hast du einen Stift?“
„Sehe ich so aus?“, erwidert der, doch Jesse ist schon aufgesprungen, um einen Kugelschreiber aus dem Büro zu holen.
Als er zurück kommt, lässt er sich neben Alec fallen und nimmt diesen die Liste aus der Hand. „Danke noch mal, dass wir Close spielen dürfen“, strahlt er. „Wir haben den absichtlich ausgeplant, weil wir dachten, dass ihr den spielen wollt…“
„Ach, wir haben Close so lange schon nicht mehr gespielt, wenn man mal Südafrika raus lässt“, gibt Sascha zurück. „Ich finde es toll, auch mal vom Support gecovert zu werden. Hatten wir ja noch nie…“
Plötzlich stockt er und legt die Stirn in Falten. „Jesse, hier müssen wir noch mal drüber reden“, sagt er und zeigt auf einen Song in der Liste, den ich jedoch nicht erkennen kann.
„Leuchtturm“, liest Jesse vor und schaut zwischen Alec und Sascha hin und her. „Der liegt uns, also vor allem Alex, sehr am Herzen.“
„Uns auch“, wirft Alec ein. „Unsere erste Nummer auf Deutsch, die wollten wir schon gern mit zum Hörerkonzert nehmen.“
„Weil uns auch immer noch viele Fans danach gefragt haben“, ergänzt Sascha ruhig. „Ich glaube, den müsst ihr streichen.“
Jesse macht ein betrübtes Gesicht. Ich kann gerade nicht fassen, was hier passiert. Wir sollen den Leuchtturm streichen? Den wichtigsten Song in meiner Karriere als Sängerin? Niemals! Nein, Cowboys, den gibt es nicht einfach so!
Mein Blick kreuzt den von Jesse. „Lass gut sein, Alex“, steht in seinen Augen, doch ich schüttele fast unmerklich den Kopf. Niemals! Der Kampf um den Leuchtturm ist hiermit eröffnet.
„Mir ist der aber auch enorm wichtig“, erkläre ich und straffe meine Schultern. Ihr nehmt mir nicht den Leuchtturm weg, Jungs. Nein, vergesst es!
„Aber wir sind der Hauptact“, gibt Alec zurück und in seinen Augen sehe ich, dass auch der den Song nicht kampflos aufgeben wird. Wir fechten ein Blickduell aus und ich achte behutsam darauf, dass ich nicht in seinen wunderschönen brauen Augen versinke und mich geschlagen gebe.
„Das mag sein, aber ohne den hättet ihr uns nicht als Vorband.“ Ich verschränke die Arme vor der Brust, sehe aus dem Augenwinkel, wie Jesse und Sascha zwischen uns hin und her schauen und wohl selbst nicht so recht wissen, was da vor sicht geht.
„Trotzdem sind wir der Hauptact und damit haben wir das letzte Wort“, beharrt Alec und schaut Sascha an. „Nicht wahr?“
Der nimmt die Hände nach oben. „Moment mal, ganz ruhig ihr zwei“, sagt er und macht eine beschwichtigende Geste. „Jetzt beruhigt ihr euch beide erstmal und dann reden wir in aller Ruhe darüber.“
„Da gibt es nichts zu reden – wir spielen Leuchtturm“, werfe ich ein. Ich gehe hier garantiert nicht als Verlierer vom Platz.
„Alex.“ Seine tiefe Stimme nimmt mir den Wind aus den Segeln und ich verstumme augenblicklich, als er mich streng mustert. Moment mal, habe ich mich hier gerade mit meinen Lieblingsmusikern angelegt? Oh ha…
„Aber wir sind der Hauptact“, schmettert Alec zurück und bekommt den gleichen Blick. „Al, ganz ruhig“, sagt Sascha und legt ihm eine Hand auf die Schulter. „Und jetzt alle mal tief einatmen. Und ausatmen.“
Wieso hat Sascha eigentlich eine solche Präsenz? Und gibt der heimlich Kurse für autogenes Training? Ich werde augenblicklich ruhig, schließe meine Augen und atme tief durch.
Na gut, Leuchtturm ist verloren. War ja eigentlich sowieso aussichtslos, wir sind schließlich nur der Support.
„Sehr gut. Und jetzt brauche ich erstmal noch einen Kaffee“, wendet sich Sascha an mich. „Darf ich mitkommen?“
Alec und Jesse sehen ihn irritiert an, ich vermutlich ebenso. „Wir legen das Thema erstmal beiseite, Al“, fügt Sascha hinzu und steht auf. „Wenn wir zurück kommen, fangen wir noch einmal ganz von vorn an.“
Beide nicken und Sascha zieht mich vom Sofa hoch. Hinter mir höre ich, wie Jesse versucht, von dem Thema abzulenken, indem er Alec nach dessen Tattoos ausfragt.
Ich schnappe mir das Tablett und begleite Sascha in unsere Küchenecke, während er schon mal die Kaffeemaschine einschaltet. Ich stelle die erste Tasse darunter und versuche, mir nicht anmerken zu lassen, wie traurig ich darüber bin, dass wir Leuchtturm verloren haben.
Leider habe ich nicht damit gerechnet, dass Sascha das offenbar längst bemerkt hat. „So, Alex, die Kaffeemaschine kann das allein“, beginnt er mit seiner absolut ruhigen, tiefen Stimme. „Und jetzt möchte ich von dir wissen, was das Besondere an Leuchtturm ist.“
Er sieht mich abwartend an und ich schlucke schwer. „Ich gebe auf“, antworte ich stattdessen. „Alec hat recht. Ihr seid der Hauptact, ihr spielt den Song...“
„Das war aber nicht meine Frage“, unterbricht mich Sascha und zwingt mich dazu, ihn anzuschauen, während er blind die Kaffeetassen unter der Maschine austauscht. „Warum ist dir Leuchtturm so wichtig?“
Ich atme tief durch. Sascha wird keine Ruhe geben, bis ich ihm nicht gesagt habe, warum mir Leuchtturm so wichtig ist, das ist mir klar.
„Weißt du, als ich in die Schule kam, sollten wir ein Lied vor der Klasse singen. Ein Weihnachtslied“, fange ich an und erzähle meine Geschichte, die sonst nur Dina und Jesse kennen. Na hoffentlich behält er die wenigstens für sich. „Morgen kommt der Weihnachtsmann.“
Sascha schmunzelt. „Und wie war es?“, fragt er und ich glaube, er ahnt, dass irgendwas passiert sein musste.
„Schrecklich“, fasse ich es in einem Wort zusammen. „Ich war vollkommen panisch, habe keinen geraden Ton heraus bekommen, meine Musiklehrerin hat sich verzweifelt abgemüht und dann…“
Ich breche ab. Warum erzähle ich das gerade Sascha? Ausgerechnet dem Musiker, den ich seit Jahren bewundere. Ihn und The BossHoss. Ich kann das hier doch nicht einfach so dem Schöpfer meiner Lieblingssongs erzählen...
„Trau dich, Alex“, sagt er leise. „Ich erzähle es niemanden. Nicht einmal Alec, und das will was heißen.“
„Na schön“, gebe ich nach und seufze. „Das alles war halb so schlimm, bis eine aus meiner Klasse gelacht hat. Am Ende bin ich weinend aus dem Klassenraum gerannt und habe mir felsenfest geschworen, nie wieder auch nur einen Ton zu singen.“
„Und trotzdem hast du mich gerade bei Close umgehauen“, stellt er überrascht fest. Ich überhöre das Kompliment elegant. „Wie ist das möglich?“
„Das verdanke ich Jesse. Und Leuchtturm“, fällt meine Antwort aus. „Ich habe ihn hier auf der Ranch kennen gelernt, als ich eine Teilnahme an einem Wanderritt gewonnen habe. Die Rockland Rangers haben jeden Abend mit uns am Lagerfeuer gesungen und ich war die Einzige, die sich nur stillschweigend der Musik hingegeben hat.“
„Deine Hingabe zur Musik ist mir auch schon aufgefallen“, stellt Sascha fest. „Es ist, als ob du jeden Ton einzeln fühlst. Auch wenn du singst…“
Er tauscht die Kaffeetassen aus, während er mir in die Augen schaut. „Erzähl weiter“, fordert Sascha mich auf. „Erzähl mir von Leuchtturm.“
„Jesse hat gespürt, dass ich Talent für Musik hab“, sagte ich ruhig und verschwinde in meinen Erinnerungen. Ich sehe ihn vor mir, wie wir an jenem Tag allein am Lagerfeuer saßen. Alle anderen waren bereits schlafen gegangen.
„Nicht denken, fühlen. Das hat er gesagt. Ich soll die Augen schließen und es einfach zulassen. Und dann hat er Leuchtturm gespielt und gesungen. Ich liebe diesen Song, hab ihn schon immer geliebt.“
Sascha lässt mir Zeit und ich atme tief durch. „Und dann habe ich gesungen. Das erste Mal seit einem Jahrzehnt“, erinnere ich mich. „Komm geh mit mir den Leuchtturm rauf…“
Sein Blick ruht immer noch auf mir, während er ein letztes Mal die Kaffeetassen austauscht. „Ohne Leuchtturm und ohne Jesse hättest du also nie wieder gesungen“, stellt er erstaunt fest. „Hättest uns nie mit Close begeistert, die Rockland Rangers wären nie unser Support geworden. Und alles nur wegen Leuchtturm…“
„Alles nur wegen Leuchtturm“, wiederhole ich. „Deshalb liegt der mir so am Herzen. Deshalb wollte ich ihn nicht kampflos aufgeben. Aber Alec hat recht, ihr seid der Hauptact, ihr dürft ihn spielen…“
„Abwarten.“ Sascha zieht eine Augenbraue hoch. „Deine Verbindung zu Leuchtturm ist nicht weniger bedeutsam als die von The BossHoss zu dem Song. Ich habe da schon eine Idee…“
Er stellt die Kaffeetassen auf das Tablett. Als er es tragen will, schüttele ich den Kopf. „Vergiss es, du bist hier Gast“, erinnere ich ihn. „Ich trage das Tablett.“
Sascha grinst. „Na, dann mal los“, meint er und legt mir eine Hand auf die Schulter, während er mich aus der Küche wieder in den Gemeinschaftsraum dirigiert, als wäre er hier tatsächlich zu Hause. „Bekomme ich nachher noch eine Proberaumführung?“
Ich nicke und sehe auf. Mein Mund klappt auf und dann wieder zu bei dem Anblick, der sich mir bietet. Nur mit Mühe lasse ich das Tablett nicht fallen.
Jesse sitzt auf dem Sofa, oben ohne, und unterhält sich mit Alec. Vermutlich geht es um Tattoos, den Wortfetzen nach zu urteilen. Zu seinem Tattoo auf dem Rücken sind sie offenbar vorhin nicht gekommen. Ein Traumfänger, der strahlt, als wäre er die Sonne persönlich. Davor zwei galoppierende Pferde: einen stämmigen Braunen – Josh, und einen Rappen mit weiß gesprenkeltem Hinterteil – Hyperion.
Allein bei seinem Anblick läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Meine Finger zucken, wollen seine nackte Brust berühren, mit dem weichen Flaum darauf spielen.
Verdammt, ich weiß ja eigentlich, wie mein Freund halb nackt aussieht, aber trotzdem komme ich nicht umhin, ihn zu bewundern. Seine Muskeln bewegen sich, als er auf dem Sofa herum rutscht. Ich schlucke schwer und nur der Gedanke daran, dass wir Gäste haben, hält mich davon ab, meinen in Flammen stehenden Körper in seine Arme zu werfen.
Dann wandert mein Blick zu Alec. Heilige Scheiße!
„Na, da haben sich die beiden Tattoo-Freunde ja gefunden“, kommentiert Sascha, den der Anblick offenbar völlig kalt lässt. Andererseits kennt er das ja auch von der Bühne. Im Gegensatz zu mir.
Alec sitzt in spiegelbildlicher Haltung zu Jesse auf dem Sofa, und – schluck – ebenfalls oben ohne. Die Beiden sind so vertieft in ihr Gespräch, dass sie weder Sascha noch mich bemerken.
Der Adler auf seiner Brust hebt und senkt sich bei jedem Atemzug, zieht mich völlig in seinen Bann. Ich denke an das Konzert zurück, wie sehr ich mir gewünscht hatte, er möge das Hemd ausziehen. Und jetzt bekomme ich ihn quasi auf dem Servierteller… Schluck.
Mein Blick schweift zwischen Jesse und Alec hin und her, ihre Tattoos strahlen um die Wette im Lampenlicht. Den Anblick kann ich gar nicht anders als mit ‚unheimlich sexy’ betiteln und…
„Oh, Kaffee ist da!“ Alecs Stimme reißt mich aus meinen Gedanken, ich blinzele. Mit einer fließenden Bewegung steht er auf und kommt auf uns zu. Die Jeans sitzt locker auf seinen Hüften, so dass ich den Rand seiner Shorts sehen kann. Schluck.
„Al, ziehst du dir bitte was über?“, fragt Sascha und deutet auf mich. „Du verstörst hier eine junge Lady, die gleich zu sabbern anfängt.“
Ich werfe ihm einen wütenden Blick zu. Hallo!? Ich sabbere doch gar nicht!!!
Schluck.
Alec grinst in meine Richtung und streicht sich seine Haare zurück. Verdammt, hör auf damit! Oder mach weiter…
„Hast recht, Sasch“, meint Alec und greift nach seinem Top, dass über der Sofalehne hängt. Dabei dreht er sich um und ich kann einen Blick auf seinen tätowierten Rücken werfen. Wow. Schluck.
Dann verschwinden die Kunstwerke unter schwarzem Stoff. Mein Blick huscht zu Jesse, der ebenfalls sein T-Shirt wieder anzieht. Er wirft mir einen eifersüchtigen Blick zu, den Sascha und Alec ebenfalls auffangen.
„Keine Angst, Kollege, wir sind vergeben“, erklärt Sascha lachend und Alec nickt zustimmend. „Außerdem sabbert sie bei dir auch“, fügt Alec hinzu und deutet auf mich. „Und würde dich gerade zu gerne...“
„Sie kann euch hören“, werfe ich ein und unterbreche Alec mitten im Satz. Ich will den auch eigentlich gar nicht zuende hören. Jesses anzügliches Grinsen spricht eine eigene Sprache.
Und schon wieder werde ich tomatenrot im Gesicht. Wie machen die das eigentlich ständig?
Ich stelle das Tablett mit dem Kaffee auf den Tisch und will mich gerade wieder auf das Sofa fallen lassen, als Sascha mich antippt. „Warte kurz, Alex“, höre ich seine Stimme neben meinem Ohr. „Kannst du mir schnell mal den Text von Leuchtturm ausdrucken? Und ich bräuchte verschiedene Textmarker… Hab da so eine Idee im Kopf.“
Bei meinem irritierten Blick grinst er und ich kann seinen Wunsch unmöglich abschlagen. Selbst wenn er nicht Gast wäre, er ist immerhin Hoss Power. Dem schlägt man keinen Wunsch ab.
Im Laufschritt eile ich in unser Band-Büro und bin überglücklich, dass Dinas Computer im Standby-Modus steht. Hastig suche ich nach dem Text und drucke ihn aus. Ich will keine Sekunde länger als unbedingt nötig weg sein.
Ich schnappe mir die Federmappe mit den Textmarkern aus einer Schublade und angle mir den Ausdruck. Das Klemmbrett, welches am Drucker lehnt, reiße ich mir auch gleich noch unter den Nagel. Sascha soll es ja bequem haben mit seiner Idee.
„Dankeschön.“ Er strahlt mich an, als ich ihm beides reiche. Die Herren sitzen bereits alle wieder auf dem Sofa. Sascha ganz rechts, daneben Jesse und auf der anderen Seite Alec, der auf einem Cookie herumkaut.
„Sasch, ist das jetzt dein Ernst?“, kommentiert dieser sogleich, als sein bester Freund die Textmarker öffnet und wild auf dem Ausdruck herum kritzelt. Wie gut, dass der Kugelschreiber auch noch in Reichweite ist.
„Das hier sollte unser Urlaubstag sein, Sasch“, versucht es Alec erneut. „Wir wollten uns amüsieren und nicht arbeiten.“
„Ich arbeite nicht“, brummt Sascha zurück, ohne aufzusehen. „Ich notiere mir eine Idee.“
Ich lasse mich auf Saschas anderer Seite nieder und bin eines von drei Augenpaaren, die neugierig den Ausdruck mustern. Sogar Alec ist extra nahe an uns heran gerutscht, um live mitzuerleben, was Sascha da macht.
Der Text wird immer bunter und mir kommt meine ehemalige Deutschlehrerin in den Sinn. Sascha wäre ihr Vorzeigeschüler gewesen, ganz bestimmt. Genau so, wie der Ausdruck inzwischen aussah, wollte sie alle Arbeitsblätter nach Aufsätzen sehen: Bunt, Randnotizen, Markierungen und bloß keine weißen Stellen.
Dann lehnt sich Sascha mit einem Mal entspannt zurück. „Fertig“, strahlt er uns an und greift nach seinem Kaffee. „Was sagt ihr dazu?“
Ich ziehe eine Augenbraue hoch und mustere das bunte Blatt. Die Zeilen sind in verschiedenen Farben angestrichen, manche sogar doppelt oder gestreift. Am Rand stehen winzige kleine Notizen, die ich schon gleich gar nicht verstehe.
„Also, ich wollte ja noch mal mit euch über Leuchtturm reden“, fängt Sascha an und sofort trifft mein Blick auf den von Alec. Blickduell, Runde 2.
Mein Gott, wieso muss er eigentlich so wahnsinnig schöne Augen haben? Selbst wenn er so streng guckt wie in diesem Moment, die Augen ziehen mich in seinen Bann. Das macht der doch garantiert mit Absicht!
Ich versuche, alle Kräfte in mir zu bündeln. Leuchtturm gehört mir. Also uns. Darin hat Sascha mich doch vorhin bestärkt, oder etwa nicht?
„Alex, Alec“, ermahnt uns Sascha, als wären wir kleine Kinder bei einem Sandkastenstreit. Trotzig schauen wir ihn beide an.
„Das hier ist ein Sandkastenstreit“, stellt Sascha nüchtern fest. Scheiße, ich hab doch nicht etwa laut gedacht!? „Und ihr wärt beinahe Namensvetter geworden – nicht auszudenken!“
„Aber wir sind der Hauptact, wir spielen Leuchtturm“, beharrt Alec mit seinem strengen Blick. „Warum fängt sie jetzt schon wieder damit an?“
„Meine Schuld, gewissermaßen“, gibt Sascha zu. „Ich hab da so eine Idee. Wir wollen Leuchtturm spielen, weil es unser erster deutscher Song ist. Und Alex will ihn nicht hergeben, weil das der Song ist, der ihre Singstimme an den Tag gebracht hat.“
Alec schaut mich verwirrt an. „Singstimme an den Tag gebracht hat“, wiederholt er langsam. „Geht das auch weniger hochtrabend und genauer, Sasch?“
Sascha holt Luft, doch ich komme ihm zuvor. Wenn er schon meine Geschichte erfahren will, dann doch bitte von mir.
„Ich habe ein Jahrzehnt nicht gesungen in der festen Überzeugung, sowieso keinen geraden Ton herauszubekommen“, rassele ich herunter. „Bis Jesse kam mit Leuchtturm. Ohne den würde ich immer noch nicht singen. Und es wohl auch nie wieder tun.“
Alecs strenger Blick wird mit einem Schlag weich. Dann schaut er Sascha abwartend an. „Wir wollen ihn spielen, Alex und Jesse wollen ihn spielen“, fasst dieser zusammen. „Was liegt da näher, als dass wir das Ganze umarbeiten…“ Er deutet auf den Ausdruck. „… und Alex und Jesse für diesen Song mit auf unsere Bühne holen?“
Mir fällt die Kinnlade herunter. Ich starre Sascha an, als wäre dieser ein Marsmännchen. Ich hole Luft, will irgendetwas sagen wie „Dankeschön, ich freue mich“, aber nichts dergleichen kommt über meine Lippen.
Hallo!? The BossHoss und wir – zusammen auf einer Bühne!? Wie krass ist das denn!?
„Vorsicht, Fliegen“, kommentiert Alec trocken und ich erwache aus meiner Starre. Verwirrt schaue ich in seine Richtung. „Hä? Was für Fliegen?“
„Klapp den Mund zu, sonst kommen Fliegen ein“, klärt mich Sascha auf und grinst. Na toll, die machen sich lustig über mich!
Gehorsam zwinge ich meinen Unterkiefer wieder nach oben und betrachte Saschas buntes Gemälde noch einmal genauer. Einen Reim darauf kann ich mir immer noch nicht machen, dafür ist das schlichtweg zu bunt.
Er bemerkt meinen fragenden Blick. „Also, alles was blau ist, singt Alec. Grün ist meins, orange singt Jesse und gelb die Alex“, erläutert er ruhig. Okay, damit sind schon mal die einfarbigen Zeilen geklärt.
„Zeilen, die zwei- oder mehrfarbig sind, werden zusammen gesungen von den Besitzern der jeweiligen Farbe“, fährt Sascha fort und so langsam verstehe ich das System. Okay, dann singt wohl jeder mal einzeln und irgendwie auch jeder mal mit jedem.
„Und das hier unten…“ Sascha zeigt auf eine Notiz mit Kugelschreiber. „Das hier ist der Zwischenteil mit dem Ah. Da singt jeder ein bisschen was anderes. Vierstimmig haben wir ja sonst so selten…“
Ein letztes Mal versuche ich, die Notiz zu entschlüsseln. Sind das etwa Notenzeilen? Mit Noten drauf? Oh mein Gott, wie irre ist der eigentlich!?
„Passt auf, wir versuchen das einfach mal so aus dem Stegreif. Rutscht ran, damit ihr alles auf das Blatt gucken könnt“, fordert er uns auf uns streckt die Hand aus nach Jesses Gitarre.
Ich halte die Luft an, sehe panisch zwischen Sascha und Jesse hin und her. Oh nein, oh nein, oh nein! Bitte kein Mord und Todschlag! Bitte, bitte nicht!
„Stopp!“ Jesses Stimme ist scharf geworden und Sascha zieht die Hand augenblicklich zurück. „Nur damit du es weißt – diese Epiphone hat bisher nur einer gespielt, nämlich ich“, erklärt er hart.
Und plötzlich lächelt er. „Sei sanft zu ihr, Sascha“, fügt er hinzu. „Sie ist meine Lieblingsgitarre, aber du bist mein großes Gitarristen-Vorbild und deshalb wäre es mir eine Ehre, wenn du sie spielen würdest.“
Saschas erschrockener Blick verwandelt sich in ein Strahlen. „Wer weiß, vielleicht kann ich es irgendwann wieder gutmachen, dass ich sie einfach so nehmen wollte ohne zu fragen“, sagt Sascha mit meinem Grinsen und nimmt die Gitarre auf dem Schoß. So vorsichtig wie möglich fährt er über die Saiten.
„Eine hübsche Gitarre hast du da“, kommentiert er. „Nicht ganz die Preisklasse, die ich sonst spiele, aber deshalb muss eine Gitarre ja nicht zwangsweise schlecht sein. Die hier ist es auf keinen Fall.“
Wir atmen gemeinsam erleichtert aus. Kein Mord, kein Todschlag. Stattdessen hat Jesse jetzt etwas bei Sascha gut. Na, wer weiß, wofür er das mal gebrauchen kann…
„Also dann, unsere Version. Und ihr achtet bitte darauf, wer wann wo was singt“, gibt Sascha den Ton an und greift in die Saiten. „Das wird schön, ich weiß es.“
Bevor wir anfangen, singt er uns rasch noch die jeweilige Melodie für den Zwischenteil vor. Meine dabei mit Kopfstimme, die mich unweigerlich zum Grinsen bringt.
Und dann ist plötzlich alles still und Sascha beginnt zu spielen. Der Klang der Epiphone umhüllt mich und ich bin plötzlich in meiner eigenen kleinen Welt.
Sascha hat mir sogar meine persönliche Zeile als Solo überlassen. „Komm geh mit mir den Leuchtturm rauf…“
Ab dem ersten Ton überzieht mich eine Gänsehaut. Ich habe unsere Gäste beim Konzert schon singen gehört, doch das ist nicht einmal im Ansatz mit jetzt zu vergleichen, wo sie quasi neben mir sitzen.
Abwechselnd mischen sich unsere Stimmen ineinander, ich bin überwältigt. Das hier muss ein Traum sein, eine bessere Erklärung gibt es dafür nicht!
Und dann plötzlich der Zwischenteil. Aus dem Augenwinkel heraus sehe ich, wie Jesse versucht, sich unauffällig die Arme zu reiben, was Alec mit einem schiefen Grinsen stumm kommentiert. Wie kann der eigentlich singen und gleichzeitig grinsen?
Ich verpasse beinahe meinen Einsatz zum Duett-Vers mit Sascha. Aus dem bunten Gewirr muss man ja auch erstmal raus kommen. Zumal sich auch noch drei Köpfe gleichzeitig über das Papier beugen...
Unsere vier Stimmen passen hervorragend zusammen. Sascha hat recht, das wird schön. Absolut gigantisch und vollkommen ohne Nena. Wobei, ein bisschen weiblichen Beistand könnte ich doch gebrauchen…
Die letzten Töne verklingen und mit einem amüsierten Blick sehe ich, dass sogar unsere beiden Cowboys eine Gänsehaut haben. Dann muss es ja wirklich richtig gut gewesen sein.
Jesse fixiert schweigend seine Gitarre. Ich sehe in seinen Augen, dass er sie so schnell wie möglich wieder Saschas Händen entreißen will und trotzdem fasziniert ist, wie dieser sie gespielt hat.
Mit einem Schlag erwache ich aus meinem tranceähnlichen Zustand. „Wir müssen das festhalten!“, erkläre ich und Sascha neben mir zuckt zusammen. Hoppla, ich wollte ihm doch eigentlich nicht ins Ohr brüllen.
„Was willst du festhalten?“, fragt mich Jesse irritiert und seine Augen verlassen für einen Wimpernschlag die Gitarre. Alec zuckt mit den Schultern.
„Na, diesen Moment. Euren Besuch. Sascha mit der Epiphone“, sprudelt es aus mir heraus. „Wir haben hier die Frontmänner der besten Band auf dem Sofa sitzen und keiner wird es uns jemals glauben, wenn wir kein Foto machen!“
Die drei Männer sehen sich fragend an, doch da bin ich schon aufgesprungen, um aus dem Nebenraum einen Gitarrenkoffer und die Kamera zu holen. Der Koffer ist das beste Stativ, was ich so schnell finden kann, denn diese Selfie-Sticks finde ich affig.
Drei fragende Augenpaare mustern mich, als ich die Tassen zur Seite schiebe und den Koffer auf dem Tisch abstelle. Dann positioniere ich die Digitalkamera darauf und schaue auf das Display.
„Alec, rutsch noch ein bisschen ran“, versuche ich sie zu positionieren. „Und Jesse, wo war noch mal die Funktion mit dem Countdown?“
Mein Freund lacht und steht auf. „Lass mich mal machen, Alex.“ Er zwinkert mir zu und nimmt dann meinen Platz hinter der Kamera ein.
„Okay, die Lady in die Mitte“, weißt er mich an. „Ich setze mich dann neben Sascha, sonst sieht das komisch aus mit der Gitarre so an der Seite.“
Kann ich zwar nicht nachvollziehen, aber bitteschön. Der weiß mit Sicherheit, was er da macht. Strahlend lasse ich mich zwischen Alec und Sascha fallen.
„Näher zusammen, ihr passt nicht auf Bild. Vor allem Alec nicht“, kommentiert Jesse und Saschas bester Freund rutscht noch ein paar Zentimeter näher zu mir.
Mein Freund schüttelt den Kopf. „Noch näher, ich hab ihn immer noch nicht ganz auf der Linse.“
Kurzerhand greift Saschas Arm um meine Hüfte und zieht mich so nah an seine linke Seite, dass ich seine Wärme entlang meines Körpers spüren kann. Alec wirft Sascha einen wissenden Blick zu, der inzwischen schon wieder den Gitarrenhals festhält, und rutscht genauso nah an mich heran.
Er legt seinen Arm um meine Schultern und zwischen uns ist nun wirklich kein Zentimeter Luft mehr. Ich bin zwischen Sascha und Alec eingekeilt, ihre Körperwärme springt auf mich über.
Vorsichtig schaue ich zu Jesse. Noch näher geht jetzt nicht, ich hoffe, du bist zufrieden.
Jesse zeigt mir dem Daumen nach oben. „Okay, Probefoto“, sagt er, drückt einen Knopf und springt dann um den Tisch herum, bevor er sich neben Sascha fallen lässt. Das Sofa antwortet mit einem Knarzen.
Dann ist alles hell und gleich darauf wieder dunkel. Och nee, hab ich auch noch genau in den Blitz geguckt. Wie sieht das denn jetzt bitte aus?
So langsam kann ich wieder etwas sehen. Jesse steht hinter der Kamera, kopfschüttelnd. „Noch mal. Und Alex, du hattest die Augen zu.“
Er drückt erneut auf den Knopf und springt neben Sascha auf das Sofa mit so einer Wucht, dass ich das Gefühl habe, ein paar Millimeter nach oben zu fliegen. Vor Schreck kralle ich mich an Alecs Oberschenkel fest.
Dann löst die Kamera aus und ich habe keine Ahnung, wie komisch ich jetzt schon wieder schaue. Jesse steht auf und nimmt die Kamera vom Gitarrenkoffer. „Das ist richtig gut geworden“, stellt er überrascht fest und hält uns das Display unter die Augen.
Sascha grinst sein typisches Sascha-Grinsen und greift sogar einen Akkord auf der Gitarre. Alec lächelt, sein Arm liegt locker um meine Schultern. Und ich sitze strahlend zwischen meinen Lieblingsmusikern. An Saschas Seite lehnt Jesse, der versucht hat, eine extra lässige Miene aufzusetzen.
Ich kann mich an dem Schnappschuss kaum satt sehen. Jesse nimmt Sascha erleichtert die Epiphone aus der Hand und stellt sie zur Seite. „Ein Beweisfoto“, grinst mein Freund und der Stolz in seiner Stimme ist greifbar. „Das kommt mit an die Wand.“
„Und wir?“ Alec sieht Sascha über mich hinweg fragend an. „Wir bräuchten doch auch ein Beweisfoto, Sasch. Die Jungs glauben uns niemals, dass wir hier auf einer richtigen Ranch gelandet sind. Mit so richtigen Pferden.“
„Du willst ein Foto mit einem Pferd? So als richtiger Cowboy, Al?“, fragt Sascha nach, eine Augenbraue nach oben ziehend, und Alecs Mundwinkel zucken.
„Du hast keinen Hut dabei“, stellt Sascha fest und Alecs Blick schwankt zwischen Jesse und mir hin und her. „Ihr habt nicht zufällig einen, den ich mir mal leihen könnte?“, fragt er uns beide.
Ich mustere ihn irritiert. „Moment, du willst ein Foto mit einem Pferd. Und mit Stetson, so als richtiger Cowboy, ja?“, hinterfrage ich seinen Plan. Alec schenkt mir ein schiefes Grinsen.
„Mit der Dame, die mir die Haare vom Kopf gefressen hat, genau“, antwortet er und lehnt sich zurück. „Rhea heißt die, stimmt’s?“
Ich nicke langsam und scannte ihn erneut. „Also, der Stetson sollte nicht das Problem sein“, fange ich zögernd an. „Aber mit Metallica-Top siehst du jetzt nicht zwingend wie ein Cowboy aus.“
Er grinst schief, steht auf und geht zur Tür. Sascha und ich folgen ihm, während Jesse einen Stetson holt. „Ich bin ja dafür, du nimmst Rhea mit raus. Das werden bessere Fotos“, schlage ich vor und nehme mir an der Stallwand zwei Knotenhalfter mit. „Sag mal, Sascha, willst du auch ein Erinnerungsfoto? Soll ich Hyperion gleich mit ... raus … nehmen?“
Mein Blick wandert suchend an meine Seite, doch da ist Sascha schon längst nicht mehr. Überrascht stelle ich fest, dass der tatsächlich schon wieder neben Jesses Pferd steht und den Wallach zwischen den Ohren krault.
„Das ist ja wohl eindeutig ein Ja“, sage ich mehr zu mir selbst und gehe zu den beiden Pferden, um ihnen nacheinander die Halfter anzuziehen.
Währenddessen ist Jesse auch wieder bei uns und setzt Alec einen weißen Stetson auf. „Andere Farben sind gerade aus“, kommentiert er und greift nach Hyperions Halfter. „Gehen wir raus, ja?“
Rhea schnaubt und schüttelt ihren Kopf. Ich bin erleichtert, dass sie und Hyperion zum Glück nicht dreckig sind, sonst wäre das Beweisfoto für die Cowboys aufwendiger geworden. Ich bin mir nicht sicher, ob sie sich zugetraut hätten, beim Putzen zu helfen.
„Sasch, ich überlass dir den Vortritt“, meint Alec und will diesem den Stetson reichen, doch Sascha schüttelt den Kopf.
„Mir reicht ein ganz normales Foto, Al“, erwidert er und greift nach dem Führstrick von Hyperion. Der schwarze Schabrackenschecke stupst seinen neuen Freund an der Schulter an und zaubert Sascha damit ein Grinsen auf das Gesicht – falls er es in den letzten Minuten überhaupt abgelegt hat.
Jesse zückt die Kamera. „Okay, wie möchtest du das Foto denn haben, Sascha?“, fragt mein Freund und dieser krault den Hals den Pferdes. „Ach, mach einfach“, antwortet er lässig. „Wird schon gut aussehen.“
Mein Freund springt herum, schießt mindestens zehn Fotos aus verschiedenen Perspektiven und geht dann mit der Kamera zu Sascha, um ihn die Ergebnisse zu zeigen. Sascha strahlt. „Genau so, die sind doch toll.“
„Wollt ihr vielleicht noch eins zusammen?“, frage ich zögerlich. „Also, du und Alec und die beiden Pferde?“ Ich bekomme ein synchrones Nicken und drücke Alec den Führstrick von Rhea in die Hand.
„Kommt die mit, wenn ich los laufe?“, wendet sich Alec an mich und ich nicke grinsend. „Versuchs doch mal“, antworte ich und gebe der Stute einen Klaps auf das gepunktete Hinterteil.
Sobald Alec einen Schritt nach vorn macht, setzt Rhea sich in Bewegung und trottet ihm zu Sascha und Hyperion hinterher. Jesse macht wieder fleißig Fotos und ich bin überrascht, dass Rhea sich benimmt. Sie versucht nicht einmal, Alecs Frisur zu durchwühlen, sondern legt diesem nur ihren Kopf auf die Schulter. Typisch verliebte Frau, schießt mir durch den Kopf und ich muss lachen.
Ich ernte drei fragende Blicke, die ich nur mit einer abwinkenden Handbewegung beantworte. Außerdem bin ich gerade irgendwie neidisch darauf, dass Rhea sich so an Alec heranschmiegen darf, beinahe wie eine Umarmung.
„So, und jetzt mein Einzelfoto“, verkündet Alec und schickt seinen Freund und Hyperion zu mir. Ich überlege, ob ich ein Gespräch mit Sascha anfangen soll, doch der ist mit all seinen Gedanken bei dem Pferd, so dass ich es gar nicht erst versuche.
„Du hast gesagt, das Shirt passt nicht dazu.“ Alec schaut mich mit einem leicht amüsierten Blick an. „Also zum Cowboystil, ja?“
Ich nicke langsam. Was hat der denn jetzt vor? Ich habe so ein ganz komisches Gefühl…
Er nimmt den Stetson ab und legt ihn kurzerhand auf Rheas Rücken. Was wird das denn jetzt bitteschön?
„Damit er nicht dreckig wird, ist ja schließlich weiß“, kommentiert er meine Gedanken. Ah ja, okay…
Und dann zieht er ohne Vorwarnung einfach das Top aus und schmeißt es in meine Richtung. Reflexartig fange ich es auf und bin völlig verdattert. Heilige Scheiße, ich habe gerade Alecs Metallica-Shirt in den Händen!
Das Fangirl in mir brennt durch. Wie viele Frauen gibt es auf dieser Welt, die genau jetzt mit mir tauschen würden? Wie viele, die auch unbedingt mal seine Kleidung in den Händen halten wollen?
Ohne es richtig zu realisieren, halte ich mir den Stoff vor mein Gesicht und atme tief ein. Es riecht nach Alec, oh Wunder!
Nach Schweiß, nach Deo, nach Pferd, nach Mann… Die Mischung wirft mich völlig aus der Bahn. Ich stehe hier mit Alecs Shirt. Oh mein Gott!
Vorsichtig hebe ich den Blick und schlucke. Alec wirft mir ein schiefes Grinsen zu und scheint sich bewusst zu sein, dass er mich gerade völlig aus der Bahn geworfen hat. Und dabei habe ich gerade noch geglaubt, dass wir inzwischen einfach nur Kollegen sind. Musiker-Kollegen…
Das Herz eines Fans kann man wohl nicht so einfach überschreiben. Ich hebe wie paralysiert erneut meine Hände und atme den Duft ein, den das Top verströmt. Alecs Top…
„Hey!“ Sein Ausruf lässt mich erneut ausschauen und ich sauge den Anblick, der sich mir bietet, gierig auf. Alec - oben ohne, die Jeans locker auf den Hüften sitzend, Stetson auf dem Kopf – steht neben Rhea.
Meine Stute hat den Kopf über seine Schulter gestreckt und knabbert mit den Lippen an Alecs Brustbehaarung. Ein bisschen sieht es so aus, als ob sie ihm viele kleine Küsschen gibt und ich kann mir ein schallendes Lachen nicht mehr verkneifen. Typisch Frau, geht erstmal auf Tuchfühlung, meine Rhea…
Und Alec? Der ist für einen kurzen Moment irritiert, schaut dann jedoch mit seinem lässigen, und dennoch durchdringenden Blick in die Kamera. Hallelujah, was für ein Foto!
Mein Blick streift seinen nackten Oberkörper und ich sauge die Tattoos ein zweites Mal an diesem Nachmittag auf und schlucke schwer. An diesen Anblick kann man sich nicht gewöhnen. Sieht Rhea scheinbar auch so, denn sie tastet mit ihrem weichen Maul den Adler auf Alecs Brust ab.
Ich bin mir sicher, ich glühe schon wieder wie eine Tomate, doch ich verdränge den Gedanken einfach. Ich kann es ja sowieso nicht kontrollieren.
Dann reiße ich meinen Blick von Alec los und sehe Jesse an. Der grinst belustigt und zeigt einen Daumen nach oben. „Vielleicht sollte ich Fotograf werden“, überlegt er laut. „Das sieht sehr professionell aus, was ich da gerade geschossen hab.“
Rhea nimmt den Kopf hoch, als Alec ihm antwortet: „Ich will es auch sehen.“ Dann läuft er einfach auf Jesse los und Rhea trottet hinterher. Dabei fixiert sie den Stetson und ich ahne, dass sie gerade wieder zu Scherzen aufgelegt ist. Mit der wird es auch nie langweilig!
Alec beugt sich neugierig über die Digitalkamera, als Rhea ihm den Stetson vom Kopf zieht. Mit einem Ruck reißt sie Alec den Führstrick aus der Hand und stolziert mit hoch erhobenen Kopf auf mich zu.
„Rhea, was wird das denn?“, frage ich sie und greife nach dem Führstrick. Sie schüttelt ihren Kopf und lässt den Stetson fallen, den ich gerade so auffangen kann. Ich wische ihn notdürftig ab, wobei mein Blick wieder auf das Top von Alec fällt. Schluck.
Ich hebe es noch einmal vor mein Gesicht und atme tief ein. Meine Güte, wieso muss Alec eigentlich so gut riechen? Und warum führe ich mich hier immer noch wie ein Fangirl auf, obwohl wir doch eigentlich inzwischen Kollegen sein sollten?
„Sag mal, Alex“, spricht mich Sascha von hinten an. „Soll ich dir dann mein Shirt auch noch geben, wenn du Alecs weggeatmet hast?“
Ich fahre erschrocken herum. Meinen irritierten Blick kann ich nicht verbergen. Na toll, der hat mitbekommen, dass das Fangirl in mir durchdreht.
„Ähm, äh…“ Mehr bekomme ich nicht raus. Sascha grinst. „Bekomme ich eigentlich noch meine Proberaumführung?“, wechselt er elegant das Thema. Meine Gesichtsfarbe dagegen bleibt. Vorsichtig nicke ich. „Aber erst müssen Hyperion und Rhea wieder in den Stall.“
„Und wir müssen unbedingt die Fotos anschauen“, fügt Jesse hinzu, der die Digitalkamera weg packt. „Ich glaube, das Foto von Alec gebe ich heute Abend mal Dina, wenn sie wieder da ist. Mit ein bisschen schwarz-weiß oder so sieht das dann garantiert noch besser aus.“
„Wer ist denn Dina?“, fragt Alec und ich atme kurz tief durch. Jetzt zieh dir doch erstmal wieder was an, sonst sabbere ich hier wirklich noch!
Ach Mist, ich hab ja das Top. Ich habe das Top! Oh mein Gott!
„Alex?“ Sascha tippt mir auf die Schulter. „Das Top.“
Mein Blick fliegt nach oben, Alec hat die Hand nach mir ausgestreckt. Nein, Moment, nach seinem Top. Einen kurzen Augenblick lang überlegt der Fan in mir doch tatsächlich, es einfach zu behalten. Ich zwinge ihn nieder und reiche Alec in Zeitlupe sein Kleidungsstück.
„Und wer ist jetzt Dina?“, will Alec wissen, als er wieder komplett angezogen ist. Dabei sieht er mich an.
„Meine beste Freundin, Nadine“, schießt es aus mir heraus. „Sie gestaltet die Cover und das ganze Bildmaterial für die Band, studiert gerade Grafikdesign im Fernstudium und ist ein Ass in der Bildbearbeitung.“
Ich kann in Alecs Augen sehen, dass er sie unbedingt auch kennen lernen will. Die Kreativen unter sich, quasi.
Innerlich schicke ich ein Stoßgebet in den Himmel. Bitte, Dina, ich brauche dich hier! So viel Testosteron um mich herum schreit nach weiblichem Beistand!
Ich schließe Rheas Boxentür, streiche meiner Stute noch mal über die Nase und hänge die Knotenhalfter zurück an ihren Platz. Suchend drehe ich mich nach den drei Männern um, schließlich habe ich Saschas Wunsch nach einer Proberaumführung nicht vergessen.
Jesse quatscht mit Sascha, beide lehnen neben Hyperion an der Wand. Und Alec steht schon wieder von seinem zweiten vierbeinigen Liebling, wie es mir scheint: Lynn.
„Na los, sitz“, sagt er bestimmt. „Setz dich noch mal hin, bei Alex hast du das doch auch gemacht. Sitz. Sitz. Sitz doch endlich!“
Irgendwie wächst der Zweifel in seiner Stimme und ich kann mir ein Kichern nicht verkneifen. Meine Hand tastet nach Lynns Leckerli-Beutel, der mit an der Wand hängt, und zieht eine Möhre hervor, die ich mir in die Hosentasche schiebe. Mal schauen, ob meine Ponystute da mitmacht…
Ich schlendere an Alecs Seite, der so vertieft ist, Lynn zum Hinsetzen zu bewegen, dass er mich gar nicht bemerkt. Ich tippe ihm auf seiner Schulter. „Das geht ein bisschen anders“, kommentiere ich sein Vorhaben und er schaut mich irritiert an.
Mein Selbstvertrauen ist wieder da, das Fangirl in mir blendet aus, dass das hier Boss Burns ist, und tomatenrot bin ich vermutlich auch gerade nicht. Vielleicht bin ich grade doch auf der Kollegen-Ebene angekommen.
„Okay, Lynn arbeitet mit Gesten“, kläre ich ihn auf. „Da sie keine menschliche Sprache spricht, versteht sie natürlich auch nicht, was du von ihr willst. Aber Körpersprache, die beherrscht sie perfekt.“
„Soll ich mich jetzt hinsetzen, oder wie?“, fragt Alec und ich muss grinsen, während ich ein leichtes Kopfschütteln andeute.
„Das hier ist die Geste, bei der sie sich hinsetzt“, erkläre ich und mache mit meiner Hand eine Bewegung nach oben, allerdings seitlich, da ein Pferd direkt vor seinem Kopf einen toten Winkel hat. Wie andere ihrem Pferd so etwas beibringen, weiß ich nicht, aber mit Lynn kam ich auf diese Weise sehr gut zurecht.
Ich wiederhole die Geste erneut und nicke Alec dann auffordernd zu. „Und jetzt du“, fordere ich ihn auf. Er versucht es, aber seine Bewegung sieht anders aus als bei mir, so dass ich mich kurzerhand hinter ihn stelle und seinen Arm führe.
Seine Wärme kann ich durch meine Kleidung hindurch spüren und ich ringe das Fangirl in mir nieder. Hey, wir sind Kollegen, Alexandra Weidelmann, hör endlich auf, so zu denken!
„Und jetzt noch einmal alleine“, reiße ich mich aus meinen Gedanken. Alec probiert es erneut und ich nicke zufrieden. „Zeig das jetzt mal Lynn.“
Ich schiebe die Boxentür auf und Lynn schnaubt leise. Dann trete ich ein Stück zurück und schiebe Alec in den Eingang der Box. Er tauscht einen stummen Blick mit dem Pony.
Und dann die Geste. Lynn sieht mich fragend an, als ob sie von mir eine Bestätigung wollen würde, dass sie auch auf Alecs Geste reagieren darf. Dann setzt sie sich und Alec strahlt.
„Sie sitzt!“, ruft er begeistert. „Sasch, guck mal, sie sitzt! Wegen mir!“
Ich drücke Alec die Möhre in die Hand und sein Blick wechselt von Freunde zu Verwirrung. „Eigentlich stehe ich mehr auf Steak…“, gibt er langsam zu und ich höre Saschas schallendes Lachen hinter mir, das mich mitreist.
„Al, das ist doch nicht für dich, sondern für das Pferd“, erklärt sein bester Freund und Alec legt ein schiefes Grinsen auf.
„Achso“, murmelt er und streckt die flache Hand mit der Möhre nach Lynn aus, die sich das Leckerli mit den Lippen schnappt.
Während Lynn genüsslich kaut, führt Jesse uns wieder in den Proberaum und sieht mich auffordernd an. „Ich überlass dir die restliche Führung, Alex“, murmelt er leise. „Schließlich hat Sascha dich gefragt, ob du ihm den Proberaum zeigen könntest.“
„Äh, ja, klar“, stammele ich. Na fein, dann führe ich unsere Gäste mal durch das die heiligen Räumchen der Rockland Rangers.
„Gut, dann folgt mir mal. Den Gemeinschaftsraum habt ihr zwei ja jetzt lange genug gesehen“, wende ich mich an unsere beiden Gäste, die mich erwartungsvoll anschauen. Aber das hier ist ja inzwischen auch irgendwie mein Revier, hier fühle ich mich sicher.
Ich gehe voran und stehe kurz danach in unserer Küchenecke. „Ja, das ist unsere Küche“, kommentiere ich. „Reicht aber irgendwie nur für Kaffee und Nudeln mit Tomatensoße.“
Eigentlich kann man das hier kaum als Küche bezeichnen: Zwei Schränke, ein Waschbecken, zwei Herdplatten und eine Kaffeemaschine. Aber es reicht für den kleinen Snack zwischendurch.
Dann folgen die drei Männer mir schweigend in den nächsten Raum, das Band-Büro, wie Dina und ich unseren Arbeitsplatz liebevoll getauft haben. Lizzy hat ihr eigenes Büro im Haupthaus.
„Unser Büro…“ Was soll ich dazu jetzt eigentlich sagen? Ein riesiger Schreibtisch, zwei Stühle, zwei Computer und ein Telefon, dazwischen Ordner, Papier und Stifte. Eben ein normales Büro, wie es wohl tausende gibt.
„Die sind ja wirklich Fans von uns, Sasch“, bemerkt Alec und deutet auf ein Poster, das ich an die Wand geheftet habe. Dos Bros, signiert. Aus Jesses Holzkiste, denn ich habe mir nur das ganz normale Doppelalbum leisten können.
Sascha hat jedoch etwas ganz Anderes gesehen, nämlich meine Geburtstags-Autogrammkarte. „Al, das ist die gleiche Alex?“, fragt er Alec erstaunt und schaut dann zwischen Jesse und mir hin und her. „Ich weiß noch ganz genau, wie uns jemand auf die Nerven gegangen ist, dass wir dringend diese Autogrammkarte unterschreiben sollen. Und dann war bei mir auch noch der Edding leer…“
„... und du hast bei jedem Strich geflucht, den du gemacht hast“, ergänzt Alec mit einem Lächeln. „Ich hätte ja nicht gedacht, dass wie die Karte jemals wieder sehen. Alex ist ja jetzt nicht unbedingt der seltenste Name.“
„Irgendwie hab ich fast vergessen, dass ihr eigentlich Fans seid“, gibt Sascha zu. „Ist irgendwie alles so entspannt, wie unter Freunden…“
Bei der Aussage laufe ich schon wieder rot an, das weiß ich genau. Da hilft es auch nichts, dass Sascha mir sein Grinsen entgegen schmettert. „Außer, dass du ständig rot wirst“, fügt er an mich gewandt hinzu.
Ich versuche es zu überhören. Wie unter Freunden Erreichen wir hier gerade eine weitere Ebene? Keine Kollegen mehr, sondern Freunde?
Energisch schiebe ich den Gedanken beiseite, wir sind hier noch nicht fertig. Ich schaue auf und sehe, wie Alec Dinas Ausrüstung begutachtet.
Wer weiß, vielleicht gewinnt Dina hier gerade so etwas wie einen Mentor, auch wenn sie gar nichts davon bemerkt. Schließlich sind unsere beiden Gäste ja Werbegrafiker gewesen. Und Alec …
„Alex, geht die Führung noch weiter?“, reißt mich Sascha aus meinen Gedanken. Huch, ja, die Führung.
Ich verlasse das Büro und marschiere geradewegs in den letzen Raum, dem eigentlichen Proberaum, der vor Technik nur so strotzt. An einer Wand lang sind sämtliche Gitarren und Bässe aufgestellt, in der Ecke lehnt der Kontrabass von Martin. Auf der anderen Seite stehen Schlagzeug und Cajón.
Sascha stürzt sich gleich auf die Gitarrensammlung von Nino und Jesse. Gut, Sammlung ist übertrieben. Jesse hat nur drei Gitarren, eine davon steht im Gemeinschaftsraum. Bleiben nur noch seine schwarze schimmernde E-Gitarre und seine Lagerfeuergitarre, die genau das gleiche Modell wie die Bühnengitarre ist, nur eben älter.
Und zerschrammter. Und naturfarben. Und außen beklebt mit all den Songtiteln, die er spielen kann. Zumindest mit all denen, die er damals spielen konnte, denn ich bin mir ziemlich sicher, dass es inzwischen den Rahmen sprengen würde. Jesse ist süchtig danach, neue Songs in den Lagerfeuerstil überzuführen. Der spielt einfach alles.
Sascha schlägt prüfend eine Saite der Lagerfeuergitarre an und keiner hält ihn auf. Diese Gitarre hat schon so viel erlebt, da ist es Jesse egal, ob noch eine Hand mehr die Saiten zupft. Selbst ich habe mich darauf ausprobieren dürfen.
Sein Satz kommt mir wieder in den Sinn. Ich soll Gitarre lernen, hat Sascha gesagt. Ich schließe die Augen, versuche mich mit Gitarre vorzustellen und irgendwie gefällt mir das Bild. Vielleicht sollte ich Jesse oder Nino bitten, mir ein bisschen was beizubringen.
Vorsichtig öffne ich die Augen wieder, Sascha begutachtet nun die Westerngitarre von Nino, dann dessen E-Gitarre. Daneben steht nur noch der rote E-Bass von Martin, an dem er sich gerade ausprobiert. Nino und Jesse haben zumindest für sich immer mal mit Verstärker gespielt, für Martin war das bis vor ein paar Wochen Neuland.
Ganz an der Seite, im Schatten, steht das Juwel von Elyas. Und wenn Jesse schon einen Aufstand probt, weil jemand seine Bühnengitarre berührt, dann gibt es Mord und Totschlag, wenn jemand auch nur überlegt, die Gitarre zur Seite zu schieben, weil er den Raum wischen möchte. Und wenn er dabei auch nur den Ständer berührt…
Die dunkelbraune Archtop-Gitarre ist das Heiligtum unseres Drummers. Ein Erbstück seines Großvaters, handgefertigt und keiner weiß genau, wie alt die Gitarre wirklich ist.
Genau vor dieser Gitarre steht Sascha jetzt, sein Blick versprüht Bewunderung. „Wow“, entfährt ihm leise. „Die muss ein Vermögen wert sein. Und ist vermutlich schon ein halbes Jahrhundert alt.“
Das mit dem halben Jahrhundert könnte passen. Das mit dem Vermögen offenbar auch, aber für Elyas ist das mehr als nur eine Geldanlage. Für ihn ist es ein Teil seines geliebten, leider verstorbenen Großvaters. Ein Stück seiner Herkunft.
Elyas spielt liebend gern auf der Gitarre, er singt sogar dabei. Spanisch. Seine Muttersprache. Und bis auf eine Ausnahme - Talisman - spielt er nur spanische Lieder, hat selbst welche geschrieben. Für die Schublade.
Ich habe ihn nur ein paar Mal singen gehört. Rauchiger Bariton, der durch Mark und Bein geht. Und Elyas weiß das, schließlich waren die Gitarre und seine Singstimme Elyas’ Verführungsmedium Nummer eins, bis er Dina kennen gelernt hat. Ich bin auch nicht gegen sein spanisches Feuer immun, das ist keine Frau…
Mir bleibt das Herz stehen. Wie in Zeitlupe sehe ich Saschas Hand, die sich nach der Archtop-Gitarre ausstreckt. Ich mache den Mund auf, will ihn warnen, ihn aufhalten…
In diesem Moment erklingt hinter mir eine rauchige Stimme, mit feurigem Tonfall. Ein Wort, und die Welt steht still. „Stopp!“
Saschas Bewegung friert auf der Stelle ein, alle Blicke fliegen zur Tür. Im Eingang steht Elyas, sein schwarzes mittellanges Haar hängt wild in sein Gesicht, seine beinahe schwarzen Augen fixieren Sascha. Ein paar Sonnenstrahlen, die durch das Fenster fallen, schimmern auf seiner goldenen Haut.
Wie ein Krieger, unverwundbar, steht er im Türrahmen. Und wahnsinnig sexy. Seine Präsenz überflutet den Raum, bringt alle zum Schweigen. Verbrennt die Luft zum Atmen.
Ich glaube, sogar Sascha und Alec sind zutiefst beeindruckt von diesem jungen Mann, der die Zeit angehalten hat.
Seine vollen Lippen öffnen sich und er sagt nur vier Worte, von denen ein einziges seine Wirkung verfehlt: „FASS. SIE. NICHT. AN.“
Ich löse mich zuerst aus der Starre, mein Blick fliegt zwischen Sascha und Elyas hin und her. Dann gehe ich zwei Schritte auf meinen Kumpel zu und lege ihm eine Hand auf den goldenen Arm.
„El, ich schwöre, er hat sie nicht angefasst“, murmele ich. „Und wenn er es versucht hätte, ich hätte ihn aufgehalten.“
Seine Augen blitzen, dann werden seine Gesichtszüge weicher. Das Feuer in seinen Augen bleibt, doch ohne dieses wäre das auch nicht Elyas.
„Elyas, das sind Alec und Sascha von The BossHoss.“ Meine Stimme ist nun wieder normal laut und selbstbewusst, als ich unsere Gäste vorstelle.
Dann schaue ich die Cowboys an. Saschas Hand liegt wieder locker an seiner Seite, ein Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht aus. Auch Alec hat sich wieder gefangen, bringt ein schiefes Lächeln zustande.
„Alec, Sascha – das ist Elyas alias El Cajón, unser Drummer.“ Ich schiebe den gutaussehenden Mann in den Raum und dann auf die beiden Musiker zu.
„Freut mich, euch kennen zu lernen“, sagt Elyas und strahlt. „Ich habe schon so viel von euch gehört, aber das ist wohl so, wenn man mit zwei verrückten Troopern unter einem Dach lebt, die ohne ihre Lieblingsband nicht einmal frühstücken können.“
Ich bin entsetzt über seine Wortwahl. Er stellt uns ja beinahe fanatisch vor und dabei hatte ich gerade vergessen, dass da ein Fangirl in mir schlummert. Freunde, Alex, Freunde. Das hat Sascha doch gesagt. Beruhige dich.
Saschas Blick schweift zu mir, synchron mit Alecs. Dann ein synchrones belustigtes Grinsen, welches mich ansteckt. „Ich hab euch ja gesagt, ich liebe eure Musik“, entgegne ich. Etwas Klügeres fällt mir nicht ein.
„Aleeexxxx!“
Ich drehe mich um und sehe, wie meine beste Freundin auf mich zu fliegt. Sie wirft sich in meine Arme und wenn ich es nicht genau wüsste, könnte man meinen, wir hätten uns Wochen nicht gesehen.
„Dina, dich schickt der Himmel!“, rufe ich erfreut. Irritiert löst sie sich ein wenig von mir und legt den Kopf schief. „Wieso das? Sind deine Cowboys doch nicht so…“
„Nein, nein!“, unterbreche ich sie. „Alec und Sascha sind großartig, nicht nur als Musiker, sondern auch als Mensch, aber bei so viel Testosteron im Raum schreit die Luft nach Östrogen.“
Ich habe mich so in Rage geredet, dass ich völlig vergessen habe, dass wir Gäste haben. Bis Sascha sich räuspert. „Danke für die Blumen“, sagt er und ich kann das Grinsen heraus hören.
Dina löst sich nun komplett aus der Umarmung und dreht sich um. Ich nutze die Gelegenheit und stelle auch sie vor. „Alec, Sascha – das ist Dina, eigentlich Nadine, meine beste Freundin und die beste Grafikerin der Rockland Rangers“, erkläre ich und wende mich dann an meine beste Freundin. „Alec und Sascha muss ich dir wohl nicht vorstellen, oder?“
Dina lacht. „Manchmal komme ich mir selbst vor wie ein Fan“, gesteht sie kichernd. „Ich kenne eure Songs und Videos und sämtliche Posts und Pressemeldungen über The BossHoss - dank Alex.“
Alec lacht. „Trotzdem würde ich uns gerne noch mal vorstellen“, wirft er ein und streckt seine Hand nach ihr aus. „Alec.“ Dann deutet er auf seinen besten Freund, der immer noch sprachlos ist. „Und das ist Sascha.“
Dina grinst und ich flüstere ihr ins Ohr: „Er hat schon gefragt, wer du bist. Deine Ausrüstung im Büro fand er offenbar spannend.“
Offensichtlich war ich nicht leise genug, denn Alec zuckt mit den Schultern. „Ich würde dir zu gerne mal über die Schulter schauen“, gibt er zu. „Außerdem sollst du ein Foto von mir bearbeiten.“
„Ein Foto? Von dir?“ Dina ist überrascht, schaut mich an, dann Jesse.
„Ein Foto mit Rhea“, füge ich hinzu und schaue zu Jesse. „Hast du mal die Kamera? Wir sollten uns die Bilder dringend mal anschauen.“
Jesse holt die Kamera und bringt gleich noch ein Tablet mit, während Dina und ich mit Hockern einen Stuhlkreis stellen. „Setzt euch“, fordert sie die Runde auf. „Und dann zeigt mal das Foto her.“
Mein Freund läd die Fotos auf das Tablet, welches er dann die Runde herum reicht. Unser Schnappschuss im Gemeinschaftsraum ist klasse und sieht so aus, als ob wir eine Menge Spaß haben würden. Haben wir ja auch.
Auch die Einzelfotos von Sascha und die mit beiden Frontmännern zusammen sehen gut aus. Vielleicht sollte Jesse tatsächlich öfter fotografieren.
Ich wische noch einmal über das Display und dann habe ich Alec vor Augen. Seine Daumen sind lässig am Gürtel eingehakt, der Führstrick von Rhea baumelt locker aus seiner rechten Hand.
Dann wandert mein Blick höher. Rhea tastet seine Tattoos ab und sieht aus, als ob sie ihn verführen will. Ich muss schwer schlucken.
Und als ob es nicht genug wäre, ihn in einer so lässigen Pose oben ohne zu sehen, fällt mein Blick dann auf sein Gesicht. Halleluja!
Ich habe Mühe, nicht vom Stuhl zu fallen. Sein Blick ist streng, unnahbar und gleichzeitig so sexy. Er ist ein Gott von einem Mann, ein Sexgott. In meinem Kopf beginnt sich das Bild zu bewegen, Rhea tastet weiter seine Brust ab, während er seine Hüften kreisen lässt…
„Alex? Huhu, Alex? Erde an Alex?“, reißt mich Dina aus meinem Kopfkino. Ich sehe sie verdutzt an.
„Schluck den Sabber runter“, fordert sie mich auf und gehorsam schlucke ich schwer. Ein amüsiertes Lachen dringt an mein Ohr. Mein Blick schnellt nach oben.
Alec betrachtet mich mit einem süffisanten Grinsen. „Du wirst ja schon wieder rot, Mäuschen“, kommentiert er. „Noch mehr als irgendwann vorher.“
Ich will empört einwerfen, dass ‚Mäuschen’ der falsche Kosename für mich ist, als er das Spiel fortsetzt und die Zunge betont langsam über seine Lippen gleiten lässt. Täuscht das, oder sind seine schönen Augen ein kleines bisschen dunkler geworden?
Aus seiner Stimme klingt gespielte Unschuld, als er mich fixiert. „Sag bloß, ich mache dich an?“
Mein Blick huscht zu Jesse, dessen Miene eine Mischung aus Belustigung und Empörung ist. Kurz bin ich unsicher. Ich lasse mich hier gerade ernsthaft von einem Mann angraben, der doppelt so alt ist wie ich?
Und trotzdem habe ich Gefallen an diesem Spiel. Und ich will seine Grenzen kennen lernen.
Die Belustigung bei Jesse überwiegt. Er weiß also, dass Alec sich nur einen Scherz erlaubt. Und ich bin undankbar erleichtert, dass er mich trotzdem schwärmen lässt. Dass er mir vertraut, weil er weiß, dass ich immer an seiner Seite sein werde.
Weil ich ihn liebe, mit jeder Zelle meines Körpers.
Dann schaue ich Dina an, deren Blick nun auch auf Alec gerichtet ist. Sascha, der neben ihm sitzt, grinst uns an.
„Casanova“, betitelt meine beste Freundin den tätowierten Mann ihr gegenüber. Alec nimmt das als Kompliment und tauscht einen Blick mit Elyas, der vor Eifersucht schäumt.
„Elyas, ja?“, fragt er ihn mit tiefer Stimme und Dinas Freund nickt langsam. „Du siehst aus, als ob dich gut bewegen kannst…“
„Was willst du, Großstadtcowboy?“, pfeffert Elyas zurück. „Willst du etwa wissen, wer die Hüften besser kreisen lassen kann? Ich sehe es in deinen Augen. Aber ja, ich bin dabei. Kleines heißes Tanzduell für die Ladys gefällig?“
Alecs Augen blitzen interessiert auf. „Du traust dich? Gegen mich?“, fragt er mit skeptischen Blick und Elyas nickt langsam, seine Augen sprühen Funken.
„Jess, hau mal Musik rein“, fordert er meinen Freund auf, der mit den Schultern zuckt. Seinen Blick lässt er fest auf Alec gerichtet.
„Und welche?“, fragt Jesse zurück.
„Darf ich was vorschlagen?“, wirft Sascha ein und irgendwie sind wir alle irritiert, dass er tatsächlich noch da ist. Und spricht.
„Das wäre?“ Dina. Saschas Augen blitzen, während er Alec und Elyas betrachtet.
„Wie wäre es mit einem Song von uns? Für die eineinhalb Fangirls“, schlägt er vor. Ich tausche mit Dina einen tiefen Blick. Himmel, die wollen echt grade beide für uns eine heiße Show abziehen? Müssen sich Männer eigentlich immer mit dem einen messen?
„Sex on legs“, dringen Saschas Worte zu mir durch und Alec lacht dreckig. „Na, dann kannst du einpacken, El Cajón“, meint er selbstbewusst. „Ich mach das seit Jahren auf der Bühne.“
„Und ich bin zur Hälfte Spanier, Boss Burns“, schießt Elyas zurück. „Gegen mein Feuer ist auch keine immun.“
Ich beiße mir auf die Lippen. Da hat er recht, ich selbst habe mich mehr als einmal an ihm verbrannt. Komischerweise schießt mir ausgerechnet jetzt sein Kuss von damals in Erinnerung. Hallelujah!
Ein Kuss, der mich von meinem eigentlichen Schwarm kuriert hat, mich in Flammen gestellt hat. Okay, Jesses Küsse sind noch leidenschaftlicher, aber das liegt vermutlich daran, dass ich ihn liebe und Elyas…
Dina steht auf und schiebt die Hocker nach hinten, damit Alec und Elyas Platz haben, während Jesse sich an der Musikanlage zu schaffen macht.
„Let’s go, guys!“, grinst er und zwinkert unserem Drummer zu. „Und El, mach uns keine Schande.“
Elyas lächelt uns selbstbewusst an, dann bleibt sein Blick an Dina hängen. „Nur für dich“, formen seine Lippen stumm und Dina rückt nervös auf ihrem Hocker herum.
Die ersten Töne des Songs füllen den Raum aus. Jesse hat auch noch ausgerechnet die Live-Version ausgegraben!
Alec grinst immer noch dreckig und herausfordernd Elyas an, der seinen arrogantesten Blick aufgelegt hat. Männer!
Zum Glück ist Jesse nicht so ein Aufreißer. Obwohl, bei Elyas fand ich damals während unserer Affäre ja genau diese Seite von ihm so spannend. Dieses wilde Feuer, mit dem er alle Damen mit einem Mal umgelegt hat…
Alec beginnt langsam sein Top auszuziehen, zum dritten Mal an diesem Nachmittag. Meine Güte, rennt der eigentlich sonst auch ständig nackt rum!?
Trotzdem sauge ich mit gierigen Blicken seine tätowierte Brust auf, als hätte ich sie noch nie gesehen. Jedes einzelne Brusthaar brennt sich in meine Gedanken, jeder Schatten des Adlers ebenso.
Seine Hüften kreisen im Rhythmus des Songs, er geht ein Stück in die Knie. Dann zieht er das Tank Top endgültig über den Kopf und schwingt es wie ein Lasso. Ich weiß nicht, wo ich zuerst hinschauen soll.
Die Hüften, auf denen so lässig die Jeans sitzen?
Die Gürtelschnalle, die hin und her wippt?
Die nackte, tätowierte Brust?
Der Blick, der mir das Blut in den Adern gleichzeitig gefrieren und kochen lässt?
Unsicher schwenkt mein Blick zu Jesse, aber der feiert die Show der beiden Männer und feuert diese feixend an.
Blick zu anderen Seite: Dina. Gierige Blicke. Sie zieht Elyas in Gedanken wohl noch schneller und noch weiter aus.
Der lässt übrigens ebenfalls seine Hüften kreisen und kostet es voll aus, dass er ein weißes Hemd mit vielen Knöpfen trägt, die er ganz langsam nacheinander öffnet. Ganz langsam kommt seine goldene Haut zum Vorschein.
Inzwischen ist das Hemd vollständig geöffnet. Elyas nimmt beide Arme nach oben, dreht sich einmal. An seiner linken Hüfte blitzt der Ansatz eines Tribal-Tattoos auf. Jugendsünde, wie er es nennt. Ich dagegen finde dieses schon immer heiß.
Alec lässt sein Top los, so dass dieses auf Sascha zufliegt, der es mit einem Grinsen auffängt und seinen besten Freund weiter anfeuert. Dann nimmt Alec die Hände über den Kopf, senkt den Blick und tanzt zum Refrain quer durch den Raum. Sein Haar hängt ihm wild ins Gesicht, die Augen funkeln beinahe schwarz.
Ähnlich wie die von Elyas, der ganz langsam das Hemd nach hinten fallen lässt und sich tanzend auf Dina zuschiebt. Das pechschwarze, glänzende Haar wirbelt um seinen Kopf herum. Seine Hüften sind ähnlich gut beweglich wie die von Alec, trotzdem könnten ihre Tanzstile unterschiedlicher nicht sein.
Nur worin dieser Unterschied besteht, bleibt mir ein Rätsel. Es sieht eben einfach anders aus, aber beides hat auf mich die gleiche betörende Wirkung. Bin eben auch nur eine Frau…
Ich schaffe es, für einen winzigen Augenblick meinen Blick von den beiden Männern wegzureißen und schaue Dina an, welcher der Speichel förmlich im Mund zusammenläuft. Ob die ihren Freund in Gedanken schon komplett entkleidet hat? Ihr Blick lässt es mich vermuten…
Dann werde ich aus meinen Gedanken gerissen, eine Hand legt sich unter mein Kinn und zieht meinen Kopf wieder nach vorn. Ich schlucke schwer und starre Alec genau auf die Gürtelschnalle. Heilige Scheiße!
Alec lässt mein Kinn los, fängt stattdessen eine meiner Haarsträhnen ein und spielt mit dieser. Ich kann meinen Blick nicht von seinen Hüften nehmen, die vor mir kreisen.
Wenn ich nicht genau wüsste, dass es ein Scherz von ihm ist, ein simples Duell zwischen ihm und Elyas – ich würde vermutlich wirklich glauben, dass er gerade komplett in den Verführungsmodus geschaltet hat.
In seinem Blick sehe ich einen Hauch Belustigung und die Bestätigung dafür, dass ich hier immer noch oder schon wieder tomatenrot bin. Er lässt die Strähne los, dreht mir den Rücken zu, so dass ich seine wohlgeformte Kehrseite betrachten kann. Halleluja, seine Jeans betonen wirklich genau die richtigen Stellen…
Reiß dich zusammen, Alex! Wehe, du sabberst hier! Wenn du das tust, kannst du dem nie wieder unter die Augen treten!
Ich schlucke langsam. Also, mich hat er jetzt definitiv auf seiner Seite…
Bevor ich den Gedanken zu Ende denken kann, schiebt sich Elyas in mein Blickfeld und tänzelt lässig vor mir herum. Plötzlich sehe ich wieder das Bild von meinem Abiball in Gedanken, er und ich beim Tangotanzen, weil Jesse das nicht konnte. Und Dina auch nicht.
Sein dunkler, verhangener Blick fixiert mich, während er die Hände hinter den Kopf nimmt. Verbrenn dich nicht, Alex. Seine Worte kommen mir wieder in den Sinn.
Ich kann nicht vermeiden, dass ich auch bei ihm schwer schlucken muss. Auf seiner makellose, goldene Haut glitzern winzige Schweißtröpfchen, in denen sich das Licht spiegelt. Was für ein Anblick!
Dann verklingt der letzte Ton den Songs. Rücken an Rücken bleiben Alec und Elyas stehen, leicht in den Knien, Arme über dem Kopf, Blick gesenkt. Dina und ich spenden Applaus, Jesse und Sascha ebenfalls.
Als ob man einen Schalter umgelegt hätte, erwachen der Sänger und der Drummer aus ihren Posen und fallen sich freundschaftlich in die Arme, als würden sie sich schon jahrelang kennen. Dabei waren sie gerade eben doch noch verbitterte Konkurrenten.
„Nicht schlecht, El Cajón, bin beeindruckt“, gibt Alec grinsend zu. „Dafür, dass du sonst nur hinter dem Schlagzeug und auf dem Cajón hockst, kannst du dich echt gut bewegen.“
„Tja, Boss Burns, ich habe eben spanisches Feuer“, erwidert Elyas lachend. „Aber danke für das Kompliment. Das Duell war hart, aber fair. Und hat Spaß gemacht, gegen dich anzutreten. Irgendwer musste ja Alex mal beweisen, dass es noch mehr heiße Kerle mit heißen Hips gibt als dich.“
Ich!? Was hab ich denn jetzt bitteschön damit zu tun!? Es ging doch eigentlich mal um Dina und Elyas' schäumende Eifersucht!?
Beide fangen meinen verwirrten Blick ein. Alec grinst schief, Elyas lacht aus vollem Hals. „Bitte wie oft musste ich mir von dir anhören, wie unglaublich heiß sich genau dieser Mann neben mir auf der Bühne bewegen kann? Vor allem nach dem Konzert, da waren die Beschreibungen noch viel ausführlicher.“
Meine rote Gesichtsfarbe erreicht rekordverdächtige Ausmaße. Verflucht, warum muss Elyas eigentlich immer so verdammt schonungslos ehrlich sein und kann nicht einmal ein Blatt vor den Mund nehmen!? Wir haben schließlich Gäste!!!
„Sieh es mal so, Alex“, schaltet sich Sascha grinsend ein. „Wenn du ihn auf der Bühne anschmachtest, hat er doch absolut alles richtig gemacht. Da musst du dich nicht für schämen. Es gibt hunderte von Ladys, denen es genauso wie dir geht. Abgesehen davon sind schmachtende Blicke für uns beide ein wunderschönes Kompliment.“
Jetzt weiß ich wirklich nicht mehr, was ich dazu sagen kann. Mein Blick huscht zu Dina, aber die ist beschäftigt, Elyas das Hemd wieder anzuziehen.
Ach ja, ausziehen. Da war ja auch noch was mit meinem Autogramm-Top. Wie auf Kommando spüre ich auch jetzt den Textil-Marker in der Hosentasche, der von meiner Körperwärme bestimmt schon durchgekocht wurde.
Ohne groß darüber nachzudenken, knöpfe ich mir langsam die Bluse auf. Dass dies vielleicht angesichts der Tatsache, dass mich vier Männer dabei genau beobachten, etwas seltsam erscheinen könnte, kommt mir nicht in den Sinn.
„Alex?“ Dina.
„Was genau wird das jetzt?“ Jesse.
Ich habe keinen blassen Schimmer, wo das Problem liegt. Ich will doch nur mein Top zeigen und Alec um das fehlende Autogramm bitten. Da kann man sich doch einfach mal die Bluse aufknöpfen.
„Brauchst du auch Musik?“ Sascha.
Hä? Was will ich denn jetzt mit Musik? Und warum eigentlich auch? Der Stift schreibt doch auch ohne…
„An der Performance für den Striptease musst du aber noch arbeiten.“ Alec, feixend.
Moment, was!? Wieso denn Striptease!?
Ich halte einen Moment inne, dabei habe ich gerade mal einen Knopf geöffnet. Die sind aber auch so fummelig klein!
Mein überraschter Blick trifft auf belustigte Mienen, nur Jesse und Dina schauen mich irritiert an, als ob ich nicht mehr alle Tassen im Schrank hätte. „Was ist denn mit euch los?“, frage ich verwundert in die Runde.
„Naja, du ziehst dich aus. Vor uns Männern“, fängt Elyas langsam an. „Willst du uns jetzt auch heiß machen?“
„Was?“
Dann lasse ich seine Worte sacken und einen Augenblick später sitze ich kerzengerade auf meinem Hocker. „Nein!!!“, protestiere ich. „Wie kommt ihr darauf!? Ich wollte doch nur…“
Hastig fummele ich zwei weitere Knöpfe auf und der Rand des Tops kommt zum Vorschein. Eine Mischung aus erleichtertem Ausatmen und enttäuschten Seufzern schlägt mir entgegen. Männer! Denken auch immer nur an das Eine!
Nach und nach löse ich die Knöpfe und dann endlich ist die Bluse auf, so dass meine Autogramme für alle sichtbar sind. „Oh, nice“, kommentiert Sascha mit einem Grinsen. „Kann mich gerade noch sehr gut daran erinnern…“
„Ey, und wo ist meins?“, unterbricht ihn Alec irritiert. „Hoss, Frank, Hank, Guss, Russ und Ernesto– alle drauf. Aber wo bitte ist meine?“
„Deshalb hab ich das Top ja an“, erkläre ich. Fragende Blicke von Alec. „Naja, du warst so schnell weg beim Soundcheck“, füge ich hinzu. „Und nach dem Konzert hab ich nicht mehr daran gedacht. Da war ich zu durcheinander, weil du mir ja so einfach das Miko vor die Nase halten musstest!“
Alec zieht die Augenbrauen hoch. „Trotzdem, da fehlt mein Autogramm.“ Er verschränkt beleidigt die Arme vor der Brust. „The BossHoss ohne den Boss. Alex, das geht ja mal gar nicht!“
„Weiß ich doch, deshalb ja…“ Ich gebe meine Erklärungsversuche auf, ziehe den Textil-Marker aus der Hosentasche und werfe ihn Alec zu, der diesen mit erstaunlicher Präzision einhändig fängt. Und auch noch mit links. Wow.
„Dann schreib dich mal schnell noch dazu“, fordere ich ihn auf. „Rechte Brustseite vielleicht? Neben Hoss?“
Alec grinst und läuft auf mich zu. Erst jetzt realisiere ich, dass er ja immer noch oben ohne ist. Hoppla. Wie auf Kommando werde ich rot. Falls ich überhaupt schon wieder normal gefärbt war…
Mit gespielter Lässigkeit hockt er sich vor mich hin und unterschreibt über dem Boss von The BossHoss. „So, viel besser“, kommentiert er mit einem Grinsen. „Vielleicht noch eins auf die Haut? Kann dir meinen Tätowierer empfehlen…“
Mist, er hat mich erwischt, wie ich ihm schon wieder auf die Brust starre. Man, dieser Adler sollte mal weg fliegen, damit ich nicht immer wieder dort hin schauen muss. Andererseits wäre es dann nicht mehr Alec, so ohne Tattoos.
Er lächelt belustigt. „Ich glaube, bei unserem Auftritt beim Hörerkonzert muss ich brav angezogen bleiben, sonst entfällt dir bestimmt der Text“, überlegt er mit einem schiefen Grinsen. „Aber danach… Wer weiß…“
Ich nehme zögernd den Stift zurück, als Sascha meine Aufmerksamkeit fordert. „Sag mal, Elyas“, wendet er sich an den Halbspanier. „Jetzt, wo du dich so gut mit meiner besseren Hälfte verstehst, hab ich da noch mal eine Frage. Wegen der Gitarre…“
Sofort setzt Elyas wieder seinen Fass-sie-nicht-an-Blick auf und Sascha hebt beschwichtigend die Hände. „Nein, nein, nein! Ich fass sie nicht an. Will ich auch gar nicht. Aber…“, erklärt er bestimmt. „… könntest du sie nicht mal spielen? Ich will sie nur einmal hören, dieses Schmuckstück.“
Die Betitelung ‚Schmuckstück’ gefällt Elyas offenbar, denn seine Miene wird weich. Liebevoll schaut er die Gitarre an.
„Was soll ich denn spielen?“, fragt er zögernd. „Ich spiele sonst nur spanische Songs, alleine und nur für mich. Zumindest inzwischen…“
„Und früher?“, will Alec wissen. „Für wen hast du da gespielt?“
Elyas’ Augen nehmen ein Glühen an. „Immer für die Frau, die ich haben wollte“, gibt er zu, die Arroganz klingt in seiner Stimme mit. „Gitarre ist ein wunderbares Instrument, um Frauen zu verführen…“
Ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Ja, genau so hat er mich damals auch gekriegt. Mit der Gitarre. Und Dina… Naja, sie irgendwie nicht. Sie war ihm schon vom ersten Blick an verfallen.
„Und was ist mit Talisman?“, schlägt Dina vor. Jesse und Elyas schauen sie gleichermaßen kopfschüttelnd an. „Nein, das ist euer Song, den spielen wir nicht“, erklärt Jesse selbstbewusst. „Der ist nur für eure Ohren.“
„Aber der bleibt doch auch unser Song, wenn ihr ihn spielen würdet“, wende ich ein. „Der ist so gut, mit so vielen Emotionen geschrieben. Der gehört auf die Bühne.“
„Und wenn ihr jedes Mal erwähnt, dass das der Song für uns ist“, meint Dina. „Wir finden das okay. Los, Jungs, spielt den.“
Elyas und Jesse tauschen einen Blick, wortlose Kommunikation. „Aber wenn er dann für euch den Wert verliert“, gibt mein Freund schließlich zu bedenken. „Das geht doch nicht…“
„Und überhaupt, der passt doch auch gar nicht zu den Rockland Rangers“, ergänzt Elyas hastig. „Nein, das geht nicht.“
Dina und ich tauschen einen ebenso tiefen Blick und wir wissen genau, was wir antworten wollen. Synchron holen wir Luft. „Aber wir wollen, dass ihr den spielt“, sagen wir wie aus einem Munde. „Wir wollen, dass Talisman gehört wird.“
Jesse seufzt. Elyas zuckt mit den Schultern. „Gegen den Wunsch meiner Lady bin ich machtlos“, erklärt unser Drummer. „Jess, da müssen wir durch.“
„Sieht so aus“, sagt mein Freund und holt aus dem Gemeinschaftsraum seine Epiphone, während Elyas sich mit der Gitarre auf einen Hocker setzt und diese stimmt.
„Und kannst du dir endlich wieder was anziehen?“, wende ich mich an Alec, der immer noch oben ohne neben mir steht. „Ich dachte, du wärst vergeben. Deine Frau fände das bestimmt nicht so toll, dass du dich hier immerzu nackt präsentierst.“
Alec schaut mich mit hochgezogenen Augenbrauchen an, Sascha feixt. „Nackt präsentierst!“, lacht er aus vollen Hals. „Na dann, Al, Hosen runter!“
Alec grinst mich schief an und tut doch dann tatsächlich so, als würde er den Gürtel öffnen wollen. „Bitte nicht“, entfährt es mir entsetzt. „Ich kann dir sonst nie wieder unter die Augen treten, nicht mal von der ersten Reihe aus!“
„Oh weh, das wäre wirklich schade“, sagt Alec und fängt sein Top auf, das Sascha ihm zuwirft. „Auf einen Fan wie dich würde ich nur ungern verzichten wollen. Außerdem haben wir ja noch einen Auftritt beim Hörerkonzert. Gemeinsam.“
Mit einer eleganten Bewegung zieht Alec sich das Top über und wendet seine Aufmerksamkeit dann Jesse zu, der inzwischen wieder im Raum ist und neben Elyas auf einem Hocker sitzend seine Epiphone stimmt.
„Und ihr seid euch wirklich sicher, dass ihr Talisman freigebt?“, fragt Elyas noch einmal nach. Dina und ich nicken synchron. „Sind wir“, bestätigen wir gleichzeitig. „Nun macht schon, Jungs.“
Sie sehen sich kurz an und nicken einander zu. Dann beginnen sie zu spielen. Ihre Gitarren klingen herrlich zusammen, noch schöner, als auf der Aufnahme.
Und ihre Stimmen erst. Elyas’ Spanisch, dazu Jesses amerikanisches Englisch. Mal im Wechsel, mal zusammen.
Ich bin wie verzaubert und stelle fest, dass ich den Song nur auf der Aufnahme gehört habe. Noch nie haben uns die Jungs ihn live gespielt. Ein Jammer!
Und ein Jammer, dass man Elyas so selten singen hört. So eine schöne Stimme. Sie klingen einfach perfekt im Duett. Unvergleichlich.
Ich versinke in den Zeilen, in den Gitarrenklängen, achte nicht mehr auf den Text. Egal, wer jetzt was von mir will, ich bekomme gar nichts mit von der Umgebung. Ich bin eins mit der Musik, wiege meine Körper sanft im Rhythmus hin und her.
Ich kann die Liebe in diesem Song spüren, den Beschützerinstinkt der beiden Cowboys. Der Song stammt aus einer Zeit, in der uns so viele Kilometer getrennt haben, dass wir uns nur unregelmäßig sehen konnten. Und trotzdem waren sie da, dank diesem Song. Dinas und meinem Song.
Mit geschlossenen Augen verschwinde ich in einer Traumwelt, die die Musik für mich erschafft. Jesse, seine leuchtenden braunen Augen, neben Elyas…
Bis mich die letzte Zeile aufsehen lässt. Sie ist nicht halb Spanisch, halb Englisch wie auf der Aufnahme, sondern Deutsch. „Und wo immer du auch bist – denk an mich, ich bin dein Talisman.“
„Was für ein Klang!“, freut sich Sascha, dessen Augen Elyas’ alte Gitarre fixieren und dabei glänzen. „Das geht bis tief ins Herz, so schön klingt die.“
„Und was für ein Song“, bemerkt Alec und streicht sich über die Arme. „Spielt ihr den beim Hörerkonzert? Und nehmt ihr den mit auf euer nächstes Album?“
Jesse schüttelt den Kopf. „Das hier war einmalig“, erklärt er lächelnd. „Der ist nur für Alex und Dina.“
Meine Arme überziehen eine dicke Gänsehaut und ich weiß instinktiv, dass es allen anderen hier auch so geht. Eigentlich ein Jammer, dass Jesse und Elyas den Song nie auf einer Bühne spielen wollen.
„Von mir aus könnt ihr ihn spielen“, werfe ich kurzerhand ein. „Der ist zu schön, um in der Schublade zu vergammeln.“
„Vergammeln?“ Elyas funkelt mich böse an. „Den habt ihr auf CD gebrannt bekommen, da vergammelt er doch hoffentlich nicht.“
„Nur, dass er da nicht ansatzweise so schön klingt“, meint Dina langsam. „Der klingt zwar toll, aber live ist das doch noch etwas anderes. Und wenn man den noch mal neu aufnimmt, für das nächste Album… Irgendwie würde ich mir das grade wünschen…“
Alec und Sascha tauschen wortlos einen Blick und nicken dann beide. Die können offenbar echt voneinander Gedanken lesen. Wie Dina und ich.
„Irgendwie müsstest du ja jetzt El Guitar heißen“, überlegt Alec und sieht Elyas an. Dieser lacht leise.
„Woher habt ihr eigentlich eure Bühnennamen?“, will Sascha wissen. Hatten wir das Thema nicht schon mal? Kommt mir gerade so bekannt vor. „Ranger, El Cajón… So richtig zusammen passt das ja nicht. Bei uns reimt sich halt alles. Naja, bis auf Ernesto.“
Jesse zuckt mit den Schultern. „Den Ranger haben mir meine Jungs schon in Kindertagen verpasst. Zu viel Fernsehen geschaut. Der Schuh des Manitu. Und weil ich damals mit Josh ein Pferd hatte, was dem Pferd aus dem Film ähnlich sah… Da wurde ich eben kurzerhand Ranger“, berichtet er grinsend. „Hat mich nie gestört, der Spitzname. Und inzwischen ist es nur noch der Künstlername.“
Elyas’ Gesicht bekommt einen leichten Rotschimmer. Oh ha, ich habe ihn glaube noch nie rot werden sehen. Das ist Premiere!
„Aber El hier, der hatte auch mal so einen Spitznamen…“, fängt Jesse an und gibt seinem besten Kumpel einen Stups. „Los, erzähl schon.“
„Ich hatte mal eine Phase, da wollte ich mir unbedingt lange Haare wachsen lassen…“ In Elyas’ Stimme steckt Zögern. Noch etwas Neues an ihm. Ich bin schlagartig wahnsinnig neugierig, denn diese Geschichte kenne ich auch noch nicht.
„Tja, irgendwann waren sie hüftlang und glänzend schwarz“, ergänzt der Drummer und ich fange eine grinsenden Blick von Sascha auf, der Richtung Alec nickt. Ach ja, der hatte auch mal lange Haare…
„Nun ja, ich fand mich klasse“, gesteht Elyas. „Bis ich zum ersten Mal verliebt war. Da war ich dreizehn oder so und sie auch…“
Alec zieht eine Augenbraue hoch, hängt gebannt an seinen Lippen. Sascha ebenso. Auch ich kann mir die Neugierde im Blick nicht verkneifen. Nur Jesse und Dina scheinen die Geschichte schon zu kennen.
„Los, weiter“, fordert Jesse ihn auf. „So schlimm war es doch gar nicht.“
Elyas senkt den Blick. Egal, was da war, es ist ihm offenbar megapeinlich. Immer noch, obwohl er ja inzwischen fast ein Jahrzehnt älter ist.
„Sie hat mich mit Jesse gesehen und sie wusste, dass ich gerade dabei war, mir von ihm das Reiten beibringen zu lassen.“
Aber daran ist doch nichts peinlich? Elyas ist doch inzwischen ein Ass im Sattel. Wo ist denn sein Problem?
„Sie verglich mich wegen meiner Haare mit einem Indianer und dann nannte sie mich Winnetouch“, gesteht Elyas leise. „Ihr könnt mir glauben, nach dem Korb war ich so schnell es nur irgendwie ging beim Frisör…“
„Winnetouch? Das ist ja gemein!“, erklärt Alec bestimmt. „Wenn es wenigstens Winnetou gewesen wäre, hätte ich es verstanden und als Kompliment betrachtet. Aber Winnetouch, das geht ja mal gar nicht!“
„Hast du ihr Herz mit kürzeren Haaren wenigstens noch erobern können?“, fragt Sascha vorsichtig nach. Elyas schüttelte den Kopf. „Nein, aber den Spitznamen, den bin ich eine Ewigkeit nicht mehr losgeworden!“
„Und woher kommt jetzt El Cajón?“, will Alec wissen. „Du spielst ja schließlich auch Gitarre und Schlagzeug und nennst dich ja nicht jedes Mal um.“
„Das geht auf meine Kappe. Oder besser auf die der Technik“, erklärt Jesse. „Ich wollte ihn auf der Bühne vorstellen. Das war übrigens sogar das Konzert, bei dem wir unsere beiden Ladys zum ersten Mal gesehen haben.“ Er deutet mit einem Kopfnicken auf Dina und mich, während er grinst.
„Ich hab ins Mikrophon gesagt: Und Elyas am Cajón“, berichtet er weiterhin. „Da gab es einen lauten, schrillen Ton mitten drin und alles, was beim Publikum ankam, war El ... Cajón.“
Sascha grinst. „Mensch, kreativ seid ihr ja irgendwie schon, was das betrifft“, erwidert er. „Und die anderen Bandmitglieder?“
„Die haben ihre normalen Spitznamen. Nur Nino, unser Gitarrist, wird manchmal scherzhafterweise Ninja genannt, weil er sich so gut anschleichen kann“, beantworte ich seine Frage. „Und die Lady Alex stammt von Jesse.“
„Nachdem sie Rodeo Queen abgelehnt hat“, wirft dieser hinterher. Alec tauscht mit Sascha einen weiteren Blick. „Rodeo Queen? Das ist doch unser Song“, kommt es von ihnen im Chor.
Jesse und ich nicken gleichzeitig. „Ist es. Jesse hat ihn damals für mich gespielt beim Konzert, weil ich ein T-Shirt mit einem buckelnden Pferd getragen habe“, erkläre ich. „Monate später haben wir uns genau mit diesem Song wieder gefunden, am Lagerfeuer.“
„Was unsere Musik doch alles so bewirken kann, Sasch, die bringt sogar Musikerherzen zusammen. Und Liebespärchen“, staunt Alec. „Wir sind hier echt bei Fans, auch wenn man das hier so schnell vergessen kann. Ihr seid alle so wahnsinnig nett und …“
In diesem Moment fliegt die Tür auf und die restliche Band-WG stürmt ins Zimmer: Nino, Martin, Cindy, Sarah und Sam. „Die sind ja wirklich da!“, ruft Nino begeistert, als er Alec und Sascha erblickt. „Wie cool ist das denn!?“
„Wo kommt ihr denn plötzlich her?“, fragt Elyas verwirrt und Nino legt gleich mit der Erklärung los: „Das Auto ist verkauft, hab ich super verhandelt, und deshalb sind der Martin und die Cindy und ich jetzt schon wieder da. Ich kann mir doch ernsthaft entgehen lassen, dass wir Boss Burns und Hoss Power im Proberaum haben!“
Sascha grinst, während er den Wasserfall-Text von Nino über sich ergehen lässt. „Also erstmal sind wir hier privat, das ist unser Urlaubstag quasi“, wirft er ein. „Also lass mal den Boss Burns und den Hoss Power stecken. Das ist Alec und ich bin Sascha.“
Er schafft es kaum, Luft zu holen, als Nino gleich wieder anfängt mit Reden. „Sagt mal, sind denn überhaupt die Grüße angekommen?“, fragt er aufgeregt. Waren Jesse und ich vorhin eigentlich auch so, als wir die Cowboys begrüßt haben? Normalerweise ist Nino doch nicht so ein Hardcore-Fan…
„Grüße?“, fragt Alec irritiert, während Sascha zeitgleich „Ach, du bist das. Ja, sind sie“ antwortet.
Die beiden tauschen einen weiteren stummen Blick und ich nutze die Stille im Proberaum, um selbst etwas zu sagen. „Naja, bei Sascha sind sie angekommen. Auch bei allen anderen Bandmitgliedern, nur Alec war zu schnell weg. Deshalb musste er das Autogramm auf meinem Top vorhin erst noch nachtragen“, kläre ich Nino auf. Seine Mimik zeigt mir, dass er mir den fehlenden Gruß sofort verziehen hat.
„Und warum seid ihr beide nicht auf Jonathans Geburtstag?“, klinkt sich Jesse ein und schaut Sam vorwurfsvoll an. „Du kannst doch nicht einfach den Geburtstag deines Bruders schwänzen!“
„Ach, Jo, ja…“, antwortet Sam. „Der hat mitbekommen, dass wir die Frontmänner von The BossHoss im Proberaum sitzen haben und dann…“ Er legt eine Kunstpause ein, alle schauen ihn gespannt an.
„Da hat er dann folgendes gesagt“, fährt Sam fort und versucht, den Tonfall seines Bruders zu imitieren. „Ich habe erst morgen richtig Geburtstag und außerdem ist der jedes Jahr. Dass Boss und Hoss bei euch sind, ist garantiert einmalig, also scher deinen Arsch dort hin. Und wehe, du kommst zurück, ohne das hier signiert haben zu lassen.“ Er zieht aus der Jackentasche das Album - Dos Bros - hervor und gibt es an Alec weiter.
Alec lacht. „Dein Bruder ist mir jetzt schon sympathisch“, meint er und nimmt die CD entgegen. „Können wir trotzdem eine kleine Vorstellungsrunde haben? Ich bin Alec, das neben mir ist Sascha und wer genau seid ihr jetzt alle?“
Die übrigen Rockland Rangers stellen sich und ihre Begleitungen vor. Nino kommt erst ganz zum Schluss zu Wort.
„Und deine Freundin?“, fragt Sascha, nachdem er fertig mit Reden ist. Nino zieht einen Flunsch. Autsch, Fettnäpfchen, Sascha!
„Ich habe keine“, gesteht Nino leise und sein Gesicht zeigt deutlich, wie unglücklich er damit ist. „Ich bin der einzige Mann in der WG, der diese ganzen Turtelein ertragen muss, weil er der einzige Single in der Band ist…“
Oh man, Nino braucht echt mal wieder eine Freundin. Vielleicht diesmal eine, die auch treu ist. Mit den untreuen hat er schon genug Erfahrungen…
„Eigentlich wäre es doch jetzt mal Zeit für unser Gastgeschenk“, schlägt Alec vor, um Nino abzulenken. „Setzen wir uns wieder auf das Sofa? Das ist irgendwie bequemer als die Hocker hier.“
Mit einem Mal kommt Bewegung in den Raum, alle gehen Alec hinterher und zu meinem Erstaunen passen wir mühelos auf das Sofa. Naja, so viel Platz nehmen die beiden Cowboys nun auch nicht weg.
Ich lasse mich einfach fallen und lande prompt zwischen den beiden Männern, die mich von beiden Seiten aus angrinsen. „Wenn dir kalt wird, sag Bescheid, wir wärmen dich auch“, erklärt Alec feixend und schlägt mit Sascha vor meiner Nase ein.
„Ähm…. ja… klar… mach ich“, stottere ich zurück und hoffe, dass ich nicht schon wieder rot bin. Sascha scheint meine Gedanken lesen zu können. „Al, guck mal, sie wird ja gar nicht mehr rot“, stellt er fest und ich bin am meisten verblüfft über diese Tatsache. „Ich glaube, jetzt kommt in ihrem Kopf langsam durch, dass wir Freundschaft schließen können.“
„Und darauf sollten wir anstoßen“, ergänzt Alec und reicht Sascha und mir ein Bier. Den Rest gibt er an Jesse und Martin weiter.
Vor meinen Augen führen die beiden Herren ihre Flaschen zusammen und stoßen gegenseitig die Kronkorken ab. Keine Ahnung, wie so etwas geht, aber die zwei freuen sich wie kleine Kinder darüber und schlagen direkt noch mal ein, bevor sie anstoßen.
„Warte mal, ich mach das.“ Alec nimmt mir die Flasche wieder aus der Hand und bevor ich sehen kann, womit er sie öffnet, ist der Kronkorken auch schon ab und ich halte das Bier wieder in meinen Händen.
Bier. Na toll, wieso eigentlich ausgerechnet Bier?
Ich muss ehrlich gestehen, dass es dank Lizzys strenger Führung in der Band kaum Alkohol gibt, nur zu ganz besonderen Tagen. Okay, das hier ist ein ganz besonderer Tag, aber ich mag trotzdem kein Bier.
Vorsichtig schiele ich nach rechts und nach links. Sascha und Alec stoßen hinter meinem Kopf miteinander an, bevor sie einen Schluck abtrinken.
„Auf gute Freundschaft ohne rotes Gesicht“, verkündet Alec mit einem schiefen Grinsen und lässt seine Flasche an meiner klirren. Sascha stimmt mit ein und stößt ebenfalls mit mir an. „Und darauf, dass du bald Gitarre lernst.“
Wieso ist es ihm eigentlich so ein großes Anliegen, dass ich Gitarre lerne? Davon hat Sascha doch gar nichts…
Ich trinke einen Schluck ab und bin positiv überrascht. Fan von Bier werde ich sicher nicht, aber das hier ist … erträglich. Na gut, weil es die besten Musiker der Welt sind, die das Bier ausgegeben haben, da mache ich heute eben eine Ausnahme. Man trinkt schließlich nicht jeden Tag mit Alec oder Sascha BossHoss-Beer.
Überall klirren Flaschen aneinander und alle stoßen auf diesen Tag an. Einen Achterbahnfahrt-Tag im wahrsten Sinne des Wortes. Aber ich will mir die Details nicht in Erinnerung rufen, solange ich Alec und Sascha noch neben mir habe. Diesen Moment muss ich einfach aufsaugen, jetzt.
„Auf die Zusammenarbeit zwischen The BossHoss und Rockland Rangers!“, ruft Jesse und wir schaffen es, alle gemeinsam anzustoßen, ohne dass etwas verschüttet wird.
Genau in diesem Klirren geht die Tür auf und Lizzy steht im Raum. Sascha reicht ihr die letzte Flasche Bier, natürlich gleich geöffnet. „Lizzy Maxwell, schön, dass Sie auch hier sind“, begrüßt er sie strahlend.
„Hallo, Sascha. Hallo, Alec. Willkommen auf der Rockland Ranch“, nickt sie den beiden Männern neben mir zu und setzt sich auf das Sofa. „Sagt mal, habt ihr eigentlich ein Taxi bestellt?“
Sie schauen sich irritiert an, im Proberaum wird es still. Dann schütteln sie synchron den Kopf. „Nö, der Sasch fährt“, sagt Alec lässig und trinkt noch einen Schluck.
Lizzy zieht eine Augenbraue hoch: „Von euch beiden fährt heute gar keiner mehr.“ Ihre Stimme hat einen scharfen Ton angenommen und ihre mütterlich-strenge Art hätte lächerlich wirken müssen, weil sie genauso alt ist wie unsere Gäste, aber das tut es nicht.
Die beiden Cowboys verschlucken sich fast an ihrem Bier, als sie sich irritiert anschauen. „Ihr habt beide was getrunken, ihr setzt euch nicht mehr ans Steuer heute“, fügt Lizzy hinzu. Bei Alkohol, egal was in welcher Menge, ist sie gnadenlos.
„Eiserne Regel der Rockland Ranch.“ Das Augenzwinkern entschärft ihre Worte jedoch keineswegs.
„Moment mal, Lizzy Maxwell, das geht doch gar nicht“, wirft Sascha ein. „Wir können hier nicht übernachten, unsere Familien und die Band warten in Berlin auf uns.“
„Dann ruft an und sagt Bescheid, dass ihr erst morgen Mittag wieder in Berlin seid“, erwidert Lizzy und trinkt einen Schluck. „Außerdem, seht es doch mal so: Wenn ihr jetzt fahrt, seid ihr in den frühen Morgenstunden wieder zu Hause, legt euch ins Bett und schlaft bis Mittag, bevor ihr wieder einsatzbereit seid. So bleibt ihr eine Nacht hier, fahrt nach dem Frühstück und seid genauso mittags wieder einsatzbereit in Berlin.“
„Da ist was dran“, bestätigt Sam und nickt. „Also bleibt einfach hier. Zumal Martin, Nino und ich euch noch gar nicht richtig kennen lernen konnten.“
„Aber wo sollen wir denn schlafen, Lizzy Maxwell?“, fragt Alec nach und erntet ein zehnfaches Lachen. Irritiert schaut er in die Runde.
„Wir sind eine Gästeranch, Alec. Und lass doch endlich mal das Maxwell weg. Und wenn du schon dabei bist, auch das Sie“, meint Lizzy und grinst. „Ich bin ganz einfach nur Lizzy, dafür dass ich euch ja schon eine Weile kenne. Wozu dieser übertriebene Respekt?“
„Du KENNST die?“, fragte ich verwirrt nach. „So richtig kennen, ja?“ Warum hat sie nie etwas davon erzählt, dass sie meine Lieblingsband kennt? Also so richtig kennt, und nicht nur wie ich bis gestern.
„Ja, klar“, gibt unsere Managerin lässig zurück. „Du weiß doch, dass ihr nicht die erste Band seid, die ich manage. Das ist meine Welt, da komme ich her. Und da kenne ich auch eine Menge Leute, unter anderem auch Alec und Sascha und den Rest von The BossHoss.“ Sie nickt den beiden Cowboys zu.
„Nur weil ich zwischendurch für ein paar kleine regionale Partybands unterwegs war, heißt das nicht, dass ich mit euch nicht wieder nach oben will“, ergänzt sie, als wäre es das Normalste der Welt, eine Band an die Spitze zu bringen. „Ich hab ja nur gewartet, dass die Rockland Rangers Erfolg haben wollen, seid ich euch das erste Mal zusammen Happy Birthday üben gehört habe.“
Sie hat schon all die Jahre gehofft, dass Jesse und seine Jungs mal den Durchbruch schaffen? Irre!
Obwohl ich schon länger weiß, dass das hier auch Lizzys Traum ist, den wir verwirklichen wollen, überrascht es mich trotzdem, dass sie das so offen zugibt. Sie glaubt wirklich an uns. Und sie kämpft für uns, beinahe schon wie eine Löwin. Ich muss grinsen bei diesem Gedanken.
Lizzy eine Löwin, ja das passt ganz gut.
„Ehrgeizig wie eh und je, die Lizzy“, sagt Alec und schmunzelt. Ja, ehrgeizig ist sie. Momentan vor allem, was uns betrifft…
„Und wo genau sollen wir da jetzt schlafen?“, hakt Sascha noch mal nach und wechselt wieder das Thema.
„Könnt ihr euch sogar aussuchen“, erwidert Jesses Tante. „Entweder im Haupthaus in den offiziellen Gästezimmern oder drüben bei der Band-WG im Haus, die haben auch ein Gästezimmer.“ Damit deutet sie mit dem Kopf auf uns. „Freie Wahl sozusagen.“
Wie auf das Stichwort lehnen sich beide etwas vor, um an mir vorbei einen Blick auszutauschen. Synchron schauen sie schließlich wieder Lizzy an. „Wenn es niemanden stört, ziehen wir über Nacht zur WG.“
Ach du Scheiße, Alec und Sascha bei uns im Haus!?
Geht das nicht etwas zu schnell mit der Freundschaft, schließlich sind das Promis und wir nicht mal im Ansatz…?
„Geht klar“, meint Jesse. „Oder Jungs und Mädels?“ Wir nicken zustimmend, ich fühle mich dabei wie fremd gesteuert. The BossHoss bei uns in der WG, zumindest ihre Sänger. Oh mein Gott…
„Aber ich hab gar keine Zahnbürste dabei!“, ruft Alec aus. Das Ganze wirkt so komisch, dass wir alle losprusten. „Was denn?“, brummt er beleidigt. „Zahnhygiene ist wichtig, habt ihr das etwas nicht gelernt?“
„Keine Angst, wir sind auf unvorbereitete Gäste auch vorbereitet“, antwortet Lizzy. „Ihr seid nicht die ersten Besucher, die plötzlich doch über Nacht bleiben. Neue, verpackte Zahnbürsten und Zahncreme sind auf Vorrat, sogar im Gästezimmer der Band.“
„Vermutlich auch nur, weil sie niemanden vom Hof lässt, der ein Bier getrunken hat“, murmelt Alec und außer mir kann das nur Jesse hören, der auf seiner anderen Seite sitzt und ihn anfunkelt. Ich weiß genau, dass mein Freund an die Geschichte denkt, warum Lizzy so gegen Alkohol am Steuer ist.
Sie hatte früher einen Kumpel, ihren besten Freund, mit dem sie von Konzert zu Konzert gezogen ist, hat sie mal erzählt. Damals sah sie es noch nicht so streng und ein Bier am Steuer war für sie noch völlig in Ordnung.
Bis zu einem Konzert, an welchem der Kumpel fuhr. Sie hat uns tatsächlich nie seinen Namen genannt. Es gab einen Unfall, er war nur indirekt daran schuld, bekam dafür aber die härteste Strafe: Querschnittslähmung.
Den Fahrer des anderen Wagens hatte es deutlich weniger getroffen, aber er klagte trotzdem auf Schmerzensgeld und nur weil Lizzys Freund gerade mal einen Becher Bier getrunken hatte und der andere Fahrer nicht, bekam dieser recht und wurde von jeder Schuld freigesprochen. Lizzy selbst kam mit ein paar gebrochenen Gliedmaßen und einem Schleudertrauma davon.
Einige Wochen später, so hat sie es uns mal mit traurigem Blick erzählt, hat es ihr Kumpel geschafft, sein Leben zu beenden. Er konnte mit der Schuld nicht mehr leben, an diesem Unfall allein die Schuld zu tragen.
Und Lizzy hat in seinem Namen geschworen, besser auf ihre Mitmenschen zu achten, besonders was Alkohol am Steuer anging.
Wenn Alec und Sascha das wüssten, hätten sie vermutlich nicht diskutiert, ob sie wirklich bleiben müssen, denke ich traurig, als plötzlich ein Stoß in meine Rippen mich wieder in den Gemeinschaftsraum zurück bringt.
„Sorry, war keine Absicht“, entschuldigt sich Sascha schnell. „Hat hoffentlich nicht gar zu sehr wehgetan?“ Ich schüttele den Kopf und versuche, den Faden des Gesprächs wieder aufzunehmen.
„Seht ihr, Zahnbürsten sind auch da. Könnt also ruhig hier bleiben“, meint Nino grinsend. Oh, immer noch bei der Zahnhygiene?
„Aber was ist mit Duschbad?“, hakt Sascha nach. „Also duschen würde ich schon gerne…“
„Bekommst du von uns“, antwortet Nino rasch und schlingt seine Arme um seine Sitznachbarn Martin und Sam. „Kannst dir sogar eine Sorte aussuchen.“
Ich unterdrücke mir ein Lachen und drehe den Kopf leicht nach rechts und nach links. Sie grinsen, gut so.
„Und Haarshampoo?“, fragt Alec. „Habt ihr auch welches für uns?“
Nein, natürlich nicht. Meine Bandkollegen waschen nie die Haare, liegt mir mit sarkastischem Unterton auf der Zunge, aber ich verkneife es mir.
Die Jungs nicken. „Sucht euch aus, wessen Shampoo ihr wollt“, antwortet Sam. „Die Mädels mögen immer das von Elyas am meisten, weil es so schöne weiche Haare … Au!“
Sam reibt sich über das Schienbein. Elyas, der ihm schräg gegenüber sitzt hat scheinbar gut getroffen.
„Man, nimm’s doch mal als Kompliment!“, knurrt Sam zurück und bricht dann in ein Lachen aus. Elyas zieht eine Augenbraue nach oben.
„Schaffen wir es denn überhaupt alle unter die Dusche? Bei so vielen Menschen müssen wir ja anstehen…“, gibt Sascha zu bedenken.
Jesse schmunzelt. „Ach quatsch, wir haben zwei Badezimmer – die Herren unter sich und die Damen unter sich. Und das Gästezimmer hat sogar ein eigenes Badezimmer. Muss man ja ausnutzen, dass das Häuschen früher mal eine Jugendherberge war.“
Sascha und Alec, besonders Alec, wirken erleichtert. Ich vermute, dass jetzt alles geklärt ist, als Alec sich mit einem Ruck gerade hinsetzt. Zum Glück ist meine Flasche halb leer, sonst hätte ich jetzt etwas verschüttet.
„Ich habe kein Haargel dabei“, wirft er mit ernstem Gesichtsausdruck ein, als wäre das die Vorstufe des Weltuntergangs. Jetzt kann ich meinen Lachanfall auch nicht mehr zurück halten.
„Dann sehen wir euch zwei mal ohne, hat auch was“, gebe ich meinen Senf dazu. „Wollte sowieso mal wissen, wie ihr ohne das Zeug ausseht!“
„Vergiss es, Alex“, protestiert Alec. „Ohne Haargel gehe ich bestimmt nicht aus dem Zimmer.“
„Der ist ja eitel!“, meldet sich Cindy zu Wort, die sonst nur schweigend dem Gespräch gefolgt ist. „Hätte ich gar nicht von ihm gedacht.“ Gleich darauf fängt sie einen bösen Blick von Sascha ein. Die halten zusammen wie Pech und Schwefel, oha…
„Ich brauch auch Haargel“, erklärt Sascha bestimmt und verschränkt die Arme. „Wir können also nicht bleiben, wenn wir kein Haargeld dabei haben. Geht einfach nicht.“
Lizzy lacht. „Das ist leider kein annehmbarer Grund, meine Herren“, kommentiert sie gelassen. „Ihr bleibt, meinetwegen auch ohne Haargel.“
„Wenn du mir was übrig lässt, kannst was von mir haben, Alec“, bietet Nino an und fährt sich über seine blonden Haare, die mit Gel nach hinten gelegt sind. „Gilt für dich auch, Sascha.“
Die beiden Cowboys sehen sichtlich erleichtert aus. „Alec, rufst du mal eben in Berlin an und sagst, dass wir erst morgen Mittag wieder da sind?“, wendet sich der Riese neben mir an seinen besten Freund.
Alec schüttelt den Kopf. „Hab doch das Handy nicht dabei, weil es dich immer stört, dass ich es so wenig zur Seite lege“, gibt er zurück.
Sascha grinst und hält ihn sein Handy hin. „Du rufst deine Familie an und dann nehme ich es und kümmere mich um meine Familie. Und mal schauen, wen ich von der Band noch erreiche. Ist ja nichts Großes geplant für morgen.“
Alec steht auf und geht mit dem Handy in den Proberaum, um ungestört telefonieren zu können. Die Lücke, die neben mir entsteht, irgendwie komisch.
Da fehlt auf einmal ein Mitglied in dieser Runde und ich hoffe, dass Alecs Gespräch nicht ganz so lange dauert. Irgendwie sind unsere Gäste hier schon ein fester Teil in der Runde geworden, in so wenigen Stunden.
Schließlich kommt Alec zurück und lässt sich auf das Sofa fallen und ich bin heilfroh, dass er keine Kette an der Hose trägt, wie manchmal im Fernsehen. Die hätte ich nämlich jetzt voll abgekommen und das wäre bestimmt schmerzhaft gewesen…
Stattdessen steht Sascha auf, nimmt das Handy und geht ebenfalls in den Proberaum. Die große Lücke macht sich sofort bemerkbar.
„Und, wen erreicht?“, fragt Jesse nach, um das Gespräch wieder in Gang zu bringen. Alec trinkt einen weiteren großen Schluck aus seinem Bier.
„Jap, hab ich“, gibt er zurück. „Übrigens fand meine Frau es sehr gut, dass Lizzy uns nicht hat fahren lassen. Ich soll ihr herzliche Grüße ausrichten.“
„Vielen Dank und viele Grüße zurück“, sagt Lizzy und lächelt. „Sie ist mir jetzt schon sympathisch, dabei kenne ich sie gar nicht.“
In diesem Moment kommt Sascha zurück, in seiner Hand liegt Jesses Lagerfeuergitarre. Was hat der denn vor? Musikalische Runde?
Er setzt sich wieder an meiner Seite. „Übrigens, schöne Grüße von Ansgar. Der ist neidisch, dass er euch noch nicht kennen lernen darf“, richtet er aus. „Meine Frau hab ich auch erreicht, also können wir getrost über Nacht bleiben.“
„Also falls ihr noch mal zu Besuch kommen wollt, ihr seid herzlich willkommen“, lädt Lizzy die beiden Cowboys ein. „Gerne auch mit der ganzen Band, wir haben genug Gästezimmer.“
„Mal schauen“, meint Sascha und stimmt die Gitarre. „Was sind das eigentlich alles für Songs, die du hier drauf geklebt hast, Jesse? Hab sogar ein paar von uns dabei gefunden…“
„Och, mein Repertoire halt. Irgendwann war das Holz alle, deshalb sind es nicht alle Songs, die ich spielen kann“, gibt dieser zur Antwort und lacht. „Ist manchmal praktisch, wenn jemand am Lagerfeuer Probleme hat, einen Wunsch zu äußern.“
Sascha nickt langsam und stimmt die letzte Saite. Dann legt er mir die Gitarre auf den Schoß und ich schaue ihn verwirrt an.
„Na, du wolltest doch Gitarre lernen“, meint Sascha schmunzelnd. „Wenn wir schon über Nacht bleiben, kannst du ja auch gleich damit anfangen.“
Äh, was? Ich? Gitarre? Jetzt!?
„Na los, so ein schlechter Lehrer bin ich nicht“, fordert er mich auf. „Außerdem bin ich gespannt, wie leicht oder schwer es dir fällt.“
Mein Blick huscht zwischen Jesse und der Gitarre hin und her, doch mein Freund nickt nur. „Mach mal, Alex“, ermuntert er mich. „Und falls du morgen weiter üben willst, Nino, Elyas und ich stehen dir ja als Lehrer zur Verfügung.“
Vorsichtig schaue ich Sascha an. Ich soll jetzt Gitarre lernen? Von Sascha? Von Hoss Power? Von meinem ungeschlagenen Lieblingsgitarristen? Ernsthaft?
„Pass auf, Gitarre auf das rechte Bein und wir fangen mal mit E-Moll an“, meint Sascha und kramt etwas aus der Hosentasche. Ein Plektrum. Wieso hat der denn ein Plektrum dabei?
„Das hältst du so. Wie fest oder wie locker musst du selber ein bisschen probieren“, sagt er und drückt es mir in die rechte Hand. „Genau so. Ach ja, hast ja schon mal Abschläge gespielt“, erinnert er sich.
Ich erinnere mich daran, wie das mit den Abschlägen ging, und ziehe das Plektrum einmal über die Saiten. Sascha strahlt.
„Ja, genau so“, freut er sich. „Und jetzt E-Moll. Mittelfinger hier hoch auf die A-Saite in den zweiten Bund und den Ringfinger darunter auf die D-Saite.“
Zum Glück deutet er jeweils auf die entsprechende Saite, denn sonst hätte ich keine Ahnung, welche wie heißt.
Vorsichtig setze ich meine Finger auf die Saiten und drücke zu. „Locker, Alex, du bist doch kein Schraubstock“, kommentiert Sascha. „Kraft nimmst du aus dem Arm.“
„Wie jetzt?“, frage ich verwirrt nach und lasse wieder locker. „Stell dir vor, du ziehst eine Schublade auf“, gibt Sascha zur Antwort. „Genauso ziehst du deine Finger zu dir. Da brauchst du auch den Daumen nicht so extrem an den Hals zu drücken.“
Ich probiere es aus und schaue prüfend zu Sascha, der sich freut. „Genau so. Ich wusste, du hast Talent dafür“, grinst er mich an. „Und jetzt schlag mal alle Saiten an.“
Ganz langsam ziehe ich das Plektrum über alle Saiten. Drei davon klingen sogar, der Rest schnurrt eigenartig. „Irgendwas mache ich ja trotzdem falsch“, meine ich und schaue betrübt auf den Gitarrenhals.
„Ja, machst du“, antwortet Sascha. Na toll, ist ja nicht motivierend. „Setz mal die Finger steiler auf, nur die Fingerkuppen, damit du die Saiten unten drunter nicht abdrückst.“
Ich versuche, das alles umzusetzen und schlage noch mal an. Diesmal klingt es tatsächlich wie… Naja, wie eine Gitarre eben so klingt.
„Ich kann’s!“, rufe ich beigeistert und stelle überrascht fest, dass mir hier gerade alle schweigend auf die Finger gucken. Auch noch Publikum, und gleich so viele…
„Finger runter, lockern und dann gleich noch mal. Und wenn du das kannst, ohne ewig die Finger zu sortierten, zeig ich dir E-Dur, damit es nicht so traurig wird“, sagt Sascha und greift nach seiner Bierflasche.
Damit es nicht so traurig wird.
Mir kommt urplötzlich Dinas Spruch mit den Taschentüchern in den Sinn und ich fange ihren Blick auf. Sie denkt genau das Gleiche und lacht.
Dann übe ich ein bisschen vor mich hin. Finger drauf, Saiten anschlagen, Finger runter. Und wieder von vorn. Ein paar Mal höre ich noch das scheppernde Geräusch, dann habe ich den Dreh raus. Macht irgendwie Spaß, auch wenn der eine Akkord ganz schon langweilig ist…
„So, und jetzt den Zeigefinger in den ersten Bund auf die G-Saite“, klinkt sich Sascha wieder ein und ich schaue ihn fragend an. „Und welche ist das jetzt?“
„Die darunter. Also die vierte von oben und die dritte von unten“, meint er grinsend. „Und in den ersten Bund, diesmal.“
„So?“ Ich setze meinen Finger mit drauf und Sascha nickt. Dann schlage ich die Saite an. Klingt doch irgendwie fast genauso.
„Neue Aufgabe: Finger hoch, Finger runter und den Unterschied hören“, meint er. „Und wenn das klappt, dann alle Finger runter und abwechselnd beide Akkorde wieder greifen. Du machst das schon.“
Irgendwie gefällt mir die Sache ja schon. Gitarrenunterricht von Sascha persönlich. Und mein Ehrgeiz kommt auch wieder zum Vorschein.
Außerdem ist da tatsächlich ein Unterschied zu hören zwischen den beiden Akkorden. Vielleicht habe ich ja doch ein verborgenes Talent dafür.
„Einen Akkord zeige ich dir noch, dann hast du schon mal drei Stück zum Üben: A-Moll“, meint er grinsend. „Das Ganze vom E-Dur setzt du jetzt jeweils eine Saite nach unten. Genau, sehr gut. Damit kennst du drei Akkorde, die kannst du erstmal üben, bis du das automatisch kannst. Am besten noch ohne hinschauen zu müssen. Den Rest zeigt dir deine Band.“
„Danke, Sascha“, sage ich strahlend und schlage den neuen Akkord an. Die Saiten pressen sich in meine Fingerkuppen. So langsam habe ich das Gefühl, die schneiden sich gleich ein. „Es macht total Spaß, nur meine Finger tun irgendwie weh.“
„Vollkommen normal, du hast noch keine Hornhaut“, gibt Sascha zurück. „Das gibt sich aber recht schnell, wenn du weiter machst.“
Ich wechsele noch ein paar Mal die Akkorde hin und her und reiche die Gitarre dann an Jesse. „Ich übe morgen weiter, versprochen?“, schaue ich ihn bittend an. „Dann ist der Schmerz vielleicht weg.“
Mein Freund nickt. „Ich sehe deinen Ehrgeiz, meine liebe Alex.“ Jesse zwinkert mir zu. „Und immerhin, du spielst schon beinahe eine Dreiviertelstunde.“
Was? Ernsthaft!? Ich drehe mich um und starre auf die Uhr an der Wand. Wahnsinn, so spät schon? Wird das hier eine Nachtparty?
„Ich bin dann mal schlafen“, verabschiedet sich Lizzy und trinkt aus. „Danke für das Bier. Wir sehen uns morgen noch mal, kurz bevor ihr fahrt, ja?“
Dann steht sie auf und geht. Und gleich darauf schließen sich auch Cindy und Sarah an, die morgen arbeiten müssen, wie sie erklären.
„Also ich bin auch weg“, meint Martin. „Ich lass meine Freundin doch nicht alleine schlafen.“ Sam nickt zustimmend und schließlich sitzen nur noch Martin, Elyas, Dina, Jesse und ich mit den Cowboys auf dem Sofa.
„Dann erzählt doch mal, wie ist es so in Berlin?“, eröffnet Nino die Gesprächsrunde. „Ich war ja da noch nie, aber ich würde gerne mal hin…“
Unsere Gäste erzählen vor ihrem Berlin, ihrem Studio und kramen für uns sogar ein paar alte Bandgeschichten aus. Ich merke gar nicht, wie schnell die Zeit vorbei geht.
Je länger wir plaudern, desto mehr habe ich das Gefühl, dass irgendwie auch etwas Großes im Busch ist. Immer wieder fallen mir die eigenartigen Blicke zwischen Alec und Sascha auf. Die planen etwas, garantiert… Nur was?
„Also, ich für meinen Teil gehe jetzt auch schlafen“, erklärt Elyas und stellt seine Flasche auf den Tisch. „Ich habe zwar morgen frei, aber ich will ja das Frühstück nicht verpassen.“
„Wann ist denn überhaupt Frühstück?“, hakt Alec nach. „Passen wir überhaupt alle an einen Tisch?“
„Halb neun“, antwortet Dina. „Und so viel Platz nehmt ihr ja wohl nicht weg. Wir können durchaus auch mal bisschen enger zusammen rücken. Werdet uns schon nicht die Brötchen vom Teller klauen…“
„Sicher?“ Sascha zieht eine Augenbraue hoch und grinst. „Ihr kennt uns nur noch nicht. Beim Essen kennen wir keine Gnade, was Al?“
„Dann gehe ich auch besser ins Bett, damit ich morgen eine halbe Stunde früher beim Bäcker bin und ein paar Brötchen mehr kaufen kann“, wirft Nino lachend ein und steht auf. „Ihr könnt mitkommen oder noch bleiben, mir egal.“
„Na schön, dann machen wir uns wohl besser alle langsam auf in die WG“, fügt sich Jesse der Mehrheit. „Alex?“
Ich stehe auf und lege meinen Arm um seine Schulter. „Meinst du, wir müssen echt Angst um das Frühstück haben?“, flüstere ich ihm ins Ohr und Jesse lacht.
„Mir futtert niemand die Bötchen weg!“, erklärt er schmunzelnd und legt seinen Arm um meine Hüfte.
„Werte Gäste, wir zeigen euch mal das Zimmer“, wendet sich Jesse an Alec und Sascha. „Im Proberaum bleibt ihr definitiv nicht alleine, schon gar nicht Sascha. Du würdest sonst sofort die Möglichkeit ergreifen, die alte Gitarre zu spielen. Ich hab dich durchschaut.“ Dazu macht er eine Geste, um Sascha zu zeigen, dass er unter Beobachtung steht.
„Erwischt…“, gibt dieser gespielt geknirscht zurück und zieht Alec vom Sofa hoch. „Los, Al, gucken wir mal, wie die Band so wohnt.“
Der Mond scheint hell über den Hof, so dass wir uns das Licht sparen können. Mir entgeht nicht, wie Alec ganz kurz noch einen sehnsüchtigen Blick auf das Auto wirft, welches sie heute nicht mehr bis nach Berlin bringen wird.
Ein bisschen kann ich ihn verstehen. Seine Frau, seine Kinder, die Band….
„Hereinspaziert, aber bitte leise“, öffnet Nino dann freudestrahlend die Tür der ehemaligen Jugendherberge. „Sarah hat einen leichten Schlaf. Und wenn sie aufwacht, wacht Sam auf. Und wenn der vor dem Klingeln des Weckers wach wird, dann Gnade euch Gott!“
„Ah ja“, gibt Alec zur Antwort und kann sich ein Gähnen doch nicht unterdrücken. Verständlich, schließlich ist es bereits Mitternacht.
„Hier hinten ist die Küche, da gibt’s morgen halb neun Frühstück“, meint Jesse und deutet auf eine geschlossene Tür. „Rest des Hauses zeige ich euch vielleicht morgen im Tageslicht, wenn es euch brennend interessiert.“
Dann zieht er mich zur Treppe. Die Cowboys folgen uns auf Zehenspitzen, wie ich feststellen muss, als ich kurz nach hinten schaue. Es sieht aber auch einfach zu komisch aus, wenn ein Riese wie Sascha auf Zehenspitzen geht.
Schließlich sind wir im ersten Stock und Nino verabschiedet sich von uns. Jesse, Dina, Elyas und ich teilen uns das zweite Stockwerk, indem sich auch das Gästezimmer befindet.
Ach je, dann schlafen wir ja quasi Tür an Tür mit den Promis… Wie soll ich da ein Auge zumachen können?
„Da sind noch ein paar Wände dazwischen“, raunt mir Dina zu. „Vielleicht kannst du bei dem Gedanken besser schlafen.“
„Und trotzdem unter einem Dach, ich fass es nicht“, erwidere ich genauso leise.
Jesse sieht mich schräg an. „Was tuschelt ihr denn da?“
Rasch schütteln wir die Köpfe. „Nichts, nichts“, antworten wir synchron und stehen nun endlich im zweiten Stockwerk.
„Das hier ist der Bereich für Gäste“, sagt Jesse und öffnet eine der Türen. „Hinten links ist das Bad. Da sind auch sämtliche Duschbäder und Shampoos sowie eine Tube Haargel. Bedankt euch bei Martin, der hat euch das Zimmer hergerichtet.“
„Dankeschön.“ Alec legt eine Hand an den Türdrücker und grinst schief. „Na los, Sasch. Wie in alten Zeiten…“
„Wir sehen uns beim Frühstück“, fügt Sascha noch an uns gewandt hinzu. „Halb neun, alles klar.“
Einige Minuten später liege ich frisch geduscht neben Jesse. „Was hältst du nun von denen?“, fragt er mich leise. „Jetzt, wo du die Helden deines MP3-Players kennen gelernt hast?“
„Wieso die Helden? Dafür fehlen ja noch fünf…“, gebe ich zu Bedenken. „Aber so… Sie sind in Ordnung. Ich mag sie, auch wenn ich nicht verstehe, warum sie so ein Interesse an unserer Band haben. Und warum Sascha unbedingt will, dass ich Gitarre spielen lerne..“
„Ich mag die beiden Herren auch. Eigentlich schade, dass die morgen wieder fahren und wir sie erst zum Hörerkonzert wieder sehen werden“, meint er. „Ich hatte das Gefühl, wir passen musikalisch ganz gut zusammen…“
„Eine Wellenlänge, genau“, bestätige ich. „Das Gefühl hatte ich auch. Und Leuchtturm zusammen war ja auch so … wow.“
Jesse grinst an meiner Wange. „Schlaf jetzt, Alex“, raunt er mir ins Ohr und streicht mir eine Strähne aus dem Gesicht.
„Sonst verschlafen wir und ich bin mir nicht sicher, ob die das mit dem Frühstück nicht doch ernst gemeint haben. Ohne Frühstück geht bei mir gar nichts und ich wollte morgen noch ein bisschen an einem Song arbeiten…“
Ich ziehe Jesses Arm enger um mich und will noch irgendwas antworten, doch da bin ich vermutlich schon eingeschlafen. In meinem Traum sehe ich all die Stunden des Nachmittags und Abends an mir vorbeiziehen. Ich will keinen Augenblick davon jemals vergessen.
„Guten Morgen, allerseits“, rufe ich in die Küche. Ein Großteil der WG ist bereits damit beschäftigt, den Tisch zu decken.
„Hab ich was verpasst, dass es so ein Festmahl wird?“, fragt Elyas und streicht sich seine schwarzen Haare aus dem Gesicht. „Unsere Gäste sind vielleicht Prominente, aber die wissen doch eigentlich, dass wir kein Hotel sind.“
„Na und?“, antworte ich und sehe ihn schief an. „Wenn es denen bei uns gefällt, besuchen sie uns vielleicht wieder. Weiß du, was das für die Ranch bedeutet?“
„Nee, aber ich weiß, dass sie dann zumindest einen Fan wieder sehr glücklich machen“, entgegnet Elyas und drückt mir einen Stapel Teller in die Hand.
Ich ordne die Teller auf dem Tisch an. Uh, zwei Gäste noch mit an den Tisch zu bekommen, könnte kuschelig werden. Aber kuschelig war es gestern auf dem Sofa auch…
„Brötchen sind da!“, ruft Nino und stürmt in die Küche. „Und Orangensaft hab ich auch noch dabei.“
Ich verdrehe die Augen und lasse das Gewusel über mich ergehen. Irgendwann ist die Tafel fertig und ich habe immer mehr das Gefühl, hier vor einem Buffet im Hotel zu stehen. Marmelade in verschiedenen Sorten, Schokocreme, Käse, Wurst, Butter, gekochte Eier, Orangensaft… Irgendwer hat sogar Obst aufgeschnitten. Und es riecht nach Kaffee.
Nach und nach füllt sich die Sitzbank um den Tisch. Sarah und Cindy sind bereits weg, aber der Rest der Band hat es sich schon bequem gemacht.
„Alex, du stehst doch noch!“, ruft Martin, als ich mich setzen will. Irritiert schaue ich ihn an und erhalte einen fast schon flehenden Blick. „Die Tassen. Wir haben die Tassen vergessen!“, sagt er betrübt.
Ich seufze und stehe wieder auf. Dann suche ich unsere WG-Tassen aus dem Schrank. Das Sortiment hat Dina uns zum Einzug gestaltet – weiß, darauf das Bandlogo und darunter jeweils der Name des WG-Mitglieds.
Als jeder seine Tasse vor sich hat, stelle ich noch zwei weitere hinzu. Die sind jedoch nur mit dem Bandlogo bedruckt, für unsere Gäste. Wo sind die denn eigentlich?
„Hat jemand Alec und Sascha heute schon gesehen?“, fragt Sam in diesem Augenblick. Wir schütteln die Köpfe und ich lasse mich auf meinem Platz neben Jesse fallen.
Unbewusst huscht mein Blick über mein Outfit. Schlichtes blaues T-Shirt, Jeans, Turnschuhe. Warum mache ich mir eigentlich Gedanken, wie ich aussehe?
Aussehen.
Mir geht ein Licht auf. „Die brauchen bestimmt so lange, weil die mit Ninos Haargel nicht zurecht kommen“, schlage ich vor und Jesse lacht.
„Oder sie haben verschlafen“, überlegt Dina grinsend. „Vielleicht ist das Bett ja so bequem…“
„Ausgeschlossen“, erklärt Martin, doch sein Kommentar geht unter. Die gute Laune macht sich in der Küche breit, während wir auf unsere Gäste warten.
„Och, wisst ihr was, ich fang jetzt an“, meint Jesse und schnappt sich ein Brötchen und die Kaffeekanne. „Wird ja sonst kalt. Und ich kann nicht den halben Tag vertrödeln...“
Zustimmendes Gemurmel, die Kaffeekanne wird herum gereicht. Wer weiß, vielleicht sind unsere Gäste längst wieder abgereist? Aber dann hätten sie sich doch wenigstens mal von uns verabschieden können!
Ich bin gerade dabei, genüsslich in mein Schokobrötchen zu beißen, als unsere Gäste in der Tür stehen. Die Kinnlade klappt mir herunter, der Bissen hängt zum Glück noch am Brötchen, dass ich in Zeitlupe auf meinen Teller lege.
Hallelujah!
„Morgen“, murmelt Alec. Sein Haar hängt wild um seinen Kopf, vom Schlaf zerzaust und von Gel keine Spur. Woha, wie kann man verschlafen eigentlich so gut aussehen!?
Sascha dahinter wirkt durchaus wacher, sein Haar ist allerdings genauso wüst. Wie war das mit dem Ohne-Gel-nicht-aus-dem-Zimmer? Haben die beiden wohl vergessen. Dafür sehe ich sie jetzt mal ohne perfektes Styling, was mir das Wasser im Mund zusammen laufen lässt.
„Guten Morgen“, antwortet Sam und nach und nach plätschert es aus allen Ecken einen Morgengruß, den die beiden nickend zur Kenntnis nehmen.
„Wo dürfen wir sitzen?“, fragt Alec und ich muss mir ein Lachen verkneifen. Bei zwei freien Stühlen ist jetzt auch wirklich viel Auswahl.
„Sucht es euch aus“, gibt Dina lachend zurück und schenkt Kaffee ein, der vor allem Alec in die Nase kriecht.
„Oh, Kaffee“, freut er sich. Sein Blick wird schlagartig wacher. „Meine Rettung.“ Bevor er sitzt, hat er seine halbe Tasse ausgetrunken.
„Ihr habt ja ein richtiges Buffet für uns aufgebaut oder ist das bei euch normal?“, fragt Sascha in die Runde. „Sogar Orangensaft.“
„Nur für euch“, lacht Elyas. „Warum seid ihr eigentlich so spät dran und …?“ Ich bin mir sicher, dass er was zu den wilden Frisuren sagen wollte, doch er verkneift es sich elegant.
„Jemand hat ordentlich Krach gemacht“, behauptet Alec empört und Sascha verschüttet beinahe seinen Kaffee vor Lachen. Wir ziehen synchron die Augenbrauen hoch.
„Was Alec damit sagen will…“, fängt Sascha an. „Jemand hat einen alten Wecker, so einen zum Aufziehen, bei uns im Zimmer versteckt. Auf einem Teller. Wer auch immer das war – habt ihr eine Ahnung, was für ein Mordslärm das ist!?“
Ich tausche erst mit Dina, dann mit Jesse und schließlich mit Elyas einen fragenden Blick. Dann sehe ich Nino, Martin und Sam an. Überall Pokerface.
„Das war ich“, gibt nach einigen stillen Minuten schließlich Martin zu. „Damit ihr nicht verschlafen könnt.“
„Und deshalb hat bei euch die Zeit auch offenbar auch nicht gereicht, das Haargel zu suchen?“, schlussfolgert Nino lachend. Alec und Sascha schauen sich erst fragend an, dann wechselt der Blick zu Entsetzen.
„Scheiße, wie siehst du denn aus!?“, entfährt es beiden unisono und bringt nun endgültig alle zum Lachen.
Mein Kiefer klappt schon wieder runter. Wie sie aussehen? Viel zu heiß. Und das, obwohl ich vergeben bin. Hoffentlich sieht man das jetzt nicht schon wieder an meiner roten Gesichtsfarbe…
„Du zeigst dich öffentlich ohne Haargel, Sasch?“, fragt Alec sichtlich amüsiert. „Und dann auch noch mit Bett-Frisur.“
„Du siehst nicht anders aus, Al“, bemerkt Sascha spitz. „Und das hier ist nicht öffentlich. Ich dachte, wir waren uns einig, dass das hier unser Urlaubstag ist. Das ist ja wohl mehr privat als öffentlich.“
Wir sitzen schmunzelnd daneben und einfach, um irgendetwas zu tun und nicht immer nur die beiden anzuschmachten, nehme ich die Kaffeekanne und schenke Alec nach, dessen Tasse schon leer ist.
„Danke“, murmelt er in meine Richtung und greift nach einem Brötchen und dem Glas mit der Schokocreme. Da mag es jemand also süß, ja? Soviel zum Thema Steak-Typ.
Allerdings zieht Sascha die Augenbrauen hoch, als er Alecs Auswahl begutachtet und greift zur Wurst, die jemand elegant auf einem Teller drapiert hat. So ein WG-Festfrühstück hat schon was, sonst ist das alles immer nur zwischen Tür und Angel.
Wie auf Kommando schauen wir uns alle an und beschließen stumm, das Frühstück unserer Gäste nicht zu kommentieren. Alec und Sascha sollen erstmal richtig wach werden.
Ich nehme mein Brötchen wieder auf und beiße ab. Die Schokocreme schmilzt auf meiner Zunge und ich schließe die Augen. Der perfekte Tagesbeginn – Schokocreme und Kaffee.
„Seit wann isst du denn Schokobrötchen, Al?“, reißt mich Sascha irritierte Stimme aus meinen Geschmacksempfindungen. Verdattert schaue ich ihn an, wie er da mit fragender Miene seinen besten Freund mustert.
„Seit heute, Sasch“, antwortet dieser und beißt ab. „Solltest du auch mal probieren, ist lecker.“ Seine Worte gehen durch das Kauen unter und ich muss genau hinhören, um ihn zu verstehen.
Eigentlich schade, dass sie in einer Stunde schon wieder fahren wollen. Ich weiß jetzt schon, dass ich sie vermissen werde. Ihre unkomplizierte, witzige Art passt hierher auf die Rockland Ranch, passt zu uns. Dass sie unsere Väter sein könnten, fällt nicht im Geringsten ins Gewicht.
Ich erwische mich immer wieder, wie ich kurz auf die Uhr schaue. Ich zähle in Gedanken schon die Minuten, die sie noch hier bleiben werden und gebe mir innerlich eine Ohrfeige. Ich sollte lieber genießen, dass sie hier sind, statt die Zeit damit zu verbringen, zu bedauern, dass sie bald gehen werden.
„Kommt ihr mal wieder zu Besuch?“, fragt Dina hoffnungsvoll. Mir ist nicht entgangen, dass sie unsere Gäste ebenfalls ein Stück weit ins Herz geschlossen hat, und dabei ist sie eigentlich gar kein richtiger Fan.
Alec zuckt mit den Schultern, Sascha grinst. „Schauen wir mal“, meint der Große beiläufig. Zumindest kein Nein, ist doch immerhin etwas.
„Wir sehen uns also beim Hörerkonzert in vier Wochen wieder, ja?“, fragt Jesse. „Und Leuchtturm ausgearbeitet bekommen wir per eMail, Sascha?“
Dieser nickt und trinkt einen Schluck Kaffee, während Elyas, Nino, Sam, Martin und Dina meinen Freund fragend mustern. „Wie jetzt, Leuchtturm?“, hakt Dina nach. „Ich dachte, den wollt ihr spielen?“
„Tun wir ja auch“, antwortet Alec, der sich prompt angesprochen fühlt, wodurch die fragenden Mienen der Rockland Rangers noch fragender werden.
„Sascha hat den umgearbeitet“, klärt Jesse seine Band auf. „The BossHoss spielt den Song, aber Alex und ich sind als Feature mit dabei.“
„Wow, cool“, entfährt es Dina. „Dann singst du also mal richtig mit denen, nicht wie beim Konzert so beinahe zufällig.“
Der Bissen bleibt in meinem Hals stecken und ich muss husten, während ich Alecs belustigten Blick einfange. „Zufällig“, wiederholt er und fixiert mich mit seinem tiefbrauen Blick. „Ja, genau. Ganz zufällig, dass ich daneben stand und dir das Mikro hingehalten habe.“
„Habt ihr eigentlich auch nur den Hauch einer Ahnung, was für ein komisches Gefühl es ist, wenn man von euch beiden da oben abgefeiert wird und man weiß nicht warum?“, platze ich heraus und bringe die beiden damit zum Lachen. Scheinbar wirkt jetzt der Kaffee.
„War nicht gut?“, fragt Alec gespielt betrübt. „Und das warum ist doch eigentlich auch klar…“
„Ja, genau. Der Grund ist klar“, stimmt Sascha zu. „Für den Mut, da oben mit einem Mikro vor der Nase trotzdem weiter zu singen. Und dazu noch so eine Stimme, das muss man halt – wie hast du das genannt? – abfeiern.“
Jetzt bin ich baff. Für meinen Mut, in ein Mikro zu singen auf einer Bühne vor tausenden Menschen? Seit wann bin ich denn mutig und dazu noch auf einer Bühne?
Jesse bemerkt meine Veränderung, Dina ebenso. „Alex hat ein bisschen eine Art Bühnenphobie“, klärt Dina unsere Gäste auf. „Da habt ihr sie ein bisschen überrumpelt beim Konzert.“
„Bühnenphobie?“ Alecs Blick kann ich nicht deuten. „Beim Konzert hätte ich schwören können, sie wäre eine Rampensau, so cool wie sie da oben stand und uns die Show beinahe gestohlen hat.“
„Al, das waren zu viele Komplimente“, wirft Sascha ein und deutet mit einem Nicken auf mich. „Guck mal, sie wird ja gleich ganz rot.“
Ich unterdrücke den Drang, meine Hände auf die Wangen zu pressen. Das ändert ja sowieso nichts an meiner Gesichtsfarbe.
Schließlich ist das Frühstück vorbei und wir packen alle mit an, um das Geschirr in die Spülmaschine und den Rest in den Kühlschrank zu stellen. Der Kaffee ist bis auf den letzten Tropfen leer.
Wie selbstverständlich greift Sascha den Lappen und will den Tisch abwischen. „Du bist hier Gast, schon vergessen?“, hake ich ein und nehme ihm den Lappen ab.
Sascha guckt mich verwirrt an. „Gestern hieß es noch, ich soll mich wie zu Hause fühlen“, meint er langsam. „Da wisch ich auch nach dem Essen den Tisch ab.“
„Ein Hausmann, unser Sasch“, kommentiert Alec und klopft ihm auf die Schulter. „Und ein guter Gastgeber.“
Gastgeber? Warum erzählt Alec das? Sie sind doch unsere Gäste und nicht umgekehrt… Die Gastgeberrolle gehört doch grade noch den Rockland Rangers…
„Ein bisschen finde ich es schade, dass wir schon wieder fahren müssen“, gibt Alec zu, als wir eine halbe Stunde später gemeinsam über den Hof zum Auto laufen. Er und Sascha haben sich inzwischen jede Menge Gel in die Haare geklatscht und sehen nun wieder so aus, wie man sie eben kennt.
„Ist eine schöne Atmosphäre hier auf der Ranch.“ Alec lässt seinen Blick schweifen und atmet tief den typischen Pferdegeruch der Rockland Ranch ein.
„Ihr seid jederzeit herzlich willkommen“, betont Elyas noch mal. „Lizzy hat euch schließlich eingeladen…“
„Genau, falls ihr mal reiten lernen wollt…“, fügt Dina hinzu. „Oder ein Pferd braucht für Fotos oder einen Videoclip…“
„Oder mit uns am Lagerfeuer hocken wollt“, schlägt Sam vor. „Unsere Lagerfeuerrunden sind beliebt bei allen Gästen.“
„Eigentlich lädt mich die Ranch mehr zum Songwriting ein“, gesteht Sascha. „Also, wenn ich das nächste Mal zu Besuch komme, hab ich garantiert meine Gitarre dabei und suche mir eine ruhige Ecke, um kreativ zu sein.“
Sein Blick fängt Jesses Baumhaus ein. „So ein Ort in etwa, das ist doch perfekt fürs Songwriting“, sagt er grinsend.
„Das ist es. Dort oben ist Talisman entstanden“, erklärt Jesse. „Aber es gibt nur zwei Personen, die außer mir da hoch dürfen: meine Lady und Elyas.“ Dabei legt er mir einen Arm um die Schulter.
„Oh“, macht Sascha. „Du hast ein Baumhaus? Bist du dafür nicht etwas zu groß? Oder zu alt?“
Jesse lacht. „Überbleibsel aus der Kindheit“, gibt er grinsend zu. „Aber sehr behaglich und perfekt, um alleine vor sich hin zu spielen.“
Inzwischen sind wir am Auto angelangt und Alec beginnt, jeden einzeln zum Abschied zu umarmen. Ganz zum Schluss bin ich an der Reihe.
Seine Körperwärme so intensiv zu spüren, verwirrt meine Gedanken. Und er riecht gut, diesmal rein nach ihm. „Weil du ja scheinbar drauf stehst“, murmelt er mir ins Ohr, dann bekomme ich ein Wangenküssen. Und auf der anderen Seite auch noch eins.
Sein Bart kratzt über meine Wange. Ich muss grinsen. „Oh, man, Alec.“ Ich schüttele leicht den Kopf. „Bin ich so leicht durchschaubar?“
Alec hebt amüsiert die Augenbrauen. „Bist du.“ Das kommt allerdings von Sascha, in dessen Armen ich gleich darauf liege. Er riecht genauso natürlich, einfach nach Mann. „Von mir bekommst du auch welche“, sagt er und gleich darauf spüre ich auch seine Lippen auf meiner Wange. „Bis zum nächsten Treffen.“
„Bis dahin sind es ja noch vier Wochen.“ Den traurigen Unterton in meiner Stimme kann ich nicht ganz verbergen.
Sascha und Alec schauen mich aus leuchtenden braunen Augen an. Menno, das ich auf braune Augen stehe, macht das hier echt nicht leichter.
„Warum vier Wochen?“, fragt Alec. „Sasch, hast du das denen noch nicht gesagt?“
„Gesagt?“, wiederhole ich skeptisch. „Was gesagt?“
„Uns hat niemand etwas gesagt“, gibt Elyas zur Antwort. „Worum geht es denn?“ Die anderen Bandmitglieder nicken zustimmend.
„Habt ihr schon was vor in drei Wochen?“, kommt Sascha mit einer Gegenfrage an. Wir schauen zu Jesse, der plant schließlich die Termine, aber mein Freund schüttelt den Kopf. „Nicht, dass ich wüsste.“
„Doch, habt ihr“, sagt Sascha strahlend. „Hiermit lade ich euch, die Rockland Rangers, herzlich ein, uns in drei Wochen im Internashville in Berlin-Mississippi zu besuchen.“
Ein Moment herrscht Schweigen, dann kommen „Cool“ und „Wow“ und „Echt?“ von Martin, Sam und Elyas. Nino starrt Löcher in die Luft und Dina sieht unsere Gäste nur mit großen Augen an. Auch Jesse weiß nicht, was er sagen soll.
„Wir fahren zu euch? Nach Berlin? In euer Studio?“, stammele ich zusammen und kann es kaum glauben. Ich werde das Studio meiner Lieblingsband sehen, den Ort, an dem all die vielen Songs entstehen, die ich so abgöttisch liebe.
„Jap, ihr fahrt nach Berlin. Nach Berlin-Mississippi“, grinst Alec schief. „Und wir freuen uns drauf. Die anderen Jungs übrigens auch, vor allem Ansgar.“
„Ich macht mich sprachlos“, bringt Jesse hervor. „Es ist ja schon ein unglaubliches Geschenk, euch hier begrüßen zu dürfen, aber wir nach Berlin… zu euch. Wahnsinn!“
Und plötzlich macht in meinem Kopf auch der Satz mit dem Gastgeber Sinn. Sascha als Gastgeber, der uns offiziell in das Studio von The BossHoss eingeladen hat. Ich bin jetzt schon total aufgeregt, dabei sind noch drei Wochen Zeit.
Dann sitzen sie plötzlich wieder im Auto, Sascha lässt die Fenster runter und winkt. „Wir sehen uns, Wild-West-Cowboys“, ruft er uns zu. „In Berlin-Mississippi!“
Und plötzlich sind sie einfach weg und der ganz normale Alltag auf der Ranch kehrt wieder ein. Ich helfe Lizzy, die Pferde auf die Weide zu bringen, dann widme ich mich erst einmal meinen Aufgaben als Fanclub-Vorsitzende. Viel ist es heute nicht, deshalb tippe ich noch einen langen Blog-Eintrag über unseren Besuch – natürlich mit dem Foto auf dem Sofa.
Dina arbeitet inzwischen schon an den Fotos von Alec und Sascha mit den Pferden. Sie hat sich in den Kopf gesetzt, unbedingt beide in schwarz-weiß zu bearbeiten. Soll sie nur machen, ich vertraue ihr da voll und ganz.
Danach bleibe ich im Büro sitzen und schiebe meine Nase in die Bücher. Ich liebe meinen Job bei der Band, aber mein Studium darf ich nicht vernachlässigen. Nur das Konzentrieren fällt mir heute unglaublich schwer. Meine Gedanken kreisen um die Stunde, in der ich von Sascha die ersten Akkorde auf der Gitarre lernen durfte.
Nach drei Stunden halte ich es nicht mehr aus. Mehr ist heute für das Studium absolut nicht drin, da brauche ich mich auch nicht weiter abzumühen. „Bis später“, verabschiede ich mich von Dina und fahre den Computer herunter.
Ich schließe die Bürotür hinter mir. Im Gemeinschaftsraum steht die Lagerfeuergitarre neben dem Sofa, genau da, wo sie gestern Abend abgestellt wurde. Meine Hand streckt sich schon fast automatisch nach ihr aus und über mich kommt ein Glückgefühl, als ich sie aus dem Ständer nehme.
Voller Vorfreude gehe ich durch den Stall und dann raus auf den Hof. Es ist so schönes Wetter, die Sonne lacht und ich lasse mich kurzerhand auf der Weide nieder, lehne mich am Holzgatter an.
Kaum habe ich die Gitarre auf dem Schoß, gesellt sich Lynn an meine Seite und senkt ihren Kopf dann wieder in das Gras. Ich lächele selig vor mich hin und greife den ersten Akkord, den Sascha mir gezeigt hat.
Sofort merke ich meine Fingerkuppen wieder, aber ich beiße die Zähne zusammen. Das bisschen Schmerz bringt mich schon nicht gleich um. Prüfend schlage ich die Saiten an, das Plektrum von Sascha habe ich immer noch in der Hosentasche. Hätte ich es ihm eigentlich zurück geben müssen?
Ach, quatsch! Der hat bestimmt mehrere, da kann er auf eins schon verzichten. In Gedanken mache ich mir die Notiz, dass ich es, wenn es abgespielt ist, mit an meine Kette hänge. Als Erinnerung an meine ersten richtigen Gitarren-Versuche.
Ich setze meinen Zeigefinger dazu, spiele die Saiten wieder an. Dann alles eine Saite nach unten, noch mal anspielen. Ich bin überrascht, wie viel besser das heute schon geht und spiele die Akkorde munter wild durcheinander. Und immer wieder Abschläge.
Lynn sieht mich zwischendurch schief an, lässt sich aber sonst nicht weiter von mir stören. Und plötzlich treffe ich den E-Moll-Akkord, ohne dass ich genau hingeschaut habe. Ich bin völlig perplex. Ich hab die Saiten getroffen, ohne zu schauen. Ich hab blind die Saiten getroffen!
Der kleine Erfolg motiviert mich, ich verdränge auch noch den letzten Gedanken an meine Fingerkuppen, die eine Pause wollen. Ich will aber keine Pause, ich will spielen. Jetzt, hier und immer weiter.
Die Wechsel klappen immer flüssiger, auch wenn ich trotzdem hinschaue. Nur zur Sicherheit, denn ob ich das wirklich brauche, weiß ich nicht. Ich traue mich einfach nicht, will ja schließlich nichts falsch machen.
Meine rechte Hand ist das ständige Abschlagen allmählich müde und so versuche ich, ohne erkennbares Muster mal nach oben und mal nach unten zu schlagen. Dazwischen immer wieder die drei Akkorde durchwechseln.
Und mit einem Mal habe ich ganz genau vor Augen, was ich machen will: Ich werde Sascha beeindrucken. Ich werde irgendeinen Song finden, den ich innerhalb der nächsten drei Wochen lernen kann und dann werde ich meiner Lieblingsband zeigen, was ich gelernt habe.
Mit dieser Erkenntnis im Kopf spiele ich die Akkorde noch einmal durch und lege dann eine Pause ein. Ich springe auf, kraule Lynn den Schopf und springe wieder über den Weidezaun, die Gitarre fest in der Hand, damit dieser auch bloß nichts passiert. Sonst bringt Jesse mich vermutlich um.
Ich haste zurück in den Proberaum und stoße fast mit Nino zusammen. Nino. Der kann mir bestimmt helfen!
„Nino, ich brauch dich mal“, rufe ich ihm zu. Er bleibt stehen, sein Blick wechselt zwischen mir und der Gitarre hin und her. Dann sieht er mich abwartend an.
„Ich brauche einen Song“, erkläre ich ihm überzeugt. „Ich brauche einen Song, den ich üben kann. Diese Abschläge auf Dauer sind mir zu langweilig, und das einfache Wechseln der Akkorde auch. Ich will richtig spielen, ein richtiges Lied.“
Nino legt die Stirn in Falten. „Warte mal, ich hab da was aus meinen Anfangszeiten als Gitarrist“, erinnert er sich und kramt in einem Schrank im Proberaum nach einem Ordner. Dann zieht er triumphierend ein Blatt Papier heraus.
„Schau mal, das ist ein guter Einstieg für dich“, sagt er und drückt mir den Zettel in die Hand. „Außer, du willst erst noch Bruder Jakob spielen.“
Bruder Jakob? Ich will Rockmusik machen, keine Kinderlieder! Vor meinem inneren Auge sehe ich, wie Sascha sich vermutlich vor Lachen krümmt, wenn ich mit einem Kinderlied ankomme.
„Das hier ist Joshua fit the battle of Jericho”, erklärt Nino. „Nicht unbedingt Rock, aber zumindest ganz lustig und nicht allzu schwer. Hat ja nur zwei Akkorde, die du beide schon kennst. Wenn das klappt, schauen wir weiter.“
Ich lese mir den Text durch und lege die Stirn in Falten. Noch nie gehört. Wie soll ich denn einen Song lernen, wenn ich nicht mal weiß, wie die Melodie geht?
Ich lasse mich mit der Gitarre und dem Text auf das Sofa im Gemeinschaftsraum fallen und zücke mein Handy. Wenn mir jetzt jemand helfen kann, dann Tante Google.
Und tatsächlich, auf YouTube werde ich fündig. Okay, eindeutig keine Rocknummer, aber auch kein Kinderlied. Mit dem Spiritual kann ich mich anfreunden, denke ich.
Dann bleibt mein Blick auf einem anderen Video hängen. Oh, der Elvis Presley hat den auch gespielt? Ich klicke den Link an und bin begeistert. Nur etwas schnell ist das Ganze. Und ein etwas anderer Text als der von Nino.
„Und was sagst du dazu?“, streckt dieser den Kopf durch die Tür. „Ist das was für dich? Vielleicht etwas langsamer für den Anfang, als beim Elvis Presley…“ Er deutet auf mein Handy und ich stoppe das Video.
„Äh, ja“, gebe ich zu. „Damit könnte ich mich erstmal anfreunden. Was mach ich da mit der rechten Hand?“
„Bleib erstmal bei Abschlägen“, rät mir Nino. „Und konzentrier dich voll und ganz auf die Akkorde. Zu viel auf einmal und du bist in einer halben Stunden total frustriert.“
Nur Abschläge, wie öde. Aber das mit der Frustration kann ich irgendwie auch verstehen. Nino zwinkert mich auffordernd zu. „Du packst das, Alex“, meint er lässig. „Wenn du mich suchst, ich bin mal schnell mit dem Auto unterwegs. Das muss dringend gewaschen werden.“
Dann ist er auch schon wieder verschwunden und ich lege die Gitarre auf meinen Schoß. E-Dur und A-Moll stehen über dem Text. Sollte machbar sein.
Ich höre mir noch ein paar Mal die verschiedenen Interpretationen an, dann versuche ich mitsingen, bis mir der Text - in der Version auf dem Papier - und die Melodie klar sind.
Ja, der Song gefällt mir. Und wenn Elvis Presley den auch gesungen hat, kann auch Sascha nicht abgeneigt sein, sollte ich den in Berlin vorspielen. Denn einen Song von The BossHoss verschandeln will ich ganz bestimmt nicht.
Schließlich greife ich beherzt in die Saiten und versuche mein Glück. Nur eben alles ein bisschen langsamer, so schnell wechseln kann ich nach zwei Übungstagen nicht mal im Ansatz.
Joshua fit the battle of Jericho, Jericho, Jericho,
Joshua fit the battle of Jericho
and the walls came tumbling down.
You may talk about your king of Gideon,
you may talk about your man of Saul,
there's none like good old Joshua
at the battle of Jericho
Joshua fit the battle of Jericho, Jericho, Jericho,
Joshua fit the battle of Jericho
and the walls came tumbling down.
Up to the walls of Jericho
he marched with spear in hand,
"Go blow them ram-horns" Joshua cried,
"'cause the battle is in my hand."
Joshua fit the battle of Jericho, Jericho, Jericho,
Joshua fit the battle of Jericho
and the walls came tumbling down.
Then the lamb ram sheep horns begin a blow,
trumpets begin a sound.
Joshua commanded the children to shout,
and the walls came tumbling down.
Joshua fit the battle of Jericho, Jericho, Jericho,
Joshua fit the battle of Jericho
and the walls came tumbling down.
Am nächsten Tag sitze ich wieder im Gemeinschaftsraum mit der Gitarre auf dem Schoß. Irgendwie kann ich von dem Ding nicht mehr die Finger lassen, was die restliche Band, vor allem aber auch Dina, schmunzeln lässt.
Joshua fit the battle of Jericho kann ich inzwischen in- und auswendig und singe ihn lauthals mit. Ich bin selbst völlig überrascht, dass ich das so schnell gelernt habe, aber Jesse meinte nur schulterzuckend: „Gitarre lernen ist eine Fleißaufgabe – du merkst jede halbe Stunde, die du gespielt hast.“
Irgendwie hat er recht. Nur war es bei mir nicht nur eine halbe Stunde, sondern gleich ein halber Tag. Die Schmerzen habe ich inzwischen zu verdrängen gelernt. Von nichts kommt eben auch nichts, und ich will ja Sascha beeindrucken.
Obwohl, mit einem so einfachen Song? Ist er da überhaupt im Ansatz beeindruckt? Oder lacht er mich aus, weil…?
Ich reiße mich selbst aus den Gedanken. Eigentlich habe ich ganz normal weiter gespielt, aber irgendwie klang das gerade … anders. Besser.
Fragend mustere ich meine rechte Hand, die nun reglos auf den Saiten liegt. Was zur Hölle hast du da gespielt, Hand!? Mach das noch mal!
Meine Hand rührt sich nicht, weiß offenbar auch nicht, was sie da gemacht hat. Da waren zwei einzelne Töne, eindeutig. Oder doch nur einer?
Ich schlage die Saiten einzeln an. Da, genau, das ist er! Der erste Ton!
Fasziniert schaue ich meine rechte Hand an. Die A-Saite muss es wohl sein. Wie gut, dass ich die Saiten inzwischen benennen kann, dank Jesse. Vorsichtig schlage ich eben diese A-Saite erneut an. Ja, das ist der erste Ton.
Aber was habe ich danach gespielt? Warum kann meine rechte Hand irgendwas spielen, was gut klingt, aber mein Kopf sich einfach nicht daran erinnern?
Ich ziehe das Plektrum über die restlichen Saiten. Und dann noch einmal nur über die unteren drei. Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht. Das ist es!
Alex, konzentrier dich! Erst oben die A-Saite, dann unten die drei letzten Saiten. Meine rechte Hand gehorcht, die linke Hand bleibt als A-Moll liegen.
„Jaa!“, rufe ich begeistert. Genau das hat meine Hand gerade alleine gespielt. Genau das war es, was so gut klang in meinen Ohren. Viel besser als diese ewigen Abschläge.
Prüfend lege ich meine Finger um zu einem E-Dur-Akkord und schlage erneut erst die A-Saite, und dann die unteren drei Saiten an. Hmm, klingt irgendwie jetzt nicht so berauschend. Passt einfach nicht so richtig.
In der festen Überzeugung, dass es an mir liegt, probiere ich es weiter. Beim A-Moll-Akkord hat es ja schließlich gut geklungen, vielleicht ist auch das hier eine Übungssache.
Ich bin völlig vertieft in meine ergebnislosen Versuche, dass Nino erst bemerke, als er mir eine Hand vor die Nase hält und winkt. Erschrocken blicke ich auf.
„Was machst du hier!?“, fahre ich ihn an. Der kann mir doch nicht einfach so einen Herzinfarkt verpassen mit seinem Rumgeschleiche! Ninja eben, typisch...
„Zum A-Moll gehört die A-Saite, aber zum E-Dur die E-Saite“, gibt dieser grinsend zur Antwort und ich brauche erstmal ein paar Sekunden, um zu verstehen, dass es etwas über die Gitarre sein muss. „Vielleicht hilft dir das weiter, bevor du die komplette A-Saite zerspielt hast.“
„Hä?“ Das ist mir jetzt doch zu hoch. Ich bin Anfänger, Nino, da kannst du doch nicht mit so was kommen!
Nino lässt sich neben mir fallen. „A-Moll hat als Grundton die leere A-Saite. Deshalb klingt das da auch gut, wenn du nur den Basston und dann nur die Melodiesaiten spielst“, erklärt er langsam.
Ich nicke in Zeitlupe. „Verstehe“, murmele ich. Nino lächelt. „Aber E-Dur hat einen anderen Grundton“, fängt er an und plötzlich geht mir ein Licht auf.
„Wenn zu A-Moll ein A gehört, gehört dann zu E-Dur ein E?“, platze ich heraus und Nino lacht.
„Ich sehe, du hast das Prinzip verstanden“, sagt er anerkennend und grinst. „Ich glaube, du bist ein Naturtalent.“
Unwillkürlich sehe ich wieder Sascha vor mir, der ja unbedingt wollte, dass ich Gitarre lerne. Woher wusste der, dass es mir leicht fallen würde? Dass ich dafür vielleicht Talent habe? Er kennt mich ja gerade mal einen halben Tag lang...
„Okay, mal schauen, wie gut du das Prinzip verstanden hast“, meint Nino. „Welcher Grundton gehört dann zum E-Moll-Akkord?“
Ich zucke mit den Schultern und beschließe zu raten. So viele Saiten hat eine Gitarre ja nicht. „Auch ein E?“ Nino strahlt, also muss meine Antwort wohl richtig gewesen sein.
„Dann muss ich also immer die obere Saite anschlagen, wenn ich E-Dur spiele, statt der A-Saite?“, überlege ich laut weiter und Nino nickt zustimmend. „Genau“, bestätigt er. „Versuch das doch gleich mal.“
Ich muss mich stark konzentrieren, die einzelne Saite zu treffen. Irgendwie ist das im Zusammenhang viel schwerer als ganze Abschläge, aber es klingt auch viel besser. Nur mein Gesang, der ist jetzt deutlich zurück gefahren, beinahe schon ein Murmeln.
Als ich zur zweiten Strophe ansetze, erklingt Applaus, der mich völlig aus der Konzentration reißt. Vor mir stehen Jesse und Dina. „Hast du dir jetzt Nino als Gitarrenlehrer auserkoren?“, fragt mein Freund.
Nino schüttelt den Kopf und ich schaue ihn irritiert an. „Die Alex macht grade einen auf Autodidakten“, verkündet er. „Manchmal hakt es nur etwas.“
Ich schaue ihn perplex an. Was mache ich?
„Du bringst es dir selbst bei“, übersetzt Dina, die meinen fragenden Blick bemerkt hat. „Alle Achtung, Alex, nicht schlecht. Da hat der Herr Vollmer ja ordentlich was ausgelöst bei dir.“
„Blödsinn“, gebe ich murmelnd zurück und Jesse lacht. „Für deine Lieblingsband tust du alles, oder?“, fragt er mich schmunzelnd. „Ich hoffe, du sagst rechtzeitig Bescheid, wenn du neue Saiten brauchst.“
Ich nicke nur beiläufig und versuche, den neuen Rhythmus gleich noch einmal umzusetzen. Das kann ja wohl nicht so schwer sein, den in den Kopf zu bekommen. Oder besser in die Hand.
Jesse beginnt jedoch ein Gespräch mit Nino und Dina und ich schaffe es nicht, mich auf die Gitarre zu konzentrieren bei diesem Kaffeekränzchen. Nachdem ich zum fünften Mal neu anfangen muss, schaue ich genervt auf. „Man, verlegt euer Kaffeekränzchen doch mal woanders hin!“, knurre ich sie an.
Dina wirft mir einen erschrockenen Blick zu und verzieht sich in das Büro. Jesse schüttelt den Kopf und Nino lacht. „Lassen wir sie in Ruhe, Jess“, meint Nino, bevor er sich an mich wendet. „Wenn du was brauchst, fragt ruhig.“
Noch bevor die Sonne untergeht, habe ich den Dreh mit dem neuen Rhythmus raus. Der Song klappt flüssig, ich bin text- und spielsicher.
Ich bin begeistert über meine neuen Fähigkeiten, aber so gerne ich Joshua fit the battle of Jericho auch spiele, er verliert allmählich seinen Reiz für mich. Den kann ich definitiv nicht Sascha vorspielen, wenn ich den nach zwei Tagen schon kann. Viel zu einfach, damit beeindrucke ich ihn doch nie. Ich brauche eine neue Herausforderung.
Ich stelle die Gitarre zur Seite, massiere meine schmerzenden Fingerkuppen und lasse das Plektrum wieder in meiner Hosentasche verschwinden, nachdem ich meine Lippen darauf gedrückt habe. Eine komische Angewohnheit, die ich zu meinem Ritual gemacht habe, nachdem ich das erste Mal mit dem neuen Anschlag komplett durchspielen konnte.
Aber dieses kleine Stück Plastik bedeutet mir unendlich viel. Es ist von Sascha, meinem Lieblingsgitarristen schlechthin. Und jetzt auch meinem großen Vorbild. Irgendwann will ich genauso gut wie er die Gitarre beherrschen.
Nach dem Abendessen verschwinde ich in meinem Zimmer und setze mich mit dem Laptop auf das Bett. Vielleicht spuckt mit Tante Google einen Song aus, der anspruchvoller ist und den ich in Berlin vorspielen kann.
Ich klicke mich durch die Charts, doch keiner spricht mich an. Dann suche ich nach Anfängersongs für Gitarre und finde nur welche, die mit Sicherheit schon ausgelutscht sind, und welche, die mir so gar nicht zusagen.
Frustriert gebe ich vorerst auf. Irgendwie gibt es einfach keinen Song, der zu mir passt. Und die Songs, die ich gut finde, haben eine so komplexe Anleitung, dass ich nicht mal im Ansatz durchblicke, oder einfach gar keine.
Dann eben doch Joshua fit the battle of Jericho...
Seufzend klicke ich mich durch die sozialen Netzwerke, lese meine eMails. Dann schaue ich in das Trooper-Forum und beteilige mich an ein paar Spielen. Bei einem soll ich einen Prominenten mit A nennen. Da gibt es wahrscheinlich viele, aber mir fällt keiner ein.
Aufgeben und die Aufgabe jemand anderen überlassen will ich auch nicht, deshalb öffne ich meine Playlist und suche nach Musiker mit A. A wie … Alex Diehl!
Ich klicke auf den ersten Song, der mir angezeigt wird, und Nur ein Lied schallt aus dem Laptop. Freudig gebe ich den Musiker als nächstes in die Promikette ein, dann schließe ich das Internet und lausche der Musik.
Ich mag den Song. Er hat eine Botschaft, die mir gefällt, spricht mir aus dem Herzen. Bevor ich mich beherrschen kann, fliegen meine Finger über Maus und Tastatur und dann habe ich die Akkorde vor mir. A-Moll, E-Moll, G-Dur und D-Dur. Und weiter unten noch C-Dur.
Zwei davon kann ich, drei müsste ich lernen. Dazu noch ein neues Anschlagmuster, denn nur Abschläge will ich auf gar keinen Fall spielen. Ich hätte einiges zu tun, aber es wäre bestimmt machbar.
In Gedanken fasse ich den Schluss, dass genau das hier mein Song wird für Sascha. Ich werde Nur ein Lied lernen und in Berlin meinen großen Vorbildern vorspielen.
Mein Ehrgeiz ist erwacht und ich bin so voller Tatendrang, dass ich am liebsten sofort mit dem Üben anfangen würde. Stattdessen drucke ich mir nur die Akkorde aus und suche anschließend Beschreibungen für die Griffe der neuen Akkorde.
Der Song ist inzwischen vorbei und ich suche nach einem Video, in der Hoffnung, dass ich vielleicht erkennen kann, wie das neue Muster für die rechte Hand aussieht. Leider bin ich damit völlig überfordert.
Das Bett sinkt ein und erst jetzt bemerke ich, dass Jesse in Raum ist. „Nur ein Lied, ja?“, fragt er. „Suchst du etwa eine neue Herausforderung?“
Ich sehe auf und nicke. „Joshua fit the battle of Jericho ist viel zu einfach“, gebe ich zu. „Da ist doch jemand wie Sascha niemals beeindruckt. Also hab ich mich mal umgeschaut…“
„Interessante Wahl, Süße“, murmelt er mir ins Ohr, während er an meinen Rücken rutscht und die Arme um mich schlingt. Ich schließe die Augen, klappe den Laptop zu und schiebe diesen zur Seite.
„Die neuen Akkorde kann ich morgen mit dir üben, wenn du willst“, bietet Jesse mir an. „Oder fragst du lieber Nino?“
„Bist du eifersüchtig?“, reagiere ich mich einer Gegenfrage und lehne mich ihm entgegen. Ich spüre sein Lächeln an meiner Wange. „Und wenn?“, fragt er mich zurück.
„Dann weiß ich, dass du mich liebst“, murmele ich sanft. „An dich kommt jemand wie Nino niemals ran, auch wenn er ein klasse Gitarrist ist.“
„Das will ich doch schwer hoffen.“ Seine Lippen berühren die Stelle hinter meinem Ohr, wandern dann nach unten meinem Hals entlang. Seine Hände schieben sich unter meinen Pullover und malen Kreise über meinen Bauch.
Ich schüttele meine Hausschuhe ab und ziehe die Beine an. Dann drehe ich mich in seinen Armen um und öffne die Augen. Sein warmes Braun funkelt dunkel und ich verliere mich daran. Über den Song kann ich auch morgen noch nachdenken.
„Ich liebe dich, Jesse Maxwell“, hauche ich und lege meine Hände an seine Wangen. Mein Herz hämmert gegen meine Brustwand. „Mehr, als du dir vorstellen kannst.“
Statt einer Antwort küsst er mich und mir fallen automatisch die Augen zu. Seine Zunge bittet zärtlich um Einlass und ich öffne die Lippen. Seine Präsenz lullt mich ein, macht mich flüssig wie Kerzenwachs am Feuer.
Dann zieht er mir den Pullover über den Kopf und streicht über meinen Rücken, während sich meine Hände nun auch an seiner Kleidung zu schaffen machen. Währenddessen finden sich unsere Lippen wieder, unser Kuss wird stürmisch und ungehalten.
„Hast du eine Ahnung, wie sehr du mir den Verstand raubst, Alexandra Weidelmann?“, stöhnt mir Jesse zwischen den Küssen entgegen. Ich genieße es, wie mein voller Name aus seinem Mund klingt, obwohl ich es normalerweise hasse, diesen zu hören.
„Zeig es mir“, hauche ich ihm ins Ohr und meine Hand fährt wie zufällig über die Beule seiner Jeans. Er zischt und jagt mir damit ein Lächeln auf die Lippen.
„Alles, was du willst, Süße“, schlägt es mir abgehackt entgegen und mein Blut rauscht wie Feuer durch die Adern. Ich will ihn, jetzt.
Ich fahre dem Computer herunter, während meiner Finger voller Vorfreude jucken. Obwohl ich sowohl mein Fernstudium als auch meinen Fanclub-Vorsitz sehr ernst nehme, bin ich nicht mit vollem Einsatz dabei. Meine Gedanken schweifen immer wieder zu Jesses Lagerfeuergitarre ab.
Dina sieht mir lachend hinterher, als ich aus dem Büro flüchte. Sie arbeitet immer noch an den Fotos von Alec und Sascha, während sie gleichzeitig den Druck der Fanclub-T-Shirts koordiniert. Die Hörner des Logos sind nun doch grün geworden, im Hintergrund der Logos ist die Silhouette eines Bullen zu sehen und bald sollen die ersten T-Shirts geliefert werden.
Ich schnappe mir die Gitarre aus dem Proberaum. Jesse steht bereits schmunzelnd im Türrahmen. „Ich würde sagen, wir setzen uns ins Baumhaus“, schlägt er vor. „Da stört uns niemand.“
Mit der Gitarre in der Hand folge ich ihm quer über den Hof. Mein Herz hämmert freudig, die Gitarre scheint in meinen Händen zu Glühen. Ich verstehe selbst nicht, wie ich so heiß darauf sein kann, Gitarre spielen zu lernen.
Bei diesem Gedanken schiebt sich Saschas Bild vor meine Augen. Genau, er wollte, dass ich das lerne. Ich habe ja gar keine andere Wahl, schließlich schlägt einem nicht jeden Tag ein berühmter Musiker vor, ein Instrument zu lernen.
Inzwischen stehe ich unten vor dem Baumhaus. Jesse klettert wie eine Raubkatze der Stickleiter hinauf, die Gitarre hängt auf seinem Rücken. Meine Gitarre dagegen hat keinen Gurt und einhändig klettern will ich eigentlich auch nicht.
Ratlos schaue ich nach oben. Jesse grinst mir entgegen. „Reich sie mir einfach hoch“, meint er und beugt sich nach unten. Den einen Arm streckt er mir entgegen, mit dem anderen hält er sich am Geländer fest.
Ich hebe die Gitarre so hoch wie möglich und stelle mich auf Zehenspitzen. In Gedanken sehe ich schon, wie ich das Gleichgewicht verliere und die Gitarre gegen die Stickleiter und dann zu Boden donnert.
Nichts dergleichen passiert. Jesses Hand legt sich um den Gitarrenhals und zieht das Instrument nach oben. Dann klettere ich hastig die Strickleiter hinauf.
Oben angekommen, genieße ich kurz die Aussicht: Die Weiden der Rockland Ranch liegen im Nebel, die Pferde erkennt man nur als Umrisse. Das Haus der Band ist kaum noch zu sehen.
Ein Regentropfen klatscht mir ins Gesicht. Ich hasse Regen, obwohl ich den Herbst mit all seinen bunten Blättern, Stoppelfeldern und dem Wind eigentlich recht gern habe.
„Kommt du rein?“ Jesse tippt mir auf die Schulter und hält mir die Tür auf. Ich nicke langsam und ziehe den Kopf ein, als ich durch die kleine Tür gehe. Ist alles noch ein wenig auf Kindermaße zugeschnitten.
Jesses Baumhaus ist schlicht, aber gemütlich eingerichtet. Es gibt eine breite Matratze, die ihm manchmal im Sommer auch als Bett dient, wenn er über der Gitarre einschläft, außerdem einen kleinen Tisch und einen Sitzsack. An der Wand ist eine Halterung für eine Gitarre, an der seine Epiphone hängt.
Das Licht dringt gedämpft durch die beiden kleinen Fenster, die sogar eine Gardine haben. Da es hier oben keinen Strom gibt, schaltet Jesse eine batteriebetriebene Lampe an der Decke des Baumhauses ein.
„Nur ein Lied, ja?“, fragt er, obwohl er die Antwort längt kennt, und deutet auf die Matratze. Ich lasse mich darauf fallen und nehme die Gitarre auf den Schoß, während ich nicke.
Jesse faltet einen Zettel auseinander, dann strahlt er mich an. „Ich würde sagen, wir brauchen erstmal G-Dur“, beschließt er und lässt sich neben mich auf die Matratze plumpsen. „Pass auf, das geht so…“
Und dann sortiert er meine Finger auf dem Griffbrett. Ich habe teilweise echt Angst, dass er mir sie einzeln ausrupfen könnte. Warum muss man solche akrobatischen Verbiegungen mit der Hand machen? Wer hat sich den Blödsinn denn ausgedacht?
Bei jedem Murren, Jammern und Meckern meinerseits lacht mein Freund nur. „Denk dran, du kannst immer noch den anderen Song nehmen“, erinnert er mich und weckt damit meinen Ehrgeiz. Nein, ich ziehe das hier jetzt durch! Sascha soll stolz auf mich sein!
Nach zwei Stunden glühen mir so dermaßen die Fingerkuppen, dass ich das Gefühl habe, gleich Blut fließen zu sehen. Ich lege die Gitarre neben mir auf die Matratze und puste über die Finger, so wie es meine Mutter immer getan hat, wenn ich als kleines Mädchen hingefallen bin.
„Einverstanden, wir machen eine Pause“, verkündet Jesse und ich atme erleichtert auf. Vielleicht habe ich mein Ziel doch zu hoch gesteckt. Vielleicht sollte ich doch lieber bei Joshua fit the battle of Jericho bleiben.
Jesse nimmt seine Gitarre von der Wand. „Damit du dich nicht allzu sehr langweilst, zeig ich dir mal, wie ich den Song spiele“, meint er lässig. „Nur, damit du eine Vorstellung hast, was dich noch erwartet.“
Ich mache große Augen. So wie Jesse das sagt, klingt es verdammt anstrengend und verdammt schwer und irgendwie auch mit einer Spur Unmöglichkeit.
Jesse setzt die Finger auf das Griffbrett und beginnt zu spielen. Was genau er da für ein Muster anschlägt, kann ich nicht erkennen, dafür ist er einfach zu schnell. Und dann fängt er auch noch an, zu singen und ich tauche in seine wunderbare Stimme ein, vergesse völlig, dass ich mich eigentlich auf sein Gitarrenspiel konzentrieren wollte.
Habt ihr nichts daraus gelernt,
hat man euch denn nicht erklärt
wie die Regeln funktionieren?
Das Spiel verstehen und auch kapieren,
dass diese Welt niemand gehört.
Ihr steht hier und wir stehen da,
vor lauter Angst, sieht keiner klar.
Ihr seid wütend, wir können es verstehen,
doch diesen Weg voll Hass zu gehen
löst kein bisschen das Problem.
Aus Angst wird Hass, aus Hass wird Krieg
bis die Menschlichkeit am Boden liegt,
bis hier alles explodiert
und jeder den Verstand verliert.
Das alles hatten wir schon mal.
Und ich hab keine Lust, nur zu zusehen
bis alles hier in Flammen steht.
Ich hab zu viel Angst, um still zu sein.
Es ist nur ein Lied, doch ich sing's nicht allein.
Und wie John Lennon glaub ich daran:
The world will live as one.
Unsere Zeit ist nur geliehen.
Wollt ihr sie wirklich so verbringen?
Was muss passieren, damit ihr seht,
dass das hier auf der Kippe steht
und dass es nur gemeinsam geht?
Denn aus Angst wird Hass, aus Hass wird Krieg
bis die Menschlichkeit am Boden liegt,
bis hier alles explodiert
und jeder den Verstand verliert.
Das alles hatten wir schon mal.
Und ich hab keine Lust, nur zu zusehen
bis alles hier in Flammen steht.
Ich hab zu viel Angst, um still zu sein.
Es ist nur ein Lied, doch ich sing's nicht allein.
Ihr könnt Hass verbreiten, Ängste schüren,
doch ihr werdet diesen Kampf verlieren.
Denn wie John Lennon glauben wir daran:
The world will live as one!
Ein letztes Mal zieht Jesse das Plektrum über die Saiten, dann grinst er mich an und reißt mich aus meinen Gedanken. Verdammt, wie kann mich seine Stimme jedes Mal so wegdriften lassen!?
„Na, bleibst du immer noch bei dem Song?“, fragt er mich und zieht eine Augenbraue hoch. Ich nicke heftig.
„Ja, bleibe ich!“, versuche ich mich selbst davon zu überzeugen. Ich bin doch kein Weichei, das hier gleich wieder aufgibt! Außerdem habe ich noch fast drei Wochen Zeit, dass muss doch reichen.
„Willst du weiter üben?“, fragt Jesse und nimmt meine Hand, um meine Finger zu begutachten, schüttelt dann aber den Kopf. „Ich glaube, für heute hast du genug...“, sagt er ernst und tippt auf meinen kleinen Finger.
Ein Schmerz schießt mir bis zum Ellenbogen durch den Unterarm und ich ziehe den Arm zurück. „Sonst hast du morgen einen Finger weniger“, beendet Jesse seinen Satz. „Der ist so viel Arbeit ja überhaupt nicht gewöhnt.“
Ich seufze. Gegen ein Verbot von Jesse komme ich nicht an, der kennt zu viele Mittel und Wege, um mich davon abzuhalten. Und eines packt er direkt aus.
„Wenn wir schon mal hier sind“, beginnt er und streicht über die Saiten seiner Gitarre. „Ich hab da was geschrieben und brauche mal deine Meinung.“
Ich lächele versöhnlich. Seine Songs darf ich immer zuerst hören, bevor er der Band überhaupt davon erzählt, und das macht mich unheimlich stolz.
„Schieß los“, fordere ich ihn auf und bin neugierig. Seit Greenhorn sprudeln die Ideen nur so aus ihm heraus. Wenn das so weiter geht, haben wir bald genug Songs zusammen, um ein ganzes Album mit eigenen Titeln aufzunehmen.
Jesse tippt seinen Hut an und beginnt dann zu spielen. Die Melodie hat etwas Bekanntes an sich, trotzdem bin ich mir sicher, dass ich sie noch nie zuvor gehört habe. Ich lausche angestrengt den Gitarrenklängen, der Song zwingt mich quasi dazu und dabei hat Jesse noch gar nicht angefangen mit dem Singen.
Dann folgen die ersten Worte. Der Song ist englisch. In Gedanken übersetze ich den Text und stelle überrascht fest, dass der Song von Sehnsucht handelt. Sehnsucht nach dem Sommer, nach Schwimmen gehen mit den Pferden, Lagerfeuer…
Mein Übersetzungszentrum schaltet ab, ich schließe die Augen und sehe Bilder. Wie Jesse mich hinter sich auf Hyperion zieht und diesen in den Badesee lenkt. Ich kann die Wärme meines Freundes vor mir spüren, die von Hyperion an meinen nackten Beinen.
Elyas kommt mit Phönix auf uns zu, der im Wasser scharrt und dann aufstampft, so dass wir alle mit einem Schwall Wasser überspült werden. Dina, die im Wasser neben den Pferden auf dem Rücken treibt, taucht kurz unter. Ihre braunen Haare kleben an ihren Wangen, als sie den Kopf wieder aus dem See streckt.
Im Hintergrund geht langsam die Sonne unter, taucht den Himmel in ein tiefes Rot. Der riesige Feuerball versinkt langsam im Wasser…
„Bist du eingeschlafen?“
Ich reiße die Augen auf. Jesse sitzt mir gegenüber, schaut mich schief an. Wo bin ich? Was mache ich hier?
„So einschläfernd sollte der Song gar nicht werden“, sagt Jesse betrübt. „Aber offenbar ist er zu langweilig, wenn du nicht mal bis zum Ende zuhören kannst.“
„Blödsinn!“, hake ich ein. Leider fehlen mir gerade die Worte, wie ich mich aus der Situation elegant heraus retten kann, und versuche es mit der Wahrheit.
„Ich habe uns gesehen“, gebe ich zu. „Damals am See mit Elyas und Dina. All die Bilder waren wieder da, als ob es erst gestern gewesen wäre.“
Ein vorsichtiges Lächeln stiehlt sich auf sein Gesicht. „Ja, genau die wollte ich einfangen“, gibt er zu. „Unseren wundervollen Sommer. Nur beim Text, da habe ich mich zurück gehalten. Da soll jeder seinen eigenen Sommer reininterpretieren können.“
Ich zucke mit den Schultern. „Zum Text kann ich nichts sagen“, gestehe ich. „Irgendwann waren die Bilder in meinem Kopf zu stark, da konnte ich mich nicht mehr auf den Text konzentrieren.“
Er grinst schief, hängt die Gitarre zurück und rutscht ganz dicht an meine Seite. Dann legt er mir den Arm um die Hüfte und den Kopf auf die Schulter, während wir in die diesige Nebellandschaft vor dem Fenster schauen.
Ich genieße seine Nähe, sein warmer Atem streicht mir über den Hals. Wann ist endlich wieder Sommer? Ein Sommer voller Sonnenuntergänge, gemeinsamen Ausritten, Picknick am See…
„Ey, ihr zwei Turteltäubchen!“, schiebt sich Elyas’ Kopf durch die Tür und ich zucke zusammen, wodurch Jesses Wange von meiner Schulter rutscht. Wir sehen seinen besten Freund entgeistert an.
„Kannst du nicht wenigstens anklopfen?“, brummt mein Freund. Elyas schüttelt den Kopf. „Seit wann muss ich hier klopfen?“, fragt er irritiert zurück. „Ich hab den Song gehört. Der ist ja mal klasse, Jess.“
Die Tage fliegen an mir vorbei und ich spüre, wie ich Fortschritte mit der Gitarre mache. Jesse ist ein wundervoller Lehrer und so unglaublich geduldig. Auch wenn ich mich stark zusammen reißen muss, nicht immer wieder über ihn herzufallen, wenn mir etwas gelingt.
Leuchtturm klappt übrigens auch hervorragend. Meine Stimme kann ich auswendig, meine Einsätze habe ich in der Probe kein einziges Mal mehr verpasst. Jesse hat sogar ein Stück Gitarrenbegleitung von Sascha aufgetragen bekommen, worauf er unglaublich stolz ist.7
Für meinen Song für Sascha sitzen die Akkorde inzwischen auch, ich treffe sie meistens sogar blind und mein Freund ist stolz auf mich. Jesse hat sogar überlegt, mir die Gitarre komplett zu überlassen, als ich sogar das Schlagmuster zum ersten Mal fehlerfrei hinbekommen habe.
Nino, der das mitgehört hatte, meinte nur lachend: „Naja, auf dem Griffbrett sind bestimmt schon ihre Fingerabdrücke drauf, eingraviert ins Holz.“
Generell scheint sich jeder auf der Ranch auf andere Art und Weise köstlich über meinen Ehrgeiz zu amüsieren. Wissen eben alle nicht, was auf dem Spiel steht…
„Alex, ich brauche dich mal.“ Dina huscht in den Gemeinschaftsraum, auf dessen Sofa ich mal wieder sitze und Gitarre spiele.
„Was gibt’s denn?“ Ich schaue auf und stelle die Gitarre zu Seite, als sie mir bedeutet, ihr ins Büro zu folgen.
Dina strahlt über das ganze Gesicht. „Die T-Shirts sind da“, erklärt sie mir. „Die für die Fans und die für die Band. Und ich brauche dich und Jesse jetzt als Models.“
Models? Davon war aber eigentlich nie die Rede. Wieso soll ich jetzt als Model herhalten für die T-Shirts des Fanclubs?
„Dina möchte, dass wir beiden auch in Zukunft die Merchandise-Artikel der Band präsentieren“, erklärt Jesse, der mit verschränkten Beinen auf meinem Bürostuhl sitzt und sich hin und her dreht. „Weil wir ja jetzt irgendwie Frontmann und Frontfrau sind.“
„Was sagen denn überhaupt die Jungs dazu, dass ich mich einfach so in die Band drängle?“, frage ich zögernd nach. Das brennt mir schon lange auf der Seele. Die können es doch eigentlich gar nicht gutheißen, dass ich plötzlich mit auf der Bühne stehe. Es war immer nur so gedacht, dass ich mal mit singe, aber nie, dass ich ein festes Bandmitglied werden sollte.
„Mach dir um die Band keine Gedanken“, gibt Jesse zur Antwort. „Ich weiß, dass meine Jungs es nicht besonders oft zeigen, aber sie lieben dich und deine Stimme - auch auf der Bühne. Und die Fans haben irgendwie auch einen Narren an dir gefressen. Guck dir mal die Kommentare unter dem Handyvideo von Close an. Muss ich ja langsam aufpassen, dass du mir nicht den Rang abläufst.“
Er lacht und fängt das T-Shirt auf, welches Dina ihm zuwirft. „Da hinten hab ich mal ein bisschen Platz gemacht, für das Foto“, sagt sie und deutet auf ein Stück Bürowand, die vollkommen kahl ist. Auf ihrem Schreibtisch liegt die Kamera.
Jesse zieht sich seinen Pullover über den Kopf und dann das T-Shirt der Greenhorns an. „Wie sehe ich aus, Mädels?“, fragt er in die Runde, während er seinen Stetson wieder aufsetzt.
Ich lasse meinen Blick über ihn schweifen. Schwarzer Stetson, braun-blonde Haare, die frech ins Gesicht fallen, leuchtende braune Augen, sein sinnlicher Mund. Mein Blick fährt langsam an ihm herunter. Um seinen Hals baumelt eine Plektrumkette.
Das T-Shirt steht ihm außerordentlich gut, lässt erahnen, wie trainiert sein Oberkörper ist. Seine Jeans hängt lässig auf seiner Hüfte und wird von einem Ledergürtel mit großer, silberner Schnalle gehalten.
Er steht lässig da, die Daumen in den Hosentaschen versenkt, und sieht einfach nur umwerfend gut aus. Mir fällt kein Wort ein, das ihn nur ansatzweise beschreiben könnte, deshalb nicke ich nur langsam.
„Sehr gut“, ruft Dina, schnappt sich die Kamera und positioniert Jesse vor der weißen Wand. Erst jetzt fällt mir auf, dass sie ein halbes Fotostudio aufgebaut hat. Sein wann kann sie das eigentlich?
„Woher hast du die ganze Ausrüstung?“, frage ich Dina irritiert, während diese ein Foto nach dem anderen schießt. Sie zuckt nur mit den Schultern, ohne sich von der Kamera und Jesse abzuwenden. „Ich kenne jemanden, der jemanden kennt und der ist Fotograf. Da hab ich mir ein bisschen was ausgeliehen.“
Schließlich bin ich dran, von ihr im Fanclub-Shirt abgelichtet zu werden. Ich hasse die Kamera, kann mich davor einfach nicht natürlich verhalten. Dina ist unzufrieden und meckert.
„Alex, schau mich an“, sagt Jesse mittenrein und stellt sich genau hinter Dina. Ich fange seinen braunen Blick auf und schmelze augenblicklich dahin. Menno, der hat seinen Verführungsblick aufgesetzt, wie soll ich mich da denn jetzt noch auf das Fotoshooting konzentrieren?
„Ja, genau!“, jubelt Dina und springt um mich herum, Jesse folgt ihr wie ein Schatten. Es sieht urkomisch aus, was sie da veranstalten.
Dann legt sie die Kamera beiseite. „Für völlig unvorbereitete Models seid ihr verdammt gut“, lobt sie uns. „Aber ich wollte es ja so, ganz natürlich. Als ob es Schnappschüsse wären. Ich mag diese gestellten Shootings nicht.“
Sie bittet uns, die T-Shirts wieder auszuziehen und wirft uns dann ein paar andere zu. „Die sind für das Hörerkonzert“, erklärt sie uns und Jesse faltet sein Shirt auf. Ein Tank Top, auf der Brust prangt das Logo der Band.
„Nice“, meint er und mustert dann mit skeptischem Blick die Shirts der anderen Bandmitglieder, die allesamt T-Shirt bekommen. „Warum bekomme ich als Einziger eins ohne Ärmel?“
„Du willst doch nicht deine Tattoos verstecken!“, erklärt Dina mit verschränkten Armen, „Und deine wunderbaren Oberarme, auf die die Mädels stehen. Abgesehen davon hat Elyas auch ein Tank Top. Der hasst T-Shirts auf der Bühne, hat er mir gesagt.“
„Stimmt“, pflichtet Jesse ihm bei, dann sieht er mich an. „Was sagst du zu dem neuen Bühnenoutfit?“
Ich zucke mit den Schultern. „Ich brauch da erst mal einen Probelauf“, überlege ich laut. „Vielleicht sollten wir die alle übermorgen anziehen, wenn mir nach Berlin fahren? Damit ich mich schon mal daran gewöhnen kann…“
„Darf ich da eigentlich mit?“, fragt meine beste Freundin nach und ich schaue Jesse bettelnd an. Noch mal ohne weibliche Unterstützung halte ich nicht durch, und diesmal sind es ja noch mehr Männer.
„Ein Platz ist noch frei…“, sagt Jesse lächelnd. „Außerdem mag dich Alec. Zumindest interessiert er sich für deine Arbeit als unser kreativer Kopf.“
„Berlin!“, ruft Dina begeistert und springt in die Luft wie ein Flummi. „Berlin! Ich fahr mit nach Berlin!“
Dann fällt sie mir um den Hals. „Wir heizen den Cowboys ordentlich ein, nicht wahr, Alex?“, sagt sie voller Vorfreude. „Wir zwei gegen den Rest der Welt. Oder in unserem Fall: gegen die Männer!“
Jesse schaut uns grinsend zu. „Ich werde dann schon langsam mal anfangen mit Packen. Sascha hat geschrieben, dass wir unbedingt unser komplettes Equipment mitnehmen sollen“, berichtet er mit leuchtenden Augen. „Ich würde zu gerne wissen, was er geplant hat.“
Lizzy und die Bandjungs beladen gerade das Bandauto, einen schwarzen Kleinbus mit dem Logo der Band auf allen Seiten. Eine Weile schaue ich zu und bin froh, dass sie mich davon ausgeschlossen haben. Beim Tetris hab ich spätestens im dritten Level verloren, das hier sieht mehr nach Level 30 aus.
Nur die Lagerfeuergitarre in ihrem Koffer, für die bin ich verantwortlich. „Damit du nicht so außen vor bist“, hat Jesse gesagt. „Schließlich bist du nun mal ein Teil der Band.“
Ein Teil einer Band, von der ich trotzdem nicht sicher war, ob sie mich als solchen überhaupt anerkennen würden. Klar, Jesse sagt, sie lieben mich, aber was heißt das schon? Ohne dieses blöde Handyvideo, das The BossHoss gefunden hatten, wäre ich weiterhin nur eine Freundin der Band und Fanclubvorsitzende.
Obwohl, so blöd ist das Handyvideo gar nicht. Ohne dieses hätte ich meine Lieblingsband niemals persönlich getroffen, mich mit Sascha und Alec angefreundet und der Support für das Hörerkonzert wäre wohl auch eine ganz andere Band geworden.
Die Kommentare darunter sind überdurchschnittlich positiv und scheinbar finden alle meine Stimme toll, obwohl ich ‚manchmal dasitze, als würde ich auf den nächsten Bus warten’. Genau so hat das eine geschrieben, aber natürlich nicht in der Ich-Form.
Na, dankeschön. An meiner Körpersprache und meiner Bühnenpräsenz muss ich wohl mal arbeiten, wenn ich weiterhin mit auf die Bühne will.
Ich verkrieche mich ins Büro und gehe meiner neuen Aufgabe in der Band nach: Postverantwortendliche.
Obwohl der Fanclub gerade mal drei Monate existiert, zwei Monate davon nun schon einen Namen hat und es gerade mal fünfzig Mitglieder sind, haben wir einen Stapel Bestellungen für die Fanclub-Shirts bekommen. Und die darf ich alle verpacken und adressieren.
Es hat also nichts zu bedeuten, dass wir nur einen kleinen Fanclub haben. Ohne Zweifel, sie lieben uns wie eine große, berühmte Band.
Und damit sind wir schon bei meiner zweiten neuen Aufgabe als Chefin der Post: Fanbriefe sortieren.
Offenbar haben The BossHoss irgendwo ausgespuckt, das sie bei uns waren, und plötzlich werden wir von Post überhäuft. Nicht nur eMails, sondern auch richtige Briefe – unglaublich! Kann ich noch gar nicht so richtig fassen, dass mir völlig fremde Menschen schreiben…
Dina hat dafür gleich ein paar Schuhkartons zusammen gesucht von der letzten Shopping-Tour, diese liebevoll mit Namen und Foto versehen, so dass ich die ganzen Briefe gut sortieren kann. Die eMails landen ausgedruckt auch darin. Die meiste Post bekommt Jesse – wer hätte das gedacht?
Mein Blick fällt auf den Kalender über den Boxen. Auch wieder ein Design von Dina, angelehnt an die Familienkalender, die man überall zu kaufen bekommt. Dieses Exemplar ist quasi die XXL-Variante, denn jedes Bandmitglied hat seine eigene Spalte. Dazu gibt es noch eine für Dina und eine für die gesamte Band.
Und in dieser letzten ist der Tag morgen ganz fett rot eingerahmt. Mit Edding steht dort nur ein Wort: BERLIN.
Damit schließt sich mein Gedankenkreis, stelle ich überrascht fest und werfe den letzten Brief in den Karton. Meine eigene Fanpost habe ich noch nicht gelesen, geschweige denn beantwortet. Das mache ich nach dem Tag bei The BossHoss. Vorher kann ich mich darauf nicht konzentrieren.
Mein Gott, was bin ich aufgeregt! Kann es jetzt nicht schon morgen früh sein?
Ob ich den Song wohl noch kann, den ich Sascha vorspielen will? Ich lasse mich im Proberaum auf einen Hocker nieder und packe die Gitarre wieder aus. Dann gehe ich noch mal langsam den Rhythmus durch: Basssaite, nach unten, Pause, nach oben, nach unten, nach oben.
Nur ein Lied kann ich inzwischen auswendig und lege gleich darauf los. Meine Finger huschen über das Griffbrett und ich schaue ihnen fasziniert dabei zu, obwohl ich immer wieder nach rechts schiele, damit ich auch die richtige Basssaite treffe.
Ein letztes Mal ziehe ich das Plektrum über die Saiten, dann sehe ich auf und strahle. Es klappt wie am Schnürchen. Sascha muss einfach stolz auf mich sein! Er muss, er muss, er muss!
Mein Blick fällt auf Jesses Bühnengitarre, die einsam und verlassen im Proberaum steht. Sogar Elyas’ Archtop ist eingepackt – von ihm höchstpersönlich – und auch sonst sind alle Instrumente verschwunden. Nur die beiden Gitarren sind hier und meine nicht mehr lange.
Ich lege sie vorsichtig in den Koffer zurück und klappe diesen zu. Dann gehe ich auf die Bühnengitarre zu, hocke mich davor.
„Sie muss leider hier bleiben“, erklingt Jesses traurige Stimme hinter mir. „Mir ist eine Saite gerissen und bis morgen bekomme ich die nie und nimmer stimmstabil. Aber die Lagerfeuergitarre ist ja das gleiche Modell, nur nicht so hübsch. Die wird schon reichen.“
Das geht ja gut los, eine Saite gerissen. Erst jetzt fällt mir auf, dass die A-Saite tatsächlich ein bisschen irgendwo im Nirgendwo hängt und generell sehr dunkel gefärbt ist.
„Ich hätte sie schon längst wechseln müssen, aber ich wollte das kurz vor dem Hörerkonzert machen, damit ich da optimale Bedingungen habe“, fügt Jesse frustriert hinzu. „Das hab ich nun davon.“
Ich stehe auf und schaue ihn an. „Kann die Gitarre denn jetzt schon ins Auto?“, frage ich ihn und zeige auf den Koffer, um ihn abzulenken. Jesse nickt und deutet an, dass ich ihm folgen soll.
Vorsichtig hebe ich den Gitarrenkoffer an und trage ihn nach draußen. Der Kofferraum des Kleinbusses sieht jetzt schon komplett belegt aus, aber irgendwie quetscht Lizzy den Koffer noch in eine Lücke. Meine Güte, die Band hat aber auch viel Equipment!
„Dann sind wir wohl jetzt startklar“, stellt Lizzy zufrieden fest. „Morgen früh geht’s los, Punkt halb sechs. Wir wollen ja pünktlich in Berlin sein und zwischendurch eine Reisepause einlegen.“
Wir nicken brav. Halb sechs ist zwar eine unchristliche Zeit, aber ich kann ja im Auto noch ein bisschen schlafen. Falls Dina und die Jungs mich lassen, Lizzy ist da umgänglich.
„Ach, und bevor es Zoff gibt: Ich fahre“, erklärt unsere Managerin. „Und wenn ich fahre, herrschen da drin auch meine Regeln – Ruhe, Gespräche auf Zimmerlautstärke, Musik suche ich aus.“
Während Elyas murrt und auch Nino bedröppelt drein schaut – wohl wegen der Musik – habe ich damit so gar kein Problem. Ich mag Lizzys Musikgeschmack. Sie steht auf alte Titel und Handgemachtes, verabscheut Techno und DJ-Mixe, die gute alte Songs verhunzen.
„Ich hau mich schon mal auf’s Ohr“, verkünde ich. „Ich will morgen fit sein, damit ich auch ja keine Minute mit Alec, Sascha und den anderen Cowboys verpasse.“
„Da kommt das Fangirl in der Alex wieder durch“, spottet Elyas und lacht. „Du und deine Lieblingsband, du bist verrückt!“
Noch vor dem Weckerklingeln bin ich hellwach. Kurz überlege ich, warum ich allein im Bett liege, doch da fällt mir ein, dass Jesse nicht einschlafen konnte und deshalb in seinem Zimmer übernachtet hat. Damit ich in Ruhe schlafen konnte.
Mit einem breiten Grinsen springe ich förmlich aus dem Bett und falle über den Stuhl her, auf welchem ich mein Outfit für den heutigen Tag gelegt habe: Das neue Bandshirt, dazu die Jeans von der letzten Shoppingtour.
Ich streife mein T-Shirt ab und schlüpfe in die frische Kleidung. Kritisch mustere ich mich in der neuen Jeans. Dina hat gemeint, sie steht mir. Ich dagegen bin skeptisch. Komische Mode, überall gibt es nur noch enge Jeans mit aufgeschlitzten Beinen zu kaufen.
Aber sie sitzt, sie ist bequem und Dinas Rat war eigentlich noch nie falsch. Dann sieht man halt meine Knie und ein bisschen Haut von Ober- und Unterschenkel. Wir sind ja im Auto, dann im Studio, da wird es schon nicht ziehen.
Ich putze meine Zähne, kämme meine wilde blonde Mähne und gebe es aus Prinzip auf, irgendeine Frisur zaubern zu wollen. Bringt ja eh nichts, meine Haare mögen nicht mal einen Zopfhalter oder eine Haarklemme.
Dann lege ich meine Plektrumkette an. Die muss auf jeden Fall mit, als Glücksbringer. Und Glück brauche ich heute eine ganze Menge, damit ich mich nicht vor Sascha blamiere…
Ach du Scheiße, Sascha! Erst jetzt wird mir wieder so richtig bewusst, dass ich da nicht vor meinem Nachbarn oder einem alten Klassenkameraden stehe, sondern vor Hoss Power.
Und vor Boss Burns.
Und vor Russ, Guss, Hank, Frank und Ernesto.
Scheiße. Mir rutscht schon bei dem Gedanken daran, dass meine Lieblingsband uns nach Berlin ins Studio eingeladen hat, das Herz in die Hose. Und unten aus den Hosenbeinen wieder heraus.
Ich schüttele den Kopf, als ob ich damit diesen Gedankengang vertreiben kann, und ziehe einen Kajal-Strich unter meine Augen. Dann noch Wimperntusche drüber. Reicht völlig aus für einen Berlin-Trip.
Tatsächlich war ich noch nie in Berlin und bin dementsprechend auch neugierig auf die Stadt. Hoffentlich verschlafe ich das nicht. Ich will unbedingt ein paar Sehenswürdigkeiten sehen. Wobei für mich das Internashville ja irgendwie die größte Sehenswürdigkeit überhaupt ist, die diese Stadt zu bieten hat.
Mit einer schwungvollen Drehung wirbele ich herum, um nach unten zum Frühstückstisch zu gehen. Nur mit Mühe verfehle ich die Tür, die weit in den Raum hineinragt. Das hätte mir ja gerade noch gefehlt, eine Platzwunde am Kopf!
Pfeifend husche ich die Treppe hinunter. Nino sieht mich verschlafen an. „Ey, kannste nicht mal ein bisschen auf weniger gute Laune machen?“, brummt er mich an und reibt sich die Augen. „Und hör auf mit dem Gepfeife, das nervt!“
„Das nervt überhaupt nicht!“, erwidere ich und verschränke die Arme. Was kann ich dafür, dass ich mich auf Berlin freue? Und auf die Cowboys.
„Aber Dos Bros pfeifen ist jetzt nicht dein Ernst“, nuschelt er und drückt auf der Kaffeemaschine herum. Dos Bros? Hab ich grade tatsächlich Dos Bros gepfiffen? Hab irgendwie gar nicht darauf geachtet, welche Melodie mir da im Kopf rum spukt…
„Morgen allerseits!“, ruft Martin fröhlich von der Treppe und reißt beide Arme in die Luft. „Berlin, Berlin – wir fahren nach Berlin!“
„Vorsicht, Morgenmuffel“, raune ich ihm zu und deute auf Nino. „Mit ganz schlechter Laune.“
„Hast wohl nicht geschlafen, Kollege?“, meint Martin lässig und klopft ihm auf die Schulter. „Kommt davon, wenn du die halbe Nacht kleine Filmchen mit nackten…“
„Halt die Klappe, Marty!“, unterbricht ihn Nino knurrend. „Was ich abends und nachts mache, geht dich einen Scheißdreck an!“
Martin zieht skeptisch eine Augenbraue hoch. „Ganz schlechte Laune, du hattest recht“, wendet er sich an mich, dann fällt sein Blick auf Sam und Jesse. Ersterer reibt sich die Augen, scheint aber nicht ganz so mies gelaunt zu sein. Und mein Freund sieht aus, als ob er verschlafen hätte und direkt wieder unter die Decke möchte.
„Wo sind denn El und Dina?“ Suchend sieht sich unser Bandleader um, erhält dafür aber nur ein vierfaches Schulterzucken. Dann nimmt Jesse seine Tasse auf dem Schrank und krallt sich die Kaffeekanne aus der Maschine.
„Ich gehe mal suchen“, rufe ich mit Begeisterung in der Stimme. Hallelujah, wann hatte ich zuletzt so eine gute Laune?
Immer zwei Stufen auf einmal nehmend springe ich die Treppe hinauf und reiße Dinas Zimmertür auf. Das Bett ist leer, das Zimmer dunkel und verlassen. Ich runzele die Stirn, gehe weiter zu Elyas’ Zimmer.
Bevor ich den Türdrücker herunterdrücken und die Tür aufreißen kann, schlagen mir höchst seltsame und vollkommen eindeutige Geräusche entgegen. Ich werde feuerrot und bin überglücklich, nicht hinein gestürmt zu sein.
Okay, Alex, cool bleiben. Ganz cool. Die schieben da drin nur… Nein, ich will’s mir nicht vorstellen! Definitiv nicht. Es sich vorzustellen ist genauso komisch wie jemanden dabei zu erwischen.
Ich schließe die Augen, versuche die Geräusche auszublenden und hämmere dann mit aller Kraft gegen die Tür. Die Geräusche verstummen. Puh.
„Aufstehen! Der Bus fährt gleich los!“, brülle ich und bete, dass meine Gesichtsfarbe gleich wieder normal ist. Sonst habe ich eine echte Erklärungsnot von den anderen Bandjungs. „Wir fahren auch ohne euch!“
Dann wirbele ich herum und renne so schnell ich kann die Treppe hinunter. „Hast du einen Geist gesehen?“, empfängt mich Sam sichtlich besorgt. Ich schüttele den Kopf. Was soll ich darauf denn antworten?
Leider ist mein Mundwerk schneller als mein Kopf: „Dina und Elyas brauchen wohl noch ein bisschen Zeit, die sind grade mit dem jeweils anderen stark beschäftigt.“
Außer Nino brechen alle in einen Lachkrampf aus. „Gott, wie niedlich du das beschrieben hast!“, ruft Jesse zwischen den Lachern und reicht mir eine Tasse Kaffee. „Trink erstmal was, wir haben ja noch eine halbe Stunde. Das werden die beiden da oben ja wohl schaffen.“
Ich bin so unendlich dankbar, dass man die Geräusche hier unten nicht hört. Aber dafür scheint mein Blick Bände zu sprechen, als sie Arm in Arm die Treppe hinunter kommen.
Jesse wirft mir einen vielsagenden Blick zu und zieht eine Augenbraue nach oben. Dann huscht sein Blick zu den beiden Turteltäubchen, die immer noch nicht die Finger von einander lassen können.
Schließlich ist der Kaffee leer, alle stehen in den Bandshirts und Jeans vor dem Kleinbus und warten auf Lizzy. Die hat übrigens auch ein Bandshirt bekommen, genauso wie Dina sich eines mitbestellt hat. Sarah und Cindy haben dankend abgelehnt, so viel hätten sie jetzt auch nicht mit dem Bandgeschehen zu tun.
Ich kicke einen Stein zur Seite, mein Blick fällt auf meine Füße. Stiefelletten mit Schnürsenkeln, ausgetreten und bequem.
„Alles einsteigen!“, ruft Lizzy gut gelaunt und entriegelt die Türen des Autos. „Hab uns ein paar Sandwichs gemacht, für das Frühstück. Wir halten, wenn die Sonne aufgeht.“
Ich lasse mich auf den Sitz neben Lizzy fallen, damit ich während der Fahrt viel sehen kann. Dina und Elyas verdrücken sich auf den Doppelsitz in der Mitte, ganz hinten sitzt Nino mit Jesse und Martin. Sam rutscht an meine Seite.
Als ich ihn fragend anschaue, lacht er nur. „Die erste Reihe liest die Karte – und da bin ich ohne Zweifel der Beste“, erklärt er stolz und kramt nach dem Autoatlas. „Navis sind was für Anfänger.“
„Ich schalte es trotzdem ein“, wirft Lizzy ein und zaubert den kleinen schwarzen Bildschirm hervor. „Dein Atlas kann nämlich bestimmt keinen Stau melden.“
Sam legt den Kopf schief, nickt aber dann. „Na gut, aber nur für den Stau“, willigt er ein. „Haben wir überhaupt die komplette Adresse?“
„Die habe ich im Kopf“, antwortet Lizzy und tippt sich an die Schläfe. Dann startet sie den Motor. „Ich war ja schließlich schon mal dort.“
Irgendwie überrascht mich diese Aussage, aber irgendwie auch nicht. Sie kennt ja scheinbar alles und jeden im Musikbusiness, das ist unglaublich.
Der Kleinbus setzt sich in Bewegung. Sobald wir die Einfahrt der Rockland Ranch verlassen, wirft Martin beide Arme in die Luft und ruft: „Berlin, Berlin – wir fahren nach Berlin!“
Nino quittiert dies nur mit einem Knurren und ich hoffe, dass sich Gitarrist und Bassist nicht noch während der Autofahren umbringen. Also das Gitarrist den Bassisten.
Naja, sie haben immer noch Jesse zwischen sich, stelle ich mit einem Blick im Rückspiegel fest. Der wird sie schon im Griff haben.
Ich lausche der Musik und lasse meine Gedanken schweifen. In wenigen Stunden werde ich das Studio von The BossHoss betreten. Ich werde Sascha und Alec wiedersehen, dazu noch die restliche Band.
Und mein Herz hämmert jetzt schon wie wild an meine Brustwand, dabei liegen vor uns noch viele Kilometer Autobahn.
The Beatles spielen leise Let it be und werden nur hin und wieder von der Stimme des Navigationssystems unterbrochen, die Lizzy auf den Namen ‚Ellie’ getauft hat. Es ist so still, dass ich sogar meinen eigenen Herzschlag hören kann, der mit jedem Kilometer, den wir hinter uns bringen, schneller wird.
Und ich kann einfach nicht einschlafen. Ein bisschen neidisch auf meine Bandkollegen bin ich ja schon. Denen scheint das nicht sonderlich schwer zu fallen. Gleich nach der Frühstückspause sind sie alle eingenickt.
Sam liegt neben mir in den Sitz gekuschelt, den Autoatlas mit beiden Händen umklammert auf dem Schoß. Sein Kopf liegt von mir abgewandt, als würde er aus dem Fenster schauen.
Mein Blick streift den Rückspiegel und ich muss lächeln. Auf dem Doppelsitz in der zweiten Reihe kuscheln Dina und Elyas. Sein Kopf liegt auf ihrer Brust, während ihrer auf einem Kissen ruht, das sie an die Fensterscheibe gedrückt hat. Elyas' schwarzes Haar verdeckt halb sein Gesicht.
Ich drehe mich um und stelle zufrieden fest, dass auch die letzte Sitzreihe schläft. Jesses Kopf liegt im Nacken, der Stetson ist halb ins Gesicht gerutscht und verdeckt seine Augen. Martin und Nino haben sich an unseren Bandleader gekuschelt und ihm die Köpfe auf die Schultern gelegt. Wie süß die doch sind, wenn sie schlafen!
Aber Nino macht mir trotzdem Sorgen. So launisch wie heute Morgen habe ich ihn schon lange nicht mehr erlebt. Andererseits kann ich verstehen, dass es nicht leicht für ihn ist, immer wieder Liebespärchen vor Augen zu haben und selbst Single zu sein.
Ich nehme mir einen Augenblick Zeit und betrachte ihn genauer. Sein blondes Haar ist mit braunen Strähnen durchzogen und mit einer halben Tube Haargel nach hinten gelegt. Seine Frisur erinnert mich irgendwie an die Mode der 50er. Seine stahlblauen Augen sind hinter den Lidern versteckt.
Es ist mir ein Rätsel, warum er keine Freundin findet. Warum er kein Mädchen findet, dass ihn liebt als den, der er ist. Das kann doch nicht so schwer sein. Er ist klug, geduldig, sieht gut aus und hat normalerweise auch nicht so eine grässliche Laune wie heute morgen.
Mareike, seine letzte Flamme, wollte bloß mit einem Musiker zusammen sein. Als sie bemerkt hat, dass Nino noch lange nicht über den roten Teppich läuft, hat sie sich mit einem anderen Typen eingelassen. Nino hat die beiden heimlich erwischt und sie ihm hinterher nur eine SMS mit ‚Sorry, es ist vorbei’ geschickt. Gott, wie ich dieses Weib dafür hasse!
Ich habe Nino noch nie so fertig gesehen wie damals. Wobei, seine schlechte Laune heute Morgen ist ziemlich nahe an dem Zustand von damals dran. Sie hat sich doch hoffentlich nicht bei ihm gemeldet, weil sie eine zweite Chance will!?
Während ich wieder durch die Frontscheibe starre und die Autos beobachte, die uns überholen, muss ich an Lucy denken. Ich habe überhaupt nicht mehr daran gedacht, dass ich sie auf die Ranch einladen wollte. Das muss ich nachholen, sobald das Hörerkonzert vorbei ist. Immerhin habe ich es ihr versprochen…
„In einem Kilometer von der Autobahn abfahren“, unterbricht Ellie meine Gedanken. Lizzys Blick streift mich, als sie in den rechten Außenspiegel schaut.
„Kannst du nicht schlafen beim Autofahren?“, fragt sie mich ruhig, während sie ihren Blick auf der Straße hält. Ich zucke mit den Schultern.
„Geht irgendwie nicht. Mein blödes Herz ist zu laut“, gebe ich zu und muss schmunzeln. Mein Herz antwortet darauf, indem es noch schneller hämmert. „Wie lange sind wir denn noch unterwegs?“
„Nur noch eine Stunde“, antwortet Lizzy. „Wir sind kurz vor Berlin. Gegen elf dürften wir beim Studio sein.“
Um elf? Hoffentlich gibt’s da was zum Mittagessen, schießt mir durch den Kopf. Spätestens um eins knurrt mein Magen und die Sandwichs vom Frühstück haben wir alle bereits verdrückt.
Durch die Frontscheibe schaue ich mir Berlin an. Zumindest das Stückchen Stadtautobahn, über das wir gerade fahren. Ich glaube, ich habe noch nie so viele Autos auf einmal auf einer Straße gesehen.
Ich lausche wieder der Musik. Inzwischen läuft ein Song von Elvis Presley, Love me tender. Ich summe die Melodie leise mit, meine Zehen zucken im Rhythmus.
Lizzy ist inzwischen von der Autobahn abgefahren und quält den Kleinbus durch den Stadtverkehr. Irgendwann fährt sie an den Straßenrand und schaltet den Motor ab. Wie auf Kommando erwacht der Bus zum Leben.
„Sind wir etwa schon da?“, fragt Elyas verschlafen, streckt sich und streicht sich durch die Haare. Dina lässt den Kopf kreisen, das Kissen rutscht herunter.
Neben mir höre ich das Rascheln vom Autoatlas und Sam, der irgendwas davon brummt, dass man den Kartenleser doch nicht einfach einschlafen lassen darf.
„Berlin, Berlin – jetzt sind wir in Berlin“, jubelt Martin von der Rückbank, mit bester Laune, und weckt damit Nino auf, der erschrocken seinen Kopf von Jesses Schulter zieht und diesen dabei so anrempelt, dass der Stetson zu Boden fällt.
„Tatsache“, stellt Jesse nüchtern fest und hebt den Stetson auf. Dann kramt er sein Handy und einen Kamm hervor. Ich fass es nicht, der kontrolliert doch jetzt tatsächlich sein Styling!
Während ich mich darüber köstlich amüsiere und selbst einen Blick in den Spiegel werfe – ich sehe noch genauso gut aus wie heute Morgen – suchen auch die anderen Jungs ihre Spiegel raus und reichen den Kamm durch. Nino hat sogar eine Tube Haargel dabei, verrückt!
„Alle fertig gestylt?“, fragt Lizzy grinsend. „Frisur sitzt, Shirts sind faltenfrei und die Augenringe überdeckt?“
„Sehr witzig, Tante Lizzy“, brummt Jesse, kann aber das Grinsen nicht verstecken. „Und wo ist jetzt das Studio?“
„Gleich um die Ecke“, gibt unsere Managerin zur Antwort. „Alles aussteigen. Schauen wir mal nach, ob The BossHoss auch da sind.“
Nacheinander steigen wir aus und bevor Lizzy den Kleinbus abschließen kann, stehe ich ungeduldig vor dem Kofferraum. „Ich will die Gitarre mitnehmen“, erkläre ich und verschränke die Arme. „Jetzt gleich.“
Die Band schaut mich schief an, Lizzy nickt nur. Dann öffnet sie die Tür und zieht den Gitarrenkoffer aus dem Tetris-Spiel im Kofferraum heraus. Stolz nehme ich den Koffer in die Hand und fühle mich tatsächlich wie eine echte Gitarristin.
Ich bin so wahnsinnig gespannt, was Sascha dazu sagt. Und wie auf das Kommando melden sich nach langer Zeit, einer halben Ewigkeit, meine Wangen zurück, die zu kribbeln anfangen. Ich dachte, dass hätte mein Körper abgestellt, als wir auf Freundschaft getrunken haben.
Offensichtlich nicht.
Im Gänsemarsch wandern wir Lizzy hinterher, die sich durch diesen Teil von Berlin bewegt, als wäre sie hier zu Hause. Als würde sie genau hierher gehören. Ihr dunkelblondes Haar ist zu einem Zopf zusammen gebunden, der bei jedem Schritt wippt.
„Da sind wir“, verkündet sie stolz und zeigt auf ein großes, weißes Haus. Naja, ganz weiß ist es nicht mehr. Graffiti zieren eine Wand, außerdem ein riesiges Schild, auf dem ‚Spielhalle’ steht.
Wäre Lizzy nicht so überzeugt davon, dass wir genau hier richtig sind, wäre ich nie im Leben darauf gekommen, dass da das Studio meiner Lieblingsband drin sein soll. Um Spielhallen mache ich ja sowieso einen großen Bogen – besoffene Menschen, die ihr ganzes Geld sinnlos verzocken, das ist mir nicht geheuer.
Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich mich auch nie dafür interessiert habe, wie das Studio eigentlich aussieht. Lizzy könnte mir jetzt vermutlich jedes Haus als Studio präsentieren und ich würde ihr glauben.
Zielsicher geht sie zur Tür und gleich darauf stehen wir in einem weißen Treppenhaus, das irgendwie steril wirken würde, wäre die untere Hälfte nicht rot gestrichen. Beinahe wie ein Krankenhaus, die sind genauso karg eingerichtet. Nur der Geruch nach Desinfektionsmittel fehlt und so übersauber ist es irgendwie auch nicht.
Lizzy führt uns zielsicher die Treppen hinauf. An einem Fenster sehe ich das Logo der Band und mein Herz hämmert jetzt so schnell, dass es mir jede Sekunde aus der Brust springen kann. Ich bin, glaube ich, noch aufgeregter als bei deren Besuch auf der Rockland Ranch. Ich hab Angst.
Einen kurzen Augenblick lang frage ich mich aber trotzdem, warum man mitten im Haus ein Fenster einbaut, durch das man ins Treppenhaus schauen kann. Vielleicht ist es da nur, damit man das Logo anbringen konnte.
Die weiße Tür, vor der wir stehen bleiben, ist verschlossen und Lizzy dreht sich zu uns um. „So, da sind wir“, verkündet sie und holt Luft, um noch etwas zu sagen, als die Tür aufgerissen wird und eine Frau hinaus stürmt.
Bevor ich sie überhaupt mustern kann, umarmt sie Lizzy. „Elizabeth, wie schön, dass du da bist!“, ruft sie freudig und Lizzy lächelt breit.
„Sophie“, begrüßt sie die Frau strahlend. „Die Freude ist auf unserer Seite, schließlich habt ihr uns eingeladen.“
„Meine Bandjungs wollen uns übrigens nicht dabei haben, sondern haben uns beiden einen Tisch im Café um die Ecke reserviert“, erklärt sie schnell und ich rätsele immer noch, woher ich sie kenne. Irgendwo habe ich sie schon einmal gesehen, glaube ich.
„Damit wir in Ruhe quatschen können und sie das Studio für sich allein haben.“ Sie hakt sich bei Lizzy unter wie eine alte Bekannte.
Vielleicht sind sie das auch, alte Bekannte. Vielleicht kennt Lizzy meine Lieblingsband sogar noch besser, als ich überhaupt vermutet habe.
Jesses Tante dreht Sophie zu uns um. „Das hier sind meine Schützlinge, Sophie, die Rockland Rangers“, stellt sie uns vor. „Und das hier ist Sophie, die Managerin von The BossHoss.“
Ein mehrstimmiges „Guten Tag“ klingt durch das Treppenhaus und schlagartig sehe ich das Bild vor mir. Na klar, die wurde mal in einem Interview erwähnt.
Sophie lächelt. „Freut mich, euch kennen zu lernen“, sagt sie und zieht Lizzy zur Treppe. „Vielleicht sehen wir uns nachher noch. Die Jungs jedenfalls warten schon auf euch.“
Bevor ich bin zehn zählen kann, sind beide verschwunden und wir schauen uns fragend an, fühlen uns offenbar alle wie bestellt und nicht abgeholt.
„Okay, wer klopft?“, fragt Elyas und schaut mich an. Mein Herz hämmert gegen die Brust, es könnte vermutlich sogar die Tür durchhämmern, wenn es gleich heraus springt.
Außerdem spüre ich langsam meinen Arm. So eine Jumbo-Gitarre im Koffer ist auf Dauer ganz schön schwer.
Bevor wir ausknobeln können, wer nun klopfen soll, wird die Tür geöffnet und zwei bekannte Gesichter schauen uns strahlend entgegen: Alec und Sascha.
„Da seid ihr ja endlich!“, begrüßt uns Sascha mit einem breiten Grinsen. „Habt wohl gewartet, bis Alec ausgeschlafen hat?“
Als Antwort darauf stupst dieser den riesigen Musiker an und wir müssen lachen. „Sascha, Alec“, übernimmt Jesse das Wort. „Tausend Dank für die Einladung.“
„Dann kommt doch einfach erstmal rein“, meint Alec schmunzelnd und hält uns die Tür weit auf. „Ist ja ’ne EIN-Ladung, wa?“
Saschas Blick fällt auf meinen Koffer und er sieht mich mit einer Mischung aus erfreut und erstaunt an: „Sag bloß, du spielst immer noch?“
„Frag lieber, wann sie nicht spielt“, schaltet sich Nino ein und ich schaue ihn irritiert an. Was soll das denn heißen? Ich muss eben üben, wenn ich gut werden will.
„Und wann spielst du nicht?“ Sascha wirkt neugierig und nimmt mir den Koffer vorsichtig aus der Hand.
„Nachts, beim Frühstück, beim Mittag und beim Abendessen“, erklärt Elyas. „Ach ja, und wenn sie dann doch mal ihre Aufgaben für die Band und für ihr Studium macht.“
„Wieso stellst du mich so hin, als wäre ich nicht verantwortungsbewusst?“, frage ich ihn irritiert und ein bisschen sauer wegen diesem Spruch bin ich auch. Doch Sascha lacht nur und reicht den Koffer an Alec weiter.
„Bringst du den schon mal nach hinten, Al?“, wendet er sich an seinen besten Freund, welcher gleich darauf mit der Gitarre verschwindet. Ich schaue dem Koffer sehnsüchtig hinterher.
„Bekomme ich denn auch eine Kostprobe von meiner ehrgeizigsten Schülerin?“ Sascha legt den Kopf schief und diesmal ist es Martin, der antwortet. Meine Band lässt mir ja mal so gar keine Chance, selbst zu Wort zu kommen.
„Sie hat geübt wie eine Irre, damit du was auf die Ohren bekommst“, sagt er und lacht. „Ist unglaublich, was für einen Ehrgeiz du in ihr ausgelöst hast.“
„Den Ehrgeiz hat sie aber schon immer“, wirft Dina ein. „Ich kenn sie schon ihr halbes Leben lang und wenn sie was will, dann ganz oder gar nicht. Und derzeit ist es, dich mit ihren Gitarrenkünsten zu beeindrucken, Sascha.“
Kann ich vielleicht auch noch mitreden, liebe Band? Und warum sprecht ihr über mich schon wieder, als wäre ich nicht da!?
„Ich fühle mich geehrt, Alex“, gibt er zu und schenkt mir ein extrabreites Grinsen. „Wir haben uns alle noch gar nicht richtig gegrüßt. Ich bin wohl doch nicht so ein toller Gastgeber, wie ich gedacht habe.“
Dann nimmt er mich in die Arme und drückt mir die Wangenküssen auf. Meine Wangen danken es mit einem Kribbeln. Ich erwidere die Umarmung und lege meine Hände auf seinen Rücken. „Hallo erstmal“, murmele ich leise, so dass nur er es hört, und ich spüre sein Grinsen an meinem Gesicht.
„Und ich?“ Alecs Stimme. Sascha löst sich von mir, geht weiter zu Dina, um diese ebenfalls zu umarmen.
Alec zieht mich ebenfalls in eine Umarmung. „Ich kann doch nicht dem Begrüßungsritual fernbleiben“, raunt er mir zu, bevor auch er seine Lippen an meine Wangen drückt. Ich fühle mich so wohl, dass ich auch diese Umarmung erwidere und ihm die Finger auf den Rücken lege. „Hi“, brummt seine tiefe Stimme in meinem Ohr.
Nach und nach werden alle anderen Bandmitglieder auch umarmt, aber die Wangenküsschen sind für uns Mädels reserviert. Okay, ist vielleicht bei einer Umarmung zwischen Männern auch nicht sonderlich angebracht.
„Dann zeigen wir euch mal unser Hauptquartier“, sagt Sascha schließlich und macht eine einladende Geste. „Willkommen in Berlin-Mississippi.“
Der Raum ist in ein warmes Licht getaucht und ich fühle mich sofort irgendwie heimisch. Dann fällt mein Blick auf einen Pappaufsteller von Elvis. Fansein ist schon was Tolles!
Meine Augen folgen Saschas Geste und streifen einen imposanten Schreibtisch. Okay, dagegen kann unser kleines Band-Büro jetzt schon einpacken und das hier ist wohl gerade mal der Empfang.
Über dem Tisch hängt ein riesiger Kronleuchter, der dem Raum etwas Majestätisches verleiht, genauso wie die vielen Bilderrahmen an den Wänden. Eine Wand ist bestückt mit Auszeichnungen der Platten. Ich erkenne die Coverdesigns von Rodeo Radio, Liberty of Action und Do or die wieder.
Heilige Scheiße, die sind tatsächlich so wahnsinnig erfolgreich! Das wusste ich zwar schon vorher, aber den Beweis dafür knallhart vor sich zu sehen, haut mich jetzt doch irgendwie aus den Stiefeletten.
Und diese Band hat uns, ein paar Lagerfeuermusiker, eingeladen. Ich kann es nicht fassen, dass das tatsächlich möglich ist.
Mein Blick richtet sich auf den Boden. Der Reihe nach stehen da doch wirklich verschiedene Schuhe neben einem Karton mit Stetsons. Die haben ja echt eine Menge Auswahl.
Das Bild von Alec mit Rhea kommt mir wieder in den Sinn. Ich muss schlucken und versuche, Saschas und Alecs Erklärungen zu folgen. Aber der Raum hier ist zu beeindruckend für mich, als dass ich mich auf die Worte konzentrieren kann.
Die beiden Cowboys, heute übrigens beide in Jeans und T-Shirts mit den Prints von anderen Bands, deuten auf einen langen Gang. Allein schon durch das warme Licht komme ich mir vor, als würde ich durch einen Palast gehen.
An der Wand hängt eine Gitarre, neben weiteren Auszeichnungen. Was machen die eigentlich, wenn irgendwann kein Platz mehr ist, um alle aufzuhängen?
„Müssen wir eigentlich die Schuhe ausziehen?“, frage ich kurz nach, als mein Blick erneut die Schuhsammlung streift.
Alec schüttelt den Kopf. „Ach quatsch, lass die ruhig an“, meint er und grinst schief. „Fühlt euch wie zu Hause.“
„Aber die Instrumente werden nur angefasst, wenn ihr vorher fragt“, schiebt Sascha gleich noch hinterher. Dabei sehe ich schon, wie es Jesse in den Fingern juckt, die Gitarre an der Wand anzutaschen.
Eine Konzertgitarre. Vielleicht die erste von Sascha?
Falls er es erwähnt hat, habe ich es nicht mitbekommen, aber noch einmal nachzufragen ist mir irgendwie auch zu peinlich.
„Ach so, falls ihr Durst habt…“ Sascha deutet auf einen Wasserspender, der im Flur steht. „Bedient euch, aber wir haben hinten auch noch Cola und Bier.“
„Bier zum Mittag?“, wirft Dina skeptisch ein. Alec lacht. „Wohl besser nicht“, erwidert er und lacht. „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen ist hier die Devise.“
Arbeit? Das klingt irgendwie anstrengend. Was haben die bloß mit uns vor? Und wo sind eigentlich die anderen Bandmitglieder?
„Vorsicht, niedrige Decke“, warnt uns Sascha vor. Mir ist die nicht zu niedrig, aber ich passe auch nur gerade so drunter durch. Von Martin kommt ein erleichtertes „Danke für die Warnung“.
Ich trotte den anderen nun durch den langen Gang hinterher, werfe einen Blick in die verschiedenen Räume. Ist das geräumig hier. Und beinahe jeder hat hier sein eigenes Zimmer. Management, Videos schneiden, aufnehmen, proben – alles unter einem Dach. Bei uns unvorstellbar, außer wir bauen an.
Auf der einen Seite steht eine komplette Sammlung an Gitarren, dann ein Stapel an Gitarrenkoffern und etwas weiter sehe ich verschiedene Schlagzeugteile aufgetürmt. Und da habe ich mich über zu viel Equipment bei den Rockland Rangers beklagt? Ich verstehe mich selbst nicht mehr…
„Ja, unser Tonstudio“, kommentiert Alec den nächsten Raum, in den wir hinein schauen. Regler, Knöpfe, Tasten und Bildschirme. Ich verliere schon beim Anschauen den Überblick. Meine Bandkollegen dagegen nicken.
Ja klar, die haben so was ja auch schon mal gesehen, als sie ihr erstes Album aufgenommen haben. Für mich ist das hier absolutes Neuland.
Und wieder überall gerahmte Auszeichnungen und Bilder. Manche würden das vielleicht als überfüllt ansehen, aber ich finde es perfekt eingerichtet. Da hat jemand ein gutes Auge für die Wandgestaltung, denn in meinen Augen wirkt es trotz der Fülle alles andere als überladen.
„Mein Arbeitsplatz“, meint Sascha und streicht über den Chefsessel, der vor dem Tisch steht. Alec lacht. „Dein zweites Zuhause, das trifft es ehr“, wirft dieser ein. „Wenn du wieder stundenlang die Songs abmischst.“
Damit bringt er uns wieder alle zum Lachen. „Dann zeige ich euch mal noch meinen Arbeitsplatz“, sagt Alec und strahlt Dina an. Ach ja, die Künstler unter sich. Wie gut, dass sie mitgefahren ist.
„Und dann haben wir ja nur noch einen Raum vor uns“, fügt Sascha hinzu. „Den eigentlichen Proberaum.“
So viel haben wir schon gesehen? Ich bin so völlig überladen von all den Eindrücken und mir ist, als wäre ich schon eine Woche hier und nicht nur ein paar Minuten. So viele Räume hier, das ist ja fast schon größer als unsere komplette Band-WG!
„Übrigens, unsere Fanpost und Fangeschenke.“ Alec deutet wie beiläufig auf eine Vitrine und ich habe in Gedanken unsere kleinen Schuhkartönchen vor mir. Wenn das bei uns mal solche Ausmaße annehmen sollte, dann müssen wir definitiv anbauen!
Ich erkenne eine Miniaturgitarre mit dem ‚THANX’ auf dem Rücken, Pralinen, Unterwäsche… und kann nur den Kopf schütteln. Mein Gott, was bin ich froh, dass die uns erstmal nur nach Autogrammen fragen!
Obwohl, so ein Fangeschenk, dass hätte schon irgendwie was…
Und schließlich stehen wir von dem eigentlichen Proberaum. Ich weiß nicht, was mich an diesem Hauptquartier - der Name passt wirklich perfekt - am meisten beeindruckt.
Dass alles hier unter einem Dach geschieht?
Die gigantische Sammlung an wunderschönen Gitarren?
Die vielen Auszeichnungen an den Wänden?
Die Beleuchtung, dass man sich wie in einem Palast fühlt oder wie in einer Kirche...?
„Dann mal hereinspaziert“, unterbricht Alec meine Gedanken und öffnet die Tür. „Wir haben heute sturmfrei – sogar Sophie haben wir zwangsbeurlaubt. Aber ich glaube, das ist euch auch recht, wenn auch Lizzy mal nicht dabei ist.“
Mein Blick fällt in den Raum. Groß ist er. Mit viel Platz. „Und wir haben nur für euch mal alles ein bisschen abgebaut und beiseite geschoben“, fügt Sascha an. „Damit ihr euch ausbreiten könnt.“
Bevor ich richtig im Raum stehe, habe ich den Gitarrenkoffer schon gefunden und hänge meinen Blick daran. Dabei muss ich wohl stehen geblieben sein, denn meine Band schiebt mich einfach in das Zimmer, so dass ich unbeholfen vorwärts stolpere.
Erschrocken schaue ich mich um und sehe die restlichen Cowboys auf ein paar gestreiften Sofas und Sesseln zusammen sitzen. Und ich stolpere ihnen vor die Füße. Toller erster Eindruck!
„Howdy!“, dringt es uns mehrstimmig entgegen und ich kann nur kurz mit dem Kopf zur Begrüßung nicken. Ich muss erstmal meinen schrecklichen Auftritt hier verdauen.
Vorsichtig lasse ich den Blick schweifen. Sofa, Sessel, Stühle, ein Tisch, ein braunes Klavier, viel Platz und eine Theke.
„Erst die Arbeit, dann die Theke.“ Ich zucke zusammen, als ich Alecs Stimme neben mir höre. Er lacht kurz auf, legt eine Hand auf meine Schulter und dreht mich zu seinen Bandkollegen, die inzwischen alle aufgestanden sind.
„Leute, das sind die Rockland Rangers“, stellt uns Sascha kurz vor. Dann grinst er uns an und zeigt auf seine Band. „Ja, und das sind die anderen Mitglieder von The BossHoss.“
Als ob wir einer unsichtbaren Macht folgen würden, stehen Jesse, Martin, Nino, Dina, Elyas, Sam und ich plötzlich in einer Reihe unseren Gastgebern gegenüber, die uns nacheinander die Hände reichen und uns nach einem kurzen Namensaustausch umarmen.
Bin ich froh, dass ich als Fan die richtigen Namen bereits alle kenne, so komme zumindest ich nicht durcheinander. Auf die Bühnennamen haben wir einstimmig verzichtet, sonst blicken alle Nicht-Fans wie Martin und Sam bei den ganzen Reimen der Cowboys nicht mehr durch.
„Alex, richtig?“, begrüßt mich Ansgar grinsend und ich sehe aus dem Augenwinkel, dass alle anderen den Begrüßungsmarathon schon hinter sich gebracht haben.
„Richtig“, bestätige ich und lächele zurück. „Und du bist Ansgar, das weiß ich bereits.“
Er lacht und pfeffert mir dann einen Spruch entgegen, den ich nur am Rande höre. Irgendwas mit Blondine und Merken oder Erinnern und Gedächtnis und so. Mein Kopf scheint Blondinenwitze schon im Vorfeld zu erahnen und schaltet dann automatisch ab. So lässt es sich ganz gut damit leben.
Bevor ich jedoch irgendwas darauf sagen kann, stehen plötzlich Martin, Sam, Elyas und Nino wie eine Wand vor mir, ein Schutzzaun vor Ansgar.
Dazu Dina auf meiner linken Seite und Jesse auf der rechten Seite, die mich besorgt mustern. Blicke wie Blitze fliegen auf Ansgar zu, der damit vollkommen überfordert scheint.
„Lady Alex gehört zu uns“, funkelt Sam den Schlagzeuger an, bevor Martin das Wort übernimmt: „Und wer über sie lacht, lacht auch über uns!“
Holla, verteidigt mich gerade meine Band?
Ich stehe genauso verdattert da wie Ansgar, aber umringt von einer Band, die gerade felsenfest erklärt hat, dass ich ein Teil davon bin. Sie erkennen mich tatsächlich als neues Mitglied an!
„Also schieb dir deine dummen Sprüche sonst wo hin, Sir Frank Doe!“, schießt Nino hinterher und Elyas nickt zustimmend. „Noch eine Beleidigung und es knallt“, legt dieser noch einen drauf und mit Schreck stelle ich fest, dass er das wohl ernst meint.
Nein, Jungs, verteidigen ist gut, aber ihr könnt doch nicht meine Lieblingsband zusammenschlagen! Wessen Musik soll ich dann in den nächsten Jahren hören!?
Ich schiebe die Wand vor mir auseinander und stehe nun wieder vor Ansgar. „Sorry“, murmelt dieser leise, sichtlich niedergeschlagen, und ich lächele vorsichtig.
„Ach was, Ansgar“, sage ich möglichst cool. „Ich lebe schon so lange mit Blondinenwitzen, da höre ich die schon gar nicht mehr. Nur die Jungs scheint das etwas anzupissen.“
Er atmet erleichtert aus, wie auch der Rest seiner Band. Haben die alle den Atem angehalten? Oh ha, toller erster Eindruck!
‚Nachwuchsband geht nach Blondinenwitz auf The BossHoss los!’ – Das wäre doch mal eine Schlagzeile für die Presse. Dann hätten wir so was von abgekackt, die Karriere könnten wir knicken und ich könnte mich nie wieder auf einem Konzert blicken lassen, schon gar nicht in den Reihen der Fanclubmitglieder.
Entschlossen drehe ich mich um. „So, Jungs, ich finde es ja toll, dass ihr mich verteidigt“, fange ich an und meine Stimme klingt selbst in meinen Ohren wie die einer Mutter, die ihrem Kind erklärt, dass man mit Filzstiften nicht das Sofakissen anmalt.
„Aber ich kann mich selbst verteidigen, wenn es nötig ist“, erkläre ich. „Ist es aber gerade nicht. Und jetzt entschuldigt ihr euch bei Ansgar und er sich bei euch. Und dann sind wir bitte wieder alle Freunde.“
Und tatsächlich folgen alle vier Streithähne der Rockland Rangers und sogar Ansgar meinem Wunsch. Wow. Damit habe ich jetzt nicht gerechnet.
„Was für ein Auftritt, Kleine!“ Stefan mustert mich neugierig. „Du braucht die gar nicht als Bodyguards, du kommst sehr gut allein zurecht.“
Ich strahle ihn an. „Dankeschön.“
Sascha und Alec tauschen einen irritierten Blick, dann sehen sie mich an. „Ich glaube, jetzt ist alles geklärt und wir können in Frieden professionell zusammenarbeiten“, kommentiert Alec das Geschehen und bietet uns eine handvoll Stühle an.
„Du hast gesagt, ich bekomme eine Kostprobe, Alex“, fängt Sascha an und zieht damit erst alle Blicke auf sich, dann auf mich. Hab ich das gesagt?
„Du hast doch was vorbereitet mit der Gitarre“, sagt er und schaut dann kurz seine Bandkollegen an. „Ich hab ihr nämlich die ersten Akkorde beigebracht, als wir auf der Rockland Ranch zu Besuch waren. Und jetzt spielt Alex seit drei Wochen Gitarre.“
Neugierig und etwas fragend mustern mich die übrigen Cowboys, nur Alec lehnt sich entspannt zurück und deutet auf den Gitarrenkoffer.
„Lass mal hören“, fordert mich Tobi schließlich auf und zeigt auf einen Hocker an der Wand.
Ich stehe auf, stelle den Hocker in die Mitte des Raumes und hole die Gitarre aus dem Koffer. Ich hab sie ja so vermisst! Dieses Holz, die Saiten…
Vorsichtig lasse ich mich auf dem Hocker fallen, ziehe das Plektrum aus der Hosentasche und lege die Gitarre auf mein Bein. Fünfzehn erwartungsvolle Blicke aus dreißig Augen. Schlagartig habe ich Angst.
Was ist, wenn ich versage?
Was ist, wenn sie lachen?
Das Herz schlägt mir bis zum Hals, von meiner anfänglichen Coolness ist gar nichts mehr übrig. Ich kann das nicht!
Aber du hast doch geübt, Alex. Du kannst das natürlich, jeder Akkord, jeder Anschlag sitzt! Außerdem wissen alle, dass du erst drei Wochen lang spielst. Niemand erwartet Wunder von dir, Alex.
Gut zureden nützt nichts. Ich habe weiterhin Panik, traue mich nicht einmal, einen Akkord zu greifen. Und ich will Musikerin sein? Von wegen!
Dann wird mein Blick von dem brauen Klavier angezogen und ich rücke den Hocker entschlossen in dessen Richtung. Es steht einfach nur da, dieses braune Klavier. Lacht nicht, grinst nicht, schaut nicht komisch, schweigt. Der perfekte Zuhörer.
„Okay, Klavier, das hier ist für dich“, murmele ich so leise, dass es niemand hören kann. „Genieß die Vorstellung.“
Das Klavier strahlt eine unheimliche Ruhe aus. Es steht einfach nur still da und gibt mir Sicherheit. Es wird nicht Lachen, sondern ist nur ein ruhiger Zuhörer.
Ich forme mit der linken Hand den ersten Akkord auf dem Griffbrett, die Saiten schneiden sich auf vertraute Weise in meine Finger ein. Der Schmerz ist jedoch schon viel weniger als am Anfang.
Dann berühre ich mit dem Plektrum die Saiten und von da an läuft alles wie von allein. Ich bin wie in Trance, versinke in dem Song, während der Text über meine Lippen fließt.
Habt ihr nichts daraus gelernt?
Hat man euch denn nicht erklärt
wie die Regeln funktionier’n?
Das Spiel versteh’n und auch kapier’n,
dass diese Welt niemand gehört.
Ihr steht hier und wir steh’n da
Vor lauter Angst sieht keiner klar
Ihr seid wütend, wir könn's versteh’n
Doch diesen Weg voll Hass zu geh’n
Löst kein bisschen das Problem!
Ich kann fühlen, was Alex Diehl mit diesen Zeilen meint. Ich kann die Wut, die Verzweiflung in dem Song spüren, aber auch die Hoffnung, dass Menschlichkeit sich durchsetzen wird. Ich bin ein Teil des Songs, ein Teil der Musik.
Aus Angst wird Hass, aus Hass wird Krieg
Bis die Menschlichkeit am Boden liegt
Bis hier alles explodiert
Und jeder den Verstand verliert
Das alles hatten wir schon mal
Unbewusst schließe ich die Augen, bin überrascht, dass ich dennoch die richtigen Saiten treffe. Ich muss nicht mehr schauen, was ich spiele. Meine Hände kennen den Ablauf, vielleicht sogar besser als mein Kopf. Das viele Üben zahlt sich aus.
Und ich hab' keine Lust, nur zuzuseh’n
Bis alles hier in Flammen steht
Ich hab' zu viel Angst, um still zu sein
Es ist nur ein Lied, doch ich sing's nicht allein
Meine Umgebung verschwindet. Nur dieses braune Klavier, das ist noch da. Ich habe es mitgenommen, in meine kleine Traumwelt. In meine Welt von Nur ein Lied.
Denn wie John Lennon glaub' ich daran
The world could live as one!
Ich spüre die Vibration der Gitarre an meinem Bauch, die Töne fluten meinen Körper. Besonders die Basssaiten lassen das Blut in meinen Adern vibrieren, geben den Schlag meines Herzens vor. Ich bin mit ganzem Herzen und ganzer Seele dabei.
Unsere Zeit ist nur gelieh’n
Wollt ihr sie wirklich so verbring’n?
Was muss passier’n, damit ihr seht
Dass das hier auf der Kippe steht
Und dass es nur gemeinsam geht?
Meine Finger fliegen über das Griffbrett. Ich öffne die Augen, schaue ihnen dabei fasziniert zu, beobachte dann meine andere Hand mit dem Plektrum. Mein Kopf hat nichts mehr zu sagen, mein Körper macht sich selbstständig.
Aus Angst wird Hass, aus Hass wird Krieg
Bis die Menschlichkeit am Boden liegt
Bis hier alles explodiert
Und jeder den Verstand verliert
Das alles hatten wir schon mal
Nicht denken, fühlen. Und ich fühle die Musik, jeden Ton, jede Textzeile, jeden Akkord. Mein Kopf hat Sendepause.
Und ich hab' keine Lust, nur zuzuseh’n
Bis alles hier in Flammen steht
Ich hab' zu viel Angst, um still zu sein
Es ist nur ein Lied, doch ich sing's nicht allein
Nein, er singt nicht allein. Ich singe mit. Viele singen mit. Wir sind eines, ein Bündnis gegen den Terror. Ein Bündnis gegen den Krieg und für die Menschlichkeit. Dieser Song muss gehört werden, von allen. Muss verstanden werden, schreit geradezu danach.
Ihr könnt Hass verbreiten, Ängste schür’n
Ihr werdet diesen Kampf verlier’n
Und vor mir steht das Klavier, ruhig und stumm. Bewegungslos. Es lauscht diesem Song. Meinem Song. Und es kommentiert nicht.
Die letzte Textzeile verlässt meine Lippen. Ich höre meine Stimme. „Denn wie John Lennon glauben wir daran“, singe ich, die Augen geschlossen. Nur noch einmal das Plektrum über die Saiten ziehen, dann ist der Song zu Ende. „Dass diese Welt eins werden…“
Ein greller Schmerz schießt mir in die Finger. Ich schreie auf, öffne die Augen. Vor Schreck gleitet mir das Plektrum aus der Hand. Die Gitarre kann ich in letzter Sekunde festhalten.
Mein Blick rauscht auf meine Hand. Unverletzt. Was ist geschehen?
Mein Kopf rast, sucht nach Antworten. Meinen Fingern geht es gut, meinem Körper geht es gut. Aber was war dieser helle Ton, der in meinem Kopf förmlich explodiert ist und meine Traum-Seifenblase zum Platzen gebracht hat?
Meine Augen richten sich auf das Griffbrett. Und dann sehe ich es. Die D-Saite hängt schief. Gerissen. Am zweiten Bundstäbchen.
Ich habe Jesses Gitarre zerstört. Sein zweites Heiligtum vernichtet. Was bin ich? Ein Instrumentenmöder!?
Mir schießen die Tränen in die Augen, ich kann sie nicht zurückhalten. Ich habe die Gitarre kaputt gemacht, Jesses Gitarre…
Ein Schluchzer überrollt mich, mein Blick ist verschwommen. Plötzlich spüre ich große Arme, die mich an eine Brust ziehen. Eine Männerbrust, dem Geruch nach zu urteilen. Jemand nimmt mir die Gitarre aus der Hand.
Ich lasse meinen Tränen freien Lauf, will sie nicht zurück halten. Kann es auch nicht. Das T-Shirt, an welches ich mein Gesicht drücke, wird nass. Es ist mir egal.
Und ihm wohl auch. Er hält mich einfach nur fest, streicht über mein Haar.
Dann noch mehr Hände auf mir. Ein Funkenschlag durchfährt mich. Jesse.
Seine Hände liegen auf meinem Rücken, er murmelt etwas Beruhigendes, dass ich nicht verstehe. Wie kann er so ruhig sein, wenn ich doch gerade sein Heiligtum zerstört habe!?
„Hey, Alex, ist gut.“ Der Mann, an dessen Brust ich mich lehne. Er scheint neben mir zu knien oder zu hocken. Ich weiß es nicht.
„Es ist nur eine gerissene Saite. Nichts Dramatisches“, murmelt er in einem ruhigen Singsang. Ich fühle mich wie ein kleines Mädchen, das gerade hingefallen ist und sich das Knie aufgeschlagen hat.
„Weiß du, selbst mir ist so was schon passiert“, erzählt er leise. „Zuletzt auf der Tour, vor tausenden Menschen in Berlin. In einer ausverkauften Halle.“
Sascha!?
Ich reiße die Augen auf, sehe aber nur schwarz. Schwarz und einen weißen Print.
„Wenn so etwas während eines Konzertes passiert, ist das furchtbar. Selbst für mich, dabei verdiene ich mit der Gitarre meine Brötchen. Oder vielleicht auch gerade deshalb“, fährt er beruhigend fort.
Jetzt erkenne ich eindeutig Saschas Stimme. „Aber hier bist du sicher. Niemand ist sauer auf dich, nur weil deine Saite gerissen ist. Kein Drama, dann kommt einfach eine Neue drauf. Oder am besten gleich ein ganzer Satz und alles ist wieder gut.“
Nichts ist gut, Jesse hat heute keine Gitarre mehr. Egal, was The BossHoss geplant haben, Jesse ist gitarrenlos. Und ich bin schuld.
„Aber… Jesse… Keine… Gitarre…“, bringe ich zwischen den Schluchzern hervor und ich weiß, dass Sascha versucht zu grinsen.
„Keine Gitarre.“ Seine Stimme klingt amüsiert. „Das glaube ich weniger. Unter all den Gitarren hier wird sich eine finden, er spielen kann.“
„Weißt du, ich habe mal gehört, dass Reiter sofort wieder aufsteigen müssen, wenn sie gefallen sind“, sagt Sascha nach ein paar Minuten, in denen ich ihm einfach nur das T-Shirt nass geheult habe. „Ich glaube, das passt auch auf neue Gitarristen.“
Hä? Verstehe ich nicht. Meine Tränen versiegen wie auf Kommando, stattdessen bin ich ratlos.
Ich löse mich von dem nassen Stoff, sehe ihn irritiert an. Er löst die Umarmung, fährt mit den Fingern über die nasse Stelle und schmunzelt.
„Ich glaube, ich brauche mal ein frisches T-Shirt“, meint er und zwinkert Jesse zu, der immer noch hinter mir steht. Dessen Hände kreisen über meinen Rücken, geben mir Sicherheit.
„Oder ich lasse es trocknen“, überlegt Sascha, dann sieht er mich wieder an. „Weiß du, Alex, ich glaube, du brauchst sofort eine andere Gitarre, um noch einmal zu spielen. Nur ein paar Akkorde, damit du keine Angst bekommst. Auftrittsangst, weil du jedes Mal mit einem Saitenriss rechnest.“
„Und ich glaube, ich weiß schon, welche perfekt für dich ist“, wirft Stefan ein. Überrascht stelle ich fest, dass alle mich umringen und besorgt anschauen. „Übrigens: Dein Song war klasse, auch wenn wir nur deinen Rücken sehen konnten.“
„Ein hübscher Rücken kann auch entzücken“, fügt Ansgar an. „Aber deine Stimme… Wow. Wo hast du so gut singen gelernt?“
„Und seit wann spielst du eigentlich wirklich Gitarre?“ Die Frage kommt von André. „Drei Wochen, das kaufe ich dir nicht ab. Hattest ja so gut wie keine Fehler drin.“
Ich fühle mich komplett überrumpelt. So viele Fragen und keine Antworten. Mein hilfloser Blick begegnet Malcolm, der gleich darauf Partei ergreift und halb in Englisch seinen Kollegen erklärt, dass sie mich völlig überfordern.
Sascha legt eine Hand auf meine Schulter und sieht Stefan an. „Na dann, hol mal die Gitarre, an die du denkst“, fordert er ihn auf. „Und du, meine liebe Alex, wirst noch mal spielen. Vielleicht auch so, dass wir dich sehen können. Obwohl dieses Klavier schon ein geduldiger Zeitgenosse ist.“
Alec lacht leise. „Vielleicht sollte Sascha dich beim nächsten Mal begleiten. Dann ist das Klavier nicht mehr so einsam“, schlägt er vor. Ich versuche, seine Überlegung zu verdauen, als mein Blick wieder zu Sascha findet.
Die Umarmung kommt mir in den Sinn. Er strahlt so eine tröstende Ruhe aus, beinahe wie ein Vater. Als wäre er mein Vater. Naja, zumindest mein Seelenvater.
Langsam ziehen sich die Musiker von mir zurück und Jesse schlingt die Arme von hinten um mich. Seine Lippen streifen federleicht mein Ohrläppchen. „Du warst fantastisch, meine Süße“, raunt er mir ins Ohr. „Du machst mich so unglaublich stolz.“
Ich schließe die Augen. Es kann mich loben, wer will, aber diese Worte von Jesses Lippen stehen über allem. Seine Worte sind durch und durch ehrlich, voller Liebe und Glauben an mich. Wenn ich schon nicht an mich glaube, er tut es auf jeden Fall.
„Und mach dir keine Sorgen wegen der Gitarre“, fügt er hinzu. „Ich habe einen kompletten neuen Satz dabei. Nur stimmstabil bekomme ich sie vielleicht heute nicht mehr.“
Er löst die Umarmung und gleich darauf steht Stefan neben mir. Überrascht stelle ich fest, dass ich irgendwann aufgestanden sein musste. Und jemand hat mir den Hocker weg genommen.
Stefan hängt mir eine Gitarre um. Der Gurt drückt auf meine Schulter, ein vollkommen neues Gefühl für mich. Vorsichtig sehe ich an mir herab.
Schwarzer Ledergurt, mit silbernen Nieten besetzt. Daran eine leuchtende rote Gitarre mit eigenartigen Löchern. Geschwungen. Trotzdem ist die Gitarre viel schmaler als Jesses Gitarren. Und so anders.
Sie hängt mir beinahe über den Knien. Ich versuche, meinen Lieblingsakkord zu greifen, A-Moll. Kurz bevor ich die Gitarre berühre, höre ich Saschas Stimme, überrascht mit einem kleinem bisschen Protest.
„He, das ist ja meine“, ruft er leise aus. Stefan grinst breit und zwinkert ihm zu. „Wirst sehen, das passt.“ Er scheint sich ja sehr sicher zu sein.
Moment, Saschas Gitarre!?
Ich schaue noch einmal an mir herab. Der Gurt gehört auf jeden Fall Sascha, allein schon von der Länge. Dann tastet mein Blick die Gitarre ab. Ich schließe die Augen, sehe sie vor mir. Mit Sascha.
Scheiße, ich stehe hier tatsächlich mit Saschas Gitarre! Ich bin völlig perplex, weiß nicht, was ich tun soll.
Und plötzlich steht Tobi neben mir. Kopfschüttelnd schaut er Stefan an, dann nimmt er mir die Gitarre ab und fummelt daran herum.
Als er sie mir wieder umhängt, stelle ich fest, dass sie nun viel weiter oben hängt. Meine Arme sind nicht mehr zu kurz, jetzt könnte ich tatsächlich spielen.
Soll ich das wirklich machen? Saschas Gitarre anfassen?
Alle sehen mich abwartend an, dann macht sich meine linke Hand selbstständig. In der Luft formen sich meine Finger zu einem A-Moll-Akkord, dann treffen die Fingerspitzen die Saiten.
Ein Schlag durchfährt mich. Wie ein Stromschlag, wie ein Funken. Ein Funkenschlag. Aber keiner, der verletzt. Keiner, der weh tut. Mit der Gitarre ist alles in Ordnung, das spüre ich.
Ich fühle mich verbunden mit dieser Gitarre, meinen Daumen streicht in einem kleinen Kreis über den Gitarrenhals. Es fühlt sich an, als würde ich zu dieser Gitarre gehören. Und sie zu mir. Als würden wir uns schon ewig kennen.
Das Plektrum liegt in meiner Hand. Irgendwer hat es wohl aufgehoben und mir gegeben. Ich kann mich nicht daran erinnern.
Vorsichtig ziehe ich es über die Saiten, genieße den leisen Ton. Sauge ihn mit all meinen Sinnen auf. Das ist so ganz anders als Jesses Lagerfeuergitarre.
Was ist das hier eigentlich für eine Art Gitarre? Für eine richtige Akustik ist sie irgendwie zu leise, für eine E-Gitarre zu hohl…
„Warte mal“, unterbricht Tobi meine Gedanken. „Jungs, sie hat keinen Storm!“ Er springt zu mir herüber, um mich herum und plötzlich steckt ein Kabel in der Gitarre.
Wieder lasse ich das Plektrum über die Saiten greifen. Ein E-Gitarrensound beinahe ohne Verzerrung schlägt mir entgegen. Der Klang dringt in mich ein, bringt mein Blut zum Fließen, mein Herz zum Schlagen, meine Lunge zum Atmen.
Kann man sich in eine Gitarre verlieben? Wie Liebe auf den ersten Blick? Wenn das möglich ist, so habe ich es gerade getan…
Meine Finger drücken sich auf die Saiten, ganz leicht. Mit dieser Gitarre scheint alles so fließend möglich zu sein, so leicht, so einfach, so ohne Kraft und Anstrengung.
Ich bin begeistert, habe längst meine Zuschauer verdrängt. Es gibt nur noch mich und Saschas wunderschöne rote Gitarre an seinem nietenbesetzten Gurt. Ich kann es kaum fassen. Ich spiele hier tatsächlich auf Saschas Gitarre!
Auf der Gitarre von Hoss Power, dem Meister. Meinem Meister. Meinem Lehrer, meinem Vorbild, meinem Lieblingsgitarristen. Seine Gitarre, eines seiner Heiligtümer.
Mir ist es völlig egal, dass das hier nicht seine berühmteste Gitarre ist. Sie gehört ihm und er vertraut sie mir an. Naja, zumindest hat er es nicht verhindert.
Meine Hände machen sich selbstständig und meine Stimme schließt sich an. Ich spiele Joshua fit the battle of Jericho mit so einer Freude, dass ich es selbst kaum glauben kann. Dabei laufe ich quer durch den Proberaum, hin und wieder lege ich einen Freudensprung ein. Mit dieser Gitarre in der Hand scheint alles möglich zu sein.
Als ob wir uns ewig kennen würden, bis auf das Blut vertraut wären. Wir sind ein Team, eine Einheit und ich weiß, dass das hier die perfekte Gitarre für mich ist. Stefan hat recht.
Ich muss nicht einmal auf die Finger schauen, alles läuft von allein. Ich genieße den Klang, die Vibration der Saiten unter meinen Fingern, genieße den Song. Tief in mir weiß ich, dass ich gerade eine völlig andere Alex bin.
Eine, die ich auch noch nicht kannte.
Ich hebe den Blick, treffe auf viele Augen, die mich mit faszinierten und überraschten Blicken mustern. Alec steht der Mund offen, André schüttelt den Kopf, Ansgar hat die Augenbrauen hoch gezogen.
Meine Jungs rocken als Gruppe neben Dina ab, die pfeift und jubelt, als wäre ich ein Star. Nino unterstüzt mich dabei mit dem Gesang und schmettert in einer Lautstärke die Textzeilen entgegen, dass sie sich tatsächlich gegen den Verstärker behaupten können.
Keine Ahnung, was die alle auf einmal haben. Ich spiele doch nur Gitarre. Vielleicht nicht besonders gut, denn ich greife auch immer mal wieder daneben, das merke ich ja selber, aber dafür umso leidenschaftlicher. Und die Fehler sind mir so egal wie noch nie zuvor.
Nie wieder gebe ich diese Gitarre her!
Dann ziehe ich ein letztes Mal das Plektrum über die Saiten. Joshua fit the battle of Jericho ist vorbei.
Ich schaue Sascha an, der Beifall spendet, und folge meiner inneren Stimme, indem ich auf ihn zu gehe und ihm um den Hals falle.
„Danke, Sascha!“, kommt es leise und mit zittriger Stimme von mir. Meine Stimme versagt, meine Emotionen kochen über. „Danke für diesen Moment!“
„Ich danke dir für diesen Moment“, erwidert er ebenfalls und grinst. „Aber bedanke dich besser bei Stefan, der hat die Gitarre für dich ausgesucht.“
Und gleich darauf leiste ich seiner Aufforderung folge und ziehe Stefan in meine Arme. Die Gitarre drückt auf meine Hüfte, aber das ist mir egal. Ich gebe die nicht mehr her. Die gehört zu mir!
„Danke, Stefan“, murmele ich, ringe um meine Stimme. Was ist nur los mit mir? Singen konnte ich doch gerade auch noch.
„Erklärt mir jetzt mal einer, seit wann Alex wirklich Gitarre spielt?“, fragt André in die Runde. „Ganz ehrlich, das mit den drei Wochen kaufe ich euch ohne Beweise nicht ab! Drei Monate vielleicht, das ist realistischer…“
Ich löse mich von Stefan, starre André vorwurfsvoll an. „Ich spiele wirklich erst seit drei Wochen!“, protestiere ich. „Sascha hat mir die ersten Akkorde gezeigt, Alec und die kompletten Rockland Rangers sind Zeuge.“
„Moment, ich glaube, ich habe einen Beweis“, sagt Alec triumphierend und zieht sein Handy hervor. „Ohne hätte ich das hier vermutlich auch nicht geglaubt. Mein Gott, Alex, du bist ja doch eine Rampensau! Ich wusste es ja schon immer!“
Rampensau? Ich? Ich bin garantiert alles, aber genau das nicht!
Alec tippt auf seinem Smartphone herum und mich beschleicht ein komisches Gefühl. „Was hast du denn für einen Beweis?“, platzt die Frage aus mir heraus.
Ich bin irritiert. Warum ist ein Beweis auf seinem Handy? Was denn für einer?
Strahlend hält Alec schließlich André, Sascha und mir sein Handy unter die Nase, die restlichen Cowboys beugen ebenfalls ihre Köpfe neugierig über das kleine Display.
Alec startet das Video. Ich sehe mich, mit Jesses Gitarre auf dem Schoß auf unserem Bandsofa. Neben mir – ganz eindeutig – Sascha. Im Hintergrund läuft ein Gespräch über irgendwelche Technik, etwas mit Verstärkern und Mischpulten, doch ich kann nicht folgen, da meine einzelnen, teilweise unbeholfenen Akkorde die Stimmen übertönen.
Sascha beteiligt sich teilweise am Gespräch, teilweise erklärt er mir irgendwas. Ich sehe meine Finger, die sich nacheinander auf die Saiten setzen. Meinen überraschen Gesichtsausdruck, wenn es tatsächlich klingt. Dann bricht das Video ab.
„Ihr habt mich gefilmt!?“ Ich bin schockiert. Warum habe ich das nicht bemerkt!?
„Weil du mit der Gitarre beschäftigt warst“, antwortet Alec ruhig. „Du denkst übrigens laut. Und außerdem: ICH habe gefilmt. Muss doch festhalten, dass meine bessere Hälfte Gitarrenunterricht gibt.“
„Das Video ist tatsächlich drei Wochen alt“, stellt Ansgar überrascht fest. „Drei Wochen, und jetzt rockst du den Proberaum, als hättest du nie etwas Anderes getan.“
„Hat dir eigentlich inzwischen schon mal jemand Powerchords gezeigt?“, fragt mich Sascha und ich schüttele den Kopf.
Was soll das denn sein? Muss man da besonders stark drücken? Oder besonders stark die Saiten anschlagen?
„Offensichtlich nicht, so viele Fragezeichen, wie gerade über deinem Kopf auftauchen“, stellt er fest und löst mich aus der Gruppe. „Pass auf, den Finger hier hin und den da hin und den noch hier hin.“
Er sortiert meine Greifhand neu. Im ersten Moment fühlt es sich an, als würde ich mir sämtliche Gelenke auskugeln. Aber als er loslässt, ich die Hand ausschüttele und wieder die Finger auf ihre Plätze stelle, kommt mir das gar nicht mehr so schlimm vor.
„Und jetzt spiel mal nur die oberen drei Saiten an“, fordert Sascha mich auf. „Gerne auch schnell hintereinander.“
Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Stefan am Verstärker rum fummelt, an dem ich ja irgendwie mit der Gitarre hänge. Ein bisschen wie ein Hund an einer sehr langen Leine. Oder wie Lynn an der Longe, wenn ich mit ihr und Rhea spazieren reite.
Als ich das Plektrum in meine Hand lege, schaut mich Sascha überrascht an. „Das ist ja meins!“, stellt er fest. „Ich habe es schon gesucht. Hab gedacht, ich habe es verloren…“
„Das tut mir leid“, entschuldige ich mich und mit traurigem Blick reiche es ihm. So richtig gerne gebe ich es nicht her, aber ein Dieb bin ich auch nicht. „Ich wollte es nicht stehlen…“
Sascha grinst plötzlich, Alec lacht aus voller Kehle. Ich mag dieses tiefe Lachen, es stimmt mich augenblicklich wieder fröhlich. Gleichzeitig bin ich absolut verwirrt.
„Ich glaube, der Sasch kann auf ein Plektrum gut verzichten. Er hat noch mehr davon, kannst du mir glauben…“, meint Alec schmunzelnd.
Sascha legt seine Hand um meine und drückt diese zur Faust zusammen. „Ich schenke es dir“, sagt er und lacht. „Das Plektrum gehört immer dem, der es abgespielt hat. Wenn du nachher ein Neues brauchst, sag Bescheid. Ich habe tatsächlich noch eine ganze Menge.“
Ich öffne die Faust, starre das kleine Stück Plastik an. Ein Plektrum von Hoss Power! Sascha persönlich hat mir sein Plektrum geschenkt!
„Na dann mal los, Alex“, reißt er mich aus meinen Gedanken. „Hau in die Saiten, zeig uns mal die Power im Powerchord!“
Begeistert folge ich seinem Appell und bin überwältigt. E-Gitarre pur schlägt mir entgegen, ich fühle mich wie ein Rockstar. Immer und immer wieder ziehe ich das Plektrum über die Saiten.
Sascha brüllt mir in die Ohren, um wie viele Bünde ich das Gebilde verschieben soll und ich tue es einfach. Nach einer Weile schiebe ich den Akkord nach Gefühl hin und her. That’s the real rock’n’roll!
Seit wann denke ich auf Englisch!?
Ich schüttele den Kopf, genieße die Gitarre, die Powerchords. Sie haben ihren Namen verdient, eindeutig. So viel Power, wie mir entgegen schlägt, habe ich noch nie erlebt.
Mein Körper macht sich selbstständig, ich tue so, als würde ich auf einer riesigen Bühne stehen, wäre der Held an der Gitarre persönlich. Es macht so einen Heidenspaß! Als ob die Gitarre mir zuflüstern würde, was ich tun muss.
„Yeah!“, kreischt Dina mir ins Ohr und alle stimmen nacheinander ein, schreien, jubeln und irgendwie scheint das hier eine Art Party zu werden.
Völlig aus der Puste lasse ich schließlich mein Arm sinken. Die Finger meiner linken Hand schmerzen, mein rechter Arm ist müde und ich habe morgen garantiert Muskelkater, aber ich bereue keine Sekunde meines Spiels.
Sascha zwinkert mir zu, dann sucht sein Blick nach Jesse. „Sag mal, du hast doch erzählt, du wärst gern ein bisschen frei auf der Bühne“, fängt er an. Warum kann ich mich an dieses Gespräch nicht erinnern? „Frei wie Alec, ohne Gitarre, ohne am Verstärker zu hängen…“
„Ähm...Ja...“, gibt Jesse langsam zu, weiß offenbar genauso wenig wie ich, worauf Sascha hinaus will. Dafür weiß es Alec umso besser, denn der strahlt Jesse, Sascha und mich im Wechsel an.
„Jesse Maxwell, darf ich dir jemanden vorstellen?“, fängt Alec an und legt mir einen Arm um die Schultern. Was wird das denn jetzt? „Das ist Lady Alex, deine neue Rhythmusgitarristin.“
Bitte WAS!?
Bevor ich dem Gedanken nachgehen kann, hängt mir schon Dina um den Hals. „Alex, das ist ja großartig!“, brüllt sie und ich zucke vor Schreck zusammen. „Herzlichen Glückwunsch!“
Zweifelnd schaue ich erst Alec, dann Sascha und schließlich Jesse an. Alec strahlt, Sascha grinst breit und Jesse spiegelt meine irritierte Miene wieder. Irgendwie sind wir jetzt wohl beide überrumpelt.
„Also, wenn Alex noch ein bisschen übt, könntest du ihr nächstes Jahr auf Tour für ein paar einzelne Songs die Rhythmusgitarre überlassen“, stimmt Sascha seinem besten Freund zu. „Nur so als Test.“
Wer sagt denn überhaupt, dass wir nächstes Jahr auf Tour gehen? Wir haben nicht einmal ein gutes Album am Start, das Debüt der Rockland Rangers hat ja bisher auch niemanden interessiert. Eine Woche auf Platz 93 der Charts, dann auf Nimmerwiedersehen und das alles, bevor ich Jesse kennen gelernt habe…
„Können wir jetzt zum nächsten Punkt übergehen?“, meldet sich Ansgar zu Wort. Punkte!? Sind wir beim Wettkampf oder in der Vorstandssitzung?
„Ja, genau“, stimmen Tobi und André zu. Stefan nickt heftig. „Wir wollen jetzt auch endlich mal Close hören in eurer Version. Boss und Hoss konnten sich vor Begeisterung nicht mehr zurückhalten!“
Dabei zeigt der Gitarrist auf die beiden Frontmänner, die sich prompt anschauen und lachen müssen. Und wir, die Rockland Rangers, stehen weiterhin im Mittelpunkt. The BossHoss lässt ja gar nichts anderes zu.
„Können wir machen, aber da müssen wir erstmal unser Equipment holen“, wendet Martin ein. „Ihr könnt ja mit helfen beim Tragen.“
„Haben wir eigentlich den Schlüssel?“, wirft Sam ein. „Den hatte doch Lizzy und die ist…“
Jesse zieht triumphierend den Schlüsselbund aus der Hosentasche. „Sie hat ihn mir überlassen“, erklärt er rasch. „Wir brauchen ja unsere Instrumente, wäre ja sonst albern.“
„Na dann, Jungs, helft mal unseren Gästen beim Tragen“, übernimmt Sascha das Kommando, bekommt aber prompt schiefe Blicke von seinen Bandkollegen.
„What about you?“, fragt Malcolm nach, aber Sascha grinst nur breit und deutet auf mich.
„Ich werde meiner Meisterschülerin jetzt mal zeigen, wie man die Saiten wechselt“, verkündet er und stellt sich an meine Seite. „Das lernt man am besten vom Profi.“
Tobi lacht kurz auf. „Na dann, lassen wir den Sascha mal machen“, ruft er aus und eilt Jesse hinterher. „Gibt bestimmt genug für jeden zu tragen.“
Die Herren verlassen das Zimmer, Dina folgt ihnen. Ach ja, sie hat ja ihre Zeichenausrüstung mitgenommen und die liegt noch im Kleinbus. Seit ein paar Wochen übt sie sich im schnellen Zeichen von Portraits und hofft, sich hier ein bisschen austoben zu können.
Als Sascha nach der Gitarre, die immer noch vor meiner Hüfte hängt, greifen will, lege ich beide Arme reflexartig um das rote Holz. Dann schüttele ich heftig den Kopf.
„Komm schon, Alex, nur neben das Sofa. Weiter weg werde ich sie gar nicht stellen“, beschwichtigt er mich, aber ich sehe ihn nur skeptisch an.
Meine Gitarre. Die bekommst du nicht mehr zurück.
„Du magst die wirklich, oder?“, fragt Sascha mit hochgezogenen Augenbrauen. „Ich würde sie dir sogar überlassen, wenn ich sie nicht selber so gerne spielen würde. Aber ich schlage dir einen Deal vor: Ich höre mich um, ob irgendjemand dieses Modell noch auf Lager hat und lasse es für dich reservieren. Dafür gibst du mir jetzt meine Gitarre zurück und ich stelle sie hier drüben neben dem Sofa ab.“
Ich lege den Kopf schief. Diese Gitarre hergeben, dafür hört sich Sascha nach einer um, die ich kaufen könnte. Klingt doch eigentlich ziemlich verlockend.
Vorsichtig nehme ich die Gitarre ab und gebe sie ihm zurück. „Aber was ist, wenn ich mir die gar nicht leisten kann?“, fragte ich sofort nach, als der Gedanke in meinem Kopf auftaucht. „Ohne die Band kann ich ja nicht einmal mein Studium finanzieren.“
„Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg“, gibt Sascha lässig zurück und lässt sich mit Jesses Lagerfeuergitarre und einem neuen Satz Saiten auf das Sofa fallen. Dann klopft er auf den Platz neben sich, um mir zu zeigen, dass ich mich setzen soll.
Deutlich weniger schwungvoll setze ich mich neben Sascha. „Also, pass auf, Alex“, fängt dieser sogleich an. „Erstmal die alte Saite runter. Die neuen Saiten sind übrigens alle beschriftet, damit jede an den richtigen Platz kommt…“
Und dann legen seine Finger geschickt los. Vollkommen fasziniert verfolge ich, wie er zuerst die alte Saite löst, dann die neue Saite mit der Kugel einhängt und das andere Ende am Stimmwirbel befestigt.
„Und dann musst du sie noch dehnen“, fügt er hinzu und zieht die neue Saite in die Höhe. Plötzlich habe ich wieder Angst, sie könnte reisen. Aber sie ist nur locker geworden. Sascha stimmt sie nach und wiederholt das Ganze ein paar Mal. Dann zieht er zwei weitere Saiten auf.
Die Jungs stürmen inzwischen den Proberaum, bringen allerlei Instrumente und Technik hinein. Ich frage mich, wie das überhaupt alles in den Kleinbus gepasst haben kann. So viel Zeug und dabei sind wir ja nur eine kleine Band.
„Jetzt bist du dran.“ Sascha schiebt mir die Gitarre auf den Schoß und erklärt mir, was ich machen muss. Ich bin überrascht, dass das so einfach ist. Wenn ich das früher gewusst hätte, wäre mir diese Saite nie gerissen. Ich hätte sie einfach vorher gewechselt.
Aber ohne Saitenriss hätte ich auch nie die rote Gitarre spielen dürfen.
Sehnsüchtig streift mein Blick diese, ich habe das Gefühl ihrer Saiten unter meinen Fingern. Oh ja, dieses Modell und kein anderes. Ich will sie unbedingt haben!
„Alex, bleib bei der Sache“, ermahnt mich Sascha und erschrocken stelle ich fest, dass ich die H-Saite beinahe auf den Wirbel für die E-Saite geknotet hätte. Das wäre nicht so gut gewesen, glaube ich.
„Fertig.“ Alec klatscht in die Hände. Dann knurrt sein Magen als Antwort so laut, dass sogar ich es hören kann. Belustigt ziehe ich eine Augenbraue hoch.
„Ist ja inzwischen schon Mittagszeit…“, murmelt Alec entschuldigend. „Da darf man ja schon mal Hunger haben, oder?“
Ich zucke mit den Schultern und stimme die letzte Saite. Sascha wirkt zufrieden. „Und nach dem Essen stimmen wir erneut“, beschließt er und wartet, bis alle endlich wieder im Proberaum angekommen sind.
Eigentlich warten wir alle nur auf Malcolm. Der ist auf sonderbare Weise verschwunden und hat wohl was von Mittagessen gemurmelt.
Der Rest der beiden Bands ist wieder im Studio angekommen und beobachtet Dina, die bereits um Erlaubnis für ein paar Portraits gebeten hat, beim Zeichnen. Ihr Bleistift fliegt über das Blatt, aber ich schaue absichtlich nicht auf das, was sie da zeichnet.
Sie hasst es, wenn ich das tue. Ich bin neben ihr selbst ihre härteste Kritikerin, sagt sie. Kann ich gar nicht verstehen, in meinen Augen zeichnet sie fantastisch.
„Naja, solange wir warten, könnt ihr unser Mitbringsel auspacken“, überlegt Elyas laut. „So ein richtiges Gastgeschenk haben wir nicht, aber dafür etwas, dass ihr unbedingt signieren müsst, und dafür bekommt ihr auch eins.“
Alec und Sascha werfen sich einen verwirrten Blick zu, der uns zum Lachen bringt. Dina dagegen legt den Bleistift weg, greift zielsicher in ihre Tasche und zieht ein kleines Päckchen hervor. Sams Freundin Sarah hat es liebevoll eingepackt, sie macht das so gerne.
Jesse nimmt Dina das Päckchen ab. „Im Namen meiner Band möchte ich euch ein kleines Andenken überreichen“, verkündet er stolz und reicht Alec und Sascha das Geschenk. Beide schauen das Päckchen an.
„Na los, Jungs, aufmachen!“, ruft Ansgar und stimmt einen Chor an, in den alle einsteigen. „Aufmachen! Aufmachen!“
„Schon gut, schon gut.“ Sascha hebt beschwichtigend die Hände. „Ich die Schleife und du das Papier, Al?“
Alec nickt. Sascha streift das Schleifenband ab, dann zerlegt Alec das Geschenkpapier und reißt es hastig in viele kleine Stückchen.
Plötzlich fallen ihm fast die Augen aus dem Kopf. „Hallelujah!“, entfährt es ihm, synchron mit Sascha. Das Geschenk ist eine gerahmte Collage mit den Bildern vom Besuch auf der Rockland Ranch.
In der Mitte der Schnappschuss auf dem Sofa, darunter in Farbe das gemeinsame Foto der beiden Cowboys mit unseren Pferden. Aber die Highlights sind die Einzelfotos an den Seiten in schwarz-weiß. Dina hat ganze Arbeit geleistet.
Ansgar stößt einen anerkennenden Pfiff aus, die anderen atmen deutlich hörbar ein. Und bevor irgendjemand etwas sagen kann, hat Dina schon zwei A3-Poster in der Hand, die sorgfältig aufgerollt sind.
„Das sind unsere“, erklärt sie. „Für den Proberaum. Aber da fehlt eindeutig ein Autogramm.“
Ich muss zugeben, in A3 sehen die beiden Frontmänner noch besser aus. Alecs durchdringender Blick, oben ohne und dann noch Rhea, die ihn sichtlich zum Fressen gern hat. Der perfekte Casanova.
Ganz im Gegenteil dazu Sascha. Er lehnt halb an Hyperions Brust, grinst lässig in die Kamera. Irgendwie hat er was von einem großen Bruder, den man so gerne durchknuddeln möchte.
„Na, wenn es weiter nichts ist“, meint Sascha und hat sogar einen Edding parat. „Wir beide, Al, an der Wand im Proberaum auf der Rockland Ranch!“ Dabei klopft er ihm auf die Schulter.
Alec grinst. „Und Alex hat dann immer zwei Poster vor Augen, um sich ihren Fan-Fantasien hingeben zu können“, fügt er hinzu und grinst schelmisch. „Quasi zum Dauerschmachten.“
Das ich bei diesem Spruch rot werde, muss ich nicht noch erwähnen, oder? Die Hitze breitet sich über meinem Gesicht aus und den amüsierten Blicken von The BossHoss zufolge scheinen das auch alle zu bemerken.
Genau in diesem Moment erklingt Malcolms fröhliche Stimme: „Mittagessen ist da!“ Ich bin erleichtert, dass sich sofort alle zur Tür drehen und meine Gesichtsfarbe die Chance bekommt, sich zu normalisieren.
Malcolm geht langsam auf die Tür zu, in seinen Armen schwankt der schiefe Turm von Pizza. Er hat Mühe, keinen der vierzehn Kartons fallen zu lassen, und sicher durch die niedrige Tür zu navigieren, ohne dass der Turm an der Decke aneckt und einstürzt.
„Ihr dürft mir auch helfen“, fügt er hinzu und sofort stehen Alec und Ansgar neben ihm und nehmen ihm beinahe alle Kartons ab. Ansgar scheucht uns an den Tisch, während Alec nach einem Schema, das offenbar nur ihm bekannt ist, die Pizzen verteilt.
„Pizza! Wie geil ist das denn?“, freut sich Sam und reißt schwungvoll seinen Karton auf. „Und auch noch Pizza Salami, die esse ich am liebsten!“
„Und ich hab Peperoni drauf“, stellt Elyas erstaunt fest. „Und Mozzarella. Die beste Kombination überhaupt!“
„Pizza Fungi!“, ruft Martin begeistert und geht mit der Nase ganz dicht an die Pizza, um an ihr zu riechen. Genießerisch schließt er die Augen. „Meine Lieblingspizza. Und wie die duftet!“
Nach und nach öffnen all meine Bandmitglieder ihren Karton und stellen mit Begeisterung fest, dass jede mit dem jeweiligen Lieblingsbelag bedeckt ist.
Ich schaue Alec neugierig an. Woher weiß der, dass wir so dermaßen auf Pizza stehen? Und vor allem: Woher kennt der unsere Lieblingspizzen?
Zögernd klappe ich meinen Karton einen Spalt weit auf. Ich liebe Pizza mit Champignons und Ananas, aber beide Belege auf einer Pizza gibt es meistens nicht, außer als teurere Sonderanfertigung. Deshalb schwanke ich jedes Mal zwischen Pizza Hawaii und Pizza Calzone.
In Zeitlupe öffne ich den Deckel und lasse ihn gleich darauf wieder los. Oh, mein Gott! Ananas und Pilze! Auf einer runden, perfekt geachtelten Pizza! Rein optisch sieht die schon so megalecker aus, dass bei mir alle Sicherungen durchbrennen.
Fassungslos starre ich Alec an. Woher weiß er das!?
„Ihr habt ein Bild gepostet beim WG-Einzug von Sarah und Cindy“, beginnt Alec und schiebt sich ein Stück in den Mund. Wie gut, dass hier niemand mit Besteck isst. Das wäre doch irgendwie viel zu spießig.
„Und da habt ihr Pizza gegessen und kommentiert, dass das eure Leibspeise wäre“, fügt er mit halbleerem Mund hinzu. „Das war der einzige Anhaltspunkt für das Mittagessen, den ich hatte. Also hab ich das Bild analysiert und versucht, eure Beläge zu erraten.“
„Gestern noch bestellt bei einem guten italienischen Freund“, ergänzt Sascha und greift nach dem nächsten Stück. „Damit die heute pünktlich geliefert werden.“
„Ihr seid irre.“ Eine bessere Beschreibung finde ich gerade nicht. Aber hallo? Die haben unsere Lieblingspizzen bestellt ohne uns zu fragen! Das ist eine Meisterleistung!
„Scheint, als habe ich euren Geschmack gut getroffen.“ Alec klopft sich auf die Schulter. „Ich weiß, Eigenlob stinkt. Aber das musste jetzt mal sein.“
Ich verziehe die Mundwinkel zu einem Grinsen, während ich auf bereits auf dem dritten Stück Pizza kaue. Die Champignons mischen sich in meinem Mund mit der frischen Ananas, dazu die Tomatensoße…
Die Pizza ist wirklich köstlich. Die Beste, die ich jemals gegessen habe. Die stellt sogar die Pizza Calzone mit Lucy im Bahnhof vollkommen in den Schatten.
Lucy. Wieso muss ich schon wieder an sie denken? Ich darf auf keinen Fall vergessen, sie nach dem Hörerkonzert auf die Ranch einzuladen...
„Sag mal, ist das nicht unser Blitz da?“, fragt Stefan aus heiterem Himmel und schaut Jesse an. Beziehungsweise dessen Arm.
Jesse folgt Stefans Blick langsam, dann streicht er liebevoll über den kleinen Blitz auf dem Unterarm, dessen Ränder noch gerötet sind. Sein neustes Tattoo, gerade mal eine Woche alt.
Es ist noch nicht perfekt verheilt, aber er durfte vor ein paar Tagen endlich den Verband abnehmen. Jesse ist da immer so schrecklich ungeduldig, wenn es um neue Symbole auf seinem Arm geht. Er will sie am liebsten gleich offen zeigen.
„Also doch, es ist unser Blitz!“, stellt Stefan überzeugt fest. „Ist das etwa ein Fan-Tattoo?“ Mein Freund lacht und schüttelt den Kopf.
„Wir sind jetzt wohl eher ein Teil der Bandbiografie der Rockland Rangers“, mutmaßt Alec, der inzwischen seine Pizza verdrückt hat. Wie eigentlich alle am Tisch, wenn man Dina und mich außen vor lässt.
Wir essen eben einfach nicht so schnell, dafür sind wir ja auch Frauen. Ganz die Genießerinnen eben.
„Wie jetzt?“ Tobi wirkt ratlos und mustert Jesses Arm ebenfalls genauer. Innerhalb einer Minute hängen alle Blicke auf dem nackten Arm. Wie gut, dass Jesse ein Tank Top und keinen Pullover trägt, sonst hätte er sich jetzt ausziehen müssen.
Allein bei der Vorstellung freut sich mein Kopfkino. Meine Gedanken ziehen ihm das Shirt über den Kopf, dann lösen sie den Gürtel…
„Alec hat recht“, reißt mich Jesses Stimme aus den Gedanken. Gerade noch rechtzeitig, glaube ich.
Dann beginnt mein Freund zu berichten, erklärt die Bedeutungen und Geschichten, die hinter seinen Tattoos stehen und die Großstadtcowboys sind sichtlich beeindruckt. Offenbar gibt es nicht viele Künstler, die ihre Biografie auf dem Arm herum tragen.
„Und was sind das jetzt für Zahlen in dem Blitz?“, will André wissen. Jesse schaut ihn überrascht an.
„Du hast erkannt, dass das Zahlen sind?“, stellt er verblüfft fest. „So winzig, wie die sind, musst du Adleraugen haben!“
André lacht nur und verkneift sich einen Kommentar, verlangt aber immer noch nach einer Übersetzung für die Zahlen.
„Das ist das Datum vom Hörerkonzert und das vom Besuch eurer Sänger auf der Rockland Ranch“, erklärt Jesse stolz. „The BossHoss ist nun ein Teil der Biografie der Rockland Rangers.“
„Dankeschön für die Ehre“, sagt Alec und grinst mit Sascha um die Wette.
Kaum habe ich den letzen Bissen herunter geschluckt, schauen mich auch schon sieben Cowboys abwartend an. Ich weiß, dass ich nicht die schnellste Pizza-Verdrückerin bin, aber manche Dinge im Leben muss man eben einfach genießen.
„Jetzt will ich aber endlich Close hören!“, fordert Ansgar und zieht sein Smartphone hervor. „Ich habe dieses Video gefühlte hundertmal gesehen, aber die Qualität ist nicht berauschend. Deshalb will ich das jetzt live haben.“
„Einverstanden“, sagt Jesse und legt mir einen Arm um die Schultern. „Ich bin froh, dass ihr das Video entdeckt habt. Sonst hätten wir euch nie kennen lernen dürfen.“
„Was soll das heißen? Entdeckt hat dieses Video von uns nur einer, und das bin ich!“, erklärt Ansgar und verschränkt die Arme. „Hätte mich das nicht berührt, hätten meine Kollegen hier nie davon erfahren.“
Mir klappt das Kinn herunter. Darauf fällt mir kein einziger sinnvoller Satz ein. Wir haben es also dem Drummer zu verdanken, dass wir hier sein dürfen? Ausgerechnet Ansgar, mit dem sich meine Band noch in der Vorstellungsrunde angelegt haben? Schämen sollten sie sich dafür!
Martin, Sam, Nino und Elyas rücken ihre Instrumente in einem Kreis zusammen, während Jesse mich auf einen Hocker setzt. Dann nimmt er seine Gitarre, stimmt sie und spielt ein paar Töne an. Zuerst klingt das normal, aber dann...
Sascha hält sich die Ohren zu. „Stopp!!!“, ruft er verzweifelt. „Das kannst du meinen Ohren nicht antun, die ist schon wieder völlig verstimmt und wird jetzt erstmal auch nicht stabil!“
Jesse hält inne und starrt die Gitarre an. „Ich fürchte, du hast recht“, gibt er zu und stellt die Gitarre zu Seite. „Aber Close ohne Gitarre?“
„Wartet mal, ich hole eine andere“, erklärt Sascha und verlässt den Proberaum. Jesse zuckt hilflos mit den Schultern und schaut in die Runde.
„Ach, komm schon, Jesse“, meint Elyas neben ihm. „Das wird schon. Du spielst doch nicht zum ersten Mal auf einer fremden Gitarre.“
Dann steht Sascha vor ihm und reicht Jesse eine schneeweiße Westerngitarre. Ein Blickfang ist diese ja schon, aber sie hat einen anderen Körper. Viel birniger, weniger bauchig als die Lagerfeuergitarre.
Jesse sieht die Gitarre mit einer Mischung aus Zweifel und Dankbarkeit an. Er rückt sie auf seinem Schoß zurecht, setzt die Finger auf und schaut Elyas abwartend an. Dieser zählt ein und Jesse beginnt zu spielen.
Er kommt ganze drei Takte weit, bevor Stefan ihn kopfschüttelnd unterbricht. „Nein, nein!“, ruft dazwischen. „Das klingt ja ganz anders als auf dem Video.“
„Na, ist ja kein Wunder. Bei der Qualität“, gibt Martin spöttisch zurück. „Da du da überhaupt eine Gitarre heraushören kannst…“
„Mir gefällt das hier gerade auch nicht so“, hakt sich Alec ein. „Ich habe diesen Song live gehört, aber die Gitarre hier… Die passt nicht. Die ist so… Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll…“
„Machen wir es doch kurz: Jesse braucht für diesen Song keine Dreadnought, sondern eine Jumbo“, fasst Tobi zusammen. „Sascha?“
Sascha schaut fragend in die Runde und schüttelt langsam den Kopf. „Sorry, nein“, erklärt er hart. „Ich gebe garantiert nicht meine Lady aus der Hand!“
„Und ich will Close nicht mit einer Dreadnought-Gitarre hören“, erklärt Stefan empört und verschränkt die Arme.
„Aber ich will Close hören!“, protestiert Ansgar, ebenfalls mit verschränkten Armen. Mein Blick springt zwischen den einzelnen Bandmitgliedern hin und her. Sind wir jetzt etwa im Kindergarten?
„Dann eben doch ganz ohne Gitarre“, wirft Jesse ein und stellt die weiße Gitarre zu Seite. Prompt erntet er sieben entsetzte Blicke.
„NEIN!“, kommt es synchron von sieben Großstadtcowboys. Ich hebe die Schultern und lasse sie wieder fallen. Das kann sich wohl noch eine Weile ziehen…
Alec legt einen Arm um Sascha. „Komm schon, Großer“, murmelt er leise, aber trotzdem so deutlich, dass ich jedes Wort verstehe. „Nur für Close. Ich durfte sie schließlich auch schon oft genug spielen, jedes Mal bei Hot in Here – da hast du auch nie ein Drama draus gemacht.“
„Aber da hast ja auch du gespielt“, meint Sascha und bedeckt Alec mit einem warmen Blick. „Dir vertraue ich mein Leben an, warum solltest ich dir dann nicht auch meine Lieblingsgitarren anvertrauen?“
„Du kennst aber meine mangelnden Gitarrenkünste“, sagt Alec und lacht. „Wenn Alex noch zwei, drei Wochen übt, hat sie mich locker überholt!“
„Trotzdem, die Gibson wird nicht verliehen“, bleibt Sascha hart. Ich seufze leise. Das kann doch jetzt nicht wahr sein! Und ich trage die Schuld an der ganzen Sache.
Dann muss ich es also auch wieder grade biegen. Mein Kopf rattert, sucht nach einer Lösung. Und plötzlich leuchtet eine Lampe in meinem Gehirn auf. Bestechung. Wenn das nicht klappt, weil ich auch nicht.
„Sascha, ich habe einen Deal für dich“, sagte ich und versuche, wie ein erbitterter Verhandlungspartner zu klingen. „Entweder überlässt du Jesse die Gibson oder ich bekomme deine rote Gretsch. Aber letztere für immer!“
Um mein Gesagtes zu unterstützen, deute ich auf die schöne rote Gitarre, die mich förmlich anstrahlt. Sascha bewegt keine Miene und ich beschließe, noch einen Schritt weiter zu gehen.
In Zeitlupe stehe ich auf. „Du hast so lange Bedenkzeit, bis die Gitarre in meinen Händen ruht“, stelle ich das Ultimatum. Dass ich mich hier mal wieder mit meiner Lieblingsband anlege, ist mir vollkommen egal. Sascha soll die Gibson rausrücken, jetzt!
Schließlich stehe vor der roten Gitarre und strecke die Hände danach aus. Schön langsam, ganz in Zeitlupe. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Sascha mit sich ringt.
Meine linke Hand hat den Hals fast erreicht, die Gitarre scheint magnetisch auf meine Finger zu reagieren. Wenn Sascha mich jetzt nicht aufhält, gehört sie endlich mir! Eine gewisse Vorfreude macht sich in mir breit…
„Halt!“ Sascha hebt beide Arme, schüttelt den Kopf. Ich ziehe meine Hände zurück, aber nichts passiert. Er bleibt einfach mit erhobenen Händen sitzen.
„SASCHA“, kommt es synchron von Tobi, Malcolm, André, Stefan und Ansgar. Nur Alec schweigt und beginnt, Saschas Nacken zu kraulen.
„Mal im Ernst: Ich, der schlechteste Gitarrist hier im Raum, darf sie spielen“, sagt er leise und fährt mit den Fingern rechts und links der Nackenwirbelsäule auf und ab. „Aber Jesse, einer der besten Gitarristen hier im Raum, verweigerst du sie?“
„Fällst du mir etwa in den Rücken, Al?“ Sascha zieht die Stirn in Falten und Alec schüttelt langsam den Kopf.
„Nein, Sasch“, antwortet dessen Freund ruhig. „Aber vielleicht sollte ich dich daran erinnern, dass du auf der Ranch einfach so Jesses Heiligtum genommen hast… Er hat was gut bei dir…“
Fasziniert beobachte ich die beiden Männer. Wenn hier wirklich jemand es schaffen kann, Sascha zu überzeugen, dann Alec. Ich beneide die beiden Frontmänner um ihre wahnsinnig enge Freundschaft.
Andererseits habe ich auch so eine beste Freundin: Dina.
Mein Blick schweift zu ihr und ich verkneife mir ein Lachen. In einer Seelenruhe sitzt sie da und zeichnet. Bekommt sie eigentlich irgendetwas von dem Ganzen hier mit?
„Komm schon, Sasch“, fängt Alec wieder an. „Geb’ dir ’nen Ruck!“
„Nein“, kommt es von Sascha. „Und das bleibt auch so. Ich lasse mich weder erpressen…“ Er schaut mich grimmig an. Wusste gar nicht, dass der das kann.
„… noch lasse ich mich belabern von jemanden, der eigentlich genau weiß, wie wichtig mir diese Gitarre ist.“ Alec bekommt genauso einen bösen Blick ab.
Jesse nimmt die weiße Gitarre wieder auf seinen Schoß und gibt Elyas ein Zeichen, der prompt einzählt. Ablenkungsmanöver, ganz klar.
Doch die Cowboys achten nicht auf uns, diskutieren über die Gitarre, über Saschas Verhalten und wie wenig die weiße Gitarre zu dem Song passen mag. Klar, die klingt anders, aber deshalb muss das doch nicht schlecht sein!
Jesses Stimme setzt ein, ich antworte ihm. Niemand hört zu. The BossHoss fauchen sich gegenseitig an. Alle gegen Sascha.
Nur Alec hat sich auf dessen Seite geschlagen. Offenbar will er ihm damit zeigen, dass er wichtiger ist als die Band. Den besten Freund raushängen lassen…
„Mein Gott, du bist so ein elender Egoist!“, brüllt Ansgar ihn an. „Dein Sturschädel mit dieser Gitarre ist nicht mehr zum Aushalten!“
„Dann geh’ doch!“, faucht Alec zurück, schiebt sich beschützend vor Sascha.
Plötzlich ist der Text weg. Für einen Moment bin ich bewegungslos. Sie werden mich auslachen, ich habe versagt.
Sie hören nicht zu. Was bin ich überhaupt für eine Sängerin? Man hört mir nicht einmal zu!
Ich spüre, wie mir die Tränen in die Augen schießen. Ich will weinen, aber nicht hier. Nicht vor The BossHoss. Ich kann das nicht.
Hastig stehe ich auf, der Hocker fällt scheppernd um. Ich höre es nicht, will allein sein. Will weg von hier.
Mein Instinkt übernimmt, zieht mich zur Tür und dann hinaus. Ich lasse das Studio hinter mir, renne die Stufen hinab. Unser schwarzer Kleinbus steht vor dem Eingang, Jesse muss umgeparkt haben.
Meine Beine machen sich selbstständig, ich beginne zu rennen. Schneller und schneller und schneller. Ich will nur noch weg von hier. Weg von diesem Streit, weg von meinem Versagen… weg von mir.
Aber ich kann nicht vor mir selbst fliehen.
Die Tränen kullern mir über die Wangen. Ich muss bescheuert sein, mich auf das hier überhaupt eingelassen zu haben! Ich und Sängerin! Ich und Gitarristin! Ich und Sascha erpressen!
Was ist nur los mit mir? Was ist kaputt in meinem Kopf? Ich verstehe mich nicht mehr. Das bin doch nicht ich!
Meine Füße erreichen Rekordgeschwindigkeit und ich spüre es nicht einmal. Dass ich an fremden Orten ein Problem mit der Orientierung habe, verdränge ich. Und dass ich das erste Mal in Berlin bin, macht die Sache nicht besser, aber es ist mir gleichzeitig auch egal.
Ich habe kein Ziel vor Augen, will nirgendwo ankommen. Und ohne Ziel brauche ich auch keinen Weg, keine Ortskenntnis.
What if schiebt sich in meine Gedanken. Verschwinden und irgendwo neu beginnen. So weit war ich schon einmal, damals an Weihnachten, als ich Lynn bekommen habe. Fast zwei Jahre sind seit dem vergangen, aber mit einem Mal ist alles wieder da.
Lynns braune, traurige Augen, ihre hängenden Ohren. Mein Herz, dass um meine Reitbeteiligung Tornado getrauert hat. Der Hass auf meine Eltern, die mich in dieses Unglück gestürzt haben.
Die Geschichte hinter einem Teil von Greenhorn ist plötzlich so lebendig wie damals. Die Last ist wieder da. Eine Last, von der ich geglaubt habe, sie abgeworfen zu haben, sitzt nun wieder auf meinen Schultern, drückt mich nach unten.
Ich bin restlos enttäuscht. Enttäuscht von meinen Lieblingsmusikern, die sich wegen einer Gitarre so in den Haaren haben. Enttäuscht von Sascha, der seine Gitarre nicht Jesse anvertrauen wollte.
Aber am meisten enttäuscht bin ich von mir. Ohne den Saitenriss wäre die Lagerfeuergitarre in Schuss gewesen, der Streit nie aufgekommen und niemals hätte ich auch nur daran gedacht, Sascha erpressen zu wollen.
Im Grunde genommen bin ich also schuld an dieser ganzen Scheiße.
Und dabei hatte alles doch so gut angefangen. Das Konzert, Alec und Sascha auf der Rockland Ranch, unser Besuch im Studio… Eigentlich ein kleiner Traum, bei dem ich geglaubt hatte, er wäre endlos.
Je höher man steigt, desto tiefer kann man fallen. Und je tiefer man fällt, desto härter ist der Aufprall.
Mir ist warm und kalt zugleich. Ich schwitze, doch gleichzeitig spüre ich die kalte Luft an meinen nackten Armen und durch die Risse in meiner Jeans. Anfang November im T-Shirt draußen herum rennen ist wirklich keine kluge Idee, aber ich habe sowieso keine Jacke dabei.
Nicht einmal mein Handy oder Geld. Keine Karte, kein Kompass. Und es ist mir egal, denn ich will ja gar nicht zurück. Ich will den Weg nicht finden, nicht jetzt.
Ich wische mir die Tränen aus den Augen, doch sie schießen sofort wieder nach. Der Wind kühlt sie aus, hinterlässt eisige Streifen auf meinen Wangen.
Blind vor Schuldgefühlen renne ich weiter. Nichts sehen, nichts fühlen, nichts hören. Einfach nur weg…
Plötzlich Bremsenquietschen, ein Schrei und mir fährt ein Schmerz durch den Körper, dass ich wie gelähmt bin. Jeder andere Mensch wäre zu Seite gesprungen, aber ich bleibe steif stehen wie ein Tier in Totenstarre – bis mich der Schmerz fast auffrisst.
Nur am Rande nehme ich wahr, dass ich nicht mehr stehe. Die Augen fallen mir zu und alles wird schwarz. Ich denke nichts mehr, ich bin frei.
„Alex, warte!“ Sie hört meine Worte nicht, rennt zur Tür, als wäre sie auf der Flucht. Ich sehe, dass sie kurz davor ist, in Tränen auszubrechen.
Verdammt, wie konnte das hier gerade so schief gehen!?
Der Bleistift fällt zu Boden, der Block landet achtlos auf dem Tisch und ich springe auf. Ich muss ihr hinterher, muss sie beruhigen.
„Nein, Dina, lass sie.“ Elyas hält mich an der Schulter zurück. Was soll das!? Ich muss zu Alex, sie braucht mich!
Ich reiße mich los, doch er drängt sich an mir vorbei. „Glaubst du, du kannst etwas daran ändern?“, fragt er mich und ich schüttele den Kopf. Ändern vielleicht nicht, aber sie darf jetzt einfach nicht allein sein. Sie kennt sich nicht aus.
Irgendwie schaffen es die Jungs, dass ich eine Viertelstunde noch im Studio bleibe. „Sie kommt schon alleine wieder hierher, wenn sie will“, meint Nino unbesorgt, während in mir die Panik ausbricht.
Ich ziehe das Handy aus der Hosentasche. „Wenigstens anrufen darf ich sie ja wohl“, rechtfertige ich mich, als Elyas zur nächsten Rede ansetzen will.
Die Großstadtcowboys sind inzwischen still geworden, schauen sich ratlos an. Ja, dann schaut halt mal ratlos, ihr habt meine beste Freundin vertrieben! Ihr habt einen Fan vertrieben mit eurem elenden Gezanke!
Ich verstehe es ja, dass Sascha seine Gitarre nicht hergeben will, aber was genau hatten die denn gegen diese weiße Gitarre? Ich für meinen Teil habe da keinen Unterschied gehört, während Stefan ja den Weltuntergang schlechthin angekündigt hat.
Das Handy tutet, dann höre ich das Klingeln. Mein Blick schweift durch den Raum. Da, am Klavier, vibriert Alex’ Handy. Wieso liegt das dort? Wann hat sie es dort abgelegt?
„Was machen wir denn jetzt?“, fragt Sam hilflos und erntet dafür einen kalten Blick von mir.
„Wie wäre es mit Suchen!?“, schieße ich zurück und reiße mich aus der Gruppe heraus. Keine Sekunde länger bleibe ich hier! Ich muss sie finden.
Ich lege auf, laufe zur Tür. Im Vorbeigehen streife ich mir meine Jacke über und sprinte aus dem Studio. Vielleicht kann ich sie einholen, sie beruhigen und zurück bringen.
„ALEX!!!“, brülle ich in den helllichten Tag, aber es antwortet niemand. Ein paar Passanten schauen mich an, als hätte ich nicht mehr alle Latten am Zaun.
Berlin, Prenzlauer Berg. Irgendwo hier muss Alex sein!
Ich renne ein paar hundert Meter die Straße entlang, doch von Alex fehlt jede Spur. Sie ist sportlich, ohne Frage. Und ich bin es nur so halbwegs. Sie würde jedes Wettrennen gewinnen, dazu hat sie noch einige Minuten Vorsprung.
„Vielleicht will sie nicht gefunden werden?“ Ich zucke zusammen, bleibe abrupt stehen und drehe mich um. Dann stämme ich die Hände in die Seiten.
„Was willst du, Sascha!?“, fauche ich ihn an. „Und warum rennst du mir hinterher!?“
„Weil es meine Schuld ist, dass du hier draußen rum rennst und Alex abgehauen ist“, erklärt er knapp. „Dina, ich helfe dir. Wir finden sie schon.“
„Ja, klar. Als ob sie von dir gefunden werden will“, gebe ich patzig zurück. Ich darf das, ich bin schließlich kein Fan. Im Gegensatz zu Alex…
„Du hast einen Fan vergrault“, werfe ich ihm vor. „Du und deine Freunde, ihr habt sie verjagt mit eurem Kindergartenscheiß! Von dir will sie bestimmt nicht gefunden werden.“
„Und du kennst dich in Berlin nicht aus“, entgegnet er und ich muss zugegeben, dass er recht hat. Ich habe ja selbst keine Ahnung, wo ich bin. Wie soll ich da den Menschen finden, der sich am schlechtesten orientieren kann?
„Komm schon, Dina. Komm mit zurück und ich mache meine Maschine klar“, bietet Sascha mir an und ich schüttele den Kopf. „Ich steig nicht freiwillig zu dir auf ein Motorrad! Entweder Auto oder Laufen.“
„Was hast du gegen ein Motorrad?“ Sascha ist irritiert.
„Vielleicht kennt sie deinen Fahrstil“, wirft Alec ein, der hinter ihm auftaucht. „Ich helfe mit, schließlich habe ich auch nichts getan, um all das zu verhindern.“
„Gute Einsicht, leider zu spät“, gebe ich trocken zurück. „Okay, wir suchen zusammen, aber ohne Motorrad, und auch nur, weil ich mich hier nicht auskenne.“
Ich lasse mich von beiden zurück schleifen und schaue alle zwei Sekunden über die Schulter. Vielleicht ist Alex ja doch noch ganz in der Nähe? Vielleicht beobachtet sie uns?
Als wir zurück zum Studio kommen, stehen alle anderen vor der Tür. „Wir suchen mit“, verkündet Elyas. „Es tut mir leid, dass ich dich aufhalten wollte.“
Sein warmer Blick lässt mich den Streit mit ihm vergessen. „Schon gut, El“, murmele ich. „Versprich mir nur, dass wir sie finden.“
„Ich gebe mein Bestes“, antwortet er und gesellt sich zu Ansgar. „Er fährt und ich halte Ausschau.“
„Gemeinsam könnten wir ganz Berlin durchsuchen“, schlägt Tobi vor. „Immer in Zweierteams, jeder in einem anderen Stadtteil.“
„Alex ist zu Fuß, sie wird nicht so weit laufen können“, überlegt André, doch Martin schüttelt den Kopf. „Die ist fit wie ein Turnschuh und unter Stress läuft sie doppelt so schnell und doppelt so weit.“
„Hat sie irgendwas bei sich? Geld, Handy, EC-Karte?“, erkundigt sich Ansgar, doch ich schüttele den Kopf. „Handy liegt auf dem Klavier“, sage ich und zucke mit den Schultern. „Den Rest hat sie nicht mitgenommen.“
„Dann kann sie zumindest nicht aus Berlin weg ohne Geld“, meint Malcolm in seinem Akzent. „Schränkt die Suche ein, macht es aber auch nur gering leichter.“
„Vor allem dürfen wir keine Zeit verlieren!“, werfe ich ein. Wird Zeit, dass wir Alex finden. Ich male mir in Gedanken schon das Schlimmste aus. Alex allein in Berlin, kopflos und aufgelöst – das geht nicht lange gut und es ist bereits viel zu viel Zeit verstrichen.
Sascha zerrt mich in einen Cabrio-Oldtimer und drückt mich auf die Rückbank, während Alec sich auf den Fahrersitz fallen lässt. Unter anderen Umständen hätte ich das Auto sogar bewundert, aber jetzt zählt nur Alex.
Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Inzwischen ist sie schon eine halbe Stunde unterwegs. Sie mag volljährig sein, allein auf sich aufpassen können, aber wem es so schlecht geht, der ist nicht zurechnungsfähig. Und ich mache mir große Sorgen.
Ich fühle mich, als würde ich in einem Kino sitzen und mir selbst zuschauen. Und gleichzeitig bin ich mitten im Geschehen.
Wir sind im Studio, meine Band, The BossHoss, Dina und ich. Jesse hat eine weiße Gitarre auf dem Schoß, Alec krault Saschas Nacken.
„Komm schon, Sasch“, sagt Alec mit ruhiger Stimme. „Geb’ dir ’nen Ruck!“
Sascha zögert und ich strecke meine Hände nach einer roten Gitarre aus. Der roten Gitarre von Sascha. Dabei lasse ich diesen keine Sekunde aus den Augen.
„Also schön.“ Sascha steht mit hängenden Schultern auf, gibt sich geschlagen und geht zur Tür.
Gleich darauf kommt er mit dieser wunderschönen Gitarre zurück, seiner Lieblingsgitarre. Mein Blick klebt an ihr, unbewusst lasse ich meine Hände sinken.
„Behandele sie wie eine Lady“, raunt er Jesse gefährlich leise zu. Die Warnung ist eindeutig, aber trotzdem schwingt ein Unterton mit, der mich erleichtert aufatmen lässt. Sascha hat sich geschlagen gegeben und ein bisschen auch freiwillig.
„Und danke Alec dafür. Er bürgt für dich.“
In Zeitlupe breitet sich auf Jesses ungläubigem Gesicht ein Strahlen aus. „Ich werde sie auf Händen tragen, Sascha“, sagt er langsam, mit Stolz und Erfurcht in der Stimme, und schaut dann Alec an.
„Du hast was gut bei mir. Egal was, ich mache es.“ Alec grinst und zieht belustigt die Augenbrauen hoch. „Na, hoffentlich versprichst du da nicht etwas, was du nicht halten kannst“, antwortet er grinsend. „Aber ich nehme dich beim Wort.“
Fasziniert sehe ich dabei zu, wie Jesse dem Adler über die Schwingen streicht. Dann gleiten seine Finger über den Hals, spielen vorsichtig die Saiten an.
Wie ferngesteuert gehe ich auf meinen Hocker zu und setze mich neben Jesse. Nie zuvor bin ich dieser Gitarre so nah gewesen. Ich sehe jedes Detail der Maserung, jedes Details der Aufkleber und bin grenzenlos überwältigt.
Bis zuletzt habe ich nicht gedacht, dass Sascha sich hierauf wirklich einlässt. Ich habe wirklich geglaubt, er bleibt hart und stur. Es wäre sein gutes Recht gewesen.
„Darf ich sie einmal berühren?“, frage ich zögernd und mit brüchiger Stimme. Dabei nehme ich meinen Blick nicht von diesem Instrument.
„Mit Samthandschuhen“, kommt es von Sascha zurück und ich nehme Jesse die Gitarre aus der Hand. Dann fahre ich mit dem Zeigefinger über die großen Buchstaben auf der Rückseite.
Mein Traum, er geht tatsächlich in Erfüllung. Ist das real?
Seitdem ich diese Gitarre das erste Mal auf einem Video gesehen habe, wollte ich schon immer mal die Buchstaben nachfahren. THANX.
Mein Zeigefinger brennt wie Feuer, mein Herz hämmert gegen meine Brust. Es ist ein unglaubliches Gefühl. Ich berühre die Gibson von Hoss Power, eine seiner beiden berühmtesten Gitarren.
„Ich will jetzt endlich Close hören“, quengelt Ansgar dazwischen und macht die Stimmung zunichte. Ich reiße mich von der Gitarre los, schiebe sie Jesse auf den Schoß und nicke ihm zu.
Ich hoffe, ich kann überhaupt singen. Ich habe immerhin grade die Gitarre meines Vorbildes in den Händen gehalten, ich habe die Buchstaben nachfahren dürfen. Ich…
Jesse beginnt zu spielen und der Klang dieser Gibson schießt mir ins Herz. Sie klingt so anders als bei Sascha und dennoch völlig gleich. Und sie passt perfekt zu unserer Version von Close.
Ich schließe die Augen und höre, wie der Rest der Band einsetzt. Martins tiefer Bass mischt sich mit Ninos Gitarre. Elyas gibt auf dem Cajón leise den Rhythmus vor, während Sam die Melodie auf seiner Muntermonika spielt.
Das Intro ist deutlich länger als in unserer Version nur mit Gitarre. Ich stimme mich auf den Song ein, vergesse in meiner Welt, dass nun ganz The BossHoss zuhört. Es fühlt sich so richtig an.
Dann beginnt Jesse und ich steige mit ein. Die Emotionen kommen wieder hoch und ich öffne die Augen. Jesse sieht mich an, ich falle in seine warmen braunen Augen. Sie sind so wunderschön, so sanft.
In diesem Moment ist er einfach nur Jesse, ich sehe keine Spur des arroganten Bühnenheldens Ranger. Wie immer bei diesem Song. Wir müssen uns nicht verstellen, wir sind einfach nur wir.
Ich merke gar nicht, wie schnell die Textzeilen an mir vorbei ziehen. Ich genieße den Augenblick in vollen Zügen.
Erst beim lautstarken Applaus merke ich, dass Close vorbei ist. Überrascht schaue ich auf, sehe jubelnde Großstadtcowboys die Handflächen aneinander schlagen.
Applaus von The BossHoss für ein Cover von The BossHoss. Ich kneife mir in den linken Arm. Erst als ich den Schmerz spüre und leise aufschreie, kann ich glauben, dass das hier die Realität ist.
Tränen schießen mir aus den Augen. Ich wische sie mit dem Handrücken weg, lehne mich an Jesse. Er schlingt seinen Arm um mich, mit dem anderen hält der die Gibson fest.
„Es ist komisch, seine Gitarre zu sehen, wenn sie ein anderer spielt“, gibt Sascha zu. „Aber es war fantastisch. Du bist ihr würdig, Jesse.“
Die restlichen Kommentare höre ich nicht mehr, verfolge mit all meinen Sinnen Sascha, der Jesse die Gitarre vorsichtig aus der Hand nimmt.
„Wie macht ihr das?“, fragt Alec, der urplötzlich neben seinem besten Freund steht. „Ich fand diesen Song auf der Rockland Ranch unglaublich, aber das jetzt… Mir fehlen die Worte.“
Seine Bandkollegen nicken zustimmend, Tobi wischt sich über die Augen. Ich lege Jesse die Arme um den Hals, unsere Lippen finden sich. Seine Zungenspitze berührt meine, beginnt einen wilden Tanz…
Bis uns ein Räuspern unterbricht. Erschrocken fahren wir auseinander und treffen auf Andrés fragenden Blick. „Ihr seid ein Paar?“
„Sind wir“, bestätigt Jesse. „Schon über ein Jahr.“ Dabei streicht er mir eine Strähne hinter das Ohr.
„Das erklärt die Emotionen bei Close“, stellt Stefan fest. „Da staunst du, Eddie, nicht wahr?“
„Eddie?“, wirft Elyas fragend ein. Ich schaue unbewusst André an, habe von diesem Namen auch schon gehört. Aber ich kann ihn zuordnen, im Gegensatz zu Elyas.
„Wer ist das denn? Kann mich nicht daran erinnern, dass sich jemand als Eddie vorgestellt hat…“
„Das bin ich“, meint André und grinst. „Ein alter Spitzname von mir, weil unser ehemaliger Gitarrist meinen Namen nicht aussprechen konnte. Er ist gegangen, der Name ist geblieben…“
Und plötzlich wird die Leinwand dunkel. Ich verlasse meinen Körper, schaue wieder nur von außen zu. Ins Nichts.
Dabei hätte ich zu gerne gewusst, wie es weiter geht. Wie unser Besuch im Studio verlaufen würde.
Bin ich dort? Woher weiß ich das?Wo soll ich denn sonst sein?
Aber warum sehe ich nichts mehr? Warum ist das plötzlich vorbei?
Alec fährt los und ich lasse meinen Blick hin und her pendeln. Wie ein Leuchturm, dessen Licht auch immer wieder in alle Richtungen geht. Zwischendurch rufe ich den Namen meiner besten Freundin, aber wieder bekomme ich nur schiefe Blicke.
Hat denn noch nie jemand einen Menschen in Berlin gesucht, dass man hier so angegafft wird!?
„In welche Richtung würdest du an Alex’ Stelle laufen?“, fragt Sascha und dreht sich auf dem Beifahrersitz um. Ich zucke mit den Schultern. Ich kenne mich doch genauso wenig aus wie Alex, würde einfach loslaufen. Geradeaus am besten, aber da ist die Straße und gegenüber eine Reihe Häuser.
Ich versuche, laut zu denken, um Alec und Sascha an meinen Überlegungen teilhaben zu lassen, aber wirklich zu helfen scheint das ihnen nicht. „Ich habe ein Foto von ihr auf meinem Handy“, sage ich und mein Gesicht hellt sich auf. „Wir könnten all die Menschen hier fragen, ob sie sie gesehen haben.“
„Nicht die beste Idee, aber besser als gar keine“, gibt Alec zu und hält an. „Los, frag dich mal durch, Dina.“
Ich springe aus dem Wagen und laufe auf die ersten Passanten zu, zeige ihnen das Foto. Kopfschütteln. Dann die nächsten und noch welche. Und noch welche. Und alle schütteln mit dem Kopf.
„Doch, ein blondes Mädchen habe ich gesehen“, meint eine ältere Dame plötzlich. „Ist schnell gelaufen, immer geradeaus.“ Sie zeigt in eine Richtung und ich danke ihr hundertmal, denn sie scheint sich sicher zu sein, dass das meine Alex war.
So schnell ich kann renne ich zu dem Oldtimer zurück, springe auf die Rückbank. „Ich habe eine heiße Spur gefunden!“, platze ich heraus. „Da entlang. Los, schnell!“
Der Motor heult auf, der Wagen schießt nach vorn und ich kralle mich an Saschas Lehne fest, denn der Oldtimer hat keinen Sicherheitsgurt. War damals offenbar noch nicht erfunden.
Plötzlich endet die Straße in einer Fußgängerzone. „Geradeaus, weiter“, rufe ich, doch Alec hält an. „Da komme ich nicht durch mit dem Wagen“, erklärt er knapp. „Wir laufen.“
Er parkt in Rekordgeschwindigkeit und zu dritt jagen wir durch die Fußgängerzone. Ausgerechnet heute ist offenbar ganz Berlin hier unterwegs, wir kommen kaum voran. Jede Schnecke wäre schneller!
Ich habe das Bedürfnis, rechts oder links abzubiegen. Diese übervolle Straße zu verlassen…
Moment, das ist es!
„Geht hier rechts oder links eine Straße rein?“, frage ich meine beiden Ortskundigen und Sascha zeigt gleich darauf auf eine Straße, die hinter einem Geschäft beginnt.
Ohne weitere Auskünfte zu geben, biege ich ab und hoffe, dass Alec und Sascha mir folgen. Allein finde ich niemals wieder zurück zum Studio und Lizzy…
„Scheiße, wir müssen Lizzy informieren!“, rufe ich meinen Begleitern zu, aber Alec schüttelt den Kopf. „Hat Sam schon gemacht, weiß ich von Tobi“, gibt er zurück. „Sie bleibt mit Sophie im Café, damit wir uns am Ende nicht alle gegenseitig suchen, hält aber die Augen auf und will die Gäste fragen, die in das Café gehen. Wir sollen uns melden, wenn wir sie gefunden haben.“
Ich verstehe Lizzy nicht ganz, aber gut. Zumindest weiß sie Bescheid. Und wir sind ja immerhin noch dreizehn Personen, die den Stadtteil Prenzlauer Berg absuchen. Wir werden Alex finden!
Ich stoße mit einem Passanten zusammen, der seine Einkäufe fallen lässt. Leider bin ich zu höflich, als das ich einfach so vorbei rennen könnte, und sammele alles mit auf.
„Entschuldigung“, murmele ich noch schnell und haste weiter. Alex, verdammt, wo bist du!?
„ALEX!“, brülle ich durch die Straßen. Doch wenn sie mich hören sollte, so gibt sie sich keine Mühe, mir zu antworten.
Vielleicht spielt sie absichtlich Verstecken mit uns. Aber ich bin doch ihre beste Freundin, mir würde sie das nicht antun!
Die enge Straße endet und wir stehen wieder auf einem Bürgersteig an einer dicht befahrenen Straße. Mein Kopf fliegt von rechts nach links, sucht nach Alex.
„Dina, dein Schuh!“, kommt es von Alec und mein Blick rauscht nach unten. Mist, Schnürsenkel auf. Auch das noch!
Ich bücke mich, ziehe die Schnürsenkel straff und binde eine Schleife, als meine Augen von etwas kleinem, silbrig glänzenden angezogen wird. Ich greife danach, hebe es auf und betrachte es.
„Was hast du da?“, fragt Sascha und beugt sich über meine Schulter. Ich runzele die Stirn, schließe die Augen, vergleiche in Gedanken.
„Alex“, huscht über meine Lippen. „Sie war hier. Das gehört ihr.“ Ganz eindeutig, es ist ihr Ohrstecker. Sie muss ihn verloren haben.
„Schau mal, da ist Blut“, entdeckt Alec und tatsächlich, das Pflaster und die Bordsteinkante sind dunkel verfärbt. Ihr wird doch nichts passiert sein! Bitte, bitte nicht!
Alex, wo immer du bist, halte durch! Bitte, sei nicht verletzt!
„Können Sie mir sagen, ob es hier einen Unfall geben hat?“, fragt Alec ein paar Schritte entfernt einen Passanten. „So etwa vor einer Stunde?“
Eine Stunde? So lange ist Alex schon verschwunden? Verdammt! Ich muss sie finden, jetzt!
Die Sorgen überschlagen sich in meinen Gedanken, vor meinem inneren Auge sehe ich hunderte Szenarien, wie sie von Autos überfahren wird und im Sterben liegt.
Irgendjemand antwortet etwas, spricht mit Alec, aber ich kann nichts verstehen. Ich fühle mich plötzlich so hilflos, mir wird schwummrig.
„Dina, nicht du auch noch!“, höre ich Saschas Stimme ganz nah an meinem Ohr. „Klapp mir jetzt ja nicht weg!“
„Geb mir Mühe“, ringe ich hervor und bin nun plötzlich sehr dankbar darüber, dass die beiden mich bei der Suche begleiten wollten. Sascha hält mich fest, klatscht seine Hand an meine Wange und plötzlich bin ich wieder klar.
„Gott sei Dank“, entfährt es ihm, dann wird seine Stimme ruhiger. „Wir finden Alex. Vielleicht stammt das Blut gar nicht von ihr.“
„Vielleicht aber doch“, klinkt sich nun Alec ein. „Der Mann dort drüben hat einen Rettungswagen gesehen, in dem eine blonde Frau geschoben wurde. Mehr weiß er auch nicht."
„Dann nichts wie los zum Klinikum Prenzlauer Berg“, ruft Sascha. Er hält mich weiter am Arm fest und zieht mich mit. „Wir dürfen keine Zeit verlieren.“
Ich lasse es einfach geschehen und halte den Ohrstecker fest. Alex, halte durch! Ich bin gleich bei dir!
Meine Augenlider flattern. Das helle Licht blendet mich, ich kneife die Augen wieder zusammen.
„Sie wird wach“, höre ich eine fremde Stimme. Ich fühle mich komisch. Mein Kopf dröhnt, als würde jemand mit einem Presslufthammer darin arbeiten.
„Guten Tag, junge Dame“, spricht mich jemand an und ein Gesicht taucht vor meinen Augen auf. Kurzes braunes Haar, grüne Augen.
„Ich bin Dr. Sindor“, stellt er sich vor. „Und wer sind Sie? Sie hatten keinerlei Papiere bei sich.“
Wer bin ich? Eine gute Frage und ich habe keine Antwort darauf. Man, ich muss doch wissen, wer ich bin! Ich muss doch einen Namen haben!
„Weiß nicht.“ Meine Stimme versagt, ist nur ein mattes Kratzen. Was ist denn bloß los mit mir?
Dann fallen meine Augen wieder zu. Der Kopfschmerz versiegt. Kommen jetzt die Bilder wieder? Darf ich sehen, was im Studio noch passiert?
Mein Wunsch scheint in Erfüllung zu gehen. Die Leinwand erwacht zum Leben und dann bin ich wieder mitten im Geschehen, sehe alles von außen und gleichzeitig durch meine Augen.
„Hey, schaut euch das mal an!“, ruft Ansgar wie aus heiterem Himmel begeistert. Ich drehe mich, wie alle anderen auch, zu ihm um. Er sitzt da und drückt auf seinem Smartphone herum. Und ich dachte immer, Alec wäre der Handysüchtige…
„Was gibt es denn?“, fragt André und streckt sich, um auf Ansgars Handy zu schielen. Der zieht es ihm unbewusst vor der Nase weg.
„Die eine, die euren Auftritt mit Close gefilmt hat, hat noch was hochgeladen“, erklärt der Drummer begeistert. „Auch wieder was von euch. Hört mal…“
Ich spitze die Ohren und höre erst einmal nichts, außer Rauschen und Knirschen. Dazwischen immer mal ein Ton, der nach Gitarre klingt, sofort aber durch Klatschen und Gespräche übertönt wird. Ich erkenne nicht mal den Song.
Dann ist die Gitarre wieder weg, stattdessen höre ich Raunen und beginnende Diskussionen. Ich bin verwirrt, recke meinen Hals und versuche, einen Blick auf das Display zu erhaschen. Keine Chance.
An den Gesichtern der anderen Musiker sehe ich, dass eigentlich niemand so richtig etwas damit anfangen kann. Diese Filmerin sollte sich mal eine bessere Kamera anschaffen!
Auch Ansgar, der allein einen Blick auf das Handy werfen kann, schaut verdutzt. Vielleicht ist die Bildqualität auch nicht so berauschend…
Synchron zucken wir zusammen. Schlagzeug, E-Gitarre, E-Bass und Keyboard plärren schlagartig aus dem Lautsprecher, dazu Jesses Stimme. Nein, nicht Jesse, das ist ganz klar Ranger.
Schlagartig erinnere ich mich an diesen Auftritt. Gleiches Konzert wie mit Close, aber der letzte Song an diesem Abend. Freestyle, denn so richtig geprobt haben wir das nie.
„Wenn du magst, kannst du einfach mit einsteigen, Alex“, höre ich seine Stimme von damals in meinen Ohren. „Improvisier einfach, das klappt dann schon.“
Oh ja, und ich hatte wahnsinnig Lust drauf, mitzumachen. Es war schwer, sich dagegen zu wehren und irgendwann habe ich es einfach zugelassen.
Vorsichtig hebe ich den Blick. Meine Bandkollegen strahlen und geben sich gegenseitig High-Five, während die Großstadtcowboys mit großen Augen die Video-Klangkatastrophe des Auftritts anschauen.
Greenhorn. Der erste Song der Rockland Rangers auf einer Bühne, bei dem Strom und Schlagzeug im Einsatz waren.
Und alles nur wegen Leta, meiner Lieblingsfeindin. Die hatte nämlich felsenfest behauptet, meine Jungs könnten gar nicht auf E-Gitarre und E-Bass spielen und Elyas wäre mit einem Schlagzeug überfordert.
Da waren sie alle fünf sauer und haben beschlossen, ihr eine laute, rockige Lektion zu erteilen. Hat super funktioniert, Leta hat sich in Grund und Boden geschämt. Und der Song hat neben seiner stromlosen, beinahe balladenartigen Version vom Lagerfeuer noch eine ordentliche Rock-Variante bekommen.
Plötzlich höre ich meine eigene Stimme aus dem Rauschen, Knirschen, Klatschen und Quatschen heraus. Gar nicht mal so übel, auch wenn ich das anhand der bescheidenen Tonqualität nicht richtig beurteilen kann.
Ansgar stoppt das Video. „Sagt mal, was war das denn gerade?“ Er schaut uns irritiert an, aber mit einem Grinsen im Gesicht. Jesse zuckt mit den Schultern.
„Wir können auch mit Strom“, meint er lässig und verschränkt die Arme. „Den Beweis hat ein Fan mal dringend gebraucht und da haben wir das einfach mal ausprobiert.“
„Und ich dachte, ihr seid nur so soft drauf“, wirft Stefan ein. „Kuschelige Lagerfeuerromantik, ihr wisst schon.“
Dina bricht in ein schallendes Lachen aus. „Die und ruhig? Niemals!“, quetscht sie zwischen den Lachern heraus. „Wer ohne Strom rocken kann, kann das mit Strom erst recht!“
„Das will ich sehen!“, ruft Malcolm in seinem typischen Dialekt aus. Alec und Sascha tauschen einen kurzen Blick, dann fokussieren sie Jesse und mich. „Wir auch“, sagen sie einstimmig.
„Ihr habt doch hoffentlich auch die Instrumente dabei“, kommt es von Tobi, der den Raum absucht. Nino nickt und deutet auf eine Ecke im Proberaum. „Da sollte alles drin sein“, sagt er langsam.
„Dann mal los, los! Aufbauen!“, stimmt André ein und Martin sieht ihn skeptisch an. „Aber ich warne dich vor: Ich kann noch lange nicht so gut auf einem E-Bass spielen wie auf meinem Dicken“, gibt er vorsichtig zu und erntet einen erstaunten Blick.
„Nicht? Vorher schon mal auf einer E-Gitarre gespielt?“, hakt er nach und Martin schüttelt den Kopf. „Ich bin Bassist. Ausschließlich Bassist“, erklärt er. „Wollte auch nie etwas anderes sein…“
„Seit wann spielst du denn Kontrabass?“ André wirkt neugierig und ich verfolge das Gespräch fasziniert, obwohl ich die Geschichte schon kenne. Ich kenne inzwischen alle Geschichten, wie die Rockland Rangers zu ihrem jeweiligen Instrument gekommen sind, aber die von Martin und Sam sind am besten.
„Seit meinem sechsten Geburtstag“, erzählt Martin und zieht plötzlich alle Augen auf sich. „Ein Geschenk von Oma. Sie war mit mir einkaufen, als wir an einem Musikladen vorbei kamen…“
„Und weiter?“, fragt Sascha neugierig. „Ich will das jetzt auch wissen.“
„Ich habe gebettelt, dort hinein gehen zu dürfen. Und wie Omas so sind, hat sie mir meinen Wunsch nicht abgeschlagen. Im Gegenteil: Sie meinte, ich könnte mir ja ein Instrument aussuchen und in die Musikschule gehen“, berichtet Martin, der sich nicht ganz sicher zu sein scheint, ob er die viele Aufmerksamkeit jetzt mag oder verabscheut.
„Meine Oma hat ja mit einem Klavier gehofft oder einer Gitarre. Sie selbst spielt Querflöte und dass ich diese hohen Töne nicht besonders liebe, wusste sie damals schon“, fährt er vorsichtig fort. „Aber dann stand ich vor einem Instrument, dass mehr als doppelt so groß war wie ich…“ Martin bricht ab.
„Und da sagte der kleine Marty: Oma, genau das will ich spielen!“, ergänzt Elyas, nachdem Martin so lange geschwiegen hat, dass niemand mehr mit einer Fortsetzung seinerseits rechnet.
Martin nickt in Zeitlupe. „Genau. Da stand er, der Kontrabass.“ Seine Augen funkeln und leuchten. „Ich habe meinen kleinen Zeigefinger ausgestreckt und die Saite angefasst. Da gab es einen tiefen Ton und ich wusste, dass ich mein Instrument gefunden hatte. Oma hat mir allerdings ein deutlich kleineres Exemplar für Kinder gekauft.“
„Aber die Geschichte von Sam ist besser“, meint Nino. „Sammy hat nämlich schon im Alter von drei Jahren auf die Frage seiner Tante, was er denn später machen will, wenn er groß ist, geantwortet mit: Musik!“
The BossHoss lachen. „Vollblutmusiker von Geburt an, so so“, kommentiert Alec belustigt. „Aber das ist gut. Ohne Herzblut wird das nichts mit der Bühne.“
„Und Sam hat sich früh im Musizieren geübt“, fügt Jesse hinzu. „Keiner von uns hatte das Komplettset an Spielzeuginstrumenten außer ihm. Gitarre, Trommel, Xylophon, Flöte, Becken… Muss das ein Lärmpegel im Hause Bock früher gewesen sein!“
„Lachst du mich etwa aus?“ Sam zieht die Augenbrauen hoch und schaut ihn gespielt beleidigt an. „Ohne meine überschießende musikalische Freude hätten wir keinen Muntermonikaspieler und keinen Pianisten. Vor allem aber hätten wir niemanden in der Band, der sich nebenbei Beatboxing beibringt.“
„Du kannst Beatboxen?“, fragt Stefan verwundert. „Kann ich das mal hören?“ Sam lacht und zuckt mit den Schultern.
„Ich dachte, wir wollten umbauen hier“, lenkt er vom Thema ab. „Die Zeit verstreicht und wir stehen nur doof in der Gegend rum und tratschen über Geschichten aus der Kindheit.“
Und wieder hört der Film auf. Ein Jammer, dabei war es gerade so schön. So harmonisch. Wo sind sie? Wo ist meine Band? Warum verschwindet sie dauernd von der Leinwand? Was ist nur los mit mir?
Ich bin völlig erledigt, als endlich wieder am Auto ankomme. Alec und Sascha ergeht es ähnlich, aber zumindest haben wir jetzt eine neue Spur. Inzwischen bin ich mir sicher, dass das Alex sein musste, die in den Rettungswagen geschoben wurde.
Hoffentlich lebt sie noch. Hoffentlich hat das Auto sie nicht komplett erwischt, ich brauche sie doch. Wir brauchen uns.
Alec fährt wie ein Irrer und ich klammere mich an Saschas Rückenlehne fest, so dass die Knöchel weiß hervor treten. Ich habe Angst um meine beste Freundin, schwitze, mein Herz hämmert gegen die Brust.
Verdammt, warum musste sie auch weglaufen? Warum konnte sie nicht einmal auf den Verkehr achten? Warum hat das Auto nicht rechtzeitig gebremst?
„Nicht das auch noch“, stöhnt Alec und der Wagen kommt ruckelnd zum Stehen. Ich reiße die Augen auf. Stau, vor uns.
„Gibt es noch einen anderen Weg?“, frage ich hoffnungsvoll, doch beide schütteln den Kopf. „Nein, wir müssen warten.“
„Aber Alex…“, setze ich an. Sascha dreht sich um und legt mir eine Hand auf den Arm. „Alex ist in den besten Händen, wenn sie im Krankenhaus ist“, murmelt er. „Es geht ihr bestimmt gut, Dina. Ich muss mich schließlich noch bei ihr entschuldigen. Ohne mich wäre sie jetzt nicht verletzt. Ich bin schuld.“
„Bist du nicht“, sage ich schnell. „Alex weiß, dass du im Grunde ein Lieber bist. Sie mag dich wie einen Vater. Oder einen großen Bruder. Klar, es war nicht ganz günstig, dass durch die Gitarre so ein Streit entstanden ist, aber richtig Schuld daran trägt niemand.“
„Trotzdem hätte ich all das verhindern können, indem ich Jesse die Gitarre geliehen hätte“, meint er zerknirscht. „Dann wäre sie nicht weggelaufen und nicht angefahren worden.“
„Wir sollten die anderen informieren“, unterbricht uns Alec. „Ich ruf mal eben durch, hier kommen wir sowieso erst einmal nicht weiter.“
„Mach das, Al“, stimmt Sascha zu. „Vielleicht schaffen es die Anderen schneller zum Klinikum Prenzlauer Berg.“
Alec wählt die erste Nummer, spricht in das Smartphone. Ich verstehe kein Wort, höre nicht zu. Meine Gedanken kreisen um Alex. Sie kann mich doch nicht allein zurück lassen, das geht nicht!
Ich schließe die Augen, sehe vor mir, wie wir uns damals kennen gelernt haben. Wie sie plötzlich vor mir stand und aus heiterem Himmel gefragt hat, ob wir nicht Freunde sein könnten. Dabei kannten wir uns damals noch gar nicht.
Und trotzdem wusste ich vom ersten Augenblick, dass wir zusammen gehören würden. Kein Mann, kein Hobby, keine Freundin – niemand sollte uns jemals trennen können.
Nur dieses verfluchte Auto, das Alex angefahren hat, das konnte uns nun doch trennen. Aber meine Alex ist eine Kämpferin. Manchmal verpeilt, aber eine Kämpferin mit einem guten Herzen.
Sie darf nicht sterben!
Ich öffne meine Faust, betrachte den kleinen silbernen Ohrstecker. Ein steigendes Pferd, filigran gearbeitet. Sie hat nie besonderen Wert auf Schmuck gelegt, sich aber extra für den Abiturball Ohrlöcher stechen lassen. Ein einziges Mal wollte sie weiblich aussehen.
Und Jesse beeindrucken.
Ich muss schmunzeln, als ich mich daran erinnere. Jesse wollte allen Ernstes mit Stetson zum Abiball gehen. Haben seine Jungs zum Glück nicht zugelassen. Sie waren alle mit dabei, denn Alex und ich hatten die Aufgabe, für Musik zu sorgen.
Und wenn man schon eine Band kennt, dann sucht man nicht nach einem DJ. Eine Liveband ist tausendmal besser und ich mag den Sound der Rockland Rangers. Mochte ihn von Anfang an, ab dem ersten Ton.
Ab dem ersten Blick auf Elyas. Nie zuvor hat mich ein Mann so fasziniert, so begeistert vom ersten Augenblick an. Ich war auf der Stelle verliebt, habe sogar ein Bild von ihm ausgedruckt und es in meinen Schrank auf dem Reiterhof gehangen. Alex hat mich dafür für verrückt erklärt.
Alex.
Wie konnte ich jetzt an Elyas denken, wenn Alex irgendwo auf einer Intensivstation lag? Halbtot, kurz vor dem Sterben, Ärzte um sie herum, die sie zusammen flicken wollten, um ihr Leben kämpften…
„Du darfst dir nicht das Schlimmste ausmalen“, reißt mich Sascha aus meinen Gedanken. „Denk an schöne Momente, die Kraft geben – dir und Alex.“
„Aber ich sehe sie vor mir. Wie sie im Sterben liegt“, jammere ich und bete, dass der Stau sich schnell auflöst.
„Sind wir zu Fuß nicht schneller?“, frage ich und bin der Verzweiflung nahe. Ich muss zu ihr, sofort.
„Nein, sind wir nicht“, antwortet Alec. „Bevor du dich hier durchgeschlagen hast, ist der Stau längst vorbei. Du wirst sehen, gleich geht es weiter.“
Ich glaube ihm kein Wort, aber er kennt sich in Berlin aus und ich nicht. Selbst wenn ich zu Fuß schneller wäre, ohne Alec und Sascha bin ich aufgeschmissen.
„Die anderen stehen übrigens auch im Stau, aber weiter hinten“, setzt uns Alec in Kenntnis. „Hoffen wir nur, dass Alex wirklich im Krankenhaus ist, sonst habe ich keine Ahnung, wo wir nach ihr suchen sollen. Berlin ist wie ein Heuhaufen und Alex ist die Nadel.“
In diesem Moment setzt sich der Stau ruckelnd in Bewegung und Alec startet den Wagen. Der Oldtimer setzt sich langsam in Bewegung und ich hoffe, dass es für meine beste Freundin noch nicht zu spät ist.
Meine Augen flattern wieder und diesmal schaffe ich es, sie geöffnet zu lassen. Ich liege in einem weißen Raum, an mir hängen Schläuche und Nadeln.
„Bist du nicht Alex?“, fragt mich eine Stimme und ich brauche einige Zeit, bevor ich weiß, dass ich die Stimme kenne. Das ist doch … Jana.
Ja, doch, sie heißt Jana. Die eine Trooperin, die beim Konzert dabei war. Komisch, ihr Name fällt mir ein, aber meiner nicht.
„Du bist doch Alex, oder?“
Alex. Der Name klingt vertraut.
Bin ich Alex? Kann sein. Aber was ist geschehen?
Was ist los mit mir? Wo bin ich hier?
„Sie kennen diese junge Frau, Frau Heinmann?“, mischt sich eine andere Stimme ein. Ich versuche, wach zu bleiben, doch die Müdigkeit überrollt mich erneut. Ich höre nur noch, wie Jana dies bestätigt und dann sitze ich wieder in meinem eigenen Kino, schaue mir selbst zu und beobachte von außen zu gleichen Teilen.
Sam wird schief angeschaut, aber alle packen mit an und bauen die Instrumente auf. Außer Dina, die zeichnet noch munter weiter und niemand scheint sich daran zu stören. Bin ja gespannt, ob wir die Kunstwerke heute noch zu Gesicht bekommen werden…
„Alex, hilfst du mir mal mit den Mikrophonen?“ Alec tippt mir auf die Schulter.
„Mikrophone?“, frage ich nach und ziehe dabei wohl ein Gesicht, als ob man mich gefragt hätte, was ich von Vanillepudding in Gemüsebrühe zum Frühstück halten würde.
„Ja, Mikrophone“, grinst mich Alec an. „Die kleinen Dinger da, die die Stimme lauter machen und…“
„Ich weiß, was Mikrophone sind!“, erkläre ich protestierend und verschränke die Arme vor der Brust. „Aber wozu brauchen wir die? Ging doch auch vorhin ganz gut ohne…“
„Wir würden euch einfach nur zu gerne hören“, klinkt sich Sascha ein, der einen Verstärker auspackt. „Gegen die ganzen Verstärker bist du machtlos.“
„Da hörst du es“, gibt Alec ihm recht und drückt mir ein Mikrophon in die Hand. „Da kommt das Kabel rein und dann klemmst du es in den Mikrophonständer.“
Ich folge seinem Auftrag schweigend und baue die restlichen Mikrophone ebenfalls zusammen. Jeder hat sein eigenes, außer Elyas.
So viele Mikros und kein einziges gehört uns. Haben wir nie gebraucht. Oder besser: Uns nie leisten können…
Jesse hängt sich schließlich seine schwarz-rote E-Gitarre um und schiebt seinen Hocker zur Seite Etwas unschlüssig stehe ich neben ihm, ebenfalls hockerlos. Das haben wir nun wirklich noch nie geprobt und eigentlich habe ich ja bei Greenhorn gar nichts verloren…
Aber erklärt das mal einer Sascha, Alec und Ansgar, die mich einfach vor das Mikrophon gezerrt und behauptet haben, dass ich da unbedingt mitsingen muss!
Zweifelnd schaue ich Jesse an. Was ist, wenn wir das jetzt hier so was von versauen? Dann sind wir Berlins Lachnummer schlechthin.
„Rockt die Hütte, Leute!“, ruft Dina motivierend vom Sofa aus. Sie sticht als einige Dame aus dem Männer-Pulk heraus und drückt die Faust in den Himmel. „Brennt die Hütte nieder! Reißt das Studio ab!“
The BossHoss bricht in ein schallendes Lachen aus. Geht ja gut los mit Berlins Lachnummer…
„Na, das ist ja mal eine Ansprache!“ Sascha hat sich zuerst wieder gefasst und schenkt uns das breiteste Sascha-Grinsen des Tages. „Da will eine kleine Band von Lagerfeuer unser Studio nieder reißen. Bisschen größenwahnsinnig ist das nicht, oder?“, fragt er amüsiert und tauscht ein High-Five mit Alec aus.
„Gar nicht“, antwortet Dina kühl an unserer Stelle. „Ich hab euch ja gesagt, die können rocken. Erst recht mit Strom. Haltet die Wände fest, Cowboys!“
„Okay, Deal für euch, Rockland Rangers“, meint Sascha, aber man hört an seiner Stimme heraus, dass er Dina nicht glaubt. „Wenn ihr es schafft, hier echt einen annährenden Abriss hinzubekommen – vor uns, in unserem Studio – dann…“
Er bricht ab und alle Augen sind auf ihn gerichtet. Fragende Blicke aus allen Winkeln des Proberaumes.
„Dann was?“, fragt Jesse ins Mikrophon und runzelt die Stirn.
„Ich weiß, dass ihr zurzeit ohne Produzent und ohne Studio seid und deshalb kein zweites Album aufnehmen könnt. Und dass ihr euch mit den Aufnahmen um einen neuen Plattenvertrag bemühen müsst, weil euer alter Vertrag nur für ein Album ausgelegt war. Hat Lizzy Sophie irgendwann mal erzählt am Telefon…“, erklärt Sascha und ich schlucke schwer.
Davon wusste ich bisher nichts. Es ist ein ziemlich komisches Gefühl, Neuigkeiten über die eigene Band von jemand außerhalb der Band zu erfahren.
Hat man mir eigentlich nicht davon erzählt? Oder habe ich nur nie zugehört, weil ich mich mit Studios und Aufnahmen sowieso nicht auskenne?
„Aber wenn ihr hier den Abriss schafft, dann werde ich persönlich dieses Album aufnehmen“, schlägt Sascha vor und macht eine ausladende Geste. „Hier im Internashville. Und alles, was dieses Studio verlässt, ist gut und authentisch. Ihr seht es an uns.“
Mir fallen die Augen aus dem Kopf und jedem meiner Bandmitglieder geht es garantiert genauso. Sascha will unser Album aufnehmen? Hier in Berlin? Echt jetzt!?
Ich sehe den anderen Rockland Rangers an, dass sie das nicht glauben können. Nur Dina bleibt so absolut ruhig und zeichnet wieder vor sich hin, als wäre sie in ihrer eigenen kleinen Welt.
„Ist der Deal ernst gemeint?“, fragt Nino zögernd ins Mikrophon, als könnte er damit eine Ablehnung provozieren, eine Annullierung.
Doch Sascha nickt. „Ist er“, bestätigt er. „Wer unser Studio abreißen will, noch dazu, wenn er vollkommen unbekannt ist, der darf auch bei uns aufnehmen, wenn wir wieder aufgebaut haben.“
„Deal“, meint Jesse und hat seinen arroganten Ranger-Sieges-Blick aufgesetzt. „Ich nehme dich beim Wort, Hoss Power.“
„Und ein Gentleman bricht sein Wort nicht“, erwidert Sascha und zwinkert mir zu. Naja, vielleicht auch uns allen, so genau kann ich das nicht deuten.
„Auf die Plätze – fertig – los!“, gibt Dina den Startschuss und Elyas zählt ein.
Mein Herz hämmert im Takt gegen die Brustwand und ich habe mit einem Mal schlagartig eine Wahnsinnsangst, dass wir dieses riesige Chance richtig verkacken könnten. Dass ich sie verkacken werde.
Improvisieren, Alex, nur improvisieren.
Unsicher schaue ich zu Jesse, der die erste Strophe allein singt und spielt wie damals beim Konzert. Nur hat er diesmal eine E-Gitarre unter den Fingern.
Seine tiefe Stimme füllt den Raum, lässt mein Herz strahlen. Und die Strophe ist viel zu schnell vorbei, der Refrain rast auf uns, auf mich zu.
Ein schwaches, kaum sichtbares Nicken von ihm. Mein Einsatz im Refrain, zweite Stimme und mit richtig Power. Mein Blick schweift zu den Cowboys und Dina. Sie hat Stift und Zeichenblock zur Seite gelegt und schaut uns gebannt zu. Die Cowboys ebenso.
Meine Gedanken suchen nach dem Text. Um mich herum steigen Schlagzeug, Bass, Piano und Ninos Gitarre ein. Ich atme tief durch.
Alles oder nichts.
Jesse zieht meinen Blick an, schaut mir in die Augen. Er glaubt an mich, glaubt an uns, an die Band. Wir schaffen das.
Und dann fange ich an zu singen. Ich lege meine ganze Kraft in die Stimme, jede Emotion, die ich finden kann. Mehr noch als bei Close, mehr noch als je zuvor. Wir kämpfen hier um einen wertvollen Preis und ich will gewinnen!
Ich ziehe das Mikrophon heraus und springe zwischen meinen Bandmitgliedern entlang. Jesse geht in die Knie, durch seinen Körper fließt pure Energie.
Plötzlich streift mein Blick unser kleines Publikum und ich muss lächeln. Dina ist aufgestanden, spielt leidenschaftlich Luftgitarre. Sie rutscht auf den Knien über den Boden, reißt mich mit.
Inzwischen stehen Jesse und ich Rücken an Rücken. Ich fühle mich, als würde ich leuchten, strahlen. Wie ein Stern am Nachhimmel.
„Just be a … Greenhorn!“, singe ich in das Mikrophon. Meine Stimme schallt in dem wilden Mix quer durch den Raum und kommt wie ein Bumerang zu mir zurück. Im Hintergrund höre ich Jesses Echo: „Be a … Greenhorn!“
Wir sind neu im Musikbusiness, aber warum sollte das heißen, dass wir schlecht sind? Weg mit den Vorurteilen! Wir können rocken und wir werden es beweisen. Hals über Kopf in eine neue Welt.
Der Song passt wie kein anderer zu dieser Situation. Ist das den Cowboys eigentlich auch bewusst?
Wieder ein kurzer Blick zu unserem Publikum. Dina rockt für einen ganzen Fanclub und zu meiner Verwunderung macht Alec plötzlich mit. Zwei Luftgitarristen. Alecs Haar fliegt um seinen Kopf, er scheint sichtlich Freude zu haben…
Und prompt verpasse ich meinen Einsatz, aber Jesse kann mich retten. Wir überspielen meinen Patzer und ich bin hochmotiviert, noch mehr zu geben. Als Dankeschön für die Rettung. Ich will kämpfen. Ich will das Studio niederbrennen mit diesem Song.
Beim zweiten Refrain kann ich noch mehr Stimmen hören als Jesses und meine. Dina brüllt uns den Text entgegen und die Cowboys schließen sich ihr an. Ob wir sie mitreißen oder ob das ganz allein Dinas Verdienst ist, kann ich nicht beurteilen. Textsicher sind sie auf jeden Fall jetzt schon.
Eine Energiewelle schlägt uns entgegen. Das muss der berühmte Funke sein, der überspringt. Dina und die Cowboys treiben uns an und wir werfen diese Energie zurück.
Ich fühle mich wie in einem Rausch. Einem Rausch aus Musik, aus Rock, aus Leidenschaft. Ich will mehr davon.
Und ich bin bereit, dafür alles zu geben. Mehr als alles. Und wenn ich zusammen breche am Ende, es ist mir egal. Das Feuer in mir ist entfacht, kann nicht mehr gelöscht werden.
Unkontrollierbar. Wild. Frei.
Meine Bühnenangst, die Angst vor dem Singen vor anderen Menschen ist weggeblasen. Ich bin ich. Ich bin hier. Das ist meine Welt.
Wie auf ein stummes Kommando lehnen Jesse und ich uns Rücken an Rücken an. Sein Stetson stößt gegen meinen Kopf, fällt zu Boden. Wir merken es nicht.
Sein Haar ist feucht vor Schweiß, klatscht mir an den Hinterkopf. Ich schwitze auch. Das Wasser läuft mir den Rücken hinab. Es ist mir egal.
Sam setzt zu seinem Muntermonika-Solo an, spielt nebenbei auf dem Klavier, meinem Zuhörer von vorhin. Ich bewundere seine Multitastiking-Fähigkeiten, strecke meine Arme nach ihm aus und falle auf die Knie. Mein Kopf ruckt im Rhythmus der Musik vor und zurück.
Jesse lässt sich auch auf die Knie fallen, lehnt sich zurück. Die letzten Zeilen des Songs kommen immer näher, der Countdown läuft.
Ich habe Angst vor dem Ende. Ich will nicht, dass es vorbei ist. Ich will weiter rocken, The BossHoss zeigen, dass wir mehr sind als nur eine unbekannte Band am Lagerfeuer. Wir sind die Rockland Rangers, keine Hochstapler.
Und Dina soll stolz auf uns sein. Ihr Spruch darf nicht umsonst gewesen sein. Wir müssen diesem Taten folgen lassen. Brennen wir dieses Studio ab! Reißen wir die Wände nieder!
Alle Kraft, die ich auftreiben kann, lege ich in die letzte Zeile. Dann reiße ich den Arm mit dem Mikro nach oben, lasse den Kopf nach vorn fallen. Ich fühle mich, als hätte ich einen Marathon hinter mir. Oder zumindest einen Halbmarathon.
Mein Atem geht schwer, ich ringe nach Luft. Durch die Stille höre ich, dass es allen anderen genauso geht.
Mein Herz hämmert, trommelt genauso laut wie das Schlagzeug gerade eben noch. Ich bin mir sicher, jeder kann es hören. Ba-bum, ba-bum, ba-bum…
Ich traue mich nicht, den Blick zu heben. War unser Auftritt gut? Oder sind The BossHoss enttäuscht? Auf einmal kehrt die alte Unsicherheit zurück.
Ich lebe vom Lob, vom Applaus. Kann mit Stille nicht umgehen, brauche ein Feedback. Ich habe das Gefühl, dass die Minuten an mir vorbei ziehen.
Nichts passiert. Es ist still. Ich habe Angst. Ich war schlecht, habe es versaut. Die große Chance auf Hoss Power als Produzenten und Aufnahmen im Internashville ist verloschen. Und ich bin schuld.
Alec hat noch nicht einmal den Motor abgestellt, als ich auf dem Auto springe. Es ist mir vollkommen egal, ob meine Begleiter auch nur halbwegs hinterher kommen, während ich zum den Eingang des Krankenhauses hechte.
Die Dame an der Rezeption sieht mich verwirrt an. Ich muss auch ein echt komisches Bild abgeben: zerzauste Frisur, klatschnass geschwitzt und aus der Puste, als hätte ich einen Halbmarathon hinter mir.
„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“, fragt sie mich betont freundlich, während sie mich von oben bis unten mustert.
„Alex. Wo ist sie?“, platze ich heraus. Eine Hand legt sich auf meine Schulter und ich zucke vor Schreck zusammen, taumele nach hinten. Zwei bunte Arme fangen mich auf und stellen mich wieder auf die Beine.
„Wir suchen eine junge Frau“, übernimmt Sascha das Wort. Seine Stimme ist bestimmt, aber gleichzeitig auch absolut ruhig. „Sie hatte vermutlich einen Unfall vor ein paar Stunden. Wir vermuten, dass sie in diese Klinik gebracht wurde...“
Er versucht, Alex zu beschreiben, doch die Dame hört ihm nicht mehr zu. „Und wer sind Sie?“, fragt sie stattdessen und schiebt ihre Brille nach oben.
„Das ist Nadine Schmidt, die beste Freundin der Verunfallten“, erklärt er kurz, während er erst auf mich, und dann auf Alec deutet. „Das ist Alec Völkel und ich bin Sascha Vollmer. Wir haben Frau Schmidt hierher gefahren.“
Frau Schmidt. Wie albern das doch klingt!
Ich höre nicht mehr weiter zu, die Panik und Angst um Alex hat mich voll im Griff. Bitte, lass sie am Leben sein! Sie darf nicht sterben!
Dann verabschiedet sich Sascha und geht zielstrebig zu einer Treppe. Alec, immer noch hinter mir, schiebt mich die Stufen hinauf. Vielleicht hat er auch einfach Angst, dass ich wieder umfalle.
Die weißen Wände erschlagen mich förmlich, die karge Gestaltung macht es nicht besser. Alles sieht so steril aus. Fürchterlich!
„Guten Tag, Sascha Vollmer mein Name“, stellt er sich plötzlich jemanden vor. Ich brauche einen Moment, um zu verstehen, dass wir auf einer Station stehen, die nicht die Intensivstation ist, und Sascha eine Krankenschwester angesprochen hat.
„Wie kann ich Ihnen weiter helfen?“, fragt sie den Riesen. Sie ist so klein, dass sie den Kopf in den Nacken legen muss, um Sascha ins Gesicht zu sehen.
„Wir suchen eine junge blonde Frau. Alexandra Weidelmann“, erklärt er knapp. „Sie hatte vor zwei oder drei Stunden einen Unfall.“
Zwei oder drei Stunden!? Um Gottes Willen, so lange ist Alex nun schon verschwunden?
„Ruhig bleiben“, murmelt mir Alec ins Ohr. „Das lässt uns Alex auch nicht schneller finden, wenn du jetzt in Ohnmacht fällst.“
„Ja, eine junge blonde Frau ist tatsächlich neu auf der Station. Sie hatte keine Papiere bei sich, wir wissen nicht, wer sie ist“, erklärt die Krankenschwester. „Vielleicht könnten Sie uns helfen, sie zu identifizieren?“
„Hat sie denn nicht gesagt, wie sie heißt?“, frage ich verwirrt. Die Krankenschwester schüttelt den Kopf. „Sie schläft derzeit. Wer sind Sie überhaupt? Sind Sie mit ihr verwandt?“
„Dina“, bringe ich mühsam hervor. „Dina Schmidt… Nadine Schmidt…“ In der Angst um Alex schaffe ich es nicht einmal, meinen Namen vernünftig zu sagen.
„Sie ist die beste Freundin der Verunfallten, beinahe wie eine Schwester“, kommt mir Alec zur Hilfe. „Wenn jemand ihre Patientin identifizieren kann, dann sie, sollte es sich tatsächlich um Alexandra Weidelmann handeln.“
„Dann folgen Sie mir am besten. Ich bringe Sie zum Zimmer.“ Die Krankenschwester dreht sich um und marschiert los. Unterwegs wechselt sie ein paar Worte mit einem Arzt, der uns mit wehendem Kittel entgegen kommt.
Schließlich bleibt sie vor einem Zimmer stehen. Ich strecke meine Hand nach dem Türgriff aus. Das kalte Metall presst sich an meine schweißige Hand. Noch bevor ich die Tür öffne, weiß ich, dass Alex hier ist.
Ich kann nicht sagen, woran ich das merke. Ich weiß es einfach, kann es spüren. Meine Alex, sie lebt, sie ist hier. Die Tür fliegt auf und ich stürme ins Zimmer.
Wie angewurzelt bleibe ich stehen, betrachte schockiert die beiden Betten, die nebeneinander im Patientenzimmer stehen. Im vorderen liegt eine braunhaarige Frau, die mich mit großen Augen anschaut.
Nein, nicht mich. Ehr meine Begleitung.
„Boss Burns und Hoss Power?“, fragt sie sofort, während sich ihre Augen noch mehr weiten. „Hier bei mir im Krankenhaus?“
„Sie kennen uns?“, fragt Sascha irritiert und mustert die Frau. Um ihren Arm ist ein dicker weißer Verband gewickelt, vermutlich mit einem Gips darunter.
„Na aber hallo!“, erklärt sie entrüstet. „Ich bin im Fanclub, da sollte ich doch die Frontmänner meiner Lieblingsband kennen!“
Im Fanclub? Eine von den Stallion Troopers?
„Ich bin übrigens Jana Heinmann“, stellt sie sich vor. „Euch kenne ich ja bereits, aber wer bist du?“ Sie schaut mich neugierig an. „Und warum bekomme ich Besuch von meiner Lieblingsband?“
„Jana“, meint Alec. „Du warst doch beim Soundcheck letztens dabei, oder? Da, wo Alex auch dabei war?“
„Genau genommen wollten wir gar nicht zu dir“, sagt Sascha genau zur gleichen Zeit. „Wir suchen Alex. Sie ist plötzlich verschwunden…“
In diesem Moment fällt mein Blick auf Alex. Sie ist es, tatsächlich! Sie lebt!
Und sie bewegt sich nicht. Liegt da, als wäre sie tot. Und sie sieht blass aus. Ihr linker Fuß ist mit einem weißen Verband bedeckt.
Nein, sie ist nicht tot! Sie darf nicht tot sein!
Ich stürme auf das Bett zu. „Sie war vorhin kurz wach“, höre ich Janas Worte. „Sie weiß nicht, wer sie ist. Ich habe sie erkannt, sie mit Namen angesprochen, aber sie ist sofort wieder eingeschlafen.“
„Alex“, würge ich hervor, eine unsichtbare Hand drückt mir die Kehle zu. „Alex, ich bin hier“, murmele ich tonlos, greife ihre kalte, bleiche Hand. „Ich bin es, Dina. Deine Dina.“
Und plötzlich schießen mir die Tränen in die Augen. Sie bewegt sich nicht. Nein! Alex, du musst aufwachen! Wach auf, bitte!
Der Applaus bleibt aus. Es scheint, als wäre meine Welt eingefroren. Alle starren mich an, zweifelnd, skeptisch.
Warum klatscht denn keiner? Warum jubelt keiner? Ich habe doch alles gegeben. Sie haben doch alle mit abgerockt…
Verzweifelt schaue ich Jesse an, aber er erwidert meinen Blick nicht. Mein Blick sucht Dina, aber sie hat sich von mir abgewendet.
Was habe ich falsch gemacht, dass niemand klatscht? Was habe ich falsch gemacht, dass ich komplett ignoriert werde?
„Alex.“
Die Stimme dringt von weit her an mein Ohr. Leise, brüchig. Verzweifelt.
Dina.
Ich würde ihre Stimme aus Millionen von Menschen heraus hören. Aber etwas stimmt nicht mit ihr.
Ich schaue zu Dina, die immer noch abgewandt von mir steht. Ihre Konturen werden unscharf. Alles wird unscharf, verläuft, verschwimmt.
Die Leinwand vor mir löst sich auf, zersetzt sich in tausend Teile. Die Bilder sind verschwunden.
Ich bin allein.
Um mich herum ist nur Dunkelheit. Ein bodenloser Abgrund, kein Halt. Ich falle. Falle direkt ins Nichts, in die Leere.
„Alex, ich bin hier.“
Aber wo ist hier? Dina, wo bist du? Wo bin ich?
„Ich bin es, Dina. Deine Dina.“ Ihre brüchige Stimme versiegt. Ich würde sie so gerne sehen, ihr beistehen. Irgendetwas muss ihr passiert sein.
Plötzlich spüre ich eine Wärme an meiner Hand. Sie hält mich fest, bewahrt mich vor dem weiteren Fall. Ich schwebe.
Etwas Nasses tropft mir ins Gesicht. Ich schaue nach oben. Wassertropfen. Erst nur wenige, dann immer mehr.
Sie klatschen auf meinen Kopf, rinnen dann über mein Gesicht. Über die Wangen bis zum Kinn und dann dem Hals entlang. Verschwinden in meinem T-Shirt.
„Sollen wir dich allein lassen?“ Eine tiefe Stimme brummt durch die Dunkelheit. Ich erkenne sie und kann sie trotzdem nicht zuordnen.
„Nein, bitte nicht.“ Dina. Jemand ist bei ihr. Jemand, der ihr helfen kann, was auch immer sie für ein Problem hat.
„Verdammt, das ist allein meine Schuld!“ Eine andere tiefe Stimme, verzweifelt. Besorgt, wütend. Und wieder kann ich sie nicht zuordnen.
„Das stimmt nicht, Sasch. Wir sind alle Schuld daran.“
Sasch. Der Name kommt mir bekannt vor. Ich versuche, diesen Namen in meinem Gedächtnis zu finden, aber mein Kopf weigert sich, gibt mir keine Antwort.
„Doch, meine Sturheit allein ist Schuld daran. Dir habe ich die Gitarre anvertraut, Stefan durfte sie auch spielen… Warum habe ich sie nicht einfach für Close heraus gerückt? Dann wären wir jetzt nicht hier.“
Gitarre? Für Close?
Ich schließe die Augen, rufe mir die Bilder in Erinnerung. Sascha, der Jesse seine Gitarre geliehen hat. Für Close.
Sascha ... ist Sasch?
Ist er das? Ist er hier? Um Dina zu helfen?
„Hör auf damit. Sie ist nicht allein wegen der Gitarre geflohen. Da steckt etwas anderes dahinter. Vielleicht unsere fehlende Aufmerksamkeit der Band gegenüber…“
Dina ist geflohen? Aber warum? Sie war doch noch da, bis ganz zum Schluss von Greenhorn, war mit Leib uns Seele dabei.
Warum ist sie weggelaufen?
Gleich darauf bin ich erleichtert. Dina ist hier, Sascha ist hier. Er hat sie gefunden, sie ist in Sicherheit. Ihr kann nichts mehr passieren.
„Woher willst du das wissen, Al?“
Al. Wer zur Hölle ist jetzt Al? Ich kenne die Stimme, aber ich weiß nicht mehr woher. Verfluchter Kopf, streng dich an!
„Ich habe ihr Gesicht gesehen, bevor sie losgerannt ist. Ich glaube, sie liebt den Mittelpunkt, aber sie lebt dann nur für die Anerkennung. Braucht zwingend jemand, der sie lobt, der ihr immer wieder sagt, wie toll sie ist. Das hat sie von uns in diesem Moment nicht bekommen, hat das nicht verkraftet…“
„Mit so einem schwachen Nervengerüst überlebt sie niemals auf der Bühne. Sie kann nicht immer davon ausgehen, dass sie bejubelt wird. Und die Presse erst…“
Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Seit wann will Dina auf die Bühne? Und was hat sie mit der Presse zu schaffen!?
„Könnt ihr mich … vielleicht doch allein lassen? Sascha? Alec?“
Alec ... ist Al.
Sascha und Alec. The BossHoss.
Was ist hier los? Warum bin ich allein in dieser Dunkelheit? Warum ist Dina so besorgt? Warum reden Sascha und Alec so komisch über meine beste Freundin?
Die Panik überrollt mich. Irgendetwas muss passiert sein und ich muss jetzt wissen, was das ist. Ich muss wissen, warum ich nichts mehr weiß. Wer bin ich überhaupt!?
„Alex!“
Ihr Ruf ist leise, aber mit einem Schlag weiß ich wieder, wer ich bin. Alex. Das bin ich, das ist mein Name.
„Sie wacht auf.“
Warum sollte ich aufwachen? Ich schlafe doch gar nicht…
„Komm schon, mach die Augen auf, Alex. Bitte! Mach die Augen auf!“ Dinas Stimme wirkt wie ein Befehl.
Augen auf.
Ich versuche zu zwinkern. Moment, meine Augen sind tatsächlich geschlossen. Warum?
Augen auf.
Ich nehme all meine Kraft zusammen und befehle mit all meiner Willenskraft meinen Augen, sich zu öffnen. Los, Augen, öffnet euch! Kann doch nicht so schwer sein!
Und plötzlich ist alles so gleißend hell, dass ich die Augen direkt wieder schließe, bevor ich einen zweiten, vorsichtigeren Versuch wage. Wo zur Hölle bin ich hier!?
„Dina?“ Ihre Stimme ist dünn, als hätte sie sie schon ewig lange nicht mehr benutzt. Trotzdem durchfährt der Klang meinen ganzen Körper.
Ruckartig fliegt mein Kopf nach oben, genau in ihr Gesichtsfeld. Alex! Sie ist wach! Sie lebt!
„Alex!“ Mein Ruf gleicht einem Jubel und sie kneift kurz die Augen zusammen, als ob sie darüber erschrocken wäre.
„Alex, du lebst.“ Ich bin so grenzenlos erleichtert. Sie lebt, sie ist wach. Es scheint ihr, naja, den Umständen entsprechend zu gehen.
Bevor ich es richtig realisieren kann, dass meine beste Freundin zurück ins Leben gefunden hat, steht der Arzt neben mir, den wir auf dem Flur gesehen haben.
„Guten Tag. Ich bin Dr. Sindor, der Stationsarzt“, stellt er sich knapp vor und reicht mir die Hand, die ich automatisch ergreife. „Nadine Schmidt, die beste Freundin von Alex.“
„Alex heißt sie also“, meint er und schaut mich fragend an. „Sie haben nicht zufällig ihre Papiere dabei?“
Bitte!?
Ich bin so irritiert, dass ich nur den Kopf schüttele. Aber Dr. Sindor tut das Ganze mit einem Lächeln ab und sagt, dass ich die auch nachreichen könnte.
„Dina … geht … dir gut?“ Alex brüchige Stimme durchbricht das Gespräch. Ich deute ein Nicken an. Klar, jetzt...
Moment, sie fragt mich gerade, ob es mir gut geht!? Wieso das? Sie hatte doch den Unfall!
„Jetzt schon. Aber wie geht es dir?“, frage ich sie irritiert. Alex sucht nach meinem Blick und ich beuge mich etwas weiter über das Bett.
„Ich hab … Sorgen gemacht. Warum … du … weggelaufen?“
Hä? Wie, ich bin weggelaufen? Ich bin nicht weggelaufen, sie ist doch geflüchtet! Ich schüttele den Kopf und streiche mir eine Strähne aus dem Gesicht.
„Das warst du. Du bist weggelaufen“, fange ich an, doch Alex unterbricht mich. Ihre Stimme wird langsam kräftiger, wie es mir scheint. „Aber du … hattest Unfall. Und willst ... Bühne?“
„Ich hatte auch keinen Unfall, sondern du“, entgegne ich rasch und wende mich hilfesuchend an Dr. Sindor, der die Geräte checkt. „Was hat sie denn? Wieso glaubt sie, dass ich einen Unfall hatte?“
Dr. Sindor sieht mich an. „Möglicherweise kann sie sich nicht daran erinnern, was geschehen ist“, sagt er in absolut ruhiger Stimme. „Wir vermuten eine Amnesie, schließlich wusste sie beim letzten Aufwachen nicht, wie sie heißt.“
„Ich kann … mich erinnern“, schaltet sich Alex ein. Erleichtert stelle ich fest, dass ihre Stimme langsam wieder normal wird.
„Woran, Alex? Woran kannst du dich erinnern?“, frage ich sie prompt. Ich greife nach ihrer Hand, streiche über den Handrücken. Als sie anfängt, zu sprechen, bin ich grenzenlos erleichtert.
„Wir waren im Studio. Haben Close gespielt“, berichtet sie. In Gedanken setze ich einen Haken. Daran kann sie sich erinnern, sehr gut.
„Ich hab Saschas Gitarre angefasst. Die Buchstaben. Und Jesse hat sie gespielt.“ Moment, nein. Das passt nicht. Sascha hat die Gitarre nicht Jesse gegeben und deshalb ist Alex weggelaufen.
„Und dann hat Ansgar ein Video gefunden. Von Greenhorn. Im Internet“, erzählt Alex weiter und irgendwie kann ich mich auch daran nicht erinnern. Was ist denn los mit ihr? Wieso erinnert sie sich an Dinge, die nie geschehen sind?
„Wir haben Greenhorn gespielt. Und Sascha uns Albumaufnahmen im Internashville versprochen“, schließt Alex ab. „Und dann hattest du einen Unfall.“
Ich schüttele langsam den Kopf. Nein, das passt hier absolut nicht! Das stimmt doch alles nicht, es war doch ganz anders!
Bilder von der Suche nach ihr, dem Ohrstecker, dem Stau und die Hast durch das Krankenhaus strömen durch meinen Kopf. All das, was Alex gerade erzählt hat, ist doch nie so geschehen…
„Frau Schmidt, ich muss Sie bitten, das Zimmer zu verlassen. Die Patientin braucht Ruhe, schauen Sie mal hier auf den Puls“, mischt sich Dr. Sindor ein. Ich will protestieren, doch da schiebt er mich schon aus dem Raum.
„Frau Schmidt, könnte ich kurz mit Ihnen sprechen?“, fragt er mich vor der Tür. Aus dem Augenwinkel heraus sehe ich Sascha und Alec etwas weiter weg auf ein paar Stühlen sitzen.
„Was ist mit ihr? Hat das Auto ihre Erinnerungen zermatscht!?“, fahre ich den Arzt an. Ich kann mir absolut gar nicht erklären, was Alex da für einen Mist erzählt hat.
„Welches Auto denn, Frau Schmidt?“ Jetzt ist es bei ihm, irritiert zu schauen. Boah, der muss doch selber wissen, was seinen Patienten passiert ist! Hat der nie so eine Krankheitsgeschichte angefertigt?
„Alex’ Unfall! Der Grund, weshalb sie hier ist, ist doch ein Autounfall!“ Mein Tonfall ist gereizt, aber das tut mir gerade nicht einmal leid. Was ist das denn für ein…?
„Nein.“
Meine Gedanken verstummen schlagartig. Was nein?
„Die Patientin hatte keinen Autounfall“, erklärt Dr. Sindor gelassen. Er ist das krasse Gegenteil von mir...
Stopp!
Wenn Alex keinen Autounfall hatte, woher kommt das das Blut? Warum ist sie dann mit einem Rettungswagen hierher gebracht wurden? Warum kann sie sich an nichts erinnern, was tatsächlich geschehen ist?
Ich bin ratlos und schaue den Arzt schief an. Irgendwas passt hier nicht. Alles passt hier nicht zusammen.
Einen Augenblick lang zweifele ich, ob das hier überhaupt real ist. Ob nicht Alex doch recht hat mit ihren Erinnerungen und ich einfach nur durchgedreht bin.
In Gedanken mache ich mir eine Notiz, dieses Video zu suchen, das sie erwähnt hat.
Mein Herz hämmert wild gegen meine Brust. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Dina aus dem Zimmer geschoben wird. Dieser Typ mit weißem Kittel hat sie mir einfach weggenommen!
Verdammt, Dina! Ich brauche dich jetzt hier. Bei mir. Nicht vor der Tür.
Ihr Gesicht taucht vor meinem inneren Auge auf. Wie sie langsam den Kopf geschüttelt hat, als ob ich einen schlechten Witz erzählt hätte. Ihr enttäuschter Blick mit einem Hauch von Verzweifelung.
Was hat sie bloß? War ihr Unfall doch nicht so glimpflich abgelaufen, wie ich gehofft hatte? Was ist ihr überhaupt zugestoßen? Und warum ist sie weggelaufen?
Je mehr ich darüber nachdenke, desto verwirrender wird das alles. Hier passt etwas nicht zusammen, überhaupt nicht. Aber ich habe keine Ahnung, was das sein könnte.
Langsam stellen sich Kopfschmerzen ein. Ich reibe mir über die Schläfen, doch es nützt nichts. Mein Kopf dröhnt, als würde jemand mit einem Presslufthammer darin arbeiten.
Aber wenn Dina hier ist… Wo ist dann Jesse? Wo sind Elyas, Nino, Martin, Sam und Lizzy? Und Sascha und Alec?
Ich habe das Gefühl, als ob ich einen wichtigen Moment verpasst hätte. Dieser Ortswechsel kam so plötzlich für mich. In dem einen Moment war ich doch im Studio und dann wache ich plötzlich hier auf, in dieser weißen Umgebung.
Wo genau bin ich überhaupt?
Ich versuche, mich aufzusetzen, doch mein Kopf macht mir einen Strich durch die Rechnung und hämmert doppelt so schnell. Das kann doch nicht wahr sein!
Vorsichtig drehe ich den Kopf nach rechts und nach links. Mein Blick erhascht eine weiße Wand, noch eine weiße Wand und ein Bett. Ein Krankenhausbett.
Ein Krankenhausbett!?
Wieso bin ich im Krankenhaus!? Dann muss der Typ in weiß wohl ein Arzt gewesen sein…. Aber warum bin ich hier?
„Schön, dass du wieder wach bist, Alex.“ Ihre Stimme klingt durch den Raum. Dann sitzt die Gestalt in ihrem Bett und sieht mich an. Sie hat ein schwarzes T-Shirt an mit dem Aufdruck meiner Lieblingsband, die Haare stehen wild nach allen Seiten ab.
Jana. Ihr Name rauscht mir durch den Kopf. Dann sehe ich sie vor mir, beim Konzert damals. Eindeutig, das ist Jana.
„Jana. Hey“, bringe ich schwach hervor und versuche zu lächeln. „Was mache ich hier? Weiß du irgendetwas?“
Der Presslufthammer in meinem Kopf arbeitet immer noch auf Hochtouren. Können diese verfluchten Kopfschmerzen nicht endlich verschwinden? Ich kann ja kaum einen klaren Gedanken fassen!
„Besonders viel habe ich nicht mitbekommen, aber ein bisschen konnte ich mir zusammen reimen“, gibt Jana zu. „Dazu das, was mir Sascha und Alec erzählt haben…“
„Und was genau weißt du?“, frage ich vorsichtig zurück. „Was ist passiert? Warum bin ich hier? Warum sind alle so besorgt und wieso hat Dina angedeutet, dass sie keinen Unfall hatte? Alec und Sascha haben das doch gesagt…“
Sie seufzt. „Dina ist die junge Frau, die vorhin bei dir war?“ Ich nicke. „Meine beste Freundin, meine bessere Hälfte. Such dir was aus.“
„Sie hatte keinen Unfall, deine Freundin. Im Gegenteil. Sie macht sich große Sorgen um dich. Alec und Sascha übrigens auch“, sagt Jana und scheint nach den passenden Worten zu suchen. „Ich weiß nicht, was genau passiert ist, aber offenbar warst du verschwunden und sie haben dich gesucht.“
„Ich war verschwunden? Nein, ich war die ganze Zeit im Studio! Wir waren bei The BossHoss zu Besuch, haben unsere Songs für sie gespielt“, berichte ich aufgeregt. „Weiß du, wir sind nämlich als Vorband für deren Hörerkonzert engagiert…“
„Alex“, unterbricht sie mich vorsichtig. „Du hattest einen Unfall. Die Ärzte vermuten, soweit ich das verstanden habe, eine Gehirnerschütterung bei dir. Und dein Knöchel ist ein bisschen verstaucht, aber das kommt wohl schnell wieder in Ordnung… Aber…“
Sie verstummt und ich sehe sie fragend an. Gehirnerschütterung? Aber davon muss ich doch etwas bemerkt haben! Ich war doch im Studio. Und plötzlich hier, in diesem weißen Raum. Wie komme ich hierher?
„Du warst einige Zeit nicht ansprechbar, bist nur einmal zwischendurch aufgewacht“, sagt Jana leise. „Du konntest dich nicht einmal an deinen Namen erinnern. Sie vermuten, dass du an Amnesie leidest…“
Amnesie!?
Das Wort kommt mir bekannt vor, doch so richtig weiß ich nicht, was das sein soll. Ich verfluche mich, dass ich nicht ausgerechnet jetzt mein Handy habe, um den Begriff zu recherchieren.
„Alex, versuche, dich zu erinnern. Vielleicht hilft dir das“, meint sie. „Kam dir irgendwas in deinen letzten Erinnerungen komisch vor, war irgendetwas auffällig? Wusstest du immer, wer du bist? Weißt du, was genau passiert ist? Konzentriere dich…“
„Sie wird sich jetzt nicht konzentrieren, Frau Heinmann!“ Die Tür fliegt auf und der Arzt rauscht ziemlich wütend ins Zimmer. „Frau Weidelmann braucht absolute Ruhe, also hören Sie auf, ihr irgendwelche Fragen zu stellen! Sie sind nicht Ihre Psychotherapeutin!“
Psychotherapeutin!? Ich bin doch nicht verrückt geworden! DAS hätte ich ja nun definitiv bemerkt!
Oder etwa nicht?
Plötzlich wird mir ganz komisch. Als ob ich mich selbst nicht mehr erkennen würde. Als ob ich das Offensichtliche übersehen würde. Das Puzzleteil, durch das man das Motiv erkennt. Der letzte Eisbrocken beim Iglu, durch den die Wände stabil werden…
„Ich bin vielleicht nicht Alex’ Psychotherapeutin, aber ich habe Psychologie studiert!“, wettert Jana zurück. „Und Alex will Antworten, sie hat mich gefragt! Sagen Sie ihr doch wenigstens, was los ist!“
„Frau Heinmann, beruhigen Sie sich“, unterbricht sie der Arzt. „Frau Weidelmann braucht erst einmal Ruhe, mit Ihrer Panik machen Sie alles nur noch schlimmer. Sollten Sie als Psychologie-Studentin doch wissen…“
Mein Kopf scheint nun endgültig zu explodieren. Ich halte mir die Ohren zu, doch es nützt nichts. Erschöpft lasse ich mich ins Kissen fallen und werde – dem Himmel sei Dank – in einen traumlosen Schlaf gezogen.
„Sie wurde angefahren, ja, aber von einem Fahrradfahrer“, sagt der Arzt ruhig. „Die Fahrradfahrerin hat ausgesagt, dass sie geklingelt und gebremst habe, aber Ihre Freundin, Frau Schmidt, sei ihr wohl direkt vor das Rad gesprungen und stehen geblieben…“
Ich schlucke schwer, während der Arzt weiter redet. Irgendetwas von Amnesie, Gehirnerschütterung und verstauchtem Knöchel. Scheiße, Alex, wo warst du in deinen Gedanken!?
Und die Antwort darauf kenne ich schon. Bei Close, bei The BossHoss, bei dem verpatzten Auftritt und dem fehlenden Applaus. Ich unterdrücke die Wut auf Sascha, die in mir aufsteigt. So richtig kann ja eigentlich keiner was dafür…
Der Arzt dreht sich um und geht, nachdem ich ihm halb in Gedanken die Personalien von Alex durchgegeben habe. Ich stehe allein im Flur.
„Alles gut, Dina?“ Nein, allein bin ich nicht. Sascha ist hier, Alec ist hier. Ich nicke schwach und seufze.
„Sie wurde von einem Fahrrad angefahren und ist gestürzt…“, fange ich an und dann sprudelt alles aus mir heraus, was ich von dem Arzt erfahren habe.
„Was ist, wenn sie sich nie mehr erinnern wird?“, frage ich hilflos und bin froh, als mir Sascha einen Arm um die Schultern legt, mir Halt gibt. So langsam kann ich verstehen, warum Alex die Cowboys so mag.
„Sie wird sich erinnern, Dina“, meint Alec zuversichtlich. „Gibt ihr einfach Zeit. Sie ist doch in diesem Krankenhaus in den besten Händen…“
Ich sehe, dass er noch etwas sagen will, doch er bricht ab. Und dann erkenne ich den Grund dafür: Die restlichen Musiker strömen in den Krankenhausflur. Dicht dahinter Lizzy und Sophie.
„Wie geht es ihr? Wo ist sie?“, schallt mir Jesses Stimme entgegen. Elyas mustert kurz Sascha und zieht die Augenbrauen hoch.
„Kollege, ich übernehm’ mal, ja?“, wendet er sich an Sascha, der zögernd den Arm sinken lässt. Gleich darauf zieht mich Elyas in die Arme.
„Sie darf keinen Besuch empfangen“, bringe ich hervor. „Kann sich nicht erinnern und hat eine Gehirnerschütterung. Aber sie weiß wieder, wer sie ist.“
„Ein Lichtblick“, sagt Sascha. „Aber so kann es nicht weiter gehen. Wenn sie jedes Mal, wenn auf der Bühne etwas nicht nach ihrer Vorstellung läuft, so reagiert und anschließend alles verdrängt, was passiert ist, um sich in ihre eigene Welt zurück zu ziehen, dann überlebt sie in der Musikbranche keine drei Wochen…“
„Du klingst, als hättest du Angst um sie, Sasch“, meint Alec und runzelt die Stirn. „Und ich höre heraus, dass du einen Plan hast.“
„Hab ich nicht. Ich hatte gehofft, dass du eine Idee hast, Al“, gibt Sascha zu. „Alex muss lernen, sich selbst loben zu können. Sie darf nicht weiterhin abhängig vom Lob der Anderen sein, muss lernen, wie man sich den Applaus verdient, ersingt…“
„Erstmal muss sie wieder gesund werden“, schaltet sich Jesse ein. „Das ist das Wichtigste!“
„Definitiv“, stimmt Lizzy zu. „Ich schau mal, ob mir ein Arzt sagen kann, wie lange sie hier bleiben muss. Wir haben schließlich nur ein kleines Hotel gebucht und können nicht ewig lang in Berlin bleiben.“
„Also ich bleibe“, erklärt Jesse und verschränkt die Augen. Ich löse mich von Elyas und nicke eifrig. „Ich gehe ohne Alex auch nicht weg.“
„Und ich frage gleich mal beim Chef, wie lange er auf mich verzichten kann“, wirft Elyas ein und verlässt den Flur, um in Ruhe telefonieren zu können.
Nach und nach sind alle Rockland Rangers verschwunden, jeder an der Leitung zu seinem Arbeitgeber. „Was bin ich froh, dass das bei uns nicht mehr so kompliziert ist“, meint Ansgar. „Naja, zumindest ist es anders.“
„Was arbeitet ihr denn eigentlich alle?“, fragt Stefan, als ob er das Gespräch am Laufen halten will. Da ich nun allein zwischen den Cowboys bin, beschließe ich, allein Rede und Antwort zu stehen.
„Alex und ich studieren. Fernstudium. Deshalb können wir auch ohne Probleme in Berlin bleiben – zeitlich gesehen“, fange ich an. „Jesse jobbt als Reitlehrer bei Lizzy auf der Ranch, Nino verkauft Autos und Elyas ist Tanzlehrer für Standart- und lateinamerikanische Tänze. Ja, Sam gibt Klavierunterricht für Kinder in seiner ehemaligen Musikschule und Martin ist der klassische Bürohengst.“
„Sehr musikalisch – Klavierlehrer, Tanzlehrer…“, kommentiert André. Sascha grinst. „Also ich finde ja super, dass Jesse Reitunterricht gibt. Meine Tochter hat da mal was angedeutet, vielleicht frage ich ihn mal…“
„Aber das erklärt auch, warum das Tanz-Battle gegen euren Drummer so hart war“, sagt Alec lachend. „Wer weiß, vielleicht kann er mir ja noch was beibringen…“
„Erstmal muss Alex wieder gesund werden“, schließe ich den Bogen, als Lizzy wieder zu uns stößt. „Und dann stabil für die Bühne. Hat jemand eine Idee?“
„Noch nicht, aber mir fällt schon was ein. Oder jemand anderem“, antwortet Alec zuversichtlich. „Wir machen aus Alex die Rampensau, die sie sowieso ist. Aber mit mehr Selbstvertrauen.“
„Sag mal, was hast du da denn eigentlich?“ Sam meldet sich zurück, im Schlepptau die restlichen Bandmitglieder und deutet auf die Tasche, die Lizzy in der Hand hält.
Diese schaut verwundert auf die Tasche und packt dann das Instrument aus. „Hab ich mir gekauft. Stand in so einem kleinen Musikladen gegenüber vom Café im Schaufenster und ich konnte nicht dran vorbei gehen“, erklärt sie.
„Eine Ukulele!“, freut sich Elyas. „Was willst du denn damit?“
„Mensch, El, das ist doch keine Ukulele!“, tadelt Martin ihn. „Die hat zwei Saiten mehr.“
„Also eine Kindergitarre?“, überlegt Nino, doch Lizzy schüttelt den Kopf. Ich erhasche einen Blick auf The BossHoss, die sich synchron das Lachen verkneifen müssen.
„Das ist eine Guitalele“, klärt Sophie uns schließlich auf. „Eine Gitarre in Ukulelengröße.“
„Und was willst du damit?“, fragt Sam neugierig. Lizzy grinst schief. „Ich begleite euch am Lagerfeuer. Ich vermisse das Gitarrespielen und meine eigene Gitarre lebt leider nicht mehr…“ Dabei wirft sie Jesse einen vielsagenden Blick zu.
Lizzy wird das neue Bandmitglied für das Lagerfeuer? Ich versuche mir, das vorzustellen und muss grinsen. Ja, das könnte was werden…
„Alex darf übrigens in zwei Tagen aus dem Krankenhaus raus“, sagt unsere Managerin. „Falls sie sich erinnern kann, vielleicht auch schon früher, aber die Ärzte glauben nicht daran.“
Als ich aufwache, schwirren mir hundert Gedanken im Kopf herum. Der Unfall, den Dina hatte, gab es nie. Stattdessen hätte ich einen Unfall gehabt.
Ich bin im Krankenhaus, ohne Erinnerung daran, wie ich hierher gekommen bin. Ich habe Amnesie, was auch immer das ist.
Jana ist besorgt um mich, weil ich lange nicht wach war. Dina ist auch besorgt.
Und mein Knöchel ist verstaucht. Der pocht inzwischen in bisschen, aber das ist erträglich. Zeigt mir, dass ich noch etwas spüre, dass ich lebe.
Aber ich weiß, dass ein entscheidendes Detail fehlt, um all das zu verstehen. Irgendetwas habe ich übersehen. Wie komme ich hierher? Warum weiß ich nichts von dem Unfall?
Ich soll mich erinnern, hat Jana gesagt. Aber wie stellt man das am besten an? Wie erinnert man sich an etwas, wenn man sich doch erinnern kann?
Die Bilder aus dem Studio tauchen vor meinen inneren Augen auf. Close, Greenhorn… Alec und Dina mit den Luftgitarren…
Aber etwas ist komisch daran. Warum habe ich das so … von zwei Seiten gesehen? Einmal aus meiner Perspektive und einmal von außen, als unsichtbarer Zuschauer?
Wie geht das? Wie kann man von außen auf etwas schauen, was man selbst erlebt? Und warum gab es immer wieder Unterbrechungen? Warum hab ich zwischendurch immer mal nichts gesehen?
Ich bin verzweifelt. Meine Kopfschmerzen kehren auch schlagartig zurück. Hallo, Presslufthammer, ich hab dich schon vermisst – nicht!
„Kam dir irgendwas in deinen letzten Erinnerungen komisch vor, war irgendetwas auffällig? Wusstest du immer, wer du bist? Weißt du, was genau passiert ist? Konzentriere dich…“, höre ich Jana in meinem Kopf.
Ja, etwas ist komisch an meinen Erinnerungen. Die doppelte Perspektive. Wer ich bin, wusste ich doch eigentlich immer…
Moment, es gab ein paar Augenblicke, bei denen ich meinen Namen nicht sofort erkannt habe. Ist es das?
Habe ich das fehlende Puzzleteil gefunden? Aber warum kann ich nicht erkennen, in welche Lücke es passt? Oder wie ich es drehen muss, damit es passt?
Plötzlich höre ich Musik. Meine Zehen zucken im Rhythmus, mein Kopf wiegt sich hin und her. Ich kenne den Song.
Close.
Saschas Stimme dringt in meinen Kopf, breitet sich mit einem warmen Gefühl aus. Es klingt wie eine Entschuldigung…
Und verstummt.
„Jana hier, was gibt’s?“ Ich reiße die Augen auf und drehe den Kopf zur Seite. Jana sitzt auf ihrem Bett, das Handy am Ohr.
Close, das muss ihr Klingelton gewesen sein!
Ich schließe die Augen, sehe Sascha vor mir, wie er auf seiner Gitarre spielt. Gott, wie ich diese Gitarre liebe! Einmal nur würde ich zu gerne die Buchstaben berühren…
Moment, das habe ich doch getan… Oder etwa nicht? Sind meine Erinnerungen wahr?
Aber wie sollen Erinnerungen nicht wahr sein können? Ich habe das doch erlebt, ich war doch dabei.
Und habe es von außen gesehen.
Das geht doch eigentlich gar nicht! Da passt etwas nicht! Dieses Detail passt einfach nicht zum Rest.
Die Tür öffnet sich in Zeitlupe und dann huscht ein brauner Schopf mit roten Spitzen hinein. Dina! Sie ist zurück!
Wie ein Geist schleicht sie zu meinem Bett, taucht auf der anderen Seite wieder auf. „Sag nichts, ich bin unerlaubterweise hier“, murmelt sie. „Aber ich kann dich doch hier nicht alleine lassen.“
„Danke“, forme ich mit den Lippen. Ich bin grenzenlos erleichtert, sie zu sehen. Dina. Was wäre ich ohne sie, die Schwester meiner Seele?
„Wie geht es dir, Alex?“, fragt sie leise. „Ich weiß jetzt, was passiert ist.“
„Du weißt das?“, entgegne ich mit großen Augen. „Ich weiß es nicht. Es passt alles nicht zusammen und meine Erinnerungen – ich hab das auch von außerhalb gesehen. Als ob ich den Szenen gleichzeitig nur zuschauen würde…“
„Du hattest einen Unfall. Ein Fahrrad hat dich über den Haufen gefahren“, platzt Dina heraus. „Nachdem Sascha sich geweigert hat, Jesse seine Gitarre zu überlassen, bist du kopflos davon gestürmt. Ich bin dir gefolgt – mit Alec und Sascha. Wir haben deinen Ohrstecker auf dem Bürgersteig gefunden…“
„Ist noch jemand hier? Von der Band? Oder den Cowboys?“, unterbreche ich sie. Plötzlich habe ich den Drang, alle bei mir haben zu wollen. Ausnahmslos alle.
„Ja, wir warten draußen. Sogar Lizzy und Sophie“, sagt Dina und hockt sich neben das Bett. „Wir hatten so Angst um dich. Ich dachte, du wärst tot!“
„Glaubst du ernsthaft, ich lass dich hier alleine zurück?“, versuche ich, einen Witz zu machen. Dina grinst schief und schüttelt den Kopf.
„Wer Witze machen kann, kann gar nicht so krank sein!“, erklärt sie ernst. „Aber deshalb bin ich hier. Je früher du dich erinnerst, was genau passiert ist, desto früher darfst du gehen. Einen Tag musst du aber mindestens hier bleiben, als Kontrolle wegen der Gehirnerschütterung…“
„Dina, was ist Amnesie?“, stelle ich die Frage, die mir auf der Seele brennt und meine beste Freundin schluckt.
„Das heißt, dass du dich nicht erinnern kannst. Also an das, was vor dem Unfall und kurz danach passiert ist“, sagt sie leise, als ob sie jedes Wort er probieren müsste. „Alex, deine Erinnerungen an Greenhorn sind falsch. Das hat es nie gegeben. Sascha hat die Gitarre nie an Jesse gegeben…“
„Aber was ist denn dann passiert?“ Meine Verzweifelung kehrt zurück. Ich kann mich erinnern, doch meine Erinnerungen sollen falsch sein? Aber was ist wahr? Und warum weiß mein Kopf Dinge, die nie geschehen sein sollen?
„Du hast versucht, Sascha zu bestechen. Er war wütend, richtig wütend deshalb. Und er macht sich furchtbare Vorwürfe deshalb“, gibt Dina zu. „Scheiße, Alex, erinner’ dich bitte!“
In diesem Moment eine Art Knall vor der Tür und Dina huscht hinter das Nachtschränkchen. „Ich darf nicht gefunden werden“, flüstert sie noch rasch, dann hängt sie irgendwo halb unter dem Bett und hält die Luft an.
Doch die Krankenschwester, die kurz darauf das Zimmer betritt, kontrolliert nur die Maschinen und verschwindet sofort wieder. Und bevor Dina wieder auf ihrem Versteck heraus kriechen kann, stehen Alec und Sascha zusammen mit Jesse vor meinem Bett.
„Hey“, begrüße ich meine Besucher und sehe, wie Sascha erleichtert ausatmet. Alec legt ihm eine Hand um die Schultern, streichelt beruhigen seinen Oberarm.
„Es tut mir so leid, Alex“, bricht es aus Sascha hervor. „Das mit der Gitarre und überhaupt. Mein Gott, du hast uns so eine Angst eingejagt!“
„Und du weißt wirklich nichts mehr?“, fragt mich Alec, während Jesse nach meiner Hand greift. Ich schüttele den Kopf.
Nein, ich weiß nur das was falsch sein soll. Verdammt, falsche Erinnerungen, dann geht doch, wenn ihr falsch seid!
Dann geht doch…
Die Stimme hallt in meinem Kopf nach, verändert ihren Klang. Und plötzlich ist es, als würde Alec in meinem Kopf sein. Ein wütender Alec, der sich beschützend vor Sascha schiebt. Seinen besten Freund mit allem verteidigt, was er aufbringen kann.
Dann geh’ doch!
Es ist wie ein Knall in meinem Kopf und plötzlich strömen Bilder hinein, wie aus einer Kanone. Bilder, von denen ich instinktiv weiß, dass sie wahr sind.
Ich bin überglücklich, dass Alex sich endlich wieder erinnern kann. Vermutlich könnte ich die ganze Welt umarmen, wären meine Arme lang genug.
Und total sauer, dass wir nur wenige Minuten später allesamt wieder vor die Tür gesetzt werden. Drei Krankenschwestern, zwei Ärzte und ein Praktikant – vermutlich das komplette Personal der Station – schieben uns aus dem Zimmer und vertreiben uns dann von der Station.
Jesse seufzt. „Zur Feier des Tages könnten wir jetzt irgendwo was essen gehen. Ich habe Hunger“, bemerkt er. „Und zu Alex darf heute wohl garantiert gar keiner mehr…“
Wir nicken zustimmend und schauen The BossHoss an. Eigentlich schon verrückt, dass die ganze Band inklusive ihrer Managerin immer noch bei uns im Krankenhaus ist. So ein bisschen habe ich das Gefühl, dass ich jetzt auch ein Promi bin.
„Um die Ecke gibt’s eine kleine mexikanische Bar“, schlägt Tobi vor. „Oder bevorzugt ihr die Krankenhauskantine?“
Ein entgeistertes ‚Igitt!’ kann ich mir leider nicht verkneifen und werde prompt zur Lachnummer. Egal, Alex geht es gut, da darf man mich auch auslachen.
Schließlich sitzen wir am größten Tisch der Bar versammelt. Lizzy und Sophie sind in ein Gespräch vertieft, die BossHoss-Cowboys reißen einen dummen Spruch nach dem anderen. Letzteres liegt wohl am allmählich steigenden Alkoholpegel, denn Alex’ Erinnerung musste scheinbar unbedingt begossen werden.
Meine Rangers-Clique dagegen rätselt, wie man Alex am beste beibringen könnte, dass die Aufnahmen im Internashville, von denen sie geträumt hatte, nicht stattfinden werden. Meine beste Freundin hielt dieses Detail fest wie ein Klammeraffe, egal wie unreal es auch war.
Irgendwann fällt mein Blick auf die Uhr an der Wand. Kurz vor Mitternacht. Nur mit Mühe verkneife ich mir ein Gähnen.
Obwohl ich schon seit Ewigkeiten den Faden aller Gespräche verloren habe, fühle ich mich so wohl in unserer großen, lauten Runde. So langsam schließe ich die Cowboys echt in mein Herz, aber so ein irrer Fan wie meine Alex werde ich definitiv nicht!
„Ich schwöre es“, murmele ich, was zum Glück niemand hört, und nehme einen Schluck von meinem Cocktail. Der steht schon seit Ewigkeiten vor mir, das Eis ist längst geschmolzen und der Alkohol vermutlich verdunstet, so heiß und stickig, wie es in der Bar ist.
Es dauert noch eine halbe Stunde, bevor sich ein Großteil absetzt. Tobi, Malcolm, Stefan und André verabschieden sich von allen, ebenso wie Sophie.
Einige Minuten später löst sich auch Lizzy aus der Gruppe. Sie muss morgen zwingend zurück zur Ranch fahren. Danny braucht sie.
Im Schlepptau folgen ihr Martin, Sam und Nino, die ebenfalls morgen abreisen müssen. Wenn der Job ruft, muss man eben springen.
Im Stillen danke ich für mein Fernstudium. Und dafür, dass ich mein Tablett dabei habe, um arbeiten zu können. Außerdem werde ich wohl Alex’ Job übernehmen und sie als Fanclub-Vorsitzende vertreten müssen...
„Sag mal, schläfst du etwa?“, werde ich unsanft von Alec angerempelt und schrecke zusammen.
„Ne… Nein, ähm. Nein“, stammele ich irritiert und bin plötzlich hellwach. Alecs dunkle Augen funkeln belustigt.
„Und ich habe gedacht, du wartest, bis dein kompletter Cocktail verdunstet ist“, sagt er grinsend. Aus einer Laune heraus strecke ich ihm die Zunge entgegen.
„Pah, ich bin Genießer!“, schieße ich zurück und versuche ernst zu bleiben. Es gelingt mir nicht.
Die Gruppe ist inzwischen näher zusammen gerückt. Ein bisschen habe ich das Gefühl, dass die werten Herren auf Kuschelkurs kommen. Verflucht, wieso bin ich hier eigentlich die einzige Frau in der Runde!?
„Genießen, ja? Ganz eine Lady“, kommentiert Sascha. „Aber ich habe gerade die zündende Idee, wie wir Alex selbstbewusst machen.“
„Echt?“ Ich bin erstaunt und setze ich gerade hin. Schlagartig hänge ich an seinen Lippen. Und an seinen Mundwinkeln, die sich zu einem fetten Grinsen nach oben ziehen. Kann dieser Mann eigentlich auch nicht grinsen!?
„In einer kleinen Kneipe nicht ganz so weit weg vom Studio gibt es eine Karaoke-Nacht“, fängt Sascha an und ich verdrehe die Augen. Karaoke. Das ist doch nicht sein Ernst!?
„Jeder Teilnehmer singt drei Titel, die er sich vorher aussucht. Aber bei der Auswahl gibt es Regeln: Es muss sowohl ein englischer, als auch ein deutscher Song dabei sein und ebenfalls mindestens eine Ballade und eine Tempo-up-Nummer“, fährt Sascha fort und hebt einen Flyer hoch, der auf dem Tisch lag. „Steht hier.“
„Wir schicken Alex allein auf eine Bühne vor ein wildfremdes Publikum?“, fragt Elyas nach und die Cowboys nicken.
„Und woher wissen wir, wie die reagieren werden?“, hakt Jesse nach. „Wenn sie Alex ausbuhen, dann bekomme ich sie nie wieder auf irgendeine Bühne.“
„Wir wissen es nicht, aber Alex muss sich die Herzen ersingen. Ich weiß, dass sie das kann. Jetzt muss sie nur noch begreifen, dass sie gut ist. Und sich selbst loben“, erklärt Alec. „Vielleicht braucht sie zwei Songs, um die Menschen zu begeistern, aber sie muss sich der Sache stellen…“
„Genau. Ihre Angst ist ja, dass sie keinen Applaus bekommt, dass sie irgendwo allein ist, wo sie sich nicht verstecken kann…“, fügt Ansgar hinzu. „Zumindest wirkt das auf mich so.“
„Vielleicht sollten wir es ihr noch etwas schwerer machen“, gibt Sascha zu bedenken. „Wenn sie mit ihrer Stimme beim ersten Takt alle umhaut, dann ist das Projekt ja gescheitert.“
„Was schlägst du vor?“, schaltet sich Elyas wieder ein. „Wollt ihr ihr etwa die Show stehlen?“
„Das ist genial!“, freut sich Alec und klatscht in die Hände. „Sasch, wir stellen uns mit in die Kneipe. Ganz öffentlich, machen Fotos mit Fans, geben Autogramme, lenken von Alex ab. Wenn sie das schafft…“
„…hat sie eigentlich auch ihre gewünschten Aufnahmen im Internashville verdient“, beende ich den Satz und schlage mir die Hand vor den Mund. Menno, ich verfluchtes Plappermaul! Alex hat doch gesagt, dass das niemand wissen soll außerhalb der Band.
„Aufnahmen im Internashville?“ Sascha ist sofort hellhörig. „Du meinst, sie will unbedingt bei uns im Studio einen Song aufnehmen?“
„Nicht nur einen Song“, meint Jesse langsam. „Am besten gleich ein ganzes Album. Denn blöderweise sind wir tatsächlich studiolos. Das Studio, in dem wir das erste Album aufgenommen haben, hat dicht gemacht. Einen Plattenvertrag haben wir auch nicht mehr und Technik, um überhaupt Songs qualitativ ertragbar aufnehmen zu können, haben wir auch nicht…“
„Oh man“, stöhnt Alec auf und schüttelt den Kopf, so dass das braune Haar um seinen Kopf fliegt.
„Also ich bin dabei“, beschließt Sascha kurzerhand. „Das zweite Album der Rockland Rangers kommt aus dem Internashville. Und ich finde garantiert auch ein Label für euch. Hab ja nach dem Abschlusskonzert sowieso viel Zeit.“
„Die sich übrigens Urlaub nennt“, fügt Ansgar hinzu. „Wolltest du nicht mit deiner Familie verreisen?“
„Klar, mach ich auch, aber doch nicht ein ganzes Jahr lang“, gibt Sascha zurück. „Jesse, wir besiegeln das hier gleich mal mit Handschlag: Alex tritt auf, rockt sie die Menge und bleibt auf der Bühne, kommt ihr zu uns ins Studio.“
Jesse reicht ihm die Hand und ich schaue der Szene völlig fasziniert zu. Und unterdrücke den Drang, Sascha zum Dank um den Hals zu fallen. Aber ich bin kein Fangirl, da kommt so was nicht gut.
„Dina?“ Ich schaue überrascht auf. Mein Cocktailglas ist immer noch nicht leer, aber dafür sitzt plötzlich Sascha neben mir.
„Äh ja?“, antworte ich und wundere mich immer noch über den plötzlichen Sitzwechsel. Ich bin doch nicht etwa eingeschlafen. Oder doch?
„Dina hat mir von einer Klassenkameradin erzählt, wegen der sie so lange nicht gesungen hat…“, fängt der riesige Mann an und ich runzele die Stirn.
„Sie hat dir von Leta erzählt?“ Ich bin verwirrt. Alex hat mir Leta doch eigentlich abgeschlossen, sie verdrängt und …
„Ja. Sie hat mir erzählt von Leuchtturm und wie sie ihre Singstimme entdeckt hat“, erklärt Sascha. „Und dabei ist diese Klassenkameradin aufgetaucht. Wie heißt sie? Leta? Komischer Name…“
„Laeticia Schumann“, korrigiere ich. „Eine arrogante Göre mit einer Wahnsinnsstimme. Das Produkt aus einer Choreografin und einem reichen Geschäftsmann.“
Und dann sagt Sascha etwas, was mich beinahe meinen Cocktail wieder ausspucken ließ: „Ich würde sie gern kennen lernen.“
„Bitte!?“ Ich bin mir sicher, dass ich lange nicht mehr so entsetzt jemanden angesehen habe. Sascha will Leta kennen lernen!? Wozu das denn!?
„Weiß du, ich habe nachgedacht“, fängt er an. „Alex ist eine klasse Sängerin, sie wird die Kneipe rocken. Egal, ob Alec oder ich das Publikum ablenken…“
Er macht eine Kunstpause und ich stehe immer noch auf der Leitung. Alex ist klasse, das weiß ich, aber was soll das jetzt mit Leta?
„Sie hat Angst vor Leta. Deshalb will ich diese Frau vor der Bühne sehen, wenn Alex auftritt. Wenn sie das übersteht, kann nichts mehr schief gehen“, fährt Sascha fort. „Sie muss lernen, Neider auszublenden. Oder Hater. Oder wie immer die Jugendsprache das sonst noch betitelt.“
„Du willst, dass Leta bei Alex zuschaut?“, frage ich entsetzt nach. Nur zur Sicherheit, denn irgendwas habe ich da doch garantiert falsch verstanden. Definitiv!
„Ganz genau. Wo finde ich diese Leta?“
Für einen Moment bin ich wie eingefroren. Der hat ja Nerven! Wagt sich an Alex’ finstere Zeiten, pult verheilte Wunden auf und streut Salz rein! Nicht mit mir!
„Vergiss es, Sascha. Da mache ich nicht mit“, erkläre ich kalt und verschränke die Arme. „Ich will Leta auch nie wieder sehen.“
„Warum? Hat sie noch mehr gemacht außer Alex beim Singen ausgelacht?“ Und ich dachte immer, Frauen wären neugierig. Mein Gott, Sascha toppt das um Längen!
Und ich bin unsicher, wie viel ich ihm erzählen darf. Er ist ein Promi, nach wie vor. Und das hier ist Alex’ Sache. Die darf ich nicht breittreten.
„Genug, um sie und mich zwölf Schuljahre lang zu terrorisieren“, antworte ich ausweichend. „Jesse reißt dir den Kopf ab, wenn du sie in die Kneipe schleppst – falls ich das nicht vorher getan habe.“
„Sie muss diese Leta ja nicht sofort sehen…“, versucht er mich, weiter zu bequatschen und ich schüttele mit dem Kopf.
„Nicht sehen? Eine Leta sieht man sofort – Halbspanierin, langes schwarzes Haar, das in Korkenzieherlocken den Rücken hinunter fällt, gut gebräunt… Mein Gott, dieses Mädchen hat alles, was sich ein Mann scheinbar wünscht – solange er nur auf das Äußere schaut!“ Unbewusst ist meine Stimme lauter geworden.
„Danke für die genaue Beschreibung. Ich hab sie gefunden“, erklingt auf meiner anderen Seite eine Stimme mit sehr freudigem Unterton. Alec.
Die haben mich reingelegt!!!
„Kein Wort zu Alex, Dina“, beschwören mich beide gleichzeitig. In mir steigt eine Wut auf über ihren Verrat.
„Wenn diese Leta tatsächlich Zicken machen sollte, stehen wir hinter Alex“, meint Sascha beschwichtigend. „Falls diese Leta überhaupt nach Berlin kommt…“
„Hoffen wir, dass sie es nicht tut“, sage ich und versuche, mir den Flyer des Events zu angeln. „Wann findet das Ganze eigentlich statt?“
„Am Samstag vor dem zweiten Advent“, antwortet Alec lässig und legt eine Hand auf meine Stuhllehne. „Eine Woche vor dem Hörerkonzert, zwei Wochen vor unserem Abschlusskonzert.“
Ich verdrehe die Augen. Wie soll ich Alex bis dahin denn stabil bekommen? Und was soll sie eigentlich dort singen? Keine Ahnung, worauf die Leute hier in Berlin so abfahren…
„Also ich hab da schon ein paar Ideen für die Songs“, überlegt Sascha laut und ich stelle mit einem Schrecken fest, dass ich laut gedacht habe. Mist, sonst passiert das immer nur Alex…
„Welche?“
„Tears in Heaven von Eric Clapton“, schlägt Sascha vor. „Ballade und Englisch sind damit abgedeckt. Und ich glaube, ihre Stimme passt wunderbar dazu.“
„Und Ich lebe“, überlegt Alec. „Von Christina Stürmer.“
„Und der dritte Song?“ Auch, wenn ich der Idee immer noch skeptisch gegenüber stehe, aber mit den zwei Songs hätte Alex vielleicht eine Chance. Zumindest kennt sie beide Songs und findet sie auch noch gut.
„Ich wünsche mir den Weihnachtsklassiker“, erklärt Ansgar und rutscht näher an unsere Runde heran, um besser lauschen zu können.
„Stille Nacht, heilige Nacht?“, rät Elyas und die drei Cowboys kringeln sich vor Lachen. Jesse legt die Stirn in Falten. „Scheinbar nicht…“
„Last Christmas!“, ruft Ansgar aus. „Mensch, bei euch auf dem Lande, da kennt man ja scheinbar gar nichts!“
„Ernsthaft? Den Song!?“ Scheinbar wird das hier der Abend mit den meisten entgeisterten Blicken meinerseits.
„He, was haste denn gegen Last Christmas?”, kommt es von Alec. „Den haben sogar wir mal gecovert, also bitte! Wir basteln für Alex auch einen fetten Beat drunter, damit das nicht so altbacken klingt.“
Ich gebe mich geschlagen, obwohl ich den Song absolut nervig finde, und trinke den letzten Schluck meines Cocktails. Erstaunlich, es ist halb drei nachts und wir sitzen seit um sieben hier. Und jetzt ist mein Cocktail tatsächlich leer.
Es dauert keine fünf Minuten mehr, bis wir die Kneipe verlassen. Die Cowboys nach Hause, Jesse, Elyas und ich ins Hotel. Als hätten alle nur gewartet, dass ich ausgetrunken habe.
Es dauert ganze drei Tage, bevor ich endlich wieder raus aus dem Krankenhaus darf. Von meiner Band sind nur noch Jesse, Elyas und natürlich Dina in Berlin.
Vor allem Elyas ist erleichtert, dass wir endlich wieder nach Hause fahren dürfen. Sein Chef hat wohl ordentlich Druck gemacht und ihm nur mit Ach und Krach frei gegeben.
Und nun, einige Wochen später, stehe ich wieder in Berlin. Und wieder nur mit Jesse, Elyas und Dina. The BossHoss haben uns vier eingeladen, wollten mit uns plaudern und uns Berlin zeigen.
Ich habe versucht, mich großstadtmäßig zu kleiden. Neue zerrissene Jeans, die alten sind ja leider beim Unfall völlig kaputt gegangen, dazu Boots, schwarzes T-Shirt, eine Karobluse und einen langen Filzmantel.
„So, dann wollen wir mal los, Ladys“, meint Alec und deutet auf den Mustang. „Wir nehmen das Auto. Ich hab extra für euch das Verdeck nach oben geklappt.“
Und darüber bin ich megaglücklich. Es ist saukalt, eisig und ganz und gar kein Wetter für ein Cabrio. Aber der Wagen… Wow. Mir fällt die Kinnlade herunter.
Das Auto ist ein Traum. Und dass Alec uns mitnimmt, ist noch viel mehr wow. Die Jungs fahren bei Sascha mit, der ebenfalls einen schicken Oldtimer ausgegraben hat. Stil haben sie definitiv, meine Lieblingscowboys.
Dina klettert auf die Rückbank und deutet mir an, den Beifahrersitz zu nehmen. Andächtig streiche ich über den Sitz und die Armaturen. Dieser Wagen ist so was von klasse.
„Hat dir Sascha eigentlich schon erzählt, was wir geplant haben?“, fragt Alec und lässt den Motor an. Und wie dieser Wagen klingt! Ich stehe ja eigentlich nicht auf Autos, aber das hier ist mehr als nur ein Auto!
„Nein“, antworte ich wahrheitsgemäß. „Ihr wollt irgendwo in irgendeine Kneipe, mehr weiß ich nicht.“
„Nicht in irgendeine Kneipe, Alex“, meint Alec und grinst. „Heute ist Karaoke-Day. Du wirst auftreten, wir haben dich schon angemeldet…“
Mir fällt die Kinnlade herunter und ich glaube fest daran, dass ich mich verhört habe. Doch Alec lässt mir keine Chance, ich kann nicht mal protestieren, als er einfach weiter erzählt.
„Drei Songs, damit Berlin deine Stimme hören kann. Glaub mir, du haust sie alle um.“ Er fällt in einen lockeren Plauderton. „Tears in heaven, Ich lebe und Last Christmas.“
Ich schlucke schwer, suche mit den Augen nach Dina. Ich kann ihre Miene nicht deuten, so überhaupt nicht.
„Keine Bange, Alex“, murmelt sie. „Du rockst die Hütte und ich feuere dich an, alles klar? Zeig Berlin, was in dir steckt! Da sind wahrscheinlich so viele Menschen, die einfach nur an der Bar lehnen, die überzeugst du locker.“
„Aber… ich… alleine…?“ Meine Stimme wird brüchig. Wieso soll ich allein singen? Das kann ich nicht. Ich brauch doch meine Jungs im Rücken.
„Wer… begleitet mich?“, frage ich stockend. Alec grinst mich kurz an, dann richtet er seinen Blick wieder auf die Straße.
„Wir haben dir ein hammermäßiges Playback zu allen drei Songs gemixt, der Sasch und ich“, sagt er mit leuchtenden Augen. „Textsicher bist du doch sicher, die Songs sind ja bekannt.“
In Gedanken gehe ich die Songs durch. Tears in heaven. Ja, sollte ich hinbekommen. Ich liebe diesen Song.
Ich lebe. Okay, Christina Stürmer bekomme ich auch hin. Was zum Rocken, das sollte machbar sein.
Aber Last Christmas? Musste das sein? Es ist noch nicht mal der zweite Advent und mir hängt der Song jetzt schon wieder zu Hals raus. Außer natürlich in der Version meiner Cowboys, aber die kann ich ja schlecht covern.
Alec parkt ein, wir steigen aus. Und stehen vor einer kleinen, unscheinbaren Bar. Zumindest ist sie das von außen, denn kaum lotsen uns Alec und Sascha hinein, schlägt uns das blühende Partyleben von Berlin um die Ohren.
Und da soll ich auftreten? Vollkommen unvorbereitet?
Ich gebe meinen Mantel an der Garderobe ab und erkunde mit meinen Augen den Raum. Eine winzige Bühne, ein bisschen überfüllte Tanzfläche und eine Bar, an der sich die Menschen förmlich stapeln.
„Wollt ihr was trinken?“ Obwohl die Frage an alle gerichtet ist, schaut Sascha dabei Dina und mich an. Mit seinem typischen Sascha-Grinsen.
Dieses Grinsen bringt mich noch um den Verstand und dabei steht neben mir mein Freund. Dessen Hand jetzt suchend nach meiner tastet. „Du schaffst das, Alex“, raunt er mir zu. „Und wenn du es geschafft hast, haben die Cowboys eine Überraschung für dich, von der du bisher nur geträumt hast.“
Das ist doch mal motivierend. Eine Überraschung der Cowboys. Dafür bin ich doch immer ui haben! Und für Überraschung sind die doch immer gut.
„Ein Wasser“, antworte ich Sascha. „Und hinterher nehme ich auch gerne was mit Schuss, aber vorher ist das eine schlechte Idee.“
Ich ernte ein mehrstimmiges Lachen und gleich darauf halte ich ein Glas mit prickelndem Selterwasser in der Hand. Die kühle Flüssigkeit rinnt meiner Kehle entlang, beruhigt mich irgendwie.
Ja, mein Gott, die Menschen stehen drauf, wenn ich singe. Warum sollte ich also hier nicht singen? Ich kann das doch!
Ich spreche mir Mut zu. Auch dann noch, als ich vor der Bühne stehe und auf das Zeichen warte, zum Mikrophon gehen zu dürfen.
Nacheinander klopfen mir meine Freunde auf die Schulter, dann gehen sie geschlossen wieder zur Bar. Sie kommen nicht mal richtig dort an, denn schon werden Alec und Sascha angequatscht.
Vermutlich Fans, die nach einem Autogramm oder einem Foto fragen. Und die Cowboys haben scheinbar blendende Laune, denn sie gehen dem Wunsch mit Freunde nach.
„Alexandra Weidelmann?“, fragt mich eine junge Frau und mustert mich. Ich nicke vorsichtig. „Sie sind dran. Hoch auf die Bühne und viel Spaß.“
Zögernd setze ich meinen Fuß auf die Bühne, von der gerade eine Rothaarige herab klettert, und gehe wie ferngesteuert auf das Mikrophon zu. Irgendwer hat mir einen Barhocker hinter den Mikrophonständer gestellt.
Ich setze mich, schaue in die Menschenmenge. Dina grinst mich noch kurz an, dann küsst sie Elyas. Jesse unterhält sich mit Sascha und Alec, die einen Fan nach dem anderen glücklich machen.
Ich fühle mich plötzlich einsam.
Und dann setzt die Musik ein. Tears in heaven. Ich schaffe das. Ich schaffe das wirklich.
Mit geschlossenen Augen beginne ich zu singen, vergesse die Menschen, vergesse die Bar, vergesse die Karaoke-Show, vergesse meine Bühnenangst. Und genieße den Song von Eric Clapton in vollen Zügen.
Als ich die Augen wieder öffne, hat sich im Großen und Ganzen gar nichts verändert. Nur der Song ist vorbei.
Die Menschen sind immer noch alle mit sich selbst beschäftigt, ich könnte genauso gut eine Statue sein oder gar nicht da. Das würde vermutlich nicht einmal einen Unterschied machen. Ich seufze, spähe nach meinen Freuden.
Alec und Sascha sind immer noch im Fan-Modus, in den sich Jesse einfach eingeklinkt hat. Elyas und Dina können die Finger nicht voneinander lassen.
Na klasse, für meine Stimme interessiert sich ja wahrhaftig ganz Berlin! Nicht.
Aber gut, dann habe ich eben für mich gesungen. Zwar nicht unter der Dusche, wie sonst, aber trotzdem nur für mich. Das schaffe ich doch bestimmt auch beim nächsten Song.
Und bevor ich den Gedanken weiter verfolgen kann, setzt das Playback-Intro von Ich lebe ein. Ich stehe auf, kicke den Barhocker elegant zur Seite und hoffe, dass er noch in einem Stück landet.
Wenn Berlin keine Balladen mag, vielleicht mag es ja schnellere Songs. Mit beiden Händen umklammere ich das Mikrophon, welches noch immer in seinem Ständer klemmt, schließe wieder die Augen.
Die erste Strophe hauche ich beinahe nur und hoffe, dass ich damit wenigstens ein bisschen Aufmerksamkeit des Publikums bekomme, bevor ich schließlich all meine Power in den Song fließen lasse, das Mikrophon heraus reiße.
Alec und Sascha haben ein wahres Feuerwerk an Playback gemixt, aber nichts anderes habe ich erwartet. Wenn die beiden Cowboys was machen, dann ganz oder gar nicht.
Wie ein Flummi springe ich über die Bühne, explodiere förmlich und reiße einen Arm nach oben. Eigentlich könnte hier die Party des Tages steigen, aber irgendwie ändert sich vor der Bühne rein gar nichts.
Ja, okay, die Miniatur-Tanzfläche ist immer noch überfüllt, aber so richtig tanzen und feiern tut keiner. Jeder steht mit einem Glas oder einer Flasche blöd in der Gegend rum, brüllt seinem Nachbarn etwas ins Ohr.
An mir scheint sich auf alle Fälle niemand zu stören.
Missmut macht sich in mir breit. Ich gebe alles und keinen interessiert sich. Schlagartig überkommen mich Zweifel. War das alles nur gelogen? Kann ich gar nicht so gut singen, wie alle mir Glauben machen wollen?
Irgendworan muss es doch liegen, dass ich hier oben wie in einer Glaskugel sitze, die unsichtbar und unhörbar macht.
Doch dann höre ich Jesse in meinem Ohr. Wenn ich das hier schaffe, haben die Cowboys eine Überraschung für mich. Ich liebe Überraschungen!
Schlagartig sehe ich das Ganze hier nicht mehr als gescheiterte Party an, sondern als Mutprobe. Ja, Mut, auf der Bühne zu bleiben. Den werde ich ja wohl haben!
Und gebe weiterhin alles. Wenn mich keiner beachtet, kann ich mich ja klangheimlich mal ausprobieren. Mal schauen, was ich noch alles aus meiner Stimme herauskitzeln kann, wenn ich nicht gerade unter der Dusche stehe.
Ich singe extrem gerne unter der Dusche. Zum einen klingt Musik in einem Badezimmer absolut klasse, zum anderen glaube ich jedes Mal fest daran, dass mich keiner hört. Wenn ich dank dem Wasser nichts höre, hört mich auch keiner. Ich weiß, dass das nicht stimmt, aber ausnahmsweise ist die Einbildung stärker.
Mein Blick fliegt über das Publikum. Dina wirft mir einen ganz kurzen, flüchtigen Blick zu. Ihre Augen strahlen mich über das Publikum hinweg an.
Aber der Augenblick ist so kurz, dass ich nur eine Sekunde später glaube, ich hätte ihn mir nur eingebildet. Und Jesse, Alec und Sascha stehen immer noch mit dem Rücken zu mir. Durchaus schöne Rücken, aber etwas Unterstützung würde mir mehr gefallen.
Ich bin schweißgebadet, als der Song zu Ende ist. Langsam lasse ich das Mikrophon sinken, ringe um Atem. Dass die Bar stickig und heiß ist, macht die Situation nicht besser.
Und plötzlich wird mein Blick wieder durch die Menge gezogen. Scheinbar nichts hat sich verändert und trotzdem ist etwas anders. Mein Kopf rattert, sucht den Unterschied.
Meine Freunde – unveränderte Position, nur dass Elyas gerade Dina noch irgendwas ausgibt.
Das Publikum – weiterhin uninteressiert.
Halt, was ist das!?
Mein Blick haftet auf einer schwarzen Lockenmähne. Korkenzieherlocken in glänzendem Schwarz. Dann dreht sie sich scheinbar wie in Zeitlupe zu mir um und mir wird heiß und kalt zu gleich.
Das darf doch nicht wahr sein! Was macht die hier!? Wie kommt die hierher!? Warum ausrechnet jetzt, wenn ich hier oben stehe!?
Leta.
Ihre Augen verengen sich zu Schlitzen, ich spüre ihren kritischen Blick auf mir und würde am liebsten von der Bühne fliehen. Bloß ganz weit weg von dieser Frau. Meine Armlarmglocken schrillen auf rot.
Dina sucht meinen Blick und schüttelt fast unmerklich den Kopf. Ist sie etwa eingeweiht? Wusste sie, dass Leta hier auftauchen würde? Hat sie das geplant?
Hat Dina mich verraten!?
Sie zwinkert vorsichtig und ich entspanne mich unter ihrem Blick. Vergiss Leta, sagen ihre Augen. Mach einfach weiter.
Ich kämpfe mit mir selbst, will von der Bühne rennen und gleichzeitig Leta beweisen, dass sie falsch lag. Dass ich mich nicht mehr von ihr unterbuttern lasse.
Die Entscheidung wird mir abgenommen, das dritte und letzte Playback setzt ein. Last Christmas. Ich knurre leise, vor Hass auf Leta, vor Genervtheit über den Song…
Moment, genau das ist es.
Der erste Refrain kommt noch ruhig, vorsichtig über meine Lippen. Ich koste jedes einzelne Wort aus und immer klarer wird mir die eigentliche Botschaft des Songs.
Das ist kein Friede-Freude-Eierkuchen-Text. Nicht fröhlich. Hier steht in meinen Augen etwas ganz Anderes zwischen den Zeilen.
Ich habe dir mein Herz gegeben, aber du hast das nicht verdient. Deshalb habe ich dich abgesägt und guck mal her, du bist nichts wert. Ich bin so viel besser dran ohne dich, guck genau hin!
Das ist nicht einfach Herzschmerz in dem Song, da steckt etwas Dreckiges mit drin. Was Rotziges, Freches.
Und genau das fühle ich für Leta.
Schau mich an, du hast mich ausgelacht, verpönt, mir die Schule zum Alptraum gemacht. Aber guck mich an, ich bin besser geworden, bin gereift und spucke dir jetzt vor die Füße!
Mit kühlem Blick auf blauen Augen stolziere ich über die Bühne, lege dieses Gefühl von Überheblichkeit in meine Stimme. Yeah, was für ein Spaß! Warum bin ich nie zuvor auf die Idee gekommen, mich als kalte Herzensbrecherin darzustellen?
Meine Stimme trieft vor rotzigem Dreck, vor Arroganz und Überlegenheit. Legt euch nicht mit mir an, das hier ist nicht mehr die kleine Alex aus der Schule, die hinter Dina Schutz vor Leta sucht!
Ich schüttele mein blondes Haar, schaue dem Publikum zielsicher in die Augen. Zumindest denen, die sich inzwischen umgedreht haben. Und das werden plötzlich immer mehr.
Ich bin erstaunt. Darauf steht Berlin? Last Christmas in einer rotzig-dreckigen Version? Ernsthaft? Könnt ihr kriegen!
Mit noch etwas mehr Hohn in der Stimme verwandele ich die nette Nummer aus dem Radio in eine Rockshow – passend zum Playback. Als hätten die Cowboys genau gewusst, wie ich diesen Song interpretieren würde.
Mal ehrlich, einer von denen kann Gedanken lesen, oder?
Irgendwie bin ich selbst überrascht, wie ich noch mehr Kraft auftreiben kann, aber sie ist plötzlich da. Durch meine Adern rinnt Adrenalin.
Das ist meine Mutprobe? Na, dann mal los!
Unterbewusst nehme ich wahr, wie sich vor allem immer mehr Männer zu mir umdrehen und mich mit eigenartigen Blicken mustern. Nicht nur Begeisterung, sondern ehr … Geilheit? … schlägt mir entgegen.
Hoppla, wo bin ich hier eigentlich hineingeraten? Wildfremde Männer verführen kann ich eigentlich nicht, wollte ich nie können.
Und trotzdem macht mich das Ganze hier gerade an. Und ich gehe unbewusst auf deren Spiel ein, flirte mit diesen wildfremden Partygästen mit meinen Augen, meiner Stimme, meinem Körper und realisiere als das überhaupt nicht.
Dina und Elyas mustern mich mit großen Augen, Jesses Augen dagegen glänzen glasig. Hallelujah, was Musik alles anrichten kann!
Alec und Sascha haben sich ebenfalls von ihren Fans abgewandt, aber ihre Gesichter liegen im Dunkeln. Nur, dass sie mich beobachten, das erkenne ich.
„Now I’ve found a real love, you never fool me again!“ Es ist mein persönlicher Höhepunkt in diesem Song, noch mehr geht nicht. Good girl gone bad – das trifft mich gerade so ziemlich perfekt.
Alex, die dirty Rocklady – die kannte ich bis gerade eben auch nicht.
Atemlos lasse ich die letzten Töne des Playbacks verklingen. Fixiere Leta, die den Kopf geneigt hat. Trotzdem kann ich ihr die Augen schauen.
Anerkennung. Demut.
Ernsthaft!? Leta ist demütig? Mir gegenüber?
Ich schüttele meine blonde Mähne und schaue noch einmal genauer hin. Definitiv, Leta ist beeindruckt. Ich habe meine größte Feindin überzeugt.
Mit der ich eigentlich Waffenstillstand geschlossen habe. Den sie mit ihrem Auftauchen hier gebrochen hat.
Mit zittrigen Beinen klettere ich von der Bühne herunter, bahne mir einen Weg durch die Massen. Die Männern starren mich immer noch alle lüstern an, so ganz wohl ist mir da nicht mehr. Und ich hoffe, dass hier niemand versucht, mich irgendwo zu betatschen.
„Alex, warte.“ Ihre verhasste Stimme schlägt mir entgegen, doch sie klingt anders als früher.
Abrupt drehe ich mich um, starre sie an. Was erlaubt die sich eigentlich, mich anzusprechen!?
„Alex, ich glaube, es ist Zeit für ein Friedensangebot“, sagt sie versöhnlich. „Ich war nicht immer fair zu dir, du sehr kreativ bei der Rache… Und jetzt haben wir uns ein halbes Jahr nicht mehr gesehen. Du hast dich verändert, ich habe mich verändert… Lass uns endgültig Frieden schließen…“
„Dein Ernst, Leta?“ Mein blanker Hohn schlägt ihr entgegen. „Ich soll dir verzeihen? All das, was du mir angetan hast? Sogar, dass du hier aufgetaucht bist, als ob du von meinem Auftritt gewusst hättest!?“
„Ich habe davon gewusst, ja. Wurde förmlich gedrängt, hierher zu kommen“, gibt sie zu und ich werde stutzig. „Und verzeihen verlange ich nicht von dir.“
„Wer hat dich gedrängt?“, frage ich nach, lege den Kopf schief. Leta zuckt vorsichtig mit den Schultern. „Boss Burns, Hoss Power und Sir Frank Doe. Guck nicht so, deine Cowboys wollten, dass ich hierher komme!“
Meine Cowboys!? Was sind das eigentlich für Arschlöcher!?
„Beruhig dich, Alex. Gibt ihnen nicht die Schuld“, quatscht sie auf mich ein und ich weiß gar nichts mehr. Das hier ist doch nicht die Leta, die ich kenne. Die hier ist so … nett.
Und blöderweise glaube ich ihr auch noch! Ich habe der noch nie auch nur irgendetwas geglaubt.
„Sie wollten dich testen, und haben mich als deine größte Angst eingeladen.“
„Ich habe keine Angst vor dir, Leta“, knurre ich zurück und Leta lacht. Ein freundliches, ehrliches Lachen. Es erreicht ihre geschminkten Augen. Das habe ich noch nie von ihr gehört.
„Komm schon, Alex, best Friends werden wir nie, aber Frieden sollte allmählich drin sein“, meint sie lächelnd, ehrlich lächelnd. „Wir sind erwachsen. Wird Zeit, dass wir uns auch so benehmen.“
„Vielleicht hast du recht“, gebe ich nach und reiche ihr die Hand. „Frieden, Leta. Aber pass trotzdem auf, dass sich unsere Wege nicht allzu oft kreuzen. Ich traue dir trotzdem nicht.“
„Ich dir auch nicht, Alex“, gibt sie zu. „Viel Erfolg für die Zukunft. Noch so ein paar Auftritte und die Männer hier fallen in Ohnmacht.“
Und dann ist sie verschwunden. Und ich stehe hier unten, völlig irritiert. Was zur Hölle war das denn gerade!?
Allmählich bahne ich mir einen Weg zu meinen Freunden. Leta schiebe ich in die letzte Ecke meines Kopfes. Sie war so anders, so merkwürdig. Besser, wenn ich sie nie wieder sehen werde.
Frieden hin oder her – ich traue ihr nicht. Wer einem zwölf Jahre lang das Leben zur Hölle machen will, mit dem schließt man keinen Frieden. Zumindest keinen echten.
„Sag mal, Alex, was war das denn bitteschön!?“, dringt Alecs anklagende Stimme zu mir durch und ich schaue ihn irritiert an.
„Was Al damit sagen will: Wolltest du uns umbringen!?“, kommt ihm Sascha zur Hilfe. Und ich habe trotzdem keine Ahnung, was sie meinen. In meinem Kopf spukt die komische Begegnung mit Leta herum.
„Ich frag mich echt, ob ich jetzt eifersüchtig werden muss…“, meint Jesse. Eifersüchtig? Auf Leta? Äh, nee…
„Das warst aber schon du auf der Bühne, oder?“, versucht es Alec noch einmal. „Erde an Alex?“
„Äh, was genau meint ihr?“ Meine Frage kommt zögernd, irgendwie habe ich grade das Gefühl, etwas verpasst zu haben. Oder auf der Leitung zu stehen.
„Hallo? Das hast du nicht bemerkt?“ Saschas Blick ist eigenartig. Wie das der ganzen anderen Männer in der Bar…
Und plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Im gleichen Moment spricht Alec das Ganze auch schon aus: „Du wolltest uns umbringen vor Geilheit, oder? Mein Gott, Alex, ich wusste nicht mal annährend, dass du so dermaßen die Männer flachlegen kannst, ohne das auch noch zu bemerken…“
Ich gebe zu, ich bin ganz eindeutig mit der Situation überfordert. Das ist doch jetzt nicht deren Ernst, oder!?
Sascha schluckt schwer. „Ein Wunder, dass sie dich zu uns durchgelassen haben, ohne über dich herzufallen“, bemerkt er trocken. „Ich musste mich am Riemen reißen, hier nicht zu sabbern.“
„Und ich werde langsam ernsthaft eifersüchtig!“, betont Jesse erneut und zieht mich in seine Arme. „Noch so ein Auftritt und du kannst dich vor männlichen Groupies nicht mehr retten. Ich hoffe, du machst denen allen klar, dass du vergeben bist.“
„Als ob jemand anderes außer dir eine Chance bei mir hätte“, erwidere ich und drücke ihm einen Kuss auf die Lippen. Er schmeckt erregt. Und die Beule in seiner Jeans spricht eine ziemlich eindeutige Sprache.
Hoppla. So war das eigentlich nicht geplant…
„Ich will diesen Song“, unterbricht uns Sascha. In seiner Stimme schwingt ein leichtes Knurren mit. „Ich will den aufnehmen, ich will den beim Hörerkonzert haben. Als ausgleichende Gerechtigkeit.“
„Ausgleichende Gerechtigkeit?“ Mensch, Jungs, hört auf mit dem Rätselraten! Ihr macht mich ja ganz kirre damit!
„Meinst du, wir wissen nicht, dass uns die Girls in den ersten Reihen mit ihren Blicken ausziehen und sich sonst was in deren Köpfen abspielt?“ Alecs Miene verzieht sich zu einem belustigten Schmunzeln und ich fühle mich irgendwie ertappt. Ich musste ja auch sabbern beim Konzert damals, schließlich sind die Cowboys verdammt heiß.
„Und dich haben gerade alle Männer in dieser Kneipe mit den Augen ausgezogen. Das beim Konzert und unsere männlichen Fans kommen auch mal auf ihre Kosten, wenn du sie auch so in die Erde rammst wie die Männer hier.“
„Nicht dein Ernst!?“ Ich weiß nicht, ob ich entsetzt oder begeistert sein soll.
„Oh, doch!“, erklärt Sascha und verschränkt die Arme, bevor er zu einem umfassenden Geständnis ansetzt. „Hallelujah, Alex, das war so verdammt sexy da oben! So verdammt heiß, Sex pur, dabei hast du nicht mal mit einem tiefen Ausschnitt oder so nachgeholfen. Und dass du das nicht mal bemerkt hast, macht mich, ehrlich gesagt, wirklich an…“
„Wo hast du eigentlich diesen Wahnsinnshüftschwung her?“, schaltet sich Elyas ein. Ich sehe das Feuer in seinen Augen lodern. Feuer, das mir, obwohl es schon gefühlte Ewigkeiten her ist, vertraut ist. Verflucht, der ist also auch erregt.
Vielleicht ist mein Auftritt aus der Sicht eines Mannes ein völlig anderer gewesen als aus meiner Sicht. Was gäbe ich jetzt nicht alles für einen Perspektivwechsel! Vielleicht würde der Licht ins Dunkel bringen…
„Was denn für einen Hüftschwung?“ Sollte es möglich sein, schaue ich doch verdatterter drein. Ich kann keinen Hüftschwung, das konnte ich noch nie. Elyas weiß das.
Ich kann gerade mal mit Ach und Krach Tango tanzen, falls ich das seit dem Abiturball nicht verlernt habe. Aber sonst habe ich mit Tanzen und Hüftschwung so gar nichts am Hut.
Elyas leckt sich über die Unterlippe und bekommt dafür prompt einen warnenden Blick von Dina. „Alex, wir müssen reden“, sagt sie gespielt ernst. „Dein Körper flirtet mit meinem Freund, dass kann ich nicht zulassen!“
„Wie hast du es eigentlich geschafft, da oben zu bleiben? Du warst auf einmal so… Schalter umgelegt?“, fragt sie nach einem kurzen Lachanfall und runzelt die Stirn.
„Wann? Vor Last Christmas?“
Sie nickt langsam. „Ich habe Leta gesehen. Letas kritischen Blick. Und ich wollte tatsächlich gehen, abhauen... Sag mal, hast du etwa davon gewusst, dass sie hier ist!?“
„Bevor du deine Freunde fertig machst: Wir sind schuld“, gesteht Alec knapp. „Sascha, Ansgar und ich. Wir haben Dina bequatscht, bis wir diese Leta aufspüren konnten. Und dann Leta bequatscht, damit sie hier auftaucht und dich aus der Fassung bringt… Die hat sich ganz schön gewehrt am Anfang…“
„Wie habt ihr bitteschön jemanden wie Leta überhaupt in diesen Schuppen gebracht?“
Komischerweise stört es mich gerade nicht mal, dass sie meine Feindin gesucht haben, sondern vielmehr verwundert es mich, dass diese mitgemacht hat. Schließlich hat sie mir beim Abiturball versprochen, dass sich unsere Wege nicht mehr kreuzen. Und ich ihr das Gleiche. Unser Waffenstillstand quasi.
„Och, Leta… Das war eigentlich ganz einfach“, gibt Sascha grinsend zu. „Die ist totaler Fan von unserem Kollegen Seven, wusstet ihr das? Hab ihr eine VIP-Karte geschenkt für dessen Konzert und schon hat sie alles gemacht, was sie sollte…“
Leta mag die Musik von Seven!?
Ich habe mich komischerweise noch nie gefragt, was sie für Musik mag. Aber ausgerechnet Soul? Na gut, passt ja irgendwie auch zu ihr…
„… und oben drein eine wahnsinnig heiße Show von dir erleben dürfen“, kann sich Alec nicht verkneifen. „Dass wir so abweisend zu dir waren, war auch Absicht. Du solltest dich selbst durchschlagen, dir selbst vertrauen…“
„Hätten wir früher machen sollen, Al“, überlegt Sascha vorsichtig. „Dann hätten wir schon früher so eine geile Show sehen können…“
„Besser nicht, Sasch.“ Den Blick zwischen beiden Cowboys kann ich nicht deuten, aber selbst in dem matten Licht in dieser Kneipe sehe ich, dass sie durchaus immer noch … erregt sind. Scheiße, das wollte ich nicht!
Ich fühle mich plötzlich so schäbig. Fremde Männer von der Bühne aus angraben ist schon echt eine ziemlich heftige Nummer, die mir da passiert ist, aber Alec und Sascha? Ist das nicht etwas zu … makaber?
„Sag mal, Alex, wenn du von der Bühne fliehen wolltest…“, kommt Elyas auf das Thema zurück. „Wieso bist du dann trotzdem geblieben?“
„Ihr habt mir eine Überraschung versprochen“, wende ich mich stattdessen an die Cowboys. „Da habe ich das Ganze als Mutprobe betrachtet. Ich liebe Überraschungen!“
Die vier Herren ziehen synchron eine Augenbraue hoch, Dina lacht herzlich. „So, und was ist jetzt meine Überraschung?“ Ich bin ungeduldig. Ich habe mich da oben durchschlagen müssen und jetzt will ich endlich auch wissen, wofür der ganze Aufwand gut war.
Meine Freunde tauschen einen Blick aus, der schließlich an Sascha hängen bleibt. „Naja, Dina hat da versehentlich etwas ausgeplaudert. Am Abend nach deinem Unfall…“, fängt dieser an. Huch, so schüchtern hab ich den ja noch nie erlebt.
Aber Dina hat geplaudert? Über mich!?
Prompt bekommt sie einen vorwurfsvollen Blick von mir und senkt schuldbewusst den Kopf. Dann ist das also wahr. Tolle beste Freundin…
Was hat sie denn erzählt?
„Sie hat gemeint, du wolltest unbedingt in unserem Studio Songs aufnehmen… Also das zweite Album der Rockland Rangers…“, sagt Sascha und ich schaue ihn verdutzt an. Nee, oder? Ist nicht wahr, oder?
„Ich bin dabei. Im neuen Jahr kommt ihr ins Internashville und wir puzzeln ein Album zusammen. Habe ja dann sowieso viel Zeit in der Tourpause“, verkündet er. „Um das Label macht euch keine Sorgen, ich finde schon eins. Und dann geht ihr auf Tour und brennt die Bühnen nieder!“
Ist das sein Ernst!? Ist ein Witz, oder? Ganz bestimmt, ein Witz!
„Der Sasch meint das ernst“, unterstützt Alec ihn. „Und ich auch. Wo Hoss die Finger mit Spiel hat, ist Boss nicht weit. Er produziert euer Album, ich setze mich mit Dina an die optische Gestaltung.“
Ich schlucke schwer und kann das alles gerade überhaupt nicht glauben. Das muss ein Traum sein, anders ist es nicht zu erklären.
Verrückt genug, dass ich meine Lieblingsband überhaupt persönlich kennen lernen durfte.
Verrückt genug, dass sie bei uns auf der Ranch und wir bei ihnen im Studio waren.
Verrückt genug, dass wir deren Vorband für ein Hörerkonzert sein werden.
Aber dass wir unser Album im Internashville aufnehmen würden, übertrifft schon jetzt all meine Vorstellungskraft.
Und ich kann nicht anders, als ihnen beiden gleichzeitig um den Hals zu fallen und „Danke“ in Dauerschleife zu murmeln. Wäre ich noch kein Fan, dann spätestens jetzt!
Ich brauche noch einige Tage, um meinen Auftritt zu verdauen. Aber irgendetwas hat sich seitdem in mir verändert. Ich weiß nicht, wodurch genau, aber das ist mir auch irgendwie nicht so wichtig.
Das Wochenende in Berlin hat sich auf alle Fälle gelohnt. Ich habe immer mehr Freude daran, mit meiner Band und den Cowboys abzuhängen und kann die Aufnahmen im Studio schon jetzt kaum erwarten. Das ist wie Weihnachten, Ostern und Geburtstag an einem Tag!
Zurück auf der Rockland Ranch gibt es natürlich nur noch ein Thema: Proben für das Hörerkonzert.
Na gut, zwei Themen, denn irgendwie spricht immer noch jeder über meinen Auftritt in dieser Bar. Und ich kann das alles immer noch nicht fassen.
Aber es hat gereicht, um Last Christmas als Opening für die Vorband zu etablieren. Nur diesmal ohne Playback, sondern mit Liveband, die sich ganz dezent im Hintergrund halten soll. Saschas Plan, ich durfte dazu nur nicken.
Leuchtturm, den wir ja eigentlich in Berlin proben wollten, als ich meinen Unfall hatte, haben wir verschoben. Das sollte im Soundcheck drin sein und davor hatte ich ehrlich gesagt ein bisschen Angst. Zumal ich nicht mehr zum Gelingen beitragen kann, als einfach meinen Part zu üben und zu üben und zu üben.
Meine Aufgaben als Fanclub-Vorsitzende geraten zusehends in den Hintergrund. Die Fanpost liegt schon eine Weile ungelesen in den Schuhkartons, die Aufnahmen für neue Mitglieder mache ich so nebenbei und bin deshalb überaus froh, dass Dina mir über die Schultern schaut.
Dabei ist sie selbst schon im Album-Wahn und fertigt einen Entwurf nach dem anderen für ein potenzielles Cover. Sie will Alec beeindrucken, ganz klar. Vielleicht auch Sascha. Schließlich sind beide das, was sie werden will: Grafikdesigner.
Mein Studium… Darüber verliere ich besser kein Wort. Nur soviel: Wirklich ehrgeizig bei der Sache bin ich momentan nicht, laufe auf Sparflamme. Mein Feuer wird nun mal woanders gebraucht.
Und der große Tag rückt unaufhaltsam näher. Ich habe keine Ahnung, was mich erwartet. Die Jungs sind absolut cool, leider ist das für ein Nervenbündel wie mich nicht ansteckend.
„Bist du bereit, Alex?“ Ich habe das Gefühl, die zwei Wochen sind nur so an mir vorbei geflogen und bin dementsprechend entsetzt, dass ich jetzt schon im Backstagebereich des Hörerkonzertes stehe. Kurz vor dem Auftritt, nach einem sehr guten Soundcheck. Leuchturm sitzt.
Ich schüttele wahrheitsgemäß den Kopf. Bereit? Auf gar keinen Fall!
„Komm schon, Alex, du kannst das“, versucht Alec mich aufzumuntern. „Rock Last Christmas, sei du selbst und du wirst sehen… Es macht Spaß!“
„War klar, dass du das als Profi sagen musst“, entgegne ich trocken. „Ich will auch einmal so cool vor einem Auftritt sein wie ihr. Offenbar habt ihr Männer die Coolness gepachtet.“
„Du glaubst ernsthaft, ich wäre nicht aufgeregt? Oder Sascha? Oder überhaupt irgendwer wäre nicht aufgeregt?“ Alec schaut mich ungläubig an und schüttelt den Kopf. Seine Frisur löst sich ja jetzt schon auf. Ist ihm etwa das Gel ausgegangen?
„Genau das glaube ich“, bestätige ich und werfe einen wehmütigen Blick in Richtung des Publikums, das sich lautstark unterhält. „Und Dina kann mich auch nicht aufbauen, weil sie da vorne irgendwo in der ersten Reihe steht und sich freut.“
„Hör mir mal genau zu, Lady Alex.“ Es ist unmöglich, Alecs Blick auszuweichen. Ich habe das Gefühl, er spießt mich förmlich damit auf. „Wenn die Aufregung fehlt, wird der Auftritt scheiße. Mag sein, dass wir Männer das nicht so extrem zeigen wie ihr Frauen, aber das hat überhaupt nichts zu bedeuten.“
Okay, jetzt bin ich verdutzt. Eindeutig.
„Also los, rockt die Bühne. Ein Song, dann ist ja Jesse neben dir. Und deine Band hält dir den Rücken frei“, gibt er mir mit auf den Weg, während er mir das Mikrophon in die Hände drückt. „Denk an den Auftritt in der Bar – da warst du ganz alleine.“
Meine Beine fühlen sich seltsam wackelig an, während die mich auf die erste Stufe der Treppe stelle. Dina hat für mich ein neues T-Shirt beordert, so dass ich jetzt wieder zum Rest der Band passe.
Und Jesse hat mich dazu gedrängt, wieder die kaputte Jeans und meine Stiefel anzuziehen. „Glückskleidung“, wie er es nannte. „Da hängen positive Erinnerungen dran, das hilft.“
So spirituell habe ich meinen Freund tatsächlich noch nie erlebt. Tja, immer mal was Neues, würde ich sagen.
„Dein Stetson!“ Ich will gerade einen Fuß auf die nächste Stufe stellen, da schießt Jesse an meine Seite und drückt mir einen schwarzen Hut auf den Kopf. Moment mal, das ist doch…
„Genau, dein erster Stetson“, liest er meine Gedanken. „Du wolltest doch nicht ohne auf die Bühne, oder?“
„Ähm… nein…?“ Mehr fällt mir dazu jetzt auch nicht mehr ein. Zeit zum Nachdenken habe ich auch keine mehr, denn in diesem Moment setzten die restlichen Rockland Rangers mit dem Intro ein und Jesse schiebt mich die Treppe hinauf.
Ich stelle mir eine riesige Meute vor, die neugierig auf die Bühne starrt, während ich eine Stufe nach der anderen bewältige. Himmelherrgott, ist diese Bühne hoch!
Meine Vorstellungen fallen in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Die Menschenmenge ist noch größer als in all meinen Vorstellungen. Dagegen waren die bisherigen Konzerte der Rockland Rangers, laut Fotos, nur kleine Familienfeiern im engsten Kreis.
Da musst du jetzt durch, Alex! Kein Weg zurück.
Ich atme tief durch und bin erleichtert über die vielen bunten Lichter, die irgendwie zur Bühne gehören. So kann ich zumindest auf dem ersten Blick das Publikum nicht genau anschauen.
Okay, angenommen, sie sind alle nicht da. Das macht es doch um ein Vielfaches leichter. Genau, niemand ist hier. Das ist bloß ein zweiter Soundcheck. Die Generalprobe nach der Generalprobe.
Ich schaffe es tatsächlich, mir das halbwegs einzureden und hebe vorsichtig das Mikrophon an meine Lippen. „Last Christmas I gave you my heart, but the very next day you gave it away.“ Ich versuche, all das so gefühlvoll wie möglich zu singen, um dann noch mehr explodieren zu können.
Beide Hände fest um das Mikrophon geschlungen, die Augen geschlossen. Ich nehme die Musik in mir auf. Ninos Gitarre, Martins Bass, Sammys Muntermonika und Elyas’ Schlagzeug. Oh ja, The BossHoss haben das Unmögliche geschafft und ihn für diesen Song vom Cajón weg bekommen.
Der erste Refrain ist verklungen und die Energie fliegt durch meinen Körper. Schlagartig sind der dreckig-rotzige Unterton, der Hohn und die Überheblichkeit wieder da.
Scheiße, es macht so Spaß, mal arrogant zu sein! Vor allem, wenn man weiß, dass man sonst nicht so ist.
Aber es ist nun mal eine Bühne. Meine Bühne!
Und das Publikum geht mit, klatscht, jubelt. Ich probiere mich aus und deute an, dass sie mitklatschen sollten. Und verdammte Scheiße, die tun das tatsächlich!
So muss sich also Macht auf der Bühne anfühlen! Und dabei haben Vorbands ja nicht unbedingt die größte Beliebtheit beim Publikum, manche sind davon einfach nur genervt.
Ich stolziere kaltblütig über die Bühne und traue mich schließlich noch mehr: Ich schaue dem Publikum direkt in die Augen. Männer, Frauen, egal. Hauptsache Augen.
Und tatsächlich, die Männer antworten mir mit ebenso lüsternen Blicken wie in Berlin. Wenn The BossHoss nicht mal ein Händchen für einen guten Showauftakt haben, dann weiß ich auch nicht. Deren Rechnung geht auf alle Fälle perfekt auf.
Schweißgebadet knie ich mich am Ende des Songs an den Rand der Bühne. Dass meine Jeans ein bisschen mehr einreißt, ist mir egal. Mit dem letzten Ton lasse ich mich nach hinten fallen und reiße den Arm mit dem Mikrophon in die Luft.
Ich lebe, ich habe es geschafft. Und ich genieße meinen Applaus, der durch die – zumindest nach The BossHoss-Vorstellungen – kleine Halle rauscht. So fühlt man sich also als Rockstar. Wow!
Beinahe in Zeitlupe rappele ich mich wieder. „Guten Abend, wir sind die Rockland Rangers“, stelle ich uns kurz vor und schon steht Jesse neben mir. Mit einem anerkennenden Blick und diesem sonderbar lüsternen Grinsen, dass hoffentlich niemand sonst erkennen kann.
Ich rücke meinen Stetson zurecht und werfe einen Blick auf die Setliste. Bevor ich irgendetwas denken kann, geht die Show unaufhaltsam weiter und ich kann es immer mehr genießen, hier zu sein.
Es läuft alles so unglaublich glatt, es macht so unglaublich Spaß und ich bin meiner Lieblingsband über alle Maßen dankbar, das hier erleben zu dürfen.
Mein Blick sucht Dina in der Menge und stutzt. Neben ihr steht eine junge Frau, die ich kenne. Lucy.
Lucy, die Nino fixiert. Ob sie weiß, dass das Nino ist, der letzte Single unter den Rockland Rangers?
Keine Ahnung, aber ihr Blick spricht eine eindeutige Sprache. Ich schiele zu Nino.
Uff, der fixiert meine Konzertbekanntschaft ja auch! Na, dass muss ich doch nachher unbedingt Ansgar erzählen. Der soll Lucy auf die Bühne holen, vielleicht ergibt sich dann die Möglichkeit, Nino und Lucy zu verkuppeln.
Alex, die Kupplerin. Ja, der Titel gefällt mir. Hoffentlich klappt mein Plan auch.
Jesse – nein, Ranger – übernimmt das Kommando, moderiert mit absoluter Coolness die Songs an und ich sehe, wie alle Ladys im Publikum an seinen Lippen hängen. Er hat einfach diese Präsenz, gegen die kein weibliches Wesen immun ist.
Und ausgerechnet an meine Seite gehört dieser Mann. Ich muss ein Glückspilz sein. Mit einem Lächeln auf den Lippen danke ich der Pferdezeitschrift, bei der ich damals den Wanderritt gewonnen habe.
Dass Ranger den Löwenanteil beim Singen übernimmt, stört mich nicht im Geringsten. Ich bin froh über meine Mini-Soli und über die zweite Stimme, teilweise auch einfach nur die Rolle der Backgroundsängerin. So kann ich seine Bühnenshow wenigstens auch ein bisschen genießen.
Und immer wieder huscht mein Blick zwischen Lucy und Nino hin und her. Eindeutig ein Blickflirt, und was für einer!
Hoffentlich verspielt sich Nino vor lauter Flirterei nicht noch, dann würde das nämlich auch allen anderen Bandmitgliedern auffallen, die scheinbar gar nichts davon mitbekommen.
Plötzlich nimmt Ranger mich bei der Hand und zieht mich neben sich an den Rand der Bühne, während ein Helfer zwei Barhocker hinter uns stellt.
„Wir haben noch ein Duett für euch“, strahlt der Frontmann in die Menge und deutet mir an, mich zu setzen. „Magneten.“
Zögernd setze ich mich, halte das Mikrophon fest mit beiden Händen umklammert. Magneten.
Vor meinem inneren Auge sehe ich wieder, wie ich das erste Mal mit ihm und diesem Song auf der Bühne stand. Beim Wettbewerb. Es war meine Zugabe gewesen, vollkommen ungeprobt, absolut spontan. Und das hatte bombenmäßig eingeschlagen, uns den Sieg gebracht…
Die Band setzt ein und schlagartig bin ich zurück in der Gegenwart. Magneten, der Song von Johannes Oerding, der uns scheinbar auf den Leib geschrieben wurde.
Ich schließe die Augen, konzentriere mich auf die Musik. Elyas am Cajón, Nino an der Gitarre, Sammy mit der Muntermonika, Martin am Bass. Nur Ranger hat seine Gitarre für diesen Song zur Seite gestellt.
Behutsam, als wäre es zerbrechlich, hebe ich das Mikrophon an meine Lippe. „Du stehst auf großes Theater, dass ist nicht wirklich mein Ding.“ Wobei, so ganz passt die Zeile inzwischen nicht mehr. Inzwischen mag ich das Theater auf der Bühne genauso gerne.
„Du kannst auch stundenlang schweigen, ich könnt den ganzen Tag sing“, antwortet mir Ranger und auch das passt nicht mehr ganz. Es hatte einst gepasst, damals auf dem Wanderritt, als ich schweigend in der Gruppe saß, aus Angst, jemand könnte bemerken, dass ich als Einzige keine Westernreiterin war. Und gesungen habe ich damals keinen einzigen Ton.
„Du magst es gern wenn es kalt ist, mir geht's nichts gut wenn es schneit.“ Aber diese Zeile passt noch und die Erinnerung schießt mir kalt durch das Blut. Traurige braune Augen, hängende Ohren. Lynn, damals an Weihnachten. Warum erinnert mich Schnee immer wieder daran, obwohl es doch inzwischen verjährt sein sollte?
„Ich denk nicht oft an die Zukunft und du bis in die Ewigkeit.“ Ich muss lächeln und öffne die Augen. Ja, er lebt im Hier und Jetzt, scheißt drauf, was morgen kommt. Ich bewundere ihn dafür, dass er nicht immer wieder über die Zukunft nachdenkt.
Und dann mischen sich unsere Stimmen. „Aber irgendwie ziehen wir uns an und da ist irgendwas was man nicht erklären kann.“ Und plötzlich spüre ich, dass das hier nicht mehr Ranger, der Held auf der Bühne ist, sondern Jesse.
Plötzlich ist er nicht mehr fremd, sondern mir ganz nah. Ob man das im Publikum wahrnehmen kann? Bestimmt.
„Wie Plus und Minus, wie Schatten und Licht - das eine gibt's ohne das andere nicht“, singt er mir ins Gesicht. Wann haben wir uns eigentlich zueinander umgedreht?
„Wir sind Magneten, wir sind Magneten.“ Ich bin fasziniert, jedes Mal aufs Neue, wie wundervoll sich unsere Stimmen ergänzen, aneinander anschmiegen.
„Wie laut und leise, wie Krieg und Frieden - das eine kann's ohne das andere nicht geben“, antworte ich ihm und mustere sein Gesicht. Er strahlt mich an, als wäre dieser Augenblick der Schönste, den er je erlebt hätte. „Magneten.“
„Ich lass dich nie wieder los“, klingt aus seinem Mund wie ein Versprechen. Und ich weiß, dass er es halten wird. Er und ich – wir sind ein unschlagbares Team. Egal wo, egal wobei.
„Allein sein ist für mich Silber, für dich ist's mehr wert als Gold.“ Ich sehe vor mir, wie er mir die Geschichte hinter seinen Tattoos erzählt hat, dass er sie versteckt, um nicht erkannt zu werden. Um Ranger und Jesse zu trennen.
„Du bist so unverschämt ehrlich, ich bin es oft und gewollt.“ Aber er schafft es nicht. Bei diesem Song nicht, bei Close nicht. Generell nicht, wenn wir beide ruhige Nummern zusammen singen. Dann ist er nicht mehr Ranger, dann ist er Jesse, zeigt sein wahres Gesicht.
„Aber irgendwie ziehen wir uns an und da ist irgendwas was man nicht erklären kann.“ Ich werfe einen flüchtigen Blick in die Menge. Mindestens die Hälfte schwenkt ihre Arme im Takt hin und her. Ein umwerfendes Bild.
„Wie Plus und Minus, wie Schatten und Licht - das eine gibt's ohne das andere nicht“, rauscht in meine Ohren. „Wir sind Magneten, wir sind Magneten.“
„Wie laut und leise, wie krieg und Frieden - Das eine kann's ohne das andere nicht geben“, antworte ich und bin beeindruckt, als mir plötzlich das Publikum als Chor entgegen singt. „Magneten.“
„Ich lass sie nie wieder los.“ Jesse dreht sich zu mir und wirft mir einen liebevollen Blick zu. Seine braunen Augen glänzen feucht.
„Ich lass ihn nie wieder los“, stimme ich ihm zu und antworte auf diesen Blick. Ein Jammer, dass wir so viele Zuschauer haben. In mir steigt das Bedürfnis auf, ihn zu küssen. Jetzt, hier.
„Ich lass sie nie wieder los.“ Falls das möglich ist, versucht mein Kopf gerade, ihn allein durch Blicke aus Top und Jeans zu schälen, ihm den Stetson vom Kopf zu streifen…
„Ich lass ihn nie wieder los.“ Mein eigener Einsatz rettet mich, so dass ich nur mit einer dicken Gänsehaut aus meinem eigenen Blickflirt heraus komme.
„Ich lass sie nie wieder los.“ An seinem belustigten Grinsen sehe ich, dass er mich erwischt hat. Hoppla. Und ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen.
„Ich lass dich nie wieder los“, mischen sich unsere Stimmen erneut. Es ist ein Versprechen, genauso wie Close, das zwischen uns steht.
Manche Menschen geben sich Eheversprechen, quatschen irgendwelche Texte nach. Ich bin mir sicher, wir werden unseres eines Tages singen.
Die Band bekommt ihren Soloteil und ich habe ein bisschen Zeit, mich in dem Gefühl des Songs zu verlieren. Dina hat Tränen in den Augen, das sehe ich sogar von hier oben. Lucy ist immer noch von Nino gefangen.
Huch, Sam scheint das zwischen Nino und Lucy auch bemerkt zu haben. Er wirft mir einen wissenden Blick und ein minimales Nicken zu, dass keine Zweifel zulässt.
„Ich glaub ich habe meinen eigenen Kopf nicht, damit er mir verloren geht.“ Wie gut, dass mein Körper allein an seinen Einsatz denkt und mich so aus meiner Beobachterrolle herausholt. Einsatz verpassen, das kommt bestimmt nicht so toll beim Publikum an.
„Sondern nur, damit du ihn mir Tag für Tag aufs Neue verdrehst.“ Jesse grinst und ich lese in seinen Augen, dass ich mir doch nicht ständig so einen Kopf um Fehler machen soll.
Recht hat er, aber erklärt das mal einer meinem Kopf? Der scheißt da doch drauf und macht sowieso, was er will. Menno.
Ich verkneife mir ein Lachen, als es zum letzten Mal in den Refrain geht. Jesse steht auf und mein Körper kopiert automatisch seine Bewegungen. Er geht nach vorn, ganz dicht an den Bühnenrand. Der Graben vor der Bühne ist minimal, aber trotzdem habe ich Angst, dass er abstürzen könnte.
Er greift meine Hand, zieht mich zu sich. Dann schlingt er seinen Arm mit dem Mikrophon um meinen. „Magneten“, haucht er mir entgegen, die Menge wird still, die Band versiegt.
„Ich lass dich nie wieder los.“ Bis auf unsere beiden Stimmen ist es für einen Moment totenstill. Und für noch einen Moment.
Dann erwacht alles zu Leben, Applaus schlägt uns entgegen, Pfiffe, Jubel und Jesse zieht mich in eine Umarmung. „Lady Alex, the Queen of Rockland Rangers!“, ruft er und reißt meinen Arm nach oben. Schlagartig ist er wieder Ranger. „Thank you!“
Ich muss lachen und strahle in die Menge. Himmel, für einen Augenblick könnte ich glatt vergessen, dass wir nur die Vorband sind. Ich habe noch nie von einem Konzert gehört, bei der eine Größe wie The BossHoss spielt und die Vorband schon so derartig bejubelt wird.
Aber vielleicht liegt es daran, dass das hier ein Hörerkonzert ist. Ein ganz besonderes, kleines Hörerkonzert. Vielleicht freuen sich die Menschen mehr, weil sie gewonnen haben. Weil sie das Privileg haben, dies erleben zu dürfen.
Die Minuten rauschen an mir vorbei, ein Song jagt den nächsten. Ich versuche, jede Sekunde aufnehmen, jeden Takt zu fühlen. Jeden Augenblick lang bin ich meiner Lieblingsband dankbar, dass sie sich für uns entschieden haben.
Dieser Abend ist ein Geschenk. Und vielleicht unser Sprungbrett in eine neue Ebene, eine neue Liga.
Ranger rockt die Show, springt mit seiner Gitarre quer über die Bühne, während ich nur hinter meinem Mikrophon an der Seite hocke. Ich bin dabei, trotzdem kein Mittelpunkt. Für heute ist das perfekt so. Ich hatte meinen Mittelpunkt, ich war schließlich das Opening.
Allerdings muss ich immer wieder feststellen, dass die lüsternen Blicke weiterhin an mir hängen. Die Damen im Publikum beschäftigen sich mit Ranger, aber die Männer…
Naja, vielleicht sollte ich nicht allzu viel darüber nachdenken. Ich hatte es nicht anders gewollt, nicht verhindert, also muss ich damit jetzt leben. Immerhin, der schmale Bühnengraben ist zwischen uns – es kann mich keiner antatschen.
Schon kommt Greenhorn herangaloppiert, wieder in der Rock-Version und die einzige eigene Nummer, die wir heute spielen. The BossHoss haben es sich gewünscht.
Ob ich will oder nicht, Ranger zieht mich wieder nach vorn und gemeinsam schaukeln wir uns hoch. Inzwischen muss Adrenalin pur durch meine Adern laufen, ich bin selbst irgendwie ein Flummi geworden.
Rampensau, höre ich Alecs imaginäre Stimme in meinem Ohr. Ich wusste es schon immer.
Beim nächsten Mal übernimmst du aber die Rhythmusgitarre, kommentiert die imaginäre Stimme von Sascha im anderen Ohr. Du hast es doch versprochen.
Ich schüttele den Kopf. Ja, meine Herren, ihr habt Recht! Damit scheine ich sie tatsächlich verjagen zu können.
Und bevor ich mich versehe, ist der Song schon wieder vorbei. Ranger und ich stehen Rücken an Rücken. „Just be a … Greenhorn!“
Ich pumpe, schnaufe und eigentlich kann ich nicht mehr. Aber viel Zeit zum Ausruhen bleibt mir nicht. Ranger bedankt sich beim Publikum und ich komme wieder zu Atem.
Dann fällt mein Blick auf die Setliste. Close, unser letzter Song für heute. Wo ist die Zeit so schnell hin?
„Unser letzter Song an diesem Abend ist etwas Besonderes“, fängt Ranger an. Wir setzen uns wieder auf den beiden Barhocker. Ich atme tief durch.
„Ihr kennt diesen Song, denn er wurde von einem wundervollen Komponisten geschrieben: Hoss Power. Wer es noch nicht wusste – Lady Alex und ich sind zwei von euch, Fans von The BossHoss“, berichtet er und deutet auf mich.
„Wir lieben diesen Song, haben ihn etwas umgeformt für uns und damit eure – und unsere – Lieblingscowboys beeindruckt. So sehr, dass Boss Burns und Hoss Power sich gewünscht haben, ihn heute hier in diesem Rahmen noch einmal aus unseren Kehlen, unseren Instrumenten zu hören.“
Das Publikum klatscht, aber ich sehe irritierte Mienen unter den Menschen. „Für euch, für The BossHoss und für alle, die diesen Song lieben“, schallt seine Stimme von der Bühne herab. „Von uns. Close.“
Die Gesichter könnten unterschiedlicher nicht sein. Von Entsetzen, über Verwirrtheit bis hin zu purer Freude kann ich jede Miene erkennen. Ja, es muss komisch sein, auf einem The BossHoss-Konzert einen Song von ihnen gecovert zu erleben.
Der Druck ist für uns immens. Gefällt dem Publikum die Nummer nicht, traue ich denen durchaus zu, dass sie uns einen Kopf kürzer machen. Vielleicht machen das ein paar Fans auch schon aus Prinzip.
Ich habe unglaubliche Angst. Es ist das eine, etwas für sich zu singen. Etwas anderes, etwas für Freunde zu singen. Vor The BossHoss deren Nummer covern noch eine größere Nummer, aber für deren Fans deren Song zu singen – diese Liga ist höher als alles, was ich bisher erlebt habe.
Ranger – nun wieder Jesse – schaut mich an. Mach dir doch nicht schon wieder so einen Kopf, sagt mir sein Blick. Hör auf mit Zweifeln.
Faszinierend, wie er zwischen beiden Personen so hin und her wechseln kann. Jesse, der liebe sanftmütige Mann, und Ranger, die Rampensau. Als ob man einen Schalter umlegen würde.
Er nimmt seine Gitarre auf den Schoß und beginnt zu spielen. Vielleicht sollte ich die Augen schließen, dann sehe ich nicht, wenn das Publikum die Tomaten hervor holt und wirft.
Ich muss kurz grinsen bei diesem Gedanken und setze ihn in die Tat um. Ich bin allein, ganz allein mit Jesse und der Band. Kein Publikum, niemand da. Ich singe nur für mich…
Dieses Mantra beruhigt mich, lässt mich in die Melodie von Close gleiten. Der Song umschmeichelt mich und ich spüre wieder aufs Neue, wie viel zwischen diesen Zeilen steht.
The BossHoss glauben an uns, glaubt an unsere Version von Close. Wenn etwas schief geht, wenn das Publikum uns dafür hasst, dann haben doch eigentlich die Cowboys Schuld daran...
Und in diesem Moment setzt Jesses Stimme ein und meine Gedanken machen Pause. Ich lebe im Hier und im Jetzt, für einen Augenblick, für ein paar Minuten. Keine Gedanken an gestern, keine Gedanken an morgen.
... je nach Freizeit :-)
Texte: Mia Monocerus
Bildmaterialien: Mia Monocerus
Tag der Veröffentlichung: 25.10.2016
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