Cover

Vorwort

Hallo, ihr Neugierigen :)

 

Bevor ihr in die Geschichte eintaucht, möchte ich noch schnell ein paar Worte darüber verlieren.

 

Dieses Werk ist mein erstes in Präsens. Sollte jemand einen Zeitformenfehler entdecken (also etwas im Präteritum finden, was ins Präsens muss), wäre ich sehr dankbar für eine kurze Nachricht.

 

Zweitens habe ich von allen Künstlern, deren Songs hier auftauchen werden, die Erlaubnis, diese im Rahmen meiner Bücher zu zitieren. Das beschränkt sich derzeit noch auf The BossHoss und Alex Diehl :)

 

Ich freue mich natürlich über Kommentare, wenn ihr etwas zu meinem Werk loswerden wollt. Es ist noch mitten in der Entstehung, daher auch noch ohne Cover und zusätzlichen Informationen, aber ich wollte einfach anfangen und mal schauen, wie es läuft, wenn ich ein Buch schreibe und alle daran mitlesen lasse.

 

Derzeit werden die bisherigen Kapitel überarbeitet - mithilfe einer sehr netten Betaleserin - und dann bald wieder online gestellt. Ich bitte um Verständnis.

 

Diese Geschichte befindet sich auch auf einer anderen Website - aber nicht geklaut, dass bin ich (wie man vielleicht am Autorennamen erkennen kann).

 

Weitere Informationen zu meinem Projekt findet ihr auf meinem Blog.

 

Viele Grüße,

Mia Monocerus

Kapitel 1: Viel Lärm und Unterricht

„Und fahr bitte vorsichtig“, sagt meine Mutter wie jeden Morgen. Ich rolle mit den Augen. Ich bin sechzehn, nicht sechs Jahre alt.

„Mach ich doch immer, Mama“, murmele ich genervt und schiebe mir einen Kopfhörer ins Ohr. Sofort ist die Welt um mich herum nur noch halb so laut.

„Und pass auf den Verkehr auf“, beginnt sie erneut.

„Mach ich doch immer, Mama“, seufze ich. Ist ihr eigentlich klar, dass sie mir jeden Morgen das Gleiche sagt? Vielleicht muss ich ihr das mal verdeutlichen. „Ich fahre seit mehr als fünf Jahren Inline Skates im Straßenverkehr - ich schaffe es also auch wie jeden Morgen bis zur Schule.“

Sie versucht zu lächeln. Es sieht gezwungen aus, als ob sie sich total darauf konzentrieren muss. Ich habe mich schon manchmal gefragt, warum sie eigentlich so große Angst hat, wenn ich skaten gehe.

„Ich weiß ja“, gibt sie nach. „Bis später, Alex.“

„Tschüss, Mama“, erwidere ich und schiebe den zweiten Kopfhörer ins Ohr. Plötzlich ist es mucksmäuschenstill um mich herum. Na gut, meinen Atem  kann ich hören - in meinen Ohren. Immer wieder faszinierend, wie gut Kopfhörer abdichten können.

Dann öffne ich die Haustür und lasse mich auf den Bürgersteig rollen. Einhändig fummele ich meinen MP3-Player aus der Jackentasche und drücke auf Play.

Warum genau ist der eigentlich pink? Ich hasse pink. Und rosa. Und Glitzersteinchen. Und so ziemlich alles, was nach kleinem Mädchen aussieht.

Schnell lasse die das pinke Ding in meiner Tasche verschwinden. Solange der gute Musik ausspuckt, gebe ich den sowieso nicht her. Außerdem war er damals im Angebot und mein Taschengeld damals genauso knapp wie heute.

„Take my body, take my soul, but don't take my rock'n'roll“, schallt es mir in die Ohren. Das wiederum liebe ich über alles. Gute Musik von meiner Lieblingsband.

Mein Gesicht verzieht sich zu einem Lächeln und ich fahre los. Mit langen gleitenden Schritten schließlich  dem Gehweg entlang. Vermutlich springt hin und wieder ein Fußgänger aus dem Weg. Das passiert öfters, aber man kennt mich und meinen Fahrstil hier inzwischen.

In meinem Kopf singe ich Don't gimme that mit den Frontmännern meiner absoluten Lieblingsband, The BossHoss, mit, während ich die Cowboys vor meinen inneren Augen spielen sehe.

Es gibt in meinen Augen keine andere Band, die den Cowboys auch nur im Ansatz das Wasser reichen kann. Ich kann jede Zeile ihrer Songs auswendig, zumindest meine Gedanken können das. Denn ich singe niemals laut. Ich kann einfach nicht singen.

 Ich passe mich dem schnellen Rhythmus der Musik an und wechsele auf die Straße. Auch wenn ich dem Gesetz nach ein Fußgänger bin, kann ich es der laufenden Bevölkerung von Neustadt nicht antun, mir ständig aus dem Weg springen zu müssen. Wer genau hat eigentlich bestimmt, dass Skater Fußgänger sind? Hat der jemals gesehen, wie schnell man damit sein kann?

Ich feuere um die Kurve und bremse dann etwas ab. Die Ampel an der nächsten Kreuzung springt auf Rot um. Warten ist übrigens auch nicht so meine Stärke, aber gegen eine Ampel bin ich machtlos. Ich bin ja nicht lebensmüde.

Ich stelle das rechte Bein etwas nach vorn, gehe tiefer in die Knie und drücke den Stopper auf den Asphalt. Hinter einem schwarzen Kleinwagen komme ich zum Stehen.

Es hat lange gedauert und viele Nerven gekostet, bevor ich so gut Bremsen kann wie jetzt. Früher bin ich beinahe jedes Mal auf die Straße geknallt und den Schmerz habe ich nicht vergessen. Vermutlich trage ich deshalb immer noch meine Schützer. Nur den Helm, den lasse ich weg. Das ist mir wirklich zu affig.

Meine Playlist spuckt einen neuen Song aus. Ich bewege meine Schultern im Takt dazu. Abrocken auf Skates klingt leichter, als es ist.

Normalerweise brauche ich genau drei Songs bis zur Schule. Und dann noch einen, um es auch bis in den Unterrichtsraum zu schaffen.

Ich schiebe meine Ellenbogenschützer wieder nach oben, die ins Rutschen geraten sind, dann schaltet die Ampel um. Mit dem linken Bein stoße ich mich ab und lausche dem Song in meinen Ohren.

„I'm free in my world, like a fish in the sea“, höre ich die tiefe Stimme von Hoss in meinem Kopf und wechselte auf den Radweg.

Mein Name ist übrigens Alexandra Weidelmann, aber ich werde meistens nur Alex genannt. Ich mag die Kurzform. Nicht nur, dass sie einfach besser ist als mein ellenlanger Name, sondern auch, weil „Alex“ ein wenig wie „Alec“ klingt und so heißt der eine Sänger meiner Lieblingsband.

Ob meine Eltern bei meiner Geburt eigentlich schon wussten, welche Musik ich später hören würde? Blödsinn, ich bin ja älter als die Band. Bei meiner Geburt wusste ja noch niemand, dass es einmal eine Gruppe von Cowboys geben würde, die sich The BossHoss nennen...

Einige Meter vor mir springt eine Person auf und ab und fuchtelt mit den Armen herum. Ich zucke zusammen. Normalerweise stellt sich mir niemand freiwillig in den Weg.

Doch dann erkenne ich meine beste Freundin Nadine, genannt Dina. Ich drücke den Stopper auf den Boden und werde langsamer. Mit der linken Hand ziehe ich die Kopfhörer aus den Ohren.

Dass Dina mich auf ihrem Schulweg abfängt, ist höchst ungewöhnlich. Normalerweise ist sie stets überpünktlich und wartet im Klassenzimmer, während ich kurz vor knapp durch die Tür rolle. Oder eben zu spät bin, dann entschuldigt sie mich immer bei den Lehrern.

„Hey, Dina“, begrüße ich meine Freundin. „Hab dich gar nicht gehört. Und beinahe auch übersehen.“

Dina lacht. „Hörst du Musik, hörst du niemanden“, entgegnet sie grinsend. „Ich dachte, ich fange dich hier ab und wir fahren den Rest der Strecke zusammen. Ich brauche dringend gute Gesellschaft.“

Gute Gesellschaft? Da scheint ja was ganz und gar nicht in Ordnung zu sein. Hat jemand Streit in der Familie?

Ich nicke und fische den MP3-Player aus der Tasche. Dann schalte ich ihn ab. „Tschüss, Alec und Sascha“, murmele ich und trauere einen Augenblick lang den Stimmen von Boss Burns und Hoss Power nach. Aber Dina ist jetzt wichtiger.

„Ich hab's zu Hause einfach nicht mehr ausgehalten“,  fängt diese sogleich an und steigt auf ihr Fahrrad. „Ich kann nicht mal in Ruhe meine Hausaufgaben machen, seit mein Bruder von seiner Freundin verlassen wurde. Von früh bis spät schallt Heavy Metal durch das Haus, in einer Lautstärke! Das musst du dir mal vorstellen! Das ist der pure Wahnsinn!“

Moment - Tim hört Heavy Metal? Seit wann das denn? Und seit wann in Dauerbeschallung?

Ich kenne Tim schon genauso lange, wie ich Dina kenne. Und sie habe ich im Kindergarten kennen gelernt, an meinem ersten Tag. Wir haben uns regelmäßig gegenseitig besucht, um zusammen zu spielen und irgendwann habe ich Tim quasi als meinen großen Bruder angesehen, da ich keine eigenen Geschwister habe. Heavy Metal hat der aber noch nie gehört, nur Rock.

Ich lasse mich neben Dinas Fahrrad rollen. „So schlimm?“, hake ich nach. „Ich dachte, Tim wäre härter im Nehmen. Du hast doch behauptet, dass da schon lange der Wurm drin ist bei den Beiden.“

Sie hat mir letzte Woche erzählt, dass zwischen Tim und Sandra ständig die Fetzen folgen. Wegen jeder Kleinigkeit. Mich wundert es nicht im Geringsten, dass diese Beziehung in die Brüche gegangen ist. Aber Sandra ist auch irgendwie eine Pussy. Die hat sowieso nie zu Tim gepasst.

„Klar war da der Wurm drin“, meint Dina lässig und hebt kurz die Schultern. „Aber das Problem ist nicht, dass die Beziehung vorbei ist, sondern dass Tim verlassen wurde. Hätte er sie verlassen, wäre alles halb so schlimm. Männer eben.“

„Gott, ist dein Bruder altmodisch!“, seufze ich und fahre auf einem Bein weiter, während ich das andere Bein pendeln lasse.

Okay, es steht wirklich schlimm um das Haus Schmidt. Hoffentlich kriegt Tim sich bald wieder ein. Ich leide in Gedanken mit meiner besten Freundin mit.

„Sag mal, hast du eigentlich die Hausaufgaben für Kunst gemacht?“, wechselt Dina das Thema und ich wache aus meiner Mitleidsphase auf. „Die Recherche über van Gogh? Ich konnte mich nicht mehr dazu zwingen, nachdem ich bei Heavy Metal Gleichungen lösen musste.“

Es ist nicht das erste Mal, dass Dina meine Hausaufgaben bekommt. Ich betrachte es als Dankeschön dafür, dass sie den Kopf hinhält, wenn ich zu spät komme, und mir als Joker im Unterricht mit Rat zur Seite steht, wenn meine Gedanken mal wieder nicht beim Unterricht sind.

„Ja, aber ich finde den immer noch genauso unspektakulär wie vorher“, gebe ich zerknirscht zu. Ich habe mich intensiv damit beschäftigt. Aber mal ehrlich, wer freiwillig sein Ohr abschneidet, der kann doch nicht alle Latten am Zaun haben!

„Warum können wir nicht mal was zu Franz Marc machen? Der hat wenigstens Pferde gemalt...“, werfe ich ein. Franz Marc ist so ziemlich mein Lieblingskünstler, auch wenn er den Platz mit Claude Monet teilen muss. Interessiert die beiden allerdings eh nicht, vermute ich mal, schließlich sind die schon eine halbe Ewigkeit tot. Der eine erschossen, der andere war einfach alt.

„In blau und grün und rot. Sehr realistisch“, lacht meine beste Freundin und kommt auf die Bilder Franz Marc zurück. „Aber wenigstens Pferde. Und Tiere. Allein das macht ihn echt sympathisch.“

Dina steigt vom Fahrrad und schiebt es in einen der zahllosen Fahrradständer vor der Schule. Fast die Hälfte aller Schüler kommt mit dem Fahrrad zur Schule - alle, die die Grundschule hinter sich gebracht haben und in Neustadt wohnen. Da gehöre ich eigentlich auch dazu, aber ich skate, seit mein Fahrrad mal kaputt war.

„Ich würde das trotzdem nachher in der Pause gerne noch abschreiben“, bittet Dina. „Die will das doch garantiert von mir wissen, weil ich die letzte Arbeit verhauen habe.“

„Gut möglich“, stimme ich ihr zu und fahre einen Kreis, während sie das Schloss einklinkt und ihren Rucksack vom Gepäckträger nimmt.

„Puh, hier stinkt's nach frischen Pferdeäpfeln...“

Ich knurre leise und werfe ihr einen bösen Blick zu. Kann die nicht einfach mal verschwinden? Oder durch meinen Blick sterben, wenn ich ihren schon überleben musste?

Sofort steht Dina neben mir. „Ganz ruhig, Alex. Ignorier sie, du hast das hier nicht nötig“, redet sie auf mich ein. „Lass Leta ihr Gift alleine versprühen, du bist dagegen immun.“

Schön wär's. Ist aber nicht so. Egal, wie sehr mich Dina beschwören will. Das hier ist meine Erzfeindin. Und ich bin ihre, dass hat Leta selbst gesagt. Vor der ganzen Klasse. Und A16 hat ihr zugejubelt.

Leta. Eigentlich Laeticia Schumeister. Sie hält sich für eine Göttin frisch aus dem Olymp und leider im Goethe-Schulkomplex Neustadt gelandet. Eine Schulgöttin quasi. Um das zu unterstreichen, hat sie sich selbst ihren Spitznamen gegeben - der ist an die griechische Göttin Leto angelehnt, der Mutter von Apollon und noch jemanden. Griechische Mythologie ist nicht so mein Fachgebiet.

Ihre Eltern sind zu reich, als dass das Töchterchen auf irgendetwas verzichten muss. Sie ist stets ausgestattet mit allen Modetrends aus der ganzen Welt und wenn sie sich nicht gerade wie eine Göttin fühlt, dann zumindest wie eine Prominente. Dementsprechend herablassend benimmt sie sich auch gegenüber allen, die ihren Status nicht anerkennen - so wie Dina und ich.

Der Rest der Schule hat den Kampf gegen sie aufgegeben oder verloren und ist zu ihren Anhängern mutiert. Traurige Welt, aber was will man machen?

Leider, dass muss ich zugeben, sieht sie auch noch echt unverschämt gut aus. Dunkelgraue Augen, schwarzes Haar, welches in Korkenzieherlocken bis zur Hüfte fällt, braun gebrannte Haut - nicht mal vom Sonnenstudio, sie ist einfach von Natur aus damit gesegnet. Ihre Urgroßmutter war Brasilianerin. Dazu noch lange Wimpern und die Kurven an den richtigen Stellen. Ein sechszehnjähriges Idealbild, wie ich neidisch eingestehen muss.

Ich dagegen mit meiner hellen Haut, blauen Augen und langen, blonden Wellen, die sich nie so richtig bändigen lassen wollen, bin mehr als unscheinbar in ihrer Nähe. Und ich trage auch nur Jeans und T-Shirt, nicht den letzten Schrei aus Paris und Mailand.

Sämtliche Jungen in der Schule schwärmen für Leta und sind blind für ihren Charakter. Und der hübscheste Junge der Schule, Bryan, hat es auch tatsächlich geschafft, mit ihr zusammen zu kommen. Seit dem trägt er die Nase so hoch, dass es hinein regnen könnte.

Wie auf ein Stichwort taucht er hinter ihr auf und spielt mit Letas dunklen Locken, um zu zeigen, zu wem er gehört. Ich seufze in Gedanken.

Leider habe ich - bevor Leta ihn sich geschnappt hat - mich auch in Bryan verguckt. Und ich bin heilfroh, dass nur Dina davon weiß. Nicht auszudenken, was Leta mit dieser Information anstellen würde!

Bryan ist groß, hat nussbraunes Haar und sieht ungefähr so aus, wie man sich einen Surferboy aus Kalifornien vorstellen würde. Grüne Augen, ständiges Grinsen im Gesicht. Ich kann einfach nicht weg schauen, wenn er mir über den Weg läuft. Verflucht!

Leta hat schnell bemerkt, dass er ein Magnet für die Mädchen der Schule ist und ihn sich reserviert. Pech für mich. Wer jetzt zu Bryan will, muss erst an Leta vorbei. Und die verteidigt ihre Beute mit allen Mitteln.

„Alex, los“, murmelt Dina hinter mir. „Vergiss ihn und beeil dich. Herr Heiner wird garantiert nicht auf uns warten.“

Heiner. Ach ja, Mathematik. Damit ist jetzt auch klar, in welchen Raum ich muss. Ich sag ja, Dina ist mein ultimativer Joker.

Ich drehe mich abrupt um und versuche, mein Haar über die Schulter zu werfen, so wie es die Mädels in Filmen immer machen. Leider glaube ich, dass das bei mir nicht einmal halb so eindrucksvoll wirkt wie in Hollywood.

Mit zwei Schritten bin ich bei der Treppe und klettere diese so elegant wie möglich nach oben. Stufen zu überwinden lernen ist leider genauso schmerzhaft wie Bremsen lernen, aber jetzt habe ich es dafür auch voll drauf. Dina geht dicht hinter mir.

Zusammen erreichen wir den Unterrichtsraum und lassen uns an unserem Stammtisch - ganz hinten in der Mitte - nieder. Hier kann man alles genau beobachten, ohne ständig selbst beobachtet zu werden.

Ich ziehe die Schützer aus und werfe sie achtlos in meine Tasche, anschließend suche ich nach meiner Federmappe. Ah, da ist sie ja.

„Kommst du heute Nachmittag mit zu Toni in den Stall? Sie hat mir eine Extra-Springstunde versprochen, damit ich das Turnier am Samstag gut überstehe“, frage ich meine Freundin und packe noch das Mathematik-Buch und einen Karo-Block aus.

Dabei fällt mir Bryan wieder ins Auge, der sich soeben schräg vor mir an seinen Platz gesetzt hat. Warum muss er eigentlich ausgerechnet in meinem Blickfeld sitzen?

Leta geht vorbei und flüstert ihm etwas zu. Dann lachen beide und gucken zu unserem Tisch. Ich könnte kotzen vor so viel Arroganz.

Angeekelt wende ich mich ab, schiele auf die Uhr und zu Herrn Heiner, der schon fleißig etwas an die Tafel schreibt. Eine Minute, dann wird es klingeln.

„Alex?“

Ich zucke zusammen und schaue Dina an. „Tut mir leid“, entschuldige ich mich. „Ich weiß, Fragen stellen und mich dann ablenken ist nicht so gut.“

„Einsicht ist der erste Weg zu Besserung“, lacht sie und wiederholt ihre Antwort. „Natürlich bin ich dabei. Vielleicht darf ich ja mitreiten. Oder ich mache von dir und Tornado wieder wunderschöne Fotos und noch tollere Videos.“

Dina hat ein Faible für Kameras, Videos und Bildbearbeitung. Abgesehen davon kann sie hervorragend zeichnen. Nur Kunst-Theorie liegt ihr so gar nicht, aber da kenne ich mich wiederum aus. Zeichnen kann ich dafür höchstens mittelmäßig.

Und Dina ist genauso eine begeisterte Reiterin wie ich, aber reitet lieber durchs Gelände als im Pinguin-Look durch einen Parcours. Ich liebe das Gelände auch, aber nichts ist schöner als fliegen.

In diesem Moment schellt die Glocke. Ich verdrehe kurz die Augen bei dem Gedanken daran, dass ich jetzt Mathe über mich ergehen lassen muss. Es fällt mir nicht schwer, aber es langweilt mich. Vielleicht liegt das einfach daran, dass ich den Sinn dahinter nicht verstehe.

Wer muss schon wissen, wie man eine Bruchgleichung nach x auflöst, um dann a und b und c herauszufinden? Das hier soll doch eigentlich Mathe sein, warum gibt es da so viele Buchstaben? Das mit den Buchstaben ist doch eigentlich Deutsch? Oder zumindest Englisch oder Latein?

Leta dreht sich um und schaut mich an. Zu schade, dass sie auch in meinem Blickfeld sitzt. „Na, zu schwer für dich?“, flüstert sie und grinst hämisch. „Soll ich dir die Lösungen verraten? Damit du auch mal was richtig hast.“

Würde sie sowieso niemals und zweitens kann ich das auch so. Ich funkele sie böse an. „Verrate mir lieber, wo man dich abschalten kann“, fauche ich zurück. „Damit wäre der Welt deutlich mehr geholfen.“ Offenbar ein wenig zu laut, denn sofort steht Herr Heiner vor mir. Auch das noch!

„Alexandra, wenn du unbedingt etwas zu berichten hast, dann würde ich sagen, tust du das an der Tafel und löst nebenbei die erste Gleichung“, erklärt er und schielt über den Rand seiner Brille hinweg. „Am besten erklärst du dabei noch den Rechenweg, dann sollten alle in der Klasse dir folgen können.“

Danke, Leta. Ausgerechnet ich. Stillschweigend seufze ich und versuche, das Beste aus der Sache zu machen.

Tafel. Das ist beinahe genauso schlimm wie ein Vortrag. Oder wie Vorsingen. Ich hasse es, irgendetwas vor einer Gruppe zu machen, selbst wenn es sich dabei nur um meine Klassenkameraden handelt, mir denen ich schon mehr als zehn Jahren zusammen lerne.

Komischerweise macht mir das beim Reiten nichts aus. Preisrichter, Reitlehrer, Zuschauer, Konkurrenten - alles egal, aber da habe ich ja auch Begleitung und moralische Unterstützung durch Tornado.

Widerwillig stehe ich auf und lasse mich mit ein paar Schritten zur Tafel gleiten. Warum soll ich die Skates auch ausziehen?

Die erste Gleichung scheint noch relativ machbar zu sein. Zwei Gleichungen, zwei Variablen. Das kann ich auswendig, auch wenn es öde ist.

Ich nehme ein Stück Kreide vom Tisch und starre die grüne Fläche an, als ob sie ein Monster ausspeit, welches mich auffrisst.

Also schön, dann mal los. „Zuerst stellt man die erste Gleichung nach a um“, erkläre ich der Tafel und unterstreiche meine Worte mit dem Anschreiben der Lösung. Vermutlich kann mich auch nur die Tafel hören, eventuell noch Herr Heiner. Der Rest ist schlichtweg zu weit weg, aber ich gebe mir keine Mühe für eine angemessen laute Aussprache.

„Dann muss das in die zweite Gleichung für a eingesetzt werden. Hier noch die Klammer auflösen“, murmele ich weiter und die Tafel hört geduldig zu. Der Rest der Klasse scheinbar auch, obwohl niemand etwas verstehen kann.

„Und dann hat man b. Und das muss jetzt in eine Gleichung eingesetzt werden und so kommt man dann auf die Lösung von a.“

„Ganz genau, Alexandra“, bestätigt Herr Heiner. Der hat mich wohl doch verstanden „Dennoch würde ich mich freuen, wenn du von jetzt an weiterhin aktiv am Unterrichtsgeschehen beteiligt bist. Und beim nächsten Mal ein wenig lauter sprechen könntest.“

In Gedanken rolle ich mit den Augen. Dann soll der mich doch einfach in Ruhe lassen, denke ich und fahre wieder zu meinem Platz.

„Wer kann die nächste Aufgabe lösen?“, wendet sich der Lehrer wieder an die gesamte Klasse. „Max, wie wäre es mit dir?“

Ich höre nicht mehr zu und starre nur in das Buch, aus welchem er die Aufgaben abgeschrieben hat. Den Schein wahren, würde ich das nennen.

In Gedanken bin ich schon bei Tornado auf dem Parcours. Ich liebe diesen Braunschecken. Springtalentiert, groß, sanft und trotzdem mutig. Das perfekte Pferd für mich.

Der Haken ist nur, dass Tornado nicht mein Pferd ist. Er gehört meiner Reitlehrerin Antonia - Toni, wie wir sie nennen. Sie führt den Reitstall Eichenhöhe, in dem ich inzwischen meine ganze Freizeit verbringe. Nirgendwo fühle ich mich so wohl wie dort. Das ist quasi mein Wahl-Zuhause.

Vor ein paar Wochen hat Toni eine Turnier-Springgruppe gegründet. Ich habe mit Tornado, der glücklicherweise zumindest meine Reitbeteiligung ist, die Aufnahme geschafft.

Irgendwann will ich auch so ein Pferd wie Tornado: groß, ein talentierter Springer und am besten auch noch bunt. Ich liebe gescheckte Pferde über alles.

Meine Eltern wollen davon jedoch nichts hören. Zu teuer, zu viel Verantwortung und ich soll mich am besten sowieso nur auf meinen Schulabschluss konzentrieren. Allerdings glaube ich, dass meine Mutter auch einfach Angst hat, ich könnte stürzen. Sie hat ständig Angst, egal was ich mache.

Leider bin ich die Einzige im Springtraining, die kein eigenes Pferd hat. Deprimierend. Sogar die Kira hat eine eigene Haflingerstute und sie ist gerade mal dreizehn. Drei Jahre jünger als ich. Wie ungerecht die Welt doch ist...

„Alexandra!“

Ich zucke zusammen. Ach ja, Mathe. Herr Heiner.

„Wie war doch gleich die Frage?“ Ich versuche mich irgendwie zu retten, doch Herr Heiner zieht nur die Augenbrauen nach oben und schüttelt den Kopf.

„Frage? Nein, eine Frage habe ich nicht gestellt“, kommt seine Antwort. Mist, und jetzt? Ich schiele hilfesuchend zu Dina rüber und hoffe, dass sie besser aufgepasst hat als ich.

„Vorlesen sollst du“, murmelt meine beste Freundin und tippt auf eine Textaufgabe im Buch. Warum bin ich da nicht eigentlich von allein drauf gekommen?

Ich unterdrücke den Versuch, mir dir Hand gegen den Kopf zu schlagen, und Herr Heiner schüttelt den Kopf. "Nadine, ich glaube, die Alexandra kann schon alleine lesen", weißt er meine beste Freundin zurecht.

Okay, Kopf hoch und volle Kraft voraus. „Klar kann ich das!“, sage ich zuversichtlich und lese die Aufgabe vor, doch ich höre mir selbst gar nicht zu.

„Dankeschön. Und welche Gleichungen kann man daraus ableiten, Laeticia?“ Herr Heiner lässt von Dina und mir ab, sein Blick schweift zur nächsten Bank. Leta antwortet prompt.

„Elende Schleimerin“, flüstert Dina. „Die ist doch nur so gut, weil Melissa neben ihr sitzt.“

Melissa, die unangefochtene Klassenbeste. Egal welches Fach und welche Aufgabe, sie sammelt ausschließlich Bestnoten und scheint Leta vermutlich auch vorzusagen und abschreiben zu lassen. Als Dank dafür, dass Leta sie zu einer ihrer besten Freundinnen erklärt hatte. Melissa scheint es zu gefallen, zum engeren Gefolge der Schulkönigin zu gehören.

Dina schiebt mir einen Zettel zu. Wovon hast du gerade geträumt?

Ich lächele und greife nach einem Bleistift. Dann schreibe ich eine Antwort darunter. Von meinem Traumpferd.

Vielleicht werde ich ja doch irgendwie das Geld zusammen bringen, um Tornado zu kaufen. Dann wäre er so richtig mein Pferd und nicht mehr nur meine Reitbeteiligung.

Die Glocke reißt mich aus den Gedanken und Dina stupst mich an. „Bekomme ich jetzt schnell Kunst zum Abschreiben?“, fragt sie und ich lege ihr meinen Hefter auf den Platz.

Nur noch sieben Stunden, dann kann ich endlich wieder nach Eichenhöhe und zu Tornado. Hausaufgaben können auch bis zum Abend warten, vorher kann ich mich darauf sowieso nicht konzentrieren.

Kapitel 2: Tornado

Ich schiele auf das Ziffernblatt meiner schwarzen Armbanduhr. Noch drei … zwei ... eins ... Ich springe förmlich von meinem Platz, als die Schulglocke läutet. Endlich!

Neben mir steht Dina auf, wobei sie beinahe den Wasserbecher umschüttet. Ich betrachte kurz ihr Bild, während ich den Farbkasten zusammenklappe und in meiner Tasche verschwinden lasse. Sie hat Talent. Ihr Versuch, ein Bild in Anlehnung an van Gogh zu malen, ist deutlich besser als meiner.

Ich runzele die Stirn und mustere mein Werk kritisch. Hat ein bisschen was von den ersten Farbkasten-Versuchen eines Kindergartenkindes. Naja, vielleicht auch von der eines Grundschülers, aber besser ist es definitiv nicht.

„Sieht doch aber gut aus“, kommentiert Dina, als hätte sie meine Gedanken erraten. Ich ziehe eine Augenbraue nach oben. „Vielleicht liegt es ja an der komischen Farbwahl des Originalkünstlers. Guck dir doch mal das Bild mit der Terrasse an, beißendes Gelb und dunkles Blau. Mir wird schon schlecht, wenn ich nur daran denke“, versucht sie mich aufzumuntern.

„Dann sollte ich doch hoffen, dass bald Franz Marc dran ist. Pferde - das kann ich bestimmt besser malen“, meine ich und bringe mein Bild zum Trocknen in das Regal ganz hinten im Kunstraum, während Dina unsere Pinsel und den Wasserbecher ausspült.

„Dann bis Donnerstag, liebe A16“, flötet unsere Kunstlehrerin und wirbelt durch den Raum, so dass ihre weiten, geblümten Röcke fliegen.

Scheinbar unauffällig wirft sie einen Blick in den Spiegel. Wahrscheinlich kontrolliert sie gerade, ob der Großmutter-Dutt noch sitzt. „Und denkt daran, dass ihr am Dienstag euer Bild vor der Klasse vorstellen müsst. Es gibt eine Note drauf.“

Auch das noch. Was soll ich denn zu meinem Bild sagen? Ich weiß ja selber nicht so genau, was das eigentlich darstellt...

„Machen wir, dass wir hier raus kommen“, reißt mich Dina aus den Gedanken und zieht mich am Arm aus dem Kunstraum. „Tornado wartet.“

Neben ihr steige ich die Treppe hinab. Das kann ich nach vielen Jahren Übung inzwischen sogar freihändig, denn meine Inline Skates habe ich immer noch an. Und ich schaffe es sogar, zwischendrin meine Schützer wieder anzulegen.

„Oh, die große Künstlerin!“, säuselt Leta neben mir, als sie mich überholt und in ihren High Heels die Stufen hinab stakst. „Bist du dir sicher, dass es nicht besser aussehen würde, wenn du den Wasserbecher darüber ausgeleert hättest?“

Sie lächelt zuckersüß und springt die Stufen nach unten, während ich ihr einen verachtenden Blick zuwerfe. Und insgeheim hoffe, dass sie umknickt und fällt, aber mein Wunsch erfüllt sich nicht. Blöd nur, dass sie vermutlich auch noch recht hat.

Dina schließt ihr Fahrrad auf und wir machen uns auf dem Heimweg. Beim Radweg verabschieden wir uns. „Wer zuerst im Stall ist, hat gewonnen!“, rufe ich und schiebe mir die Kopfhörer in die Ohren.

Dina wohnt etwa genauso weit weg vom Stall wie ich, aber auf der anderen Seite von Neustadt, weshalb sich unsere Wege für kurze Zeit trennen.

Fest entschlossen, heute unseren beinahe täglichen Wettkampf zu gewinnen, lege ich all meine Kraft in die Schritte. Und ich habe den optimalen Sound dafür auf den Ohren. „It's the hour of Bullpower. I can go-go - over rocks I roll.“

Der Song klingt total krass, wenn wir ihn zu dritt dahin schmettern, stelle ich fest. Wir wären ein klasse Trio - der Hoss, der Boss und meine Gedanken-Stimme.

Komisch, mit einem Mal überlege ich doch tatsächlich aktiv, was ich denn wirklich für eine Stimme hätte, wenn ich richtig singen würde.

Wäre sie hoch oder tief? Leise und zart oder laut und kraftvoll? Würde ich die Töne tatsächlich treffen, wenn ich richtig mitsingen würde? Und wie würde sich das eigentlich anfühlen?

Solche Gedanken hatte ich noch nie. Und ich schüttele sie rasch ab. Nein, mein Entschluss steht fest: Ich singe nicht, nie wieder.

Bevor ich bemerkt habe, dass der Song gewechselt hat, stehe ich schon vor der Haustür und fahre beinahe meine Mutter über den Haufen. Warum steht sie auch hinter der Tür rum? Ich ziehe einen Kopfhörer heraus und drücke auf Pause.

„Oh, Alex, schon zu Hause?“, begrüßt sie mich und springt zur Seite.

Ich sehe kurz auf. „Nicht lange, bin gleich wieder weg“, murmele ich und steife die Schützer und die Skates ab. Dann fliegt der Rucksack in die Ecke und ich rausche in mein Zimmer.

Die Frage nach den Hausaufgaben, die sie mir garantiert gestellt hat, höre ich schon gar nicht mehr. In Rekordzeit tausche ich meine Schulkleidung gegen Reithosen und Stall-T-Shirt. Dann stehe ich auch schon wieder im Flur und schlüpfe in die Skates.

„Bin weg“, rufe ich meiner Mutter noch zu, während ich mir den Schlüssel für meinen Spind im Stall vom Haken schnappe und zur Tür hinaus hechte. Praktisch ist das ja schon, wenn man nicht immer alles hin und her tragen muss.

In meinem Ohren dürfen die Cowboys weiterspielen. Diesmal eine alte Coverversion vom ersten Album. Irritiert stelle ich fest, dass ich doch glatt den Titel vergessen habe. Trotzdem kenne ich jede Zeile auswendig und meine Gedanken singen mit.

Nahezu gleichzeitig mit Dina komme ich auf Eichenhöhe an. Nachdem ich meine Stiefel aus dem Spind im Stall geholt habe, lasse ich mich auf die Bank neben dem Fahrradständer fallen und ziehe meine Skates aus, während ich den Hof mustere.

Der lange, weiße Stall. Gleich daneben das apfelgrüne Wohnhaus von Toni, ihrem Mann Viktor sowie der gemeinsamen fünfjährigen Tochter Lena. Auf der anderen Seite steht die große Reithalle, dahinter verteilen sich die Weiden. Zum Reitplatz muss man ein paar Meter weit gehen oder reiten.

„Erster!“, verkündet Dina. „Ich bin schneller fertig als du.“

Da hat sie recht. Sie ist schon komplett fertig gekleidet und ich sitze immer noch auf der Bank und bin mit den Stiefeln beschäftigt.

Eilig fahre ich mit dem linken Fuß in den zweiten Stiefel und stehe auf. Meine Skates hebe ich auf und gehe in Richtung Stall. Dina läuft voraus.

„Ich hab Toni vorhin übrigens angerufen und gefragt, ob ich mitreiten kann“, berichtet sie und ihre Stimme wird für einen winzigen Augenblick traurig. „Leider nein, aber ich habe dafür meine neue Spiegelreflex-Kamera mitgebracht.“

„Hallo, Mädels, ihr seid heute aber früh dran“, begrüßt uns Toni und biegt um die Ecke. „Ihr könnt schon mal Tornado fertigmachen, wir gehen in die Halle.“

„Hallo, Toni“, begrüßen wir sie im Chor, bevor wir zur Sattelkammer laufen, das rauschende Dudeln des Stallradios im Ohr. Schlechter Empfang, aber dafür ein guter Sender. Mein Lieblingssender, denn der hat mich zu meiner Lieblingsband gebracht: Radio NewMusic.

Als wir an meinem Spind vorbeigehen, stelle ich meine Skates hinein und schließe ab. Dann greife ich nach der Putzbox von Tornado, während Dina sein Halfter und einen Führstick vom Haken nimmt. „Eigentlich können wir draußen putzen. Ist ja schön warm heute“, schlage ich vor.

Sobald ich den ersten Schritt in die Stallgasse mache, streckt Tornado seinen braun-weißen Kopf über die Tür und wiehert leise. Ein Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen.

„Hey, mein Hübscher!“, rufe ich ihm zu und beschleunige meinen Gang. Dina joggt neben mir her, um mit meinen langen Schritten mithalten zu können.

Ich stelle die Putzbox ab, ziehe die Tür auf und umarme meinen gescheckten Liebling. Der Wallach schnaubt und versucht, nach meinem Zopf zu schnappen.

Nach einer Weile lasse ich von ihm ab und nehme das Halfter, welches Dina mir reicht. Leuchtendes Blau, bestickt mit seinem Namen in goldgelb. Ich habe es von meinem letzten Geburtstagsgeld anfertigen lassen.

Er senkt den Kopf und ich kann mühelos das Halfter überstreifen. Dann hakte ich den Führstick ein. Dina weiß genau, dass ich meine Reitbeteiligung nur selbst führe und bückt sich nach der Putzbox.

Ich binde den Wallach vor dem Stall an und betrachte ihn einen Moment. Er ist das absolut schönste Pferd überhaupt. Obwohl sich ein breiter Mistfleck über seine linke Seite zieht.

„Wir haben wohl einiges vor.“ Dina deutet auf den Fleck. „Oder ich muss nachher immer nur eure Schokoladenseite fotografieren.“

Schokoladenseite? Naja, genau genommen hat die linke Seite die Farbe von Schokolade, die rechte Seite sieht mehr aus wie Milch, in der das Kakaopulver noch nicht fertig eingerührt ist.

Ich bewaffne mich mit einem Stiegel und wende mich dem Fleck zu. Dina widmet sich der Mähne. Und Tornado? Der schließt die Augen, sobald der Striegel sein Fell berührt und döst.

Nach einer halben Stunde kann sich das Ergebnis sehen lassen. Sein Fell glänzt in der Sonne, Mähne und Schweif sind frei von Stroh, die Hufe sauber.

Ich hieve den Sattel auf seinen Rücken und schiebe ihn in die richtige Position. Dann fädele ich den Sattelgurt aus dem Steigbügel und ziehe diesen in das zweite Loch. Tornado atmet passenderweise aus.

Dann senkt der Wallach den Kopf und öffnet das Maul. Ohne Probleme kann ich ihm das Gebiss zwischen die Kiefer legen und den Nackenriemen hinter die Ohren ziehen.

„Seid ihr soweit?“, ruft Toni von weitem. Ich verschließe geschwind die Riemen der Trense, während Dina sich verabschiedet und zur Reithalle läuft. Anschließend ziehe ich den Sattelgurt ein Loch enger, drücke die Reitkappe auf meinen Kopf und laufe los. Tornado folgt mir im gemütlichen Bummelschritt und versucht, seinen Kopf auf meine Schulter zu legen. Ich kraule seine Nüstern.

Toni hält mir das Tor zur Bande auf und ich sehe, wie sich Dina schon ihren Platz eingerichtet hat. Auf der Bande stapeln sich Objektive und eine Tasche. Dahinter steht meine Freundin und grinst.

In der Mitte der Reithalle wende ich Tornado und halte ihn an. Dann ziehe ich den Sattelgurt fest und lasse die Steigbügel herunter. Toni hält auf der rechten Seite dagegen, während ich aufsteige.

Ich lasse den Wallach antreten und ziehe mir die Reithandschuhe über. Einmal habe ich diese vergessen und solche Blasen will ich nie wieder haben. Unvorstellbar, dass es überhaupt jemanden gibt, der auf Reithandschuhe verzichtet.

Nach einigen Runden nehme ich die Zügel auf und lasse den Wallach antraben. Toni baut in der Zwischenzeit einige Cavaletti-Kombinationen auf und Dina schießt vermutlich schon ihr fünfzigstes Foto.

„Alex, lächeln!“, sagt sie, als ich an ihr vorbei trabe. Ich lächele doch immer, oder etwa nicht? Prompt ziehe ich die Mundwinkel nach oben.

„Dann kannst du gleich mal die Trabstangen anreiten“, ruft Toni aus der Hallenmitte. „Denk an den leichten Sitz, schön im Gleichgewicht und Hände nach vorn.“

Ich lenke den Schecken auf die Stangen und hebe mein Gewicht aus dem Sattel. Er nimmt den Kopf ein wenig nach unten und streckt seine Beine. Geräuschlos kommen wir auf der anderen Seite an.

„Sehr gut, Alex. Und gleich nochmal“, kommentiert Toni. „Fersen unten lassen.“

Ich trabe die Runde zu Ende und schließe für eine Sekunde meine Augen. Tornado hat so herrlich weiche Gänge. Ich fühle mich, als würde ich auf einer Wolke sitzen.

Erneut reite ich die Trabstangen an und konzentriere mich auf meine Fersen. Leichter Sitz, Hände nach vorn, Gleichgewicht. In meinen Augen stimmt alles und auch Toni ist zufrieden.

„Okay, Zirkel bei A und Galopp rechte Hand, dann andere Hand.“

Ich lenke Tornado auf den Zirkel und galoppiere zur geschlossenen Seite an. Obwohl sein Trab schon ein Traum ist, kann der Galopp diesen noch toppen. Es ist, als würde ich in einem Schaukelstuhl sitzen. Dann wechsele ich aus dem Zirkel und trabe erneut bis zu A. Tornado schnaubt, als er erneut angaloppiert.

„Ganze Bahn“, ruft Toni und zeigt auf ein Cavaletti. Ich sitze aus und treibe den Wallach an das Cavaletti heran. Sobald sich seine Vorderhufe vom Boden heben, gehe ich in den leichten Sitz über und lande butterweich auf der anderen Seite. Wir wiederholen den Sprung noch ein paar Mal, dann lässt Toni mich Schritt gehen und baut eine Kombination mit einer engen Wendung auf.

Ich höre das leise Klicken von Dinas Kamera. Da Toni noch immer die Hindernisse aufbaut, lasse ich Tornado halten und rückwärts richten. Anschließend reiten wir im Schritt wieder an. Dann eine Volte. Ich setze gerade zur Vorderhandwendung an, als Toni fertig ist.

„Versuch das beim nächsten Mal etwas flüssiger und gleichmäßiger“, sagt sie. „Und jetzt im Trab über das Cavaletti, angaloppieren und dann durch die ganze Bahn wechseln und das Kreuz springen.“

Ich nicke und treibe den Wallach an. Im Stechtrab nähern wir uns dem ersten Sprung und ich versuche, ihn zurück zu halten.

„Alex, langsamer!“, kommentiert Toni. Mach ich ja, aber Tornado will jetzt unbedingt springen. Und ich ja auch, nur eben nicht in diesem Tempo.

Der Schecke dreht ein weißes Ohr zum mir und bremst ab. In einem tadellosen Sprung setzt er über das kleine weiße Hindernis, dann fällt er in einen flotten Galopp und fixiert das nächste Hindernis. Ich greife eine Strähne seiner Mähne, als er mit einem Satz darüber springt. Gefühlt einen halben Meter höher als das Kreuz überhaupt ist.

„Alex, du solltest die Kontrolle haben, nicht das Pferd!“, meckert Toni und ich kann sie irgendwie auch verstehen. So ein kleines bisschen war ich jetzt doch blinder Passagier. „Gleich nochmal, aber mit Kontrolle.“

Ich reite die Kombination erneut an und versuche, Tornado ruhig zu halten. Der Schecke gibt sich nur widerwillig geschlagen und überlässt mir das Kommando.

Viel weicher und runder überwinden wir die beiden Hindernisse, was mir ein Lob von Toni einbringt. „Nochmal kurz Schritt, ich erweitere die Kombination“, teilt sie mir anschließend mit.

Hinter dem Kreuz entsteht ein Steilsprung, genau ein Galoppsprung entfernt. Tornado hat sich inzwischen beruhigt und wir meistern die Kombination fehlerfrei mehrmals hintereinander.

„Schluss für heute“, teilt Toni mir mit. „Reite ihn noch trocken, für das Turnier übermorgen seid ihr fit.“

Na hoffentlich. Es war zwar nur ein kleines E-Springen, aber immerhin mein letztes Turnier in dieser Klasse. Wenn ich gut abschneiden würde, hatte Toni mir versprochen, darf ich beim nächsten Mal in Klasse A starten.

„Dreihundertachtungvierzig Fotos“, teilte mir Dina stolz mit, während ich ihr vorbeireite. „Die müssen wir uns heute Abend unbedingt noch anschauen.“

„Wow.“ Mehr fällt mir da jetzt auch nicht ein. Ich habe inzwischen meine eigene Festplatte nur mit Dinas Fotos von Tornado und mir und die platzt auch schon fast aus allen Nähten.

Ich rutsche mit den Füßen aus den Steigbügeln und lasse die Zügel so lang wie möglich. Tornado schaut sich in der Halle um und trottet vor sich hin. Nach ein paar Runden halte ich ihn in der Mitte der Halle an und rutsche aus dem Sattel.

Toni steht an der Bande. „Ihr macht euch sehr gut, Alex“, erklärt sie mir. „Klasse A wird Tornado auch noch schaffen, aber um noch weiter voran zu kommen, brauchst du ein anderes Pferd.“

Ein anderes Pferd? Ein anderes als Tornado? Niemals! Warum denn? Tornado ist doch perfekt für mich! Er ist das einzige Pferd, dass ich will!

Sie muss meinen verwirrten Blick bemerkt haben. „Ich weiß, du willst das nicht hören, aber Tornado wird siebzehn. Er ist ein Rentner, bevor du bereit bist für Klasse L“, sagt Toni ruhig. „Das Beste wäre wirklich, wenn du dich nach einem neuen Pferd umschaust. Einem Pferd, dass dich noch weiterbringen kann. Ich weiß, wie ehrgeizig du bist.“

Inzwischen habe ich den Sattelgurt gelockert und die Steigbügel hoch geschoben. Tornado ist nass und dampft. Ich vermutlich auch.

„Was ich damit sagen will, Alex“, fängt Toni wieder an, „Um wirklich richtig erfolgreich zu werden, brauchst du früher oder später ein eigenes Pferd.“

Ein eigenes Pferd.

Der Satz hallt in meinen Ohren nach. Und er gefällt mir. Es gibt doch bestimmt irgendwo da draußen einen zweiten Tornado. Einen viel jüngeren Tornado, der genau zu mir passt. Mit dem ich so richtig erfolgreich werden kann.

Kapitel 3: Ein Plan muss her

Ein eigenes Pferd.

Ich meine, mir war ja schon immer klar, dass ich mal Pferdebesitzerin werden möchte. Schon vom ersten Ritt an, da bin ich mir ziemlich sicher.

Leider sehen meine Eltern das noch immer völlig anders, als ich das Thema beim Abendessen anspreche. Für die Rückendeckung habe ich Dina eingeladen und einen Schlachtplan entwickelt.

Dina zeigt die Fotos von der Springstunde und dann frage ich meine Eltern, ob sie sich das mit dem Pferd nicht noch einmal überlegen, da ich ja ein neues Pferd brauche, um weiterhin auf Turnieren erfolgreich sein zu können. Für mich klang der Plan eigentlich hervorragend.

„Sieht ja wirklich gut aus“, lobt meine Mutter. „Dina, die Fotos sind wirklich schön. Möchtest du später Fotografin werden?“

Bitte was?

Ja, die Fotos sind klasse, aber eigentlich soll das Gespräch sich doch um ein Pferd für mich und mein Talent als Springreiterin drehen und nicht um Dinas Berufswünsche. Abgesehen davon will Dina nicht Fotografin, sondern Grafikdesignerin werden.

„Ich habe darüber nachgedacht, Frau Weidelmann“, gibt Dina zu und versucht, das Gespräch wieder in die geplante Richtung zu lenken. „Aber ein Foto vom Springreiten ist nur so gut, wie der Reiter und das Pferd. Sehen Sie doch nur, wie Alex in perfekter Haltung den Sprung überwindet.“

„Und Toni hat heute wieder gesagt, dass ich eine ganze Menge Talent habe“, steuere ich dazu. „Sie meint, ich kann bald eine Klasse aufsteigen.“

„Das ist schön, Alex. Da freue ich mich“, sagt mein Vater, doch ich sehe ihm an, dass er dringend ins Wohnzimmer möchte, um sich ein Fußballspiel anzuschauen. Er ist nur halb bei der Sache, deshalb überlege ich, alle Planung fallen zu lassen.

„Toni meint, ich soll mich nach einem neuen Pferd umschauen“, werde ich deutlicher. „Nach einem jungen Pferd, einem eigenen Pferd.“

„Alex, Schatz.“ Meine Mutter seufzt. „Das können wir uns doch überhaupt nicht leisten. Allein der Unterhalt jeden Monat, und dann noch der Tierarzt. Und so ein Pferd, dass frisst auch noch so viel.

Ich verdrehe genervt die Augen. „Aber nur mit einem eigenen Pferd kann ich auf Dauer erfolgreich sein. Ich habe so hart dafür gearbeitet, jetzt endlich in die nächste Klasse aufzusteigen.“

„Aber du hast doch die Reitbeteiligung, Alex“, erklärt mein Vater. „Die kostet monatlich schon genug. Noch mehr ist einfach nicht drin.“

„Papa, Tornado wird siebzehn. Der ist kein junger Leistungssportler mehr“, hake ich ein und meine Mutter schüttelt den Kopf. „Siebzehn erst? Da ist er doch nur ein Jahr älter als du.“

Dina schlägt sich die Hand vor den Kopf und verdreht die Augen. Schön, ist er halt nur ein Jahr älter, aber er lebt ja auch nicht achtzig Jahre wie ein Mensch!

„Was Alex damit sagen will, Frau Weidelmann, der Tornado ist jetzt schon ein älterer Herr. Die meisten Pferde verabschieden sich in diesen Jahren aus der aktiven Turnierlaufbahn“, kommt Dina mir zu Hilfe.

„Trotzdem haben wir kein Geld für ein Pferd“, bestimmt mein Vater und steht auf. „Mach erst mal dein Abitur, studiere etwas Ordentliches und dann, wenn du selber Geld verdienst, kannst du dir ja gern ein Pferd anschaffen.“

In Gedanken zähle ich die Jahre. Bis ich mein Abitur habe, würden zwei Jahre vergehen. Danach noch drei bis vier Jahre Studium. Oder vorher eine Ausbildung, wie meine Mutter das gern hätte...

Das würde noch locker ein Jahrzehnt dauern, bevor ich mir ein Pferd leisten konnte von meinem selbst verdienten Geld! Da wäre meine Zeit als erfolgreiche Springreiterin längst vorbei.

„Da hat der Papa recht“, pflichtet meine Mutter ihm bei. „Dein Hobby ist auch so schon teuer genug.“ Dann stand sie ebenfalls auf und das Thema ist erledigt.

So teuer ist mein Hobby für sie doch gar nicht. Gut, meine Eltern bezahlen mir die Reitbeteiligung, aber meinen Reitunterricht bei Toni zahle ich selbst - mit Stallarbeiten. Jedes Wochenende habe ich Stalldienst, miste die Boxen aus und füttere die Pferde. Dafür bekomme ich eine Stunde Einzelunterricht. Die Springgruppe zahle ich von meinem Taschengeld.

Dina legt mir eine Hand auf die Schulter. „Naja, ein Versuch war es wert“, murmelt sie niedergeschlagen. „Wir finden schon irgendwie einen Weg.“

Ich seufze. Einen Weg finden. Das klingt so einfach. Als ob man nur eine Karte lesen müsste. Oder die Anleitung zum Kuchen backen exakt umsetzen müsste. Zu schade, dass ich bisher kein Rezept gefunden habe, wie man am besten seine Eltern überzeugt.

Ich stehe auf und verabschiede Dina. Es ist inzwischen schon spät geworden und ich muss meine Hausaufgabe für Biologie noch machen, eine Erklärung schreiben, warum eine Pflanze und eine Maus sterben, wenn man sie allein in ein Glas sperrt, und warum beide überleben, wenn man sie zusammen in ein Glas sperrt.

Wer musste so was schon wissen? Ich hatte nicht vor, eine Maus oder eine Pflanze in einer Glasglocke einzusperren.

„Nicht aufgeben, Alex.“ Dina umarmt mich. „Wir finden einen Weg, versprochen.“ Ich nicke schwach. Mehr kann ich dazu jetzt auch nicht mehr sagen.

Ich schleiche mich in mein Zimmer und ziehe den Biologie-Hefter aus der Tasche. Eigentlich ist es zu spät für Hausaufgaben, aber das ist es eigentlich immer.

Nach einer halben Stunde bin ich fertig. Keine Ahnung, ob irgendwas davon richtig ist. Zumindest kann mir niemand vorwerfen, ich wäre faul und würde nichts für die Schule tun.

 

*****

 

Eine Minute vor dem Klingelzeichen schieße ich in den Unterrichtsraum. Miss Fischbach wirft mir einen tadelnden Blick zu, aber das bin ich schon gewohnt von ihr.

„Good morning, Class A16“, flötet sie, sobald die Glocke verklungen ist und streicht sich ihre gelbe Bluse glatt. Schwungvoll reißt sie die Tafelseiten auf. „We want to talk about Shakespeare.“

Ich lasse mich in meinem Stuhl zurückfallen. Warum muss man eigentlich in jedem Fach über Personen sprechen, die längst tot sind?

„Weil die Lebenden noch keine fertige Biografie haben, die man auswendig lernen kann“, kommentiert Dina meine Überlegung. Habe ich etwa laut gedacht?

Es war doch überall das Gleiche: In Kunst van Gogh, in Englisch Shakespeare, in Deutsch Goethe und in Musik Mozart. Und in Geschichte ... naja, die sind ja sowieso schon alle tot.

Wäre es nicht mal spannend, sich über lebende Künstler, Musiker und Autoren zu unterhalten?

Die könnte man sogar fragen, wie man was aus ihren Werken interpretieren soll. Ob die das bewusst so machen, das jemand anderes ihr Werk später interpretieren kann?

Oder machen die das nur, weil es denen gerade so einfällt? Man muss doch nicht immer gleich etwas ausdrücken wollen, nur weil man etwas zu Papier bringt, oder?

„... and Alexandra.“

Was? Schon wieder was verpasst? Scheint mir ja häufiger so zu gehen in letzter Zeit. Eigentlich bin ich ja nicht so unaufmerksam...

„Alexandra!“

„Sorry, Miss Fischbach“, murmele ich. Vor mir liegt die englische Variante von Romeo und Julia. Offenbar sollen wir in verteilten Rollen vorlesen, aber welche Rolle ist jetzt meine?

Ich sehe zu Dina, dann zu Miss Fischbach, die mich über ihre Brille hinweg anstarrt, und wieder zu Dina. „Du bist die Amme.“

Ich beginne zu lesen, aber verstehe auch nur die Hälfte davon. Ich glaube, wir sind bei der Szene, als Julia überlegt, ob sie Paris heiraten soll und die Amme ihr vorschwärmt, die toll der Kerl doch ist.

Mehr als erleichtert höre ich, wie Miss Fischbach meine Rolle auswechselt und beschließe, von jetzt an aktiver dem Ganzen hier zu folgen. Es ist ja zumindest Romeo und Julia, hatten wir in Deutsch ja auch letztens erst.


*****

 

„Fassen wir doch noch mal zusammen“, eröffnet Dina die Mittagspause und schiebt sich eine Gabel mit Nudeln in den Mund. Vor ihr liegen ein Block und ein Kugelschreiber. Wir müssen das Projekt „eigenes Pferd“ nämlich genau planen, hat sie mir bereits erklärt.

„Welche Argumente gegen ein Pferd haben deine Eltern jetzt genau?“, will meine beste Freundin wissen. Ich schlucke eine Gabel voll Nudeln herunter, bevor ich antworte.

„Also zuerst ist ein Pferd zu teuer. Sowohl der Kaufpreis als auch Unterhalt, Tierarzt, Hufschmied, Futter...“, erkläre ich und schiebe die nächsten Nudeln hinterher. „Außerdem habe ich angeblich keine Zeit, weil ich mich auf den Schulabschluss konzentrieren soll. Und anschließend studieren soll“, füge ich hinzu.

Dina schreibt eifrig mit. „Und was noch?“, fragt sie weiter. Ich überlege eine Weile, während ich die Nudeln kaue. „Ach ja, ich habe ja die Reitbeteiligung an Tornado.“

„Gut, dann brauchen wir jetzt eine Liste mit Argumenten, die für ein eigenes Pferd sprechen“, erläutert sie den Plan. „Und das legen wir dann deinen Eltern vor.“

„Ich brauche eins, damit ich weiterhin Turniere reiten kann“, sagte ich bestimmt. „Und ich passe in der Schule auch immer gut auf und sorge dafür, dass weder das Pferd noch der Unterricht und die Hausaufgaben zu kurz kommen.“

„Sorry, Alex, aber das zweite Argument klingt wie aus der Unterstufe“, meint Dina lachend und äfft mich nach. „Ich pass auch immer in der Schule auf, aber lasst mich bitte jeden Tag eine Stunde fernsehen.“

Ich muss lachen und habe Mühe, meine halbzerkauten Nudeln dabei nicht auszuspucken. Dina sieht mich fragend an. „Und, nächstes Argument?“

„Ehrlich, ich bin ratlos. Gegen zu teuer kann ich nichts einwenden und ich habe ja Tornado. Irgendwo haben meine Eltern ja recht“, muss ich mir eingestehen.

Leta tänzelt an unserem Tisch vorbei. „Hat die kleine Alex kein Geld?“, fragt sie beiläufig. „Kann ja nicht jeder alles haben - so wie ich.“

„Und sie hat auch noch recht, verdammt“, gebe ich zerknirscht zu, als sie weg ist. „Ich habe ja wirklich kein Geld.“

„Du könntest Lotto spielen“, erklärt Dina und ich zeige mit dem Daumen nach unten.

„Miiieeep“, mache ich. „Ich bin weder volljährig, noch ist die Chance, überhaupt etwas zu gewinnen, sonderlich groß.“

„Du könntest Toni fragen, ob sie mit deinen Eltern redet“, schlägt Dina vor. „Wenn Toni denen erklärt, was für ein Talent du bist und dass man das unbedingt fördern muss...“

„Dann haben meine Eltern immer noch kein Geld“, bremse ich sie aus und lasse die Schultern hängen. „Es scheitert doch immer nur alles an diesem blöden Geld.“

„Dann versuch’s doch mal mit dem Weihnachtsmann.“

Ich rolle mit den Augen. Mir ein Pferd vom Weihnachtsmann wünschen, den es doch sowieso nicht gibt, wie blöd ist die Idee denn bitteschön? Abgesehen davon bin ich kein kleines Kind mehr.

„Hey, ich versuche nur zu helfen“, rechtfertigt sie sich und reicht mir die Liste. „Aber ich glaube, damit kannst du es auch vergessen.“

Und irgendwie hat sie auch recht. Die Liste ist mehr schlecht als recht und spricht eindeutig gegen ein eigenes Pferd.


*****

 

Ich habe mich endgültig gegen die Idee mit der Liste entschieden. Stattdessen konzentriere ich mich erstmal auf das Turnier morgen.

Gerade heute gibt es sowieso noch viel zu tun: Tornado waschen, polieren und einflechten. Turnierausrüstung noch mal putzen und alles zusammen packen. Wie gut, dass Dina eingewilligt hat, mir zur Seite zu stehen.

„Gehen wir doch mal durch“, meint sie, als es schon langsam dunkel wird. „Tornado?“

„Glänzt und ist eingeflochten“, bestätige ich.

„Sattelzeug?“

„Glänzt auch, liegt auch schon im Transporter“, erkläre ich und schaue sicherheitshalber nach. Ja, alles drin.

„Putzbox? Halfter, Führstrick, Startnummern?“

„Habe ich auch alles eingepackt.“

„Turnierkleidung?“

"Die liegt zu Hause, frisch gewaschen und gebügelt", behaupte ich. „Ich denke mal, wir haben alles.“

„Hoffentlich“, meint Dina. „Kamera ist auch schon bereit für morgen. Hab Toni auch schon Bescheid gegeben, dass ich morgen mit dabei bin. Du machst das schon.“

„Hoffentlich“, seufze ich. „Und dann brauche ich immer noch einen Plan, wie ich meine Eltern dazu bringe, mir ein Pferd zu kaufen...“

Ich führe den Schecken wieder in seine Box und beschwöre ihn mehrmals, dass er doch bitte diese Nacht im Stehen schlafen soll.

Dann ziehe ich meine Skates an, schiebe die Kopfhörer in die Ohren und lege die Schützer an. Mit einer Umarmung verabschiede ich mich von Dina.

„Bis morgen“, ruft sie mir hinterher. „Versuch, pünktlich zu sein!“

Ich muss lachen. Ich bin noch nie unpünktlich gewesen, wenn es zum Turnier ging. So was hebe ich mir für die Schule auf.

Mein Finger drückt fast automatisch auf Play. Ein neuer Titel beginnt, was mich selbst schon irgendwie erstaunt. Das macht mein MP3-Player höchst selten.

Die ersten Töne erinnern mich an einen alten Westernfilm. „I'm rollin' my ride on the 115...“, setzt der Gesang ein und ich lasse mich vom Hof rollen. Die Dämmerung hat schon eingesetzt, in wenigen Minuten wird es stockdunkel sein.

Ich stelle fest, dass es allmählich zu kalt wird für die dünne Jacke, die ich trage. Obwohl manche Tage noch angenehm warm sind, ist es Mitte Oktober. Noch zwei Monate bis Weihnachten.

Innerlich lache ich auf. Dina hat Ideen. Ein Pferd vom Weihnachtsmann wünschen. Da ist es ja wahrscheinlicher, dass ich eine Sternschuppe sehe!

„Hey, gimme hi-five!“, singen meine Gedanken mit, während ich versuche, auf meinen Skates abzurocken und dabei nicht die Straße zu küssen. Vermutlich denken die Leute jetzt sonst was von mir, aber im Moment ist mir das egal.

Ich will das Turnier morgen gewinnen. Oder zumindest unter die ersten Drei kommen.

Und ich will ein eigenes Pferd. Egal, was für eins.

In diesem Moment sehe ich, wie etwas am Himmel leuchtend abstürzt. Eine Sternschnuppe? Na, dann habe ich mir doch direkt das Beste gewünscht, was möglich ist - ein eigenes Pferd.

Sternschnuppenwünsche gehen in Erfüllung, das ist nur eine Frage der Zeit. Zumindest behauptet das meine Oma immer.

Als ich die Tür öffne und in den Flur fahre, bin ich fest davon überzeugt, eine Sternschnuppe gesehen zu haben. Ich beschließe, Dina nichts davon zu erzählen, dass erhöht nur die Chance, dass ich mich verplappere und meinen Wunsch ausspreche. Damit wäre meine einzigartige Chance, ein Pferd zu bekommen, vernichtet.

„Vielleicht ... nachgeben ...“, dringt ein Gemurmel aus dem Wohnzimmer. Ich runzele die Stirn und rolle mich so leise es geht an die Tür.

„Eigenes Pferd ... kann sie Verantwortung ...“ Ich verstehe nur Wortfetzen, auf die ich mir keinen Reim machen kann. Diskutieren meine Eltern gerade über ein eigenes Pferd für mich?

„Weihnachtsgeschenk“, ist das letzte Wort, welches ich höre. Dann drückt der Wind die Haustür ins Schloss und ich schrecke zusammen.

Die Stimmen meiner Eltern verstummen und ich lasse mich so schnell es geht auf den Boden fallen. Dann tue ich so, als wäre ich die ganze Zeit schon mir meinen Skates beschäftigt und hätte nicht gelauscht.

Oder versucht zu lauschen. Wirklich verstanden habe ich nur, dass sie über ein Pferd und ein Weihnachtsgeschenk gesprochen haben.

„Alex, du bist ja schon zu Hause“, begrüßt mich mein Vater. Schon ist gut, es ist fast um elf. Reichlich spät, zumal meine Nacht morgen halb fünf endet.

„Ja, hab mich beeilt“, antworte ich und streife die Skates ab, deren Knoten ich angeblich erst jetzt gelöst habe. „Bin dann schon mal schlafen.“

Ich renne die Treppe zu meinem Zimmer nach oben, während ich bereits Dinas Nummer wähle. „Alex, was zur Hölle...?“, meldet sie sich und ich schließe meine Zimmertür.

„Dina, ich habe eine Sternschnuppe gesehen!“, berichte ich aufgeregt. „Und mir dabei ein Pferd gewünscht!“

„Na prima, jetzt geht das auch nicht mehr in Erfüllung, da du mir den Wunsch erzählt hast“, meckert meine beste Freundin. „Hättest du nicht mal warten können, bevor du mir das erzählst?“

„Wollte ich ja, aber dann kam ich nach Hause und meine Eltern haben sich im Wohnzimmer unterhalten“, fing ich wieder an.

„Tun sie das sonst nicht?“, unterbricht sie mich und ich fauche leise. „Boah, Dina, hör doch erstmal zu“, fahre ich sie an. „Sorry, war nicht so gemeint. Aber die haben was erzählt von einem Pferd und einem Weihnachtsgeschenk. Und irgendwas mit Verantwortung.“

„Du bekommst zu Weihnachten ein Pferd!?“, schreit Dina und ich halte mein Handy vom Ohr weg. „Das ist ja megairrecool!“

Und megairrelaut.

„Hey, ich hab die belauscht. Schrei nicht so rum, die sollen das nicht wissen“, versuche ich, sie zu beruhigen. „Und ich weiß doch auch gar nicht, ob das überhaupt stimmt.“

„Was soll es denn sonst bedeuten?“, quiekt Dina freudig und scheint jetzt hellwach zu sein. „Mensch, Alex, du bekommst ein Pferd. Das ist doch super!“

Ich bekomme ein Pferd. Plötzlich bin ich fest davon überzeugt, dass es stimmt, was Dina sich zusammen gereimt hat.

Ich kann es ja irgendwie auch noch nicht so ganz fassen. Und nur noch zwei Monate bis Weihnachten!  

Kapitel 4: Vorfreude

 Seit ich weiß, dass ich ein Pferd bekomme, kann die Zeit bis Weihnachten für mich gar nicht schnell genug vorbeigehen. Um das Schicksal bei Laune zu halten, laufe ich in sämtlichen Bereichen zu Höchstleistungen auf: Zweiter Platz beim Turnier, vier Einsen in der Schule, immer pünktlich die Hausaufgaben fertig, neuer Rekord im Schnellmisten...

 

„Alex, aufwachen!“

 

Ich reiße die Augen auf. Nicht wahr jetzt, oder? Ich bin nicht wirklich mitten im Deutschunterricht eingeschlafen, oder?

 

Scheinbar doch, denn Dina scheint erleichtert zu sein, als ich sie anschaue. „Sie sagt gleich die Hausaufgabe an, das kannst du doch nicht verschlafen“, erklärt sie empört. „Von wem soll ich denn dann abschreiben?“

 

Ich richte meine ganze Aufmerksamkeit auf Frau Wolfe, die sich schwungvoll der Tafel zuwendet. „S. 51/2“, schreibt sie groß an die Tafel. zur Kontrolle klappe ich mein Buch auf und sehe mir die Aufgabe an.

 

Nanu, so etwas Einfaches? ‚Dass‘ und ‚das‘ unterscheiden und die Groß- und Kleinschreibung kontrollieren? Ist das nicht ein bisschen zu einfach für eine elfte Klasse?

 

„Wie ihr seht, ist die Aufgabe zur Wiederholung gedacht. Nächste Stunde erklärt jemand von euch, nach welchen Regeln er gearbeitet hat und das wird dann bewertet“, erläutert Frau Wolf. Okay, das macht es schon schwerer. Grammatik funktioniert bei mir vor allem durch Bauchgefühl, aber das ist als Antwort garantiert falsch.

 

„Alles klar, meine liebe A16, ich wünsche euch megaviel Spaß in der Pause“, trällert Frau Wolfe und ich runzele die Stirn. Diese Frau, so scheint es mir, versucht zwanghaft jugendlich zu bleiben. Keiner benutzt als Deutschlehrer das Wort ‚mega‘.

 

Allerdings muss man ihr zugestehen, dass ihr Kleidungsstil ihre Wortwahl gut unterstreicht. Heute steht sie in Röhrenjeans und einem Top vor uns, welches ich als Kreuzung zwischen Omas Nachthemd, der Bettdecke und einer Tunika bezeichnen würde. Auch ich, die keine Ahnung von Mode hat, sehe, dass das eine Katastrophe ist.

 

„Die Aufgabe klingt super, aber wie war das mit den Regeln? Steht das irgendwo?“, fragt mich Dina. Ich zucke mit den Schultern. „Bestimmt. Das Internet weiß alles.“

 

„Oder der Duden“, wirft Leta ein und lacht. „Ach, hab ich vergessen, du weiß ja gar nicht, was das ist.“ Ich funkele sie böse an. „Doch, weiß ich“, sage ich todernst. „Das ist das dicke Buch, was gleich auf deinem Kopf landet.“

 

„Überlasst mal lieber uns das hauen“, schaltet sich Max ein. „Sowas ist Männersache.“

 

„Welche Männer?“, fragt Leta und runzelt die Stirn. „Ich sehe hier nur einen, und das ist Bryan.“ Sie lächelt ihm zu und klimpert mit ihren getuschten Wimpern.

 

„Und ich sehe hier nur eine Zicke“, ergänzt Dina murmelnd. „Ich könnte es nicht mal einen Tag lang in ihrer Haut aushalten.“

 

Ich packe meine Sachen in die Tasche und schiebe den Stuhl an den Tisch. Wir müssen den Raum wechseln für mein Lieblingsfach: Musik.

 

Als ich mich im neuen Raum auf meinen Stuhl fallen lasse, flucht Dina neben mir. „Ach, verdammt!“, schimpft sie. „Das muss auch noch ausgerechnet mir passieren!“

 

Ich schaue sie fragend an. „Mein Musikbuch“, sagt sie genervt und holt es aus ihrer Tasche. Oder besser das, was davon übrig ist - der Umschlag.

 

„Wie hast du das denn gemacht?“, fragt Sonja und dreht sich um, während sie mit dem Stuhl kippelt.

 

„Leihbücher eben“, grummelt meine beste Freundin. „Das war schon vorher kaputt und jetzt hab ich eben den Inhalt irgendwo zu Hause verloren, als ich meine Sachen zusammen gepackt habe.“

 

Ich schiebe ihr mein Exemplar zu. „Ich brauch's doch eh nicht“, gebe ich zu. Ich habe noch nie mitgesungen. Na gut, fast nie.

 

Nenne ich es mal ein Schlüsselerlebnis. Erste Klasse, erstes Lied allein vor der Klasse. Morgen kommt der Weihnachtsmann. Mit Klavierbegleitung. Leider habe ich nicht einmal im Ansatz irgendeinen Ton getroffen und Leta hat gelacht. Sie hatte regelrecht einen Lachkrampf.

 

Ich stand mit feuerrotem Kopf vor der Klasse, während mein damaliger Musiklehrer sich abmühte, aus mir irgendeinen geraden Ton heraus zu bringen. Leta hat meine ganze Klasse in den Lachkrampf mit einbezogen und irgendwann bin ich weinend aus dem Raum gerannt.

 

Seit diesem Tag kommt kein einziger gesungener Ton mehr über meine Lippen - zehn Jahre lang. Und das ist auch gut so. Nie wieder will ich so etwas Peinliches ein zweites Mal erleben.

 

Leta dagegen - und das muss ich ihr schon wieder zugestehen - ist eine fantastische Sängerin. Aber sie nimmt auch Gesangsunterricht, hat Melissa letztens erzählt. Und Tanzunterricht. Bei solchen Eltern ist das vermutlich auch kein Wunder.

 

Die Mutter ist Choreografin und Tanzlehrerin und hat wohl - so erzählt es Leta zumindest immer - schon mit einigen Promis zusammengearbeitet. Der Vater ist Geschäftsmann und hat irgendeine Firma.

 

Musikalisch gekreuzt mit reich wird Leta. Das soll mir eine Lehre sein, schließlich würde ich mich auch als musikalisch bezeichnen. Notiz an Alex: Keinen reichen Mann suchen.

 

Ich muss schmunzeln über meine Gedanken. Zum Glück kann keiner in meinen Kopf gucken, sonst wäre es wirklich richtig peinlich. Obwohl, Dina kann manchmal meine Gedanken lesen, befürchte ich.

 

Probeweise schiele ich zu ihr. Sie zieht die Augenbrauen hoch. „Will ich wissen, was du denkst?“, fragt sie gedehnt und ich schüttele den Kopf. „Nö.“

 

„Dann schlagt mal das Buch auf der Seite 13 auf.“

 

Hat es eigentlich schon geklingelt? Offensichtlich schon, denn Frau Seidel steht schon hinter dem elektronischen Klavier.

 

Ich werfe einen Blick auf das Buch. Weihnachtslieder. Das kann nur bedeuten, dass am Sonntag schon der erste Advent ist.

 

Bald ist Weihnachten und ich bekomme mein Pferd. Ein Glücksgefühl breitet sich in mir aus. Sogar Leta mit ihrer Lerchenstimme ist mir im Moment egal.

 

In Gedanken singe ich Leise rieselt der Schnee mit und schaue aus dem Fenster. Es könnte so langsam ja auch wirklich mal schneien.

 

Ich bewege die Lippen wie beim Playback. Damit komme ich schon zehn Schuljahre gut aus und außer Dina, die als meine Banknachbarin hört, dass ich nicht singe, ist es bisher auch niemanden aufgefallen.

 

Wie ich das beim Vorsingen auf Note mache? Eine berechtigte Frage, ja. Aus unerklärlichen Gründen bin ich an diesen Tagen immer nicht anwesend oder mir ist so derartig schlecht, dass ich nicht singen muss.

 

Das hat nur leider zum Nachspiel, dass ich jedes Halbjahr eine Sechs kassiere für Leistungsverweigerung. Das restliche Halbjahr bin ich damit beschäftigt, in Musik Einsen zu sammeln, um am Ende wieder auf einer guten Drei zu stehen.

 

Frau Seidel sagt eine neue Seite an und ich freue mich tierisch, als ich den Titel des wohl bekanntesten und meistgespielten Weihnachtssongs im Radio lese. Den hat meine Lieblingsband auch gecovert. Auch wenn die BossHoss-Version so gar nichts mit der Version von Frau Seidel gemeinsam hat, sehe ich die Cowboys vor meinem inneren Auge.

 

Nicht einschlafen, Alex!

 

„A16, was wollt ihr denn zum Weihnachtssingen singen?“ Frau Seidels Blick schweift durch die Klasse und wartet auf Vorschläge.

 

Das Weihnachtssingen ist hier eine alte Schultradition. Die letzten beiden Stunden vor den Weihnachtsferien finden sich alle Schüler und Schülerinnen des Goethe-Schulkomplexes Neustadt in der Turnhalle ein, um zusammen Weihnachtslieder zu singen. Jede Klassenstufe singt dabei ein Lied, ein paar Schüler spielen ein Instrument oder sagen ein Gedicht auf. Manchmal spielt auch die Schülerband und der Lehrerchor gibt auch immer irgendetwas zum Besten.

 

Obwohl ich jedes Jahr mit auf der Bühne stehe (und es jedes Jahr schaffe, mich hinter den anderen zu verstecken), ist noch niemanden aufgefallen, dass ich nicht mitsinge. Abgesehen davon jagen Bühnen mir Angst ein. So viele Blicke, die auf mich gerichtet sind. Ein Grund mehr, mich hinter den anderen zu verstecken - ich habe bestimmt eine Bühnenphobie.

 

Melissas Arm schießt in die Höhe und schlägt ein Lied vor. Leta nickt begeistert synchron mit Bryan, der Rest stimmt zu. „Und wer singt das Solo?“

 

Frau Seidel ist der festen Überzeugung, dass jeder Chor bei einem Auftritt auch einen Solisten braucht. Ich zähle leise bis drei, dann sagt Leta wie jedes Jahr: „Das übernehme ich.“ Und die Sache ist erledigt.

 

Bin ich eigentlich eifersüchtig, weil Leta singen kann und ich nicht? Ein bisschen vielleicht. Aber nur ein ganz kleines bisschen.

 

„Alexandra, was sagst du denn dazu?“, fragt mich Frau Seidel. Wozu was sagen? „Nimmst du den Vorschlag an?“ Was?

 

Ich schaue verwirrt zu Dina, meinem Joker in der Not. „Leta hat dich gerade für das Solo vorgeschlagen“, flüstert sie. Was würde ich nur ohne sie tun?

 

Moment ... WAS?

 

„Nein!“, rufe ich entsetzt und reiße den Kopf hoch. Das konnte nur ein blöder Scherz sein, oder? „Nein, ich singe nicht das Solo!“

 

„Ach, bitte, Alex“, säuselt Leta zuckersüß, während sie sich zu mir umdreht. Dann schiebt sich ein hässliches Grinsen über ihr Gesicht. „So ein schönes Stimmchen, das hört man wirklich viel zu selten.“

 

Dann hat sie wohl nicht gefragt, ob sie das Solo bekommt. Ich muss wirklich wieder aufmerksamer am Unterricht teilnehmen, sonst fliege ich wirklich noch auf.

 

„Leta, Schätzchen“, antworte ich ihr und lächele, so gut ich kann. „Dein Goldkehlchen gehört auf die Bühne. Die anderen Schüler würden es schade finden, wenn sie dich nicht wie jedes Jahr hören dürften.“

 

Dina pflichtet mir bei, ebenso wie Sonja, die schon wieder kippelt. Die Klasse stimmt ab, Leta bekommt das Solo, ich bin aus dem Schneider. Glück gehabt.

 

Ich höre, wie meine beste Freundin mit mir synchron erleichtert ausatmet. „Ich glaube, sie hat dich durchschaut“, murmelt sie langsam. Vermutlich hat Dina recht. Was ich jetzt machen soll, weiß ich auch nicht.

 

Wir singen das Lied noch ein paar Mal, Leta trällert das Solo. Und meine Gedanken schweifen schon wieder ab. Noch vier Wochen bis Weihnachten. Vier Wochen, dann habe ich mein eigenes Pferd.

 

Vor meinem inneren Auge sehe ich einen prachtvollen Rappen. Obwohl, eigentlich wäre mir ein Schecke am Liebsten. Der Rappe bekommt große, weiße Flecken. Schon besser.

 

Und er kann springen, aber wie. Mühelos fliegen wir über einen Wassergraben, dann über einen Oxer. Ich reite ohne Sattel und würde am liebsten die Arme nach oben reißen und schreien vor Glück.
Was werden wohl die anderen Reiterinnen auf Eichenhöhe sagen? Und Toni?

 

Vielleicht weiß Toni aber auch schon längst Bescheid, denn mein Pferd wird ja dann auch auf Eichenhöhe stehen. Da müssen meine Eltern ja mit Toni gesprochen haben.

 

In meinen Gedanken nehme ich das letzte Hindernis, plötzlich trage ich wieder mein Turnierdress. Die gesamte Tribüne jubelt mir zu und der Sprecher ruft ins Mikrophon: „Alexandra Weidelmann ist Landesmeisterin im Springreiten!“

 

Ich halte das Pferd an. Ich brauche nur noch einen guten Namen für den Rappschecken. Einen, der sich auf den Turnieren gut anhört.

 

*****

 

„Ich kann es immer noch nicht fassen, dass meine beste Freundin ein Pferd bekommt“, sagt Dina schon zum gefühlt zwanzigsten Mal. „Das ist so irre, weißt du das?“

 

Ich lächele selig vor mich hin und tätschele Tornado den Hals. Er kann ja nichts dafür, dass ich ein neues Pferd bekomme. Und ich habe ihn ja deshalb nicht weniger lieb.

 

„Und du lässt mich auch wirklich mal drauf reiten?“ Dina sieht mich erwartungsvoll an.

 

Ich nicke. „Aber klar darfst du“, verspreche ich ihr. „Ich freu mich einfach so wahnsinnig drauf. Ich hab mir sogar schon Namen überlegt. Was hältst du von Blitz?“

 

„So heißt hier jedes zweite Pferd“, erwidert sie und runzelt die Stirn. „Dein Pferd braucht da einen deutlich klangvolleren Namen. Etwas, was auf dem Turnier hervorsticht.“

 

„Atlantika“, schlage ich vor. „Falls es eine Stute wird, natürlich.“

 

„Schon besser. Aber meinst du nicht, dass das Pferd schon längst einen Namen hat?“, wirft Dina berechtigterweise ein und treibt die Reitponystute Pansy dicht neben Tornado, da der Weg schmaler wird.

 

„Vielleicht ist es ja ein Pferd mit einem ellenlangen Stammbaum“, gibt sie zu bedenken. „Da kann man nicht mal so eben den Namen ändern.“

 

Ich lasse mir ihr Argument durch den Kopf gehen. Ja, vermutlich hat Dina recht. Das Pferd hat einen Namen, ich muss mir also nicht mehr den Kopf darüber zerbrechen. Obwohl das durchaus Spaß gemacht hat, mir Namen auszudenken.

 

„Dann plane ich wohl besser, zu welchen Turnieren ich mich anmelden kann“, erkläre ich. „Schließlich habe ich in zwei Wochen ein Pferd, mit dem ich die Landesmeisterschaften gewinnen kann.“

 

„Landesmeisterschaften?“, fragt Dina und lacht. „Du bist ja total verrückt. Was ist, wenn das Pferd noch gar nicht bereit dafür ist. Deine Eltern haben jetzt nicht so viel Ahnung von Pferden, vielleicht bekommst du ja einen Dreijährigen, der gerade so eingeritten ist.“

 

Darüber habe ich auch noch nicht nachgedacht. „Ach was, dann bilde ich den eben selber aus“, beschließe ich. „Toni hat das doch öfter schon gemacht, die hilft mir bestimmt dabei.“

 

„Ich bin ja schon so aufgeregt und gespannt auf dein Pferd, Alex.“ Dina grinst wie ein Honigkuchenpferd. Man könnte denken, sie wird bald Pferdebesitzerin und nicht ich. „Solche Eltern würde ich auch gerne haben. Erst großes Theater machen und dann doch den Wunsch erfüllen. Von wegen zu wenig Geld.“ Ich stimme ihr zu.

 

Vor uns wird der Weg breiter. Es hat immer noch nicht geschneit, deshalb schlage ich eine kleine Galopprunde vor. Dina ist sofort dabei und lässt Pansy die Zügel lang. Die Apfelschimmelstute macht einen Satz nach vorn und ich lasse Tornado ebenfalls angaloppieren. Nebeneinander fliegen wir über den Feldweg.

 

Das ist ganz gewiss einer der letzten Ausritte, die ich mit Tornado machen werde. Mir ist klar, dass meine Reitbeteiligung an ihm gekündigt wird, sobald ich mein eigenes Pferd habe. Beides ist auf Dauer wirklich zu teuer.

 

Und obwohl ich den Schecken von ganzem Herzen liebe, habe ich keine Angst vor unserem letzten Ritt. Ich kann ihn ja trotzdem weiterhin besuchen, er verschwindet ja nicht für immer.

 

Wie lange waren wir jetzt ein Team?

 

Als ich mit dem Reiten angefangen habe, war er noch in der Grundausbildung bei Toni. Er sollte mal ein Reitschulpferd für die Fortgeschrittenen werden. Dann irgendwann hat sie mir die Reitbeteiligung an ihm angeboten. Das muss schon sechs Jahre oder so her sein.

 

Sechs Jahre mit Tornado.

 

Er wird immer einen Teil meines Herzens besitzen. Sechs Jahre wirft man nicht einfach so weg. Sechs gemeinsame Jahre - das vergisst man nicht so einfach. Er hat mich geprägt, mich gefördert, mir zugehört und mich mit seiner Anwesenheit getröstet.

 

Ich wische mir eine Träne aus dem Gesicht. Nicht weinen, Alex, du bekommst endlich dein eigenes Pferd. Und Tornado findet bestimmt auch wieder ein Mädchen, das ihn umhegt und pflegt wie du.

 

„Gewonnen!“ Dina hält Pansy an und winkt mit den Armen. „Ich glaube, jetzt hab ich dich zum ersten Mal geschlagen.“

 

„Herzlichen Glückwunsch zum Sieg“, gratuliere ich ihr. „Ich wusste ja gar nicht, dass wir ein Rennen veranstaltet haben.“

 

Sie lacht. „Lass mich raten, du hast wieder mal nur über dein neues Pferd nachgedacht?“, fragt sie wissend und legt den Kopf schief.

 

„Ja“, gebe ich zu. „Und über Tornado und darüber, dass er bestimmt eine neue Reiterin finden wird, die ihn auch so umhegt wie ich.“

 

„Oder er geht in Rente und genießt die Weide“, überlegt sie, aber ich schüttele entsetzt den Kopf. „Rente? Schau ihn dir an, Dina, er ist topfit!“

 

Tornado schüttelt den Kopf, als ob er ebenfall gegen ein langweiliges Leben auf der Weide wäre. Er hat nicht einmal geschwitzt, im Gegensatz zu Pansy.  

Kapitel 5: Das neue Pferd

Pünktlich zum letzten Schultag vor den Weihnachtsferien fällt zum ersten Mal dieses Jahr Schnee. Obwohl ich mich einerseits freue, dass es endlich schneit, weil Schneefall so eine be-ruhigende Wirkung auf mich hat, bin ich andererseits traurig, dass ich meine Skates jetzt im Schrank lassen muss. Glatteis und Inline Skates sind keine so gute Mischung.

„Na, dann wollen wir mal“, begrüße ich mein schwarz-rotes Herrenfahrrad. Zum Spaß drücke ich am Hebel der Klingel, welcher prompt klemmt. Offenbar hat ihm die lange Abwesenheit meinerseits nicht gefallen.

Ich schiebe es aus der Garage und schwinge mich auf den Sattel. Es fühlt sich komisch an, wieder mit dem Fahrrad unterwegs zu sein. Seit wann ist eigentlich der Sattel so klein und hart?

Als ich durch ein Schlagloch fahre, springt der Hebel der Klingel zurück und lässt ein lautes Bing! ertönen. Ich zucke zusammen, ein Fußgänger vor mir springt zur Seite.

Vor der Schule steige ich ab und krame im Rucksack nach dem Schlüssel für mein Fahrradschloss. Ich bin kurz davor, den Inhalt auszuschütten, um diesen verfluchten Schlüssel zu finden, als mir einfällt, dass ich ihn wahrscheinlich gar nicht eingepackt habe.

Dann muss es eben ohne Schloss gehen. Kritisch mustere ich das Fahrrad.  Es war übersäht mit Schrammen und abgeblätterter Farbe, die Klingel rostig. Am Hinterrad fehlt ein Katzenauge. Wer soll denn dieses alte Fahrrad freiwillig klauen?

Ich lasse es einfach stehen und bekomme den nächsten Schreck, als das Fahrrad von Dina neben mir eingeparkt wird von einem fremden Mädchen.

Nein, Moment. Das ist Dina!?

„Was ist denn mit dir passiert?“, frage ich sie höchst schockiert und schließe kurze die Augen, um mir die Dina ins Gedächtnis zu rufen, die ich schon ewig kenne.

Sie trägt lange, hellbraune Haare in Rapunzellänge. Selbst geflochten reicht das Zopfende immer noch mühelos über die Kante ihres Hosenbundes. In ihr Gesicht weht ein langer, fransiger Pony, der halb ihre grün-braunen Augen verdeckt.

Vorsichtig öffne ich die Augen. Meine beste Freundin sieht immer noch wie eine Fremde aus, da hat sich in den letzten Sekunden auch nichts verändert.

„Hallo, Alex“, begrüßt sie mich und legt den Kopf schief. „Alles in Ordnung mit dir? Geht's dir nicht gut?“

„Ähm, naja...“, fange ich an. „Ich suche gerade meine beste Freundin, vielleicht weißt du ja, wo sie ist. Dich kenne ich leider noch nicht.“

Dina bricht in einen Lachanfall aus. „So schlimm? Ich hatte beim Frisör gestern eigentlich ein gutes Gefühl. Wollte mal etwas Neues ausprobieren.“

Die neue Dina trägt jetzt einen dunkelbraunen, im Nacken anrasierten Bob mit feuerroten Spitzen. Der ehemals wilde Pony ist deutlich kürzer und schnurgerade. Ich kann mich nicht entscheiden, ob meine beste Freundin damit jetzt rockiger und wilder aussieht oder niedlicher und braver.

„Steht es mir wirklich nicht?“, fragt sie betrübt.

„Ähm, naja...“, versuche ich es noch einmal. „Ich glaube, ich muss mich einfach nur erst dran gewöhnen, dass ich nicht mehr mit Rapunzel befreundet bin...“

„Na gut, dass lasse ich ausnahmsweise gelten“, willigt Dina grinsend ein. „Aber nur, weil bald Weihnachten ist. Und wir heute zum letzten Mal für dieses Jahr in die Schule müssen.“


*****

 

Ich bin erleichtert, als endlich die Schulglocke läutet. Noch eine Minute länger im Englischunterricht und ich wäre durchgedreht.

Miss Fischbach hat ihrer Kreativität wieder freien Lauf gelassen und uns kurzerhand englische Weihnachtssongs nicht nur übersetzen, sondern auch singen lassen. Diesmal musste der Text des armen John Lennon dran glauben.

Versteht mich nicht falsch - der Song ist eigentlich schön. Leider nur so lange, bis eine A16 des Goethe-Schulkomplexes Neustadt ihn ohne Begleitung und mit Playback des Originals singen sollte. Mir stehen jetzt noch sämtliche Nackenhaare zu Berge vor lauter Gruselei.

Demzufolge bin ich wirklich erleichtert, dass ich diese Stunde hinter mir habe und neben Dina quer über den Schulhof zur Turnhalle gehe. An ihre neue Frisur habe ich mich immer noch nicht gewöhnt, der erste Schock ist aber überstanden.

„Ich liebe dieses Weihnachtssingen“, erklärt sie mir. „Das ist einfach so schön, wenn alle Schüler und Lehrer das Schlusslied gemeinsam singen, nur zur Klavierbegleitung von Frau Seidel...“

Es ist tatsächlich auch für mich immer wieder beeindruckend, wie schön das klingen kann, wenn der gesamte Schulkomplex Alle Jahre wieder singt - Grundschüler, Realschüler, Haupt-schüler, Gymnasiasten, Lehrer. Selbst der Hausmeister singt mit.

Ich klopfe mir den Schnee von der Jacke, während ich schon nach einem guten Platz Ausschau halte. Nicht zu weit hinten, da sieht man nichts. Aber zu weit vorn sitze ich auch nicht gerne, da fühle ich mich viel zu sehr wie im Mittelpunkt.

Dina nimmt mir die Entscheidung ab und lässt sich in der dritten Reihe relativ weit außen auf einer Turnbank nieder. Ich ziehe meinen Anorak aus und lege das Bündel unter die Bank. Dann lasse ich mich auf die Bank fallen.

Es ist ein bisschen kalt in der Halle heute und ich bin froh, dass ich meine absoluten Lieblingspullover trage - ein Fan-Kapuzenpullover von The BossHoss. Über die gesamte Vorderseite erstreckt sich ein weißer Druck mit einem Tiger, welcher auch das letzte Albumcover der Band ziert. Flames of Fame.

Meine Tante hat ihn mir zum Geburtstag geschenkt. Ich habe mich extrem darüber gefreut, meine Eltern nur die Stirn gerunzelt so nach dem Motto: Warum schenkt sie meiner Tochter im warmen Mai einen noch wärmeren Kapuzenpullover?

Tatsächlich lag der Pullover die letzten Monate ungetragen im Schrank, aber an einem Ehrenplatz. Für die wärmeren Tage habe ich eine kleine Kollektion von Fan-T-Shirts meiner Lieblingscowboys und für die kälteren Tage gibt es genug langärmlige schwarze Basic-Shirts, die man darunterziehen kann.

Obwohl ich dank meiner Tante und meiner Großeltern mich locker eine Woche lang mit wechselnden Outfits als The BossHoss-Fan outen kann, besitze ich natürlich noch weitaus mehr Kleidung. Die meisten T-Shirts sind schlicht einfarbig, häufig in Grün- oder Blautönen. Ich kann ja nicht immer schwarz tragen, zu den Gruftis will ich mich dann doch nicht zählen lassen.

Die Halle füllt sich und mit steigender Personenzahl steigt auch die Temperatur. In der ersten Reihe streiten sich ein paar Grundschüler um den besten Platz, neben mir hört jemand über einen MP3-Player so laut Musik, dass ich jedes einzelne Wort des Textes verstehe. Frau Seidel hat schon mindestens drei Mal das Klavier getestet und probiert nun die Mikrophone durch.

„Ich bin ja so gespannt auf dein neues Pferd“, sagt Dina über den Lärm hinweg. „Rufst du mich an, sobald klar ist, wann du nach Eichenhöhe fährst und es kennen lernst? Ich will unbedingt bei diesem großen Moment dabei sein!“

„Schon notiert“, antworte ich grinsend. „Ich will dich auch um jeden Preis dabei haben. Mit deiner Kamera, damit dieser denkwürdige Moment eingefangen wird.“

„Bitte Ruhe!“, ruft Frau Seidel ins Mikrophon, welches laut zu pfeifen anfängt. Dann ist der Ton weg, Frau Seidel redet immer noch. „... auf die Bühne bitten.“

Keiner bewegt sich, alle sehen sie fragend an. „Ach so, das Mikrophon war aus“, stellt sie fest. „Ich fange einfach noch einmal an. Liebe Schüler, liebe Kollegen, ich begrüße euch alle ganz herzlich beim diesjährigen Weihnachtssingen. Zuerst wollen wir alle gemeinsam das Lied Leise rieselt der Schnee singen, dann möchte ich die Klassenstufen 1 und 2 auf die Bühne bitten.“

Gleich darauf erklingen die ersten Töne und ich schließe die Augen. Ich singe nicht mit, aber das heißt ja nicht, dass ich die Musik und den Gesang der Anderen nicht genießen kann.


*****

 

Meine Hände sind schweißig und zittern vor Aufregung. Endlich, wir sitzen als unter dem Weihnachtsbaum. Na gut, eigentlich sitzen wir am Tisch vor dem Weihnachtsbaum, aber man kann es auch übertreiben mit der Genauigkeit.

Und jetzt gibt es bald Geschenke. Der Weihnachtsmann kommt natürlich nicht mehr, hier glaubt sowieso niemand mehr an den Mann im roten Mantel.

Stattdessen hat jeder seine Geschenke unter den Baum gelegt und nun, nachdem der Tisch abgeräumt ist, geht jeder wieder zum Baum und nimmt seine Geschenke, um sie persönlich zu überreichen.

Da ich es vor Spannung nicht mehr aushalte, mache ich spontan den Anfang und hole die Geschenke für meine Eltern. Meine Mutter bekommt einen Pralinenkasten mit Edelbitterschokolade, mein Vater einen Pralinenkasten mit weißer Schokolade. Unkreativ, ich weiß.

Sie freuen sich trotzdem beide und drücken mich. Dann reicht mein Vater mir ein kleines blaues Päckchen, meine Mutter gibt mir ein rotes mit Schneeflocken.

Ich setze mich auf den Fußboden und schneide das Schleifenband durch. Dann reiße ich das blaue Geschenkpapier auseinander und halte einen blau-gemusterten Führstrick in den Händen.

„Frohe Weihnachten, Alex“, kommentiert mein Vater. „Ich glaube, den kannst du immer mal gebrauchen, oder?“

Ich nicke eifrig, auch wenn ich innerlich enttäuscht bin. Bloß ein Führstrick, davon hatte ich schon dutzende in meinem Spind liegen. Wäre eine neue Satteldecke nicht sinnvoller gewesen? Die von Tornado war an einer Stelle schon durchgewetzt.

Doch dann fällt mir mein Pferd ein. Das muss das zweite, kleinere Päckchen von meiner Mutter sein!

Auch hier schneide ich das Schleifenband durch und öffne den Karton. Darin liegt nur eine Weihnachtskarte. Ich nehme sie heraus und betrachte das Bild. Eine Pferdeherde galoppiert durch glitzernden Schnee, ganz vorn ein großer Schecke.

Vorsichtig klappe ich die Karte auf. Was, wenn ich mich verhört habe? Was, wenn auf der Karte nur steht, dass die Reitbeteiligung an Tornado verlängert wird?

Plötzlich habe ich Angst und kneife die Augen zu. Will ich wirklich lesen, was dort drin steht? Will ich es wirklich wissen, wenn es sich nicht um mein eigenes Pferd handelt?

Blödsinn, Alex! Du bist doch nicht bescheuert und weißt, was du gehört hast! Jetzt mach endlich die Augen auf und lies!

„Alex?“ Meine Mutter klingt besorgt. „Geht es dir nicht gut? Soll ich dir einen Tee machen? Fenchel-Anis-Kümmel?“

Bäh, igitt. Nein!

„Nein, es geht schon“, erwidere ich und öffne die Augen, doch meine Mutter sieht mich skeptisch an. „Es ist nichts, alles in Ordnung“, wiederhole ich. Wie soll ich mich auch sonst dafür rechtfertigen, dass ich Angst habe, beim Belauschen etwas falsch verstanden zu haben?

Dann fällt mein Blick auf die Karte und sehe die Handschrift meiner Mutter in der Karte. Ich atme tief durch und beginne zu lesen.

 

‚Frohe Weihnachten, Alex.

Vielleicht bist du enttäuscht, dass das andere Geschenk so klein ist. Und vielleicht bist du traurig, dass in diesem nur eine Weihnachtskarte liegt. Aber dein eigentliches Geschenk wollte sich schlichtweg nicht verpacken lassen. Es erwartet dich im Reitstall Eichenhöhe und wird dort gegen um neun ankommen.

Deine Eltern’

 

Es wird erst um neun ankommen? Mein Pferd ist noch gar nicht auf Eichenhöhe? Wer fährt denn Weihnachten ein Pferd durch die Gegend? Und weiß Toni schon, dass es überhaupt auf dem Weg ist und bald ankommt?

Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr. In einer halben Stunde wird es auf Eichenhöhe ankommen, mein eigenes Pferd.

Dann sehe ich meine Eltern erwartungsvoll an. „Wann fahren wir los?“, frage ich und bin mir sicher, meine Augen glänzen vor Freude. Mein eigenes Pferd! Es ist unglaublich, aber wahr! Was sonst sollte sich schwer verpacken lassen und nach Eichenhöhe gefahren werden?

„Und darf ich Dina anrufen? Sie muss unbedingt mir nach Eichenhöhe“, bettele ich weiter. Meine Eltern lachen und freuen sich offenbar, dass mir mein Geschenk schon jetzt gefällt, obwohl ich es noch gar nicht gesehen habe.

„Wir können gerne gleich los und bei ihr vorbei fahren“, sagt mein Vater. „Dann sind wir pünktlich neun Uhr im Reitstall Eichenhöhe.“

Ich renne in mein Zimmer, suche mir dicke Socken und eine Jacke. Dann schnappe ich mir Dinas Geschenk und schreibe ihr eine SMS. ‚Mach dich bereit, um neun Uhr kommt mein Pferd an! Wir holen dich ab, A.’

‚PS: Denk an die Kamera’, schicke ich noch hinterher, dann schlüpfe ich schon in meine gefütterten Reitschuhe und ziehe den alten Anorak an, der noch ein wenig nach Pferd riecht.

„Mama, Papa“, rufe ich ins Wohnzimmer. „Ich bin so weit - fahren wir jetzt endlich zu Dina und dann nach Eichenhöhe?“

Meine Eltern benötigen gefühlte Stunden, bevor sie endlich in dicken Jacken und Stiefeln aus dem Haus marschieren. Ich lasse mich auf die Rückbank hinter den Beifahrersitz gleiten und bin schneller angeschnallt, als mein Vater eingestiegen ist.

Mein Handy klingelt und kündigt eine SMS an. Bestimmt von Dina. Ich krame es aus der Jackentasche und öffne die Nachricht. ‚Wo bleibt ihr? D.’

‚Sind unterwegs’. Meine Antwort fällt knapp aus, aber ich will sie nicht erst abschicken, wenn ich vor ihrer Tür stehe, weil ich so lange tippen musste.

Inzwischen läuft der Motor und mein Vater tritt auf das Gaspedal. Ich kann es kaum erwarten, endlich bei Dina anzukommen und dann mit ihr nach Eichenhöhe zu fahren.

Ungeduldig starre ich aus dem Fenster. Die Straßenlaternen leuchten uns den Weg, Schnee fällt in dicken Flocken. Es sind absolut traumhafte Weihnachten - und das erste Mal weiße Weihnachten seit mindestens zehn Jahren.

Mein Vater hat das Auto noch nicht richtig angehalten, da bin ich schon abgeschnallt und springe hinaus. Dina wartet bereits hinter der Tür auf mich und fällt mir um den Hals.

„Boah, Alex, ich wusste es einfach!“, kreischt sie und gibt mir ein kleines Päckchen. „Frohe Weihnachten!“

Ich nehme es entgegen und gebe ihr mein Geschenk. Sie reißt es noch vor der Tür auf. Ein nagelneues Päckchen Ölkreiden, dazu passendes Papier. „Auf dass dir die Kreativität niemals ausgeht“, kommentiere ich und sie bringt es eilig ins Haus.

Währenddessen öffne ich mein Geschenk und halte ein T-Shirt von The BossHoss in den Händen. Natürlich eins, was ich noch nicht habe. Dina liebt die Cowboys nicht so sehr wie ich, aber sie hat bestimmt den perfekten Überblick, welche T-Shirts ich schon besitze.

„Danke, Dina!“, rufe ich und umarme sie noch einmal. „Das T-Shirt ist perfekt. Ich ziehe es gleich morgen an.“

„Und jetzt los, sonst ist dein Pferd vor dir da“, bestimmt sie und hängt sich die Tasche mit ihrer Kamera um. Sie nimmt meine Hand und zieht mich zum Auto. In ihrem Haar glitzern Schneeflocken, in meinem bestimmt auch.

Wir sind gerade so eingestiegen, da fährt mein Vater auch schon los. Ich bin zu aufregt, um mit Dina oder meinen Eltern ein sinnvolles Gespräch zu führen. Prüfend halte ich meine Hände nach vorne. Sie zittern wie verrückt und schimmern schweißig, außerdem klopft mein Herz wie wild.

Jetzt bekomme ich endlich mein eigenes Pferd. Mein Traum aller Träume - heute geht er endlich in Erfüllung. In wenigen Minuten stehe ich zum ersten Mal meinem Pferd gegenüber.

Die Gebäude von Eichenhöhe tauchen in der Frontscheibe auf. Ich will mich schon abschnallen, um schneller aus dem Auto zu kommen, doch Dina hält mein Handgelenk fest. „Selbst wenn dein Pferd Punkt neun Uhr auf den Hof fährt, sind wir immer noch fünf Minuten zu früh“, flüstert sie mir zu. „Bleib ruhig, du verpasst schon nichts.“

Ich versuche es mit dem Ruhigbleiben, aber so richtig will mir das nicht gelingen. Ich bin ein Nervenbündel, hibbelig und sitzen kann ich eigentlich auch nicht mehr. Hummeln im Allerwertesten. Mein Herz hämmert schneller und kräftiger. Es tut schon beinahe weh.

Dann parkt mein Vater das Auto. Ich reiße die Tür auf und springe hinaus. Eichenhöhe sieht nachts wirklich romantisch aus, stelle ich fest. Friedlich, harmonisch.

„Guten Abend, Frau Roseberg.“ Mein Vater reicht Toni die Hand. „Ich freue mich, dass wir so spät Ihrem Stall noch einen Besuch abstatten dürfen.“

„Keine Ursache, Herr Weidelmann“, entgegnet Toni. Ich habe gar nicht bemerkt, dass sie zu und gelaufen ist. Sie ist einfach da, wie aus dem Nichts aufgetaucht. „Ich freue mich sehr auf das Pferd. Ich bin gespannt, wie es aussieht. Sie wollten mir ja keine Details verraten.“

Was? Toni weiß auch nicht, wie mein Pferd aussieht? Woher wissen meine Eltern denn dann, was für ein Pferd ich möchte? Wirklich Ahnung von Pferden haben beide nicht.

„Das wird schon gut gehen“, beschwichtigt mich Dina. „Vielleicht sagt Toni das auch nur, um noch mehr Spannung aufzubauen.“

„Noch mehr Spannung und ich explodiere“, murmele ich und hüpfe auf und ab durch den Schnee. Es ist mir völlig egal, ob Stiefel, Hose, Socken oder irgendetwas anderes nass wird. Ich will jetzt mein Pferd sehen!

„Du machst mich ja richtig nervös mit deinem Gehampel!“, schimpft Dina. „Bist du eigentlich genauso, wenn du irgendwann mal ein Date hast?“

„Ein Date? Was hat das denn jetzt mit meinem Pferd zu tun?“, frage ich irritiert. Dina lacht. „Wenn man dich so sieht und nicht weiß, dass du in ein paar Minuten ein eigenes Pferd bekommst, könnte man glauben, du hast dich verknallt und hast gleich ein Date.“

„Du spinnst ja!“ Mein Herz hämmert schneller. Geht das überhaupt? Oder sterbe ich hier gleich an Herzrasen?

Meine Atmung geht auch viel zu schnell. Hyperventilation nennt man das, sagt zumindest unsere Biologielehrerin. Meine Hände sind klatschnass und so zittrig, dass ich nicht einmal meine Jackentasche öffnen kann, um mir ein Taschentuch zu nehmen. Die Nase läuft nämlich auch.

Ich springe immer noch wie ein Hüpfeball herum. Dina versucht sich abzulenken, indem sie den Stall bei nächtlichem Schneefall fotografiert. Dann ist das Haupthaus dran, danach die Weiden...

„Alex, guck mal!“, kreischt sie und springt auf und ab, während sie die Straße entlang zeigt. „Da kommt ein Geländewagen mit Pferdeanhänger!“

„Wo?“ Sofort stehe ich neben ihr und starre in die beiden Lichter, die sich uns nähern. „Oh mein Gott, es ist so weit. Ich bekomme ein Pferd. Ich drehe durch. Ich bin fix und fertig. Ich bekomme ein Pferd. Ich ...“

„Alex!“ Dina schüttelt mich an den Schultern. „Alex, nicht den Verstand verlieren. Schau mich an. Tief ein und aus und ein und aus. Ja, genau. So ist es besser.“

Der Geländewagen hält auf dem Hof. Ein Mann kurbelt das Fenster nach unten. „Herr und Frau Weidelmann?“, fragt er und meine Eltern eilen an sein Fenster. „Das Pferd ist im Anhänger. Sobald sie es ausgeladen haben, muss ich weiter fahren. Ich habe noch Termine.“

Meine Eltern nicken verständnisvoll. Dann helfen sie Toni, den Anhänger zu öffnen. Ich stehe wartend neben Dina, die bereits ihre Kamera in den Händen hält und bereit für die Fotosession ist.

Toni geht in den Anhänger, dann höre ich Hufe auf Metall schlagen. Ich bin immer noch ganz kribbelig. Dieses Pferd soll schneller laufen, ich will es jetzt endlich sehen.

Meine Reitlehrerin betritt die Rampe, sie hält einen Führstrick in der Hand. Ein Schnauben, ein Stampfen. Und dann setzt mein Pferd den ersten Huf auf die Rampe und streckt den Kopf hinaus.

Und ich bin erstarrt. Kann mich nicht bewegen. Bin unfähig, auch nur irgendetwas zu denken. Mein Herz hört schlagartig auf mit Schlagen, meine Atmung setzt aus. Einen Moment lang bin ich wie gelähmt, wie eingefroren.

Meine Welt wird aus den Angeln gehoben. Nichts ist mehr wie früher. Nichts ist, wie es sein sollte. Nichts, wie ich es mir gewünscht habe. Das hier ist eine Katastrophe.

Es ist kein Springpferd, welches mich aus dem Hänger heraus ansieht. Es ist noch nicht einmal ein Pferd. Es ist ein Pony. Ein Shetlandpony.

Ich bin entsetzt. Dina neben mir lässt in Zeitlupe die Kamera sinken. Sie starrt das Pony genauso ungläubig an wie ich, kann genauso wenig fassen, was hier passiert.

Toni hat mit dem Pony die Rampe verlassen, während meine Eltern den Anhänger schließen. Meine Reitlehrerin führt dieses braune Spielzeugpferd zu mir herüber und hält einen Meter vor mir an. Ihre Miene kann ich nicht deuten, als sie mir die Führstrick anbietet und sagt: „Das, Alex, ist Lynn. Dein erstes eigenes Pferd.“

Kapitel 6: Bittere Enttäuschung

Ich starre das Pony an, als käme es von einem anderen Stern. Es stellt neugierig die Ohren auf, hofft vermutlich darauf, dass es begrüßt und gestreichelt wird.

Nichts dergleichen geschieht. Es lässt die Ohren hängen und sieht mich mit traurigem Blick an. Ich wende den Blick ab.

Dieses Pony hat so gar nichts mit meinem Traumpferd gemeinsam. Zu klein, kein Springpferd und nicht mal bunt. Nur ein kleines, dickes Fuchspony mit Blesse.

Das muss eine Verwechslung sein! Das kann unmöglich mein Pferd sein!

Ich drehe mich um und laufe los. Ich will weg von diesem Ort, weg von diesem Pony. Toni ruft mir etwas hinterher, doch ich höre es nicht. Ich lasse meine Eltern, Toni und Dina mit dem Pony einfach stehen. Ich halte es hier nicht mehr aus.

Irgendwann stelle ich fest, dass ich in Tornados Box stehe. Der Schecke legt mir den Kopf über die Schulter, während ich ihn umarme und mein Gesicht in sein Fell drücke. Ich weine.

Das hätte doch mein großer Tag werden sollen. Mein erster Tag als frischgebackene und überglückliche Pferdebesitzerin.

Ich hasse dieses Pony jetzt schon. Was haben sich meine Eltern bloß dabei gedacht, als sie dieses Spielzeugpony gekauft haben? Warum hat Toni nichts dazu gesagt? Sie weiß doch genau, dass ich ein Turnierpferd brauche, um weiterhin erfolgreich zu sein.

„Ach, Tornado“, murmele ich in sein Fell. „Es tut mir leid, dass ich versucht habe, dich weniger zu lieben, nur damit mein neues Pferd mehr Platz in meinem Herzen hat. Du und ich - wir sind das perfekte Team. Wir schaffen das hier. Wir vergessen das Pony und machen weiter, als ob ich nie davon gewusst hätte, dass ich ein Pferd bekomme...“

Er schnaubt und kaut auf meinem Zopf herum. Ich lasse es zu und danke ihm still wieder und wieder, dass er einfach nur für mich da ist.

„Alex?“ Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Ich bemerke sie fast gar nicht. Will sie nicht merken. Ich will allein sein, bei Tornado.

„Deine Eltern machen sich Sorgen um dich“, sagt Dina leise. „Wir alle suchen nach dir. Du warst so plötzlich verschwunden.“

„Geh weg!“, schimpfe ich unter Tränen in Tornados Hals. „Geht alle weg, ich will niemanden sehen.“

„Alex, ich bin genauso schockiert wie du“, gibt sie mir zu verstehen. „Und ich bin allein hier, deine Eltern und Toni sitzen im Haupthaus. Sie haben die Suche aufgegeben.“

„Das ist mir egal“, schluchze ich. „Ich will Tornado. Ich will, dass alles wieder so ist wie früher - bevor ich meine Eltern belauscht habe. Bevor dieses Minipferd hier aufgetaucht ist.“

Sie löst meine Arme von Tornado, welcher seinen Kopf von meiner Schulter nimmt. Dann zieht sie mich in eine Umarmung. Meine Beine geben zitternd nach und ich lasse mich an ihrer Seite ins Stroh gleiten.

„Wir schaffen das“, flüstert Dina und streicht mir über den Rücken. „Wir schaffen das irgendwie. Ich bin auf deiner Seite - wofür sind Freundinnen denn sonst da?“

„Die anderen Mädchen hier werden mich auslachen...“, rutscht es mir heraus und ich wische Tränen aus meinen Augen. Dina reicht mir ein Taschentuch.

„Ausgerechnet ich, die ehrgeizigste Reiterin im Stall, wird mit einem Shetlandpony gestraft. Ich bin doch jetzt schon ein absoluter Loser“, sprudelt es aus mir hervor. „Tausche meine wundervolle Reitbeteiligung gegen ein Pony ein. Vielleicht hat die Sternschnuppe das zu wörtlich genommen...“

In meinen Gedanken bin ich wieder auf dem Heimweg kurz hinter Eichenhöhe. Die Sternschnuppe am Tag vor dem Turnier.

Und ich will ein eigenes Pferd. Egal, was für eins.

Ich höre meine Stimme in meinem Kopf. Meine Gedankenstimme. Egal, was für eins. Egal, was für eins. Egal, was für eins.

Sie wiederholt diesen Satz wieder und wieder. Ich reiße die Hände nach oben, halte mir die Ohren zu, doch die Stimme bleibt in meinem Kopf. Egal, was für eins.

„Ich bin Schuld an dieser Katastrophe...“, schluchze ich und lasse die Hände wieder sinken. „Dina, ich bin Schuld. Ich allein.“

„Warum sollst du Schuld sein? Deine Eltern haben das Pony gekauft, offenbar sogar ohne Rücksprache mit Toni“, erklärt Dina logisch. „Die ist genauso aus allen Wolken gefallen wie wir. Wie kommst du auf die absurde Idee, dass du Schuld daran trägst, dass Lynn dein Weihnachtsgeschenk ist?“

„Lynn?“, frage ich leise. Dina streicht mir über den Rücken. „Das Pony“, antwortet sie murmelnd. „Sie heißt Lynn. Und hat angeblich ein halbes Buch voll Papiere und einen ellenlangen Stammbaum.“

„Was hilft mir das? Ich brauche ein Reitpferd, kein Kuscheltier“, seufze ich. „Aber ich bin ja selbst Schuld. Die letzte Sternschnuppe, die ich gesehen habe, am Abend vor dem Turnier... Ich habe mir ein Pferd gewünscht. Egal, was für eins. Genau so habe ich es formuliert.“

„Und nun hast du einfach irgendeins und glaubst, dein Sternschnuppenwunsch ist daneben gegangen?“, hakt Dina nach. „Das ist doch Unfug. Seit wann bist du abergläubisch?“

„Aber das ist die einzige plausible Erklärung dafür, dass dieses Pony hier ist.“ Ich breche wieder in Tränen aus. „Ich habe es selbst versaut. Ich hätte diesen Satz niemals denken dürfen. Ich hätte fest an mein großes Springpferd glauben müssen.“

„Du bist nicht Schuld“, betont Dina erneut. „Wenn hier jemand Schuld ist, dann die Planlosigkeit deiner Eltern. Ein Pferd zu kaufen, wenn man keine Ahnung davon hat - das kann man doch nicht bringen!“

„Vielleicht kann der Mann es wieder mitnehmen. Und ich bekomme Tornado zurück“, versuche ich es hoffnungsvoll, doch Dina schüttelt langsam den Kopf. „Ich glaube nicht. Im Kaufvertrag steht, dass das Pferd nicht zurück gegeben werden kann“, offenbart sie mir und meine Welt stürzt ein zweites Mal an diesem Abend in sich zusammen.

„Dafür schien es sehr günstig zu sein.“ Ich lache traurig auf. „Günstig“, wiederhole ich niedergeschlagen. „Immer dieses blöde Geld. Das macht alles kaputt.“

 

*****

 

Ich liege in meinem Bett. Keine Ahnung, wie ich dort hin gekommen bin. Keine Ahnung, wie spät es ist und wie lange ich hier schon liege.

Ich habe geträumt, dass ich im Stall war und ein Pony geschenkt bekommen habe. Davon, dass meine Weihnachten eine einzige Katastrophe waren, die meine Träume zerstört haben.

Erleichtert schlage ich die Augen auf. Ein Alptraum, weiter nichts. Ein Alptraum vor Heiligabend, dem ich keine weitere Beachtung schenken muss. Heute bekomme ich endlich mein erstes eigenes Pferd, mein Turnierpferd - egal, was der Traum mir sonst noch so gezeigt hat.

Ich schwinge die Beine aus dem Bett. Dann schalte ich das Radio ein und mache mich fertig. Ich ziehe sogar einen frischen Pullover und eine frische Jeans an, schließlich ist heute Heiligabend.

Mit denkbar bester Laune springe ich die Treppenstufen nach unten. Vielleicht kann ich nachher ja noch einmal schnell nach Eichenhöhe, mich richtig von Tornado verabschieden.

„Guten Morgen, Alex“, begrüßt mich meine Mutter. „Gut geschlafen?“ Ich nicke und setze mich an den Frühstückstisch. Mit Schwung schütte ich mir Müsli in eine Schüssel und gieße Milch darüber.

Als ich mit dem Frühstück fertig bin, stehe ich auf und suche mir meine Stalljacke. „Ich bin noch mal auf Eichenhöhe, aber zum Mittag bin ich wieder da. Außerdem muss ich noch ein Geschenk für Oma kaufen“, rufe ich über die Schulter meinen Eltern zu. „Bis später.“

„Aber die Läden sind heute geschlossen...“, höre ich meinen Vater am Rande noch. Blödsinn, vermutlich habe ich mich einfach nur verhört. Warum sollen denn an einem Mittwoch die Läden geschlossen haben? Alle Geschäfte haben Heiligabend noch geöffnet.

Ich schiebe das Fahrrad aus der Garage und schwinge mich auf den Sattel. Dann schalte ich meinen MP3-Player ein und fahre los. Die Musik startet mitten in einem Song des zweiten Livealbums.

Bevor der Song beendet ist, bin ich schon auf Eichenhöhe. Die Band hat es geschafft, einen Song von drei Minuten auf etwa zehn Minuten auszudehnen und ich habe tatsächlich nur einen Song gebraucht, um bis zum Reiterhof zu fahren.

„Mein Beileid“, kommt mir Sarah entgegen und legt mir eine Hand auf die Schulter. Kira folgt ihr und wiederholt die Geste. „Auch mein Beileid“, sagt sie sichtlich betrübt. „Das muss wirklich schlimm für dich sein. Wäre es für jede von uns.“

Beileid? Warum das denn?

In meinem Kopf setzen sich zahlreiche Zahnräder in Gang. War jemand in meiner Familie gestorben? In meiner entfernten Familie, meinem Bekanntenkreis?

Nein, der letzte Todesfall war die Schwester meines Großvaters. Das lag schon drei Jahre zurück. Warum bekunden mir Sarah und Kira ihr Beileid?

Ich wische das merkwürdige Gefühl beiseite und stelle mein Fahrrad ab. Dann gehe ich zum Stall. Vielleicht kam mir ja bei den Pferden die Erleuchtung.

„Oh, man, Alex“, überfällt mich Sophie und umarmt mich. „Das muss wirklich schrecklich sein für dich. Du hast meist vollstes Verständnis.“

„Verständnis wofür?“, versuche ich zu fragen, doch da ist sie schon wieder weg. Komisch. Erst Sarah, dann Kira und jetzt auch noch Sophie.

Außerdem ist heute Heiligabend, wünscht man da nicht ‚Frohe Weihnachten’? Davon hatte ich heute noch kein Wort gehört, nur diese eigenartigen Beileids- und Mitleidsbekundungen.

Ich gehe in die Sattelkammer und treffe dort Toni an. Vielleicht weiß sie ja, warum alle so seltsam zu mir sind. Ich klappe den Mund auf, um etwas zu sagen, doch zu kommt mir zuvor.

„Alex, ich schwöre, ich wusste nichts davon“, behauptet sie. „Sonst hätte ich eingegriffen. Ich war genauso überrascht wie du gestern.“

Bevor ich sie fragen kann, was sie meint, ist auch sie schon wieder weg. So langsam wurde das hier immer mysteriöser. Jeder bekundet sein Beileid und verschwindet dann sofort wieder.

Außerdem, was sollte denn gestern passiert sein? Ich war im Stall, habe Tornado geputzt und bin ein bisschen mit ihm in der Halle geritten. Danach bin ich wieder nach Hause gefahren, um die Weihnachtsgeschenke fertig einzupacken. Hatte ich irgendetwas Bedeutsames verpasst?

Wie jedes Mal, wenn ich den Stall gehe, nehme ich Tornados Putzbox und sein Halfter. Dann stecke ich zwei Leckerlis in meine Jackentaschen und mache mich auf den Weg zu meiner Reitbeteiligung. Vermutlich zum letzten Mal, denn heute Abend werde ich endlich mein eigenes Pferd bekommen.

Tornado streckt den Kopf über die Boxentür und brummelt mir zu. „Hey, Großer“, rufe ich ihm zu. „Ich bin ja schon unterwegs.“

Dann komme ich an einer Box vorbei, die eine niedrigere Tür hat. Nanu, warum hat Toni denn die Boxentür gekürzt? Haben wir etwa einen kleinen Neuzugang bekommen?

Ich werfe einen Blick über die Boxentür. Das Halfter und die Putzbox fallen zu Boden. Striegel, Hufkratzer, Bürsten verteilen sich über den Boden. Ich bin vollkommen erstarrt.

Ein braunes Shetlandpony mit breiter Blässe blickt mich traurig an, die Ohren hängen schaff herunter. Es wiehert leise.

Mein Alptraum.

Das war kein Alptraum.

Das war gestern.

Das ist der Grund, warum mir alle ihr Beileid ausgesprochen haben. Heute ist nicht Heiligabend, sondern der erste Weihnachtsfeiertag. Ich bekomme heute kein eigenes Pferd, ich habe gestern dieses Pony bekommen.

Ich drehe mich um und fange an zu rennen. Bis ich bei meinem Fahrrad bin, dann springe ich auf den Sattel und trete mit aller Kraft in die Pedale.

Sarah, Kira, Sophie und Toni haben alle gewusst, was gestern geschehen ist. Sie alle wissen, wie sehr es mich getroffen hat. So sehr, dass ich es sogar als Alptraum abgestempelt habe, um mich nicht daran erinnern zu müssen.

Die Tränen rennen mir über das Gesicht. Ich kann kaum noch etwas sehen, doch ich trete weiter volle Kraft in die Pedale.

Weg, einfach nur weg von hier. Weg von Eichenhöhe, weg von den Reitstallmädchen, weg von Toni und vor allem weg von diesem Spielzeugpferd.

Dina kommt mir entgegen. Ich merke es nur daran, dass sie ‚Ey, Alex!’ flucht und Reifen quietschen. Ich drehe mich nicht um, trete weiter in die Pedale. Ich will niemanden sehen, niemanden hören.

Irgendwie gelange ich nach Hause, schmeiße mein Fahrrad in die Garage und renne in mein Zimmer. Die Tür fliegt krachend hinter mir ins Schloss.

Meine Mutter ist schon zu Hause und ruft mir fragend etwas hinterher, dann klopft sie an meine Tür. Ich ignoriere sie, kann ihr nicht mehr ins Gesicht sehen für das, was sie mir angetan hat mit diesem Minipferd.

Ich werfe mich auf mein Bett und ziehe die Decke über den Kopf und halte mir die Ohren zu. Ich will niemanden sehen, niemanden hören, einfach nur allein sein und um meine geplatzten Träume trauern.  

Kapitel 7: Ablenkung

 Ein Klopfen dringt zu mir durch. Erschrocken stelle ich fest, dass ich eingeschlafen sein muss. Ich ziehe die Decke zurück.

„Alex, bitte“, fleht mich meine beste Freundin durch die Tür an. „Komm schon, mach auf. Lass mich bitte rein, Alex.“

Ich will sie wegschicken, doch stattdessen bewegen sich meine Beine wie von selbst aus dem Bett und gehen zur Tür. Ich kann meine Hand nicht aufhalten, als sie den Schlüssel greift und umdreht.

Vor meiner Tür steht Dina, die Haare fallen ihr wüst ins Gesicht, dunkle Augenringe zeugen von ihrem schlechten Schlaf. Bevor ich etwas sagen dann, meint sie: „Verdammt, Alex, du siehst richtig scheiße aus.“

Ich bin vermutlich ein blondes Abbild ihres eigenen Zustandes. Oder noch schlimmer.

Sie zieht mich in eine Umarmung, schiebt mich zurück in mein Zimmer und schließt ab. „Ich kann es immer noch nicht fassen, was deine Eltern dir ausgerechnet zu Weihnachten angetan haben“, platzt sie hervor. „Die haben doch nicht mehr alle Latten am Zaun!“

„Hmm.“ Zu mehr bin ich nicht in der Lage, doch Dina nimmt mir das Reden ab.

„Ich hab versucht, eine Nacht darüber zu schlafen in der Hoffnung, alles wird schon wieder werden. Aber jetzt, wo ich wieder wach bin, muss ich feststellen, dass das nicht geht“, erklärt sie mir überzeugt.

„Jeder weiß, dass du das REITEN liebst. Wie kommen die auf die bescheuerte Idee, dir ein Pony zu schenken, das gerade mal eine Puppe reiten könnte!?“

„Hmm.“

„Was machen wir jetzt?“, fragt Dina, die meinen Kommentar so einfach hinnimmt. „Hast du mit deinen Eltern gesprochen? Bekommst du Tornado zurück? Können sie das Pony nicht doch zurückgeben? Oder umtauschen?“

„Nein.“

„Nein, was? Nein, nicht gesprochen? Nein, kein Tornado? Nein, das Pony...“

„Nein, alles“, entgegne ich niedergeschlagen. „Was soll das bringen? Ich muss nicht mit ihnen reden, ich weiß auch so, dass Tornado weg ist und zwei Pferde können wir uns nicht leisten, selbst wenn das eine nur ein nutzloser Grasfresser ist. Ich bin pferdelos.“

„Ach scheiße, Alex.“ Meine Freundin wischt sich die Tränen weg, die plötzlich über ihre Wangen laufen. „Was willst du jetzt machen? Mit dem Pony, meine ich.“

„Nichts“, entgegne ich kalt. „Ich besitze kein Pony. Geschenke kann man ablehnen. Wenn ich es einfach ignoriere, dann werden meine Eltern schon etwas unternehmen und es wieder verkaufen.“

„Und Eichenhöhe?“, hakt Dina nach und plötzlich weiß ich nicht, wie ich die nächste Zeit im Stall überstehen soll.

Nein, ich kann nicht zurück nach Eichenhöhe, dort werde ich nur an das Pony erinnert. Und an Tornado, den ich verloren habe.

„Ich gehe nicht mehr zurück“, sage ich mit voller Überzeugung und richte mich auf. „Eichenhöhe ist für mich gestorben. Ich kann nicht jeden Tag Tornado sehen, wenn er von einer anderen Reiterin umsorgt wird. Ich kann nicht jeden Tag dieses schreckliche braune Pony sehen, welches mein Leben ruiniert hat...“

„Was machst du stattdessen?“

„Ich weiß es nicht“, gebe ich ehrlich zu, kann die Tränen nicht länger zurückhalten. „Ich lenke mich ab, womit weiß ich auch noch nicht. Brauche ich eben ein neues Hobby. Meine Springkarriere kann ich auf jeden Fall abhaken. Das ist aus und vorbei. Ohne Tornado will ich einfach keine Reiterin mehr sein.“

 

*****

 

Ich muss hier raus.

 

Ich kann mich nicht ewig einschließen, das hat mir Dina in den letzten zwei Stunden klar gemacht. Je länger ich nichts mache, desto mehr denke ich an das, was ich verloren habe. Ich bin niemand, der einfach nur nichts tun kann.

Draußen liegt immer noch zu viel Schnee, so dass ich nicht skaten kann. Dieses verdammte Leben nimmt mir aber auch alles auf einmal!

Ich schleiche mich aus meinem Zimmer und auf den Dachboden. Hier sucht mich zumindest niemand mehr. Weder mein Vater, noch meine Mutter. Außerdem liebe ich es, in den Kisten und Schränken zu kramen. Vielleicht finde ich da eine Ablenkung.

Ganz hinten steht ein uralter Schrank. Obwohl ich in diesem Haus mein ganzes Leben verbracht habe und den Dachboden vermutlich besser kenne als sonst jemand, habe ich den Schrank bisher immer vernachlässigt. Zu viel Gerümpel, das davor steht.

Ich wandele meine Wut und Trauer in Tatkraft um und schiebe Kisten, Stühle, Teppiche, einen Tisch und noch mehr Kisten zu Seite. Der Staub sammelt sich auf meinem Pullover, der Schweiß läuft mir über die Stirn. Es ist mir egal.

Dann endlich, die letzte Kiste. Als ich sie anhebe, löst sich der Deckel. Oh, meine Winterstiefel aus Grundschulzeiten. Ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, warum meine Eltern die hässlichen Dinger aufgehoben haben.

Aber jetzt ist der Schrank frei. Ich habe ein Faible für alte Gegenstände und betrachte die Schnitzereien in der Tür. Vielleicht kann ich meine neue Freizeit nutzen, hier oben aufzuräumen. Ich könnte einen Flohmarkt veranstalten und Geld verdienen. Davon könnte ich mir vielleicht ein Pferd kaufen und dann könnte ich zurück auf Eichenhöhe...

Ich sehe das Pony vor mir. Hängende Ohren, traurige Augen...

„Nein!“, weise ich mich selbst zurecht. „Hör auf, daran zu denken, Alex! Eichenhöhe ist gestorben, du machst jetzt keinen Rückzieher!“

Ich ziehe die Türen des Schrankes auf. Das Hochzeitskleid meiner Mutter strahlt mir unter einer staubigen, milchigweißen Hülle entgegen. Ich kenne es nur von Fotos, doch es interessiert mich nicht.

Auf einem Regalboden stehen ein paar Taschen, die ich neugierig öffne. Wer weiß, was meine Eltern da noch aufgehoben und vermutlich vergessen haben.

Und plötzlich halte ich mehrere Generationen meiner Inline Skates in den Händen. Prüfend drehe ich an einigen Schuhen die Rollen. Bisschen abgefahren, aber die Räder drehen sich noch. Vielleicht könnte ich die ja verkaufen. Das wäre zumindest ein Anfang.

In der nächsten Tasche finde ich meine Schlittschuhe, die mir meine Großeltern letztes Jahr geschenkt haben. Ich bin sie nur ein paar Mal gefahren, denn das Eis lockt mich weniger als die freie Natur.

Aber jetzt, im tiefsten Winter, kann ich sowieso nicht mit den Skates raus. Vielleicht sollte ich mal wieder in die Eishalle fahren, vielleicht können mich die gleitenden Bewegungen ablenken und wenn ich die Augen schließe, stelle ich mir einfach vor, ich fahre durch Neustadt.

Vorsichtig streiche ich über das weiße Kunstleder, fahre den Kufenschoner entlang. Ich gehe Eislaufen. Jetzt. Sofort. Vielleicht kann ich auf dem Eis mir auch klar werden, was ich jetzt tun soll.

Eichenhöhe fehlt mir jetzt schon. Der Anblick, der Geruch von Pferd, Heu und Leder, das Schnauben der Pferde...

Aber ich kann nicht zurück nach Eichenhöhe. Ich habe mein zweites Zuhause verloren. Und ich habe kein Hobby mehr.

Hastig schließe ich den Schrank, springe mit den Schlittschuhen in der Tasche über das Ge-rümpel und schleiche mich zurück in mein Zimmer.

Ich packe eine Flasche Wasser in die Tasche und schnappe mir meinen MP3-Player. Dann haste ich in den Flur und hoffe, dass mich niemand bemerkt. Ich will jetzt nicht mit meinen Eltern reden. Nie wieder.

Im Vorbeigehen schnappe ich mir ein paar Handschuhe und laufe in die Garage. Jemand hat mein Fahrrad ordentlich an die Seite gestellt, fällt mir auf. Ich befestige den Rucksack auf dem Gepäckträger und schiebe das Fahrrad hinaus.

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie mein Vater hinter der Tür steht und mich beobachtet. Hastig wende ich den Blick ab und springe auf den Sattel.

Nichts wie weg hier, ich will jetzt wirklich nicht mit meinen Eltern sprechen. Ich will mich nicht bequatschen lassen, dem Pony eine Chance zu geben, denn die hat es einfach nicht verdient.

Ich trete in die Pedale, Neustadt rauscht an mir vorbei. Den Weg zur Eishalle kenne ich auswendig, auch wenn ich nicht oft dort war. Für einen Moment zweifle ich, ob mir die Schlittschuhe überhaupt noch passen, schließlich ist ein Jahr vergangen, seit ich zuletzt auf dem Eis stand.

Ach was, meine Schuhe vom letzten Jahr passen auch noch. Warum sollte es denn bei Schlittschuhen anders sein?

 

*****

 

Ich setze mich auf die Tribüne und beobachte die Menschen auf der Eisfläche. Beinahe alle fahren entgegen dem Uhrzeigersinn, als würden sie einem ungeschriebenen Gesetz folgen. Will ich mir das wirklich antun? Zwei Stunden im Kreis herumfahren, um den Kopf frei zu bekommen?

Ich schließe die Augen, sehe mich durch Neustadt skaten. Vorbei an Gärten mit blühenden Blumen, Obstbäumen, durch Alleen, die Vögel zwitschern...

Es ist Winter. Ich kann nicht draußen skaten.

Ich öffne langsam die Augen und ziehe meine Schuhe aus. Dann schlüpfe ich in die Schlittschuhe und bin überrascht, wie gut sie passen.

Ich ziehe die Schnürsenkel straff und binde sie zu einer Schleife. Das Kunstleder schmiegt sich an meine Waden an.

Dann stehe ich auf. Kufen fühlen sich anders an als Rollen. Dünner, wackliger, aber man kann nicht wegrollen. Für einen Augenblick kämpfe ich trotzdem um mein Gleichgewicht.

Ich richte mich auf und ziehe die Handschuhe an. Dann kontrolliere ich, ob der MP3-Player in meiner Jackentasche steckt. Tut er, sehr gut.

Durch die Eishalle schallt ein Schlager, der es überraschenderweise bis nach vorn an die Charts geschafft hat und den scheinbar jeder mitgrölen konnte. Gruselig. Ich werde meine Musik definitiv brauchen, sonst drehe ich hier durch.

Langsam gehe ich in die Hocke, schließe meine Tasche. Dann atme ich tief durch, verdränge meine Gedanken an Eichenhöhe und das Pony. Die Bilder in meinem Kopf lösen sich auf, zerfallen zu Staub.

Ich klettere die Stufen hinab und laufe zum Eingang. Dann ziehe ich die Schoner ab und stelle meinen linken Fuß auf das Eis. War das schon immer so glatt?

Hastig greife ich nach der Bande. Dafür, dass ich skaten kann, stelle ich mich hier wohl grade wie eine echte Anfängerin an. Und dabei konnte ich mal ganz gut Eislaufen.

Ich hangele mich ein paar Meter an der Bande entlang, dann steht mir ein Pärchen im Weg. Umdrehen? Nein, dann laufe ich in einer Stunde immer noch zwei Meter hin und her. Peinlich.

Ich atme tief ein, lasse los und mache einen großen Schritt Richtung Mitte der Eisbahn. Ich gerate ins Straucheln, kann mich aber gleich wieder fangen.

Komm schon, Alex, skaten kannst du auch - das hier ist fast genauso!

Ich schließe die Augen. Das Lied hat gewechselt, nun läuft etwas anderes. Leider nicht wirklich besser. Ich taste nach meinem MP3-Player. Blind schalte ich ihn ein und drücke auf Play.

Einge Sekunden genieße ich einfach nur den Song. „You gotta do it - what you're talking about. I said do it - without any doubt. You gotta do it - if you think it's alright. I said do it - no fuss no fight!“

Der Song motiviert mich, ich bin bereit für das Eis. Ich öffne die Augen und konzentriere mich. Das hier ist nicht viel anders als skaten, ich befinde mich quasi auf vertrautem Gebiet.

Keine Angst, Alex, du kannst das!

Mit einem großen Schritt laufe ich los, immer weiter weg von der Bande. Meine Füße bewegen sich wie von selbst und ich fliege über die Eisbahn. Ich bin überglücklich, dass ich es tatsächlich noch kann.

Ich nehme die Hände hinter den Rücken, gebe Gas. Ich will wissen, wie schnell ich sein kann, fliege im Takt des Songs Runde um Runde über die Fläche.

Ein paar Eisläufer kommen mir entgegen, ich weiche slalommäßig aus. Ich bin wieder da, kann spüren, dass ich wieder am Leben bin. Dann versuche ich, in den Kurven die Füße über Kreuz zu setzen, um noch schneller zu sein.

Und prompt liege ich bauchwärts auf dem Eis. Hastig überprüfe ich meinen Körper. Zehnen wackeln, Finger auch, Kopf nicht angeschlagen.

Ich rappele mich auf und klopfe mir das Eis von der Jeans. Bevor die Angst mich einholen kann, fahre ich schon wieder los und versuche erneut, bei meinem Höchsttempo überzusetzen. Diesmal gelingt es mir ohne Sturz.

So lege ich einige Runden zurück, blende alles aus, konzentriere mich auf den Song. Hin und wieder muss ich jemand ausweichen.

Ich fühle mich, als würde ich genau hier hingehören. Die Gedanken an Eichenhöhe und das Pony sind vergessen, genauso wie die Gedanken an meine Familie, an Dina...

Erschöpft lasse ich mich gegen die Bande fahren. Bremsen habe ich auf Schlittschuhen nie geübt, aber dafür muss man eine Kufe quer stellen. Zumindest habe ich das mal im Internet gesehen.

„Do it!“, erklingt in meinem Ohr. Okay, gut. Wenn die das sagen, dann versuche ich das jetzt wirklich, das mit dem Bremsen. Tu es.

Ich fahre wieder an, bleibe aber in einem gemütlicheren Tempo. Dann stelle ich die rechte Kufe quer und liege wieder auf dem Eis. Mit so einem harten Abbremsen und einem derart kurzen Bremsweg habe ich nun wirklich nicht gerechnet.

Wieder kontrolliere ich meinen Körper. Ich scheine unverletzt zu sein, allerdings drängt sich der Gedanke auf, dass ich beim nächsten Mal besser meine Schützer anziehen sollte...

Blödsinn, Alex! Hast du schon mal eine Eisläuferin mit Schützern gesehen? Nein. Siehst du, also fängst du auch nicht damit an.

Ich stehe auf und laufe wieder an. Dann übe ich eben jetzt Bremsen und Fallen. Stundenlang nur gegen den Uhrzeigersinn im Kreis zu fahren wird mir auf Dauer sowieso zu langweilig.

Gerade habe ich das Gefühl, dass ich endlich geschmeidig, aber effektiv Abbremsen kann, da ist meine Zeit auf dem Eis um. Ich lasse mich zum Ausgang der Eisbahn gleiten und habe gleich darauf wieder festen Boden unter den Füßen.

Im Vorbeigehen nehme ich meine Kufenschoner von der Bande und schiebe sie über die Kufen. Wie ein Storch im Salat schreite ich zur Treppe und klettere zu meiner Tasche. Meine Füße wollen wieder auf das Eis, scheinen das normale Laufen nicht mehr zu kennen.

Dann setze ich mich neben meine Tasche und ziehe die Schlittschuhe aus. Meine Fußsohlen schmerzen und ich zappele mit den Füßen, um sie zu lockern.

Dabei fasse ich den Entschluss, dass das hier mein neues Hobby wird, ich werde Eisläuferin und werde meine Tricks mit den Skates auf dem Eis erlernen. Vielleicht schlummert in mir ja eine Eiskunstläuferin und keine Springreiterin.

Zum ersten Mal seit Tagen fühle ich mich wieder frei, der Gedanke an das Pony ist so klein, dass ich ihn regelrecht übersehe.  

Kapitel 8: Neuanfang

Am nächsten Tag stehe ich wieder auf dem Eis. Und an dem Tag danach auch. Sobald ich aus der Eishalle gehe, sehne ich mich schon wieder nach ihr. Ich kann den nächsten Tag kaum erwarten, verdränge Eichenhöhe jeden Tag ein bisschen mehr.

Im Takt der Musik aus meinen Kopfhörern fliege ich über die Bahn, das Kreuzen der Schritte gelingt mir inzwischen ohne Stürze. Bremsen kann ich nun auch schon unfallfrei.

Ich fahre an die Bande und atme tief durch. Ich lasse den Blick über die anderen Eisläufer schweifen. Viele sind es heute nicht.

Ein kleines Mädchen fliegt über das Eis, dreht sich und springt. Sie landet, macht ein paar Schritte und nimmt die Arme nah an den Körper, während sie eine Pirouette dreht. Ich kann nicht anders, als sie zu beneiden.

Ich will das auch können, aber ich habe nicht einmal den Hauch einer Ahnung, wie ich das schaffen soll. Geld für einen Trainer hab ich auf jeden Fall nicht. Vermutlich könnte ich nicht mal die Mitgliedschaft im Verein bezahlen.

Mit einem Mal ist die Musik aus und einer dieser schrecklichen Schlager, die in der Halle häufig gespielt werden, dringt in mein Ohr. Ich ziehe die Kopfhörer aus den Ohren und bereue es sofort. Der Schlager ist jetzt noch besser zu hören.

Ich schüttele mich, als ich den MP3-Player in die Tasche stecke. Warum muss ausgerechnet jetzt der Akku leer werden?

Genervt drücke ich die Hände an meine Ohren, versuche den Schall abzudämpfen. Mit mäßigem Erfolg. Ich bekomme allmählich Kopfschmerzen und daran ist nur dieser nervige Schlager schuld!

Kurz bevor ich es nicht mehr aushalten kann, ist das Lied vorbei und ein Seufzen entrinnt mir. Bitte, lieber Herr über die Anlage, spiel doch was Ordentliches!

„What if I would break away, not tomorrow but today - and leave everything, don't take anything. I'd be gone and I wouldn't tell anyone“, klingt es aus den Lautsprechern und ich möchte am liebsten einen Salto machen vor Freude über den Song von The BossHoss - wenn ich das denn könnte.

Stattdessen stoße ich mich von der Bande ab und tauche in den Song ein. Als ob mich eine unsichtbare Macht leiten würde, tanze ich über das Eis. Drehen, enge Kurven und Kreise fahren, anhalten, weiterfahren. All das, was ich schon immer mal können wollte, probiere ich aus.

Plötzlich scheint alles so leicht zu sein, als ob das Eis mein natürliches Element sei. Mein Körper macht sich selbstständig, kann Dinge, die ich ihm nie zugetraut hätte.

Meine Gedanken gehen ihre eigenen Wege. Was wäre, wenn ich plötzlich verschwinden würde? Kein Eichenhöhe mehr, kein Neustadt mehr. Irgendwo völlig neu beginnen, neue Chancen bekommen. Erfolg haben, Anerkennung bekommen.

Habe ich all das nicht schon, seit ich Eichenhöhe verlassen habe? Das Eis gibt mir einen neuen Weg vor. Einen Weg, der vielleicht bei größerem Erfolg enden wird, als ich mit Tornado je gehabt hätte.

Meine Eltern, die nie verstanden haben, was ich an Pferden so sehr geliebt habe, würden mich mehr unterstützen. Vielleicht könnte ich dann auch in ein Eiskunstlauftraining gehen, das sie mir bezahlen, irgendwann Wettbewerbe laufen und gewinnen.

Ich habe hier einen neuen Anfang gefunden. Ich brauche keinen Reitstall Eichenhöhe mehr, kein kleines Spielzeugpony. Und ich brauche kein Mitleid von der Stallclique.

„A new way. Maybe I should. I wish I would.“ Der Song verklingt, wenige Sekunden lang herrscht Ruhe auf der Eisbahn, man hört nur das Kratzen der Kufen.

Ich halte inne, ramme die Zacken meiner linken Kufe ins Eis und schließe die Augen. Jemand fährt an mir vorbei, ich kann den Windhauch deutlich spüren. Es ist mir egal. Ich genieße einfach nur die Stille.

„Kannst du mir mal erklären, was genau das hier soll?“, schimpft irgendjemand neben mir, dann wieder kratzende Kufen.

Keine Ahnung, was für ein Problem da jemand hat. Ich werde schon nicht im Weg stehen, außerdem kann man ja mühelos um mich herum fahren.

„Ey, ich red hier grade mir dir!“ Die Stimme ist jetzt auf der anderen Seite. Sag ich ja, man kann problemlos um mich herum fahren.

Jemand tippt mich an und ich zucke so heftig zusammen, dass ich prompt auf dem Eis liege. Verwirrt reiße ich die Augen auf. Über mir steht Dina mit funkelnden Augen und verschränkten Armen. Das sieht nach Ärger aus...

Moment, Dina!? Was macht die denn hier?

„Alex, was genau macht du hier?“, donnert sie mir entgegen und beugt sich über mich, so dass ich erst einmal keine Chance habe, aufzustehen.

Ich runzele die Stirn. „Eislaufen?“, antworte ich verwirrt und versuche, einen Witz zu machen. „Was macht man sonst so auf einer Eisbahn? Zum Schwimmen gehen ist das Wasser hier zu kalt.“

Dina fährt einen Meter zurück, ich rappele mich auf. Ihre Augen glitzern immer noch vor Ärger und Wut. „Und warum bist du zum Eislaufen gefahren?“

Ich verstehe ihr Problem absolut gar nicht. Seit wann muss ich sie fragen, wie ich meine Freizeit plane? Das ist ja nun wirklich meine Sache.

„Weil es Spaß macht“, erkläre ich ihr kurz und knapp und nehme Anlauf. Dann spule ich all das ab, was ich mir in den letzten Tagen angeeignet habe: Über Kreuz laufen, rückwärts fahren, drehen, auf einem Bein fahren. Ich ende mit einem rasanten Stopp genau vor ihr, das Eis spritzt von meinen Kufen weg.

„Ah ja“, kommentiert Dina gelangweilt. „Was hast du mit meiner Alex gemacht?“

„Bitte was?“, entfährt es mir. Ich verstehe die Welt nicht mehr. Wer ist dieses Mädchen, das meiner besten Freundin so sehr gleicht?

„Alex, seit dem ersten Weihnachtsfeiertag hab ich nichts mehr von dir gehört. Das ist schon wieder zwei Tage her. Da mache ich mir zwangsläufig Sorgen“, erklärt sie und zieht eine Augenbraue hoch. „Auf Eichenhöhe weiß keiner, wo du bist. Deine Eltern wissen nur, dass du ständig mit einer Tasche auf dem Fahrrad wegfährst. Was soll das?“

Ich seufze. Habe ich sie wirklich zwei Tage lang nicht gesehen? Keine SMS, kein Anruf? Seit wann ist die Zeit so schnell unterwegs?

„Dina, ich hab dir doch gesagt, ich komme nicht auf Eichenhöhe zurück“, beginne ich. „Nie wieder. Der Reitstall ist für mich gestorben, ich kann da nicht hin.“

„Und offensichtlich vermisst du ja auch mich nicht“, kontert sie und lacht auf. „Boah, Alex, das hier ist doch nicht dein Ernst, oder? Du und Eiskunstlaufen? Du im kurzen Glitzerkleidchen? Wer zum Teufel bist du? Meine Alex macht so etwas nicht!“

"Warum sollte ich mich nicht für das Eiskunstlaufen interessieren?", frage ich und bin sichtlich enttäuscht von meiner besten Freundin. „Warum denn nicht? Draußen skaten geht ja wohl schlecht im Winter.“

„Nein, aber beinahe eine Stunde Fahrrad fahren durch den Schnee – das geht schon. Ich bin dir gefolgt“, sagt Dina ernst. „Schon klar, dass du da keine Zeit mehr hast für deine beste Freundin.“

Für einen Moment starren wir uns beide einfach nur an. Waren wir je zuvor auf so verschiedenen Wellenlinien, dass wir uns sehr anfeindeten?

„Alex.“ Dinas Stimme wird weicher. Sie findet unsere Differenzen wohl auch nicht so gut. „Ich kann verstehen, wie du dich fühlst wegen Weihnachten. Und ich bin immer für dich da, das weißt du doch. Aber Eislaufen? Du und Glitzerkleidchen - das passt doch überhaupt nicht.“

Sie scheint noch mehr sagen zu wollen, deshalb bin ich einfach nur still. Ich höre die anderen Eisläufer erzählen, dahinter plätschert irgendeine Ballade mit Klavierbegleitung.

Ich versuche, mich in einem Kürkleid vorzustellen, wie ich über das Eis schwebe und Pirouetten drehe. Im Hintergrund läuft klassische Musik. Meine Haare sind zu einem Dutt aufgesteckt, Strumpfhosen an den Beinen...

Das bin nicht ich! Dina hat Recht.

Sie zieht die Schultern hoch und lässt sie wieder fallen. „Du fehlst mir. Und du fehlst auf Eichenhöhe“, fährt sie fort. „Letzteres verstehe ich. Ich würde an deine Stelle auch nicht jeden Tag das Pony sehen, dass mir die Reitbeteiligung genommen hat. Aber ich kann dir versichern, Lynn geht es einigermaßen gut. Melanie aus dem Anfängerkurs kümmert sich um sie.“

Irgendwie erleichtert mich diese Nachricht. Tief in mir bin ich froh, dass das Pony nicht leiden muss. Für diese Situation kann es selbst ja nichts, aber dennoch kann ich ihm nicht in die Augen sehen. Diese brauen, todtraurigen Augen...

Dina scheint direkt in meine Seele zu blicken. Wissend nickt sie leicht. Dann greift sie nach meiner Hand. „Komm her“, sagt sie versöhnlich und zieht mich in eine Umarmung.

„Wir gegen den Rest der Welt“, murmele ich und genieße es, eine beste Freundin zu haben. Sie versteht mich, wir haben unsere Wellenlänge zurück.

Dann lässt sie mich wieder los. „So, und wo wir schon mal hier sind, können wir noch eine Runde laufen“, beschließt sie kurzerhand. „Aber gemütlich, ich stehe nicht mal halb so sicher wie du auf diesen Dingern.“

Ich lache und nehme ihre Hand. „Los, rechtes Bein, linkes Bein“, gebe ich den Takt vor und ziehe sie über die Eisfläche. Dinas Rufe sind ein Zwischending aus Angst- und Freudenschrei und bringen mich zum Lachen.

Irgendwann fahre ich schließlich an die Bande. „Das sollten wir öfter machen!“, ruft Dina und strahlt. „Aber vielleicht nicht unbedingt immer Eislaufen.“

„Sondern?“ Vielleicht hat sie ja schon eine Idee, von der ich nichts weiß. Hat sie wohl auch, so wie sie grinst. „Bowling“, schlägt sie vor.

„Hä?“

„Kugel mit drei Löchern, 10 Kegel, lange Bahn, ...?“, hilft sie mir auf die Sprünge und ich unterbreche sie mit einer Handbewegung.

„Ich weiß, wie Bowling geht“, entgegne ich rasch. „Aber wo willst du denn zum Bowling hin? Neustadt hat keine Bowlingbahn.“

„Falsch.“ Ich schaue sie verwirrt an. Wo soll die denn sein? Ich kenne meine Heimat in- und auswendig. Dina lacht und mein Stirnrunzeln wird tiefer.

„Morgen öffnet das Bowlingcenter Neustadt“, bringt sie mich auf den aktuellen Stand. „Da hat doch letztes Jahr jemand die stillgelegte Diskothek gekauft. Der hat dort saniert und jetzt ein Bowlingcenter mit Gaststätte und Club eröffnet. Bowlen, Essen, Feiern unter einem Dach quasi.“

Okay, feiern ist jetzt vielleicht nicht unbedingt meins, aber der Rest klingt gut. Aber es kommt wohl noch besser, wenn ich Dinas Aufregung richtig deute.

„Und weißt du, wer da jetzt jobbt?“, fragt sie mich. Ich zucke mit den Schultern. „Ich!“, ruft sie begeistert. „Morgen fange ich dort an als Kellnerin und Betreuerin der Bowlingbahnen.“

„Wow, cool. Ich wusste gar nicht, dass du nach einem Job gesucht hast“, gebe ich zu. Seit wann bin ich so schlecht über meine beste Freundin informiert?

„Ach, war eigentlich spontan, diese Idee. Mein Taschengeld ist knapp, Herr Schramm hat Aushilfen gesucht und da habe ich mich eben beworben. Und ich habe ohne Vorstellungsgespräch eine Zusage zum Probearbeiten bekommen“, erklärt sie mir.

„Am Wochenende insgesamt sechs Stunden und in den Ferien täglich drei Stunden arbeiten für einen guten Lohn und – das ist echt das Beste an dem ganzen Job – ich kann kostenlos bowlen, wenn ich gerade nichts zu tun habe und für alle Gigs, die dort stattfinden, bekomme ich zwei Freikarten.“

Ich bin beeindruckt. Allerdings muss ich zugeben, dass mich Freikarten für Gigs jetzt nicht unbedingt reizen. The BossHoss würde in so einem kleinen Club niemals spielen und andere Künstler interessierten mich einfach nicht.

„Also, was hältst du davon? Morgen Abend nach meinem Feierabend bowlen? Ich lade noch ein paar Freunde ein, dann macht es mehr Spaß“, schlägt sie vor und ich stimme zu. Sie ist meine beste Freundin und ich wollte meine Zeit mit ihr verbringen.

Und das Eislaufen? Naja, es ist wohl doch besser, wenn es nur ein Hobby für ab und zu wäre. Glitzerkleider passen wirklich nicht zu mir. Ich bin zu sehr der Jeans-Typ.

 

*****

 

„Alexandra, können wir bitte reden?“

Meine Mutter baut sich vor mir auf, mein Vater gibt ihr Rückendeckung. Prima. Eltern, die sich gegen mich verbünden. Herzlichen Glückwunsch, Alex, genau das fehlt noch.

„Was ist?“, bringe ich zähneknirschend heraus. Die ersten Worte seit Weihnachten, die ich mit ihnen wechsele.

„Du gehst neuerdings ständig zum Eislaufen“, fängt meine Mutter an. „Gleichzeitig muss ich von Frau Roseberg erfahren, dass du dich nicht um dein Pferd kümmerst.“

„Das ist nicht mein Pferd“, knurre ich zurück. „Dank euch hab ich ja kein Pferd bekommen, nur ein Kuscheltier. Und das habe ich abgelehnt.“

„Was soll das heißen, du hast es abgelehnt?“ Die Augen meiner Mutter blitzen vor Zorn auf. „Wir haben unser Geld für einen Monat zusammengelegt, um dir endlich ein Pferd zu kaufen, mit dem du uns so lange schon auf die Nerven gehst und jetzt bist du trotzdem nicht zufrieden!“

„Weil ich ein Pferd wollte! Ein Springpferd!“, entgegne ich und spüre, wie meine Stimme immer lauter wird. „Ich wollte Turniere reiten und gewinnen, aber das kann ich nicht mit einem Pferd, bei dem sogar eine Puppe zu groß ist!“

„Alexandra, wie kannst du nur so unfair sein!?“, schmettert mir mein Vater entgegen. „So undankbar für alles, was wir jemals für sich getan haben!“

„Soll ich euch etwa um den Hals fallen, weil ihr mir meine Springkarriere versaut habt? Als Dankeschön, dass mein Leben zerrissen ist und ich nie wieder zurück nach Eichenhöhe kann, ohne immerzu daran denken zu müssen, dass ich kein Pferd mehr habe, sondern ein Kuscheltier?“

Es ist mir egal, dass meine Wut vermutlich noch die komplette Straße lang zu hören ist. Ich kann es nicht fassen, wie dreist meine Eltern von mir verlangen, dass ich mich über dieses Spielzeugpferd freuen soll.

„Nein, aber du sollst Verantwortung zeigen!“, schreit mich meine Mutter an. „Du bist für dieses Pony verantwortlich. Stattdessen gehst du zum Eislaufen. Das geht so nicht!“

„Ach ja?“ Ich ziehe meine Augenbrauen hoch und verschränke die Arme. „Ist euch nicht recht, dass ich versuche, ein neues Hobby zu finden, bei dem man mich nicht so schnell enttäuschen kann, ja?“
„Das ist doch Quatsch!“, widerspricht mir mein Vater. „Aber Eislaufen ist gefährlich.“

„Wollt ihr mir jetzt das nächste Hobby verbieten? Noch ein bisschen mehr von meinem Leben zerstören?“, schmettere ich zurück. „Reicht es euch nicht, dass ich Eichenhöhe verloren habe? Nein, da kommt ihr jetzt mit eurer angeblichen Angst!“

„Ich will einfach nur, dass du vorsichtig bist“, erklärt sie mir, ihre Stimme ist plötzlich ruhig. „Stürze können alles kaputt machen und ich wäre wirklich froh, wenn du aufhören würdest mit dem Eis. Das ist gefährlich. Und mit dem Reiten am besten auch. Das ist genauso gefährlich.“

„Und deshalb hab ich das Pony bekommen, ja?“, fauchte ich sie an. „Weil du ein Schisser bist und nicht verstehst, was mir das Reiten für mich bedeutet. Ich hab es so satt, ständig nur in Watte gepackt zu werden! Ich kann auf mich aufpassen, lass mich endlich in Ruhe mit deiner bescheuerten Angst!“

Meine Mutter schluckt schwer, sieht hilfesuchend zu meinem Vater. Der zuckt nur mit den Schultern, scheint ahnungslos, auf wessen Seite er sich stellen soll.

„Alex, wir verbieten dir nichts“, versucht er sich. „Aber wir haben Angst um dich. Weißt du, deine Tante, die ist mal gestützt. Zwei gebrochene Arme, das ...“

„... ist garantiert schon längst wieder verheilt!“, beende ich seinen Satz. „Danke für die Warnung, so etwas passiert. Habt ihr echt geglaubt, dass ich jemals darauf verzichten werde, den Spaß im Leben zu finden, nur weil man sich dabei verletzen könnte?“

Ich stehe auf und marschiere aus dem Wohnzimmer. Das muss ich mir nicht länger anhören. Dabei habe ich mit dem Eislaufen innerlich schon längst wieder abgeschlossen.

In meinem Zimmer drehe ich die Musik laut auf, das älteste Album der Cowboys liegt noch im Radio. Mein Kopf singt den Song mit, während ich die Tür zu schließe. „Don't, don't, don't - don't you ever mess with BossHoss? Don't, don't, don't - don't you ever cross our path?“

Wer braucht schon Eislaufen? Morgen ist schließlich Bowlingabend - und da ist es viel wärmer als ein einer Eishalle. Dann werde ich eben die beste Bowlingspielerin, die man jemals in Neustadt gesehen hat.

Ich donnere meine Schlittschuhe ganz nach hinten in den Schrank und hake innerlich das Thema endgültig ab. Kein Eichenhöhe, keine Eishalle.

Ich fange mit der Suche nach meinem neuen Hobby am besten noch einmal ganz von vorn an – und diesmal mit Dina. Denn auf meine Freundin will ich in Zukunft nicht mehr verzichten. Sie ist die anscheinend einzige Person, die mich versteht. „I don't waste no time 'couse it's gonna be fine. “

Songliste

Danke an Hoss Power & Alex Diehl, dass ich die Songzitate in meinem Buch verwenden darf :)

Die Liste ist noch nicht fertig, wird nach und nach ergänzt (deshalb fehlt auch noch der Song von Alex Diehl)

 

 

Kapitel 1:

 

"Don't gimme that"

Interpret: The BossHoss

Album: Liberty of Action

Jahr: 2011

Written by Charles Bobbitt & Hoss Power

 

"Live it up"

Interpret: The BossHoss

Album: Liberty of Action

Jahr: 2011

Written by Hoss Power

 

 

Kapitel 2:

 

"Bullpower"

Interpret: The BossHoss

Album: Flames of Fame

Jahr: 2013

Written by Hoss Power

 

 

Kapitel 3:

 

"Hayday"

Interpret: The BossHoss

Album: Liberty of Action

Jahr: 2011

Written by Hoss Power

 

 

Kapitel 7:

 

"Do it"

Interpret: The BossHoss

Album: Flames of Fame

Jahr: 2013

Written by Hoss Power

 

 

Kapitel 8:

 

"What if"

Interpret: The BossHoss

Album: Flames of Fame

Jahr: 2013

Written by Hoss Power

 

"Yee Haw"

Interpet: The BossHoss

Album: Internashville Urban Hymnes

Jahr: 2005

Written by Hoss Power

 

Impressum

Texte: Maria Unbehaun alias Mia Monocerus
Tag der Veröffentlichung: 24.07.2016

Alle Rechte vorbehalten

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