Cover

Wüstensand - Verrat der Wüste

Wüstensand

 

Silaeta Eine Insel im Nirgendwo...

Eine Wüste mit einem sonderbaren Klima...

Ein Königreich mit Menschen aus aller Welt...

Eine Insel, die Schiffbrüchige rettet...

Eine Welt der scheinbaren Gerechtigkeit...

 

*****

 

Nach dem Mord an ihrem Vater will die junge Aruna diesen um jeden Preis rächen. Doch Waffen und Pferde sind für Frauen verboten und statt den Mörder zu finden, wird sie mit Aussicht auf Todesstrafe vor den König geführt. Was Aruna jedoch nicht weiß: Hinter dem Mord an ihrem Vater hängt eine weitaus verzwicktere Geschichte, wodurch das gesamte Königreich in großer Gefahr schwebt...

 

Teil 1

 

 

 

 erschienen: Oktober 2015

1

„Geh, Odin! Lauf, mein Freund!“, rief Aruna. „Du bist frei.“ Der Rapphengst schnaubte und warf den Kopf hoch.

Sie musste es tun. Dies war ihre letzte Chance, auf Rachefeldzug gehen zu können. Das Verbrechen hatte zu viele Wunden auf ihrer Seele hinterlassen.

Ein Jahr war bereits vergangen und endlich hatte sie den Mut gefasst, alles beenden zu wollen. Die Zeit ihres neuen Lebens war gekommen.

„Lauf!“, rief sie wieder und ließ ihre flache Hand auf die kräftige Hinterhand des Pferdes klatschen. Odin wieherte und schüttelte seinen edlen Kopf, so dass seine lange, dicht gewellte Mähne herumwirbelte. Er verstand nicht, warum er sich nun auch von dem Mädchen trennen sollte, nachdem er vor einem Jahr seinen Herrn verloren hatte.

Der Hengst stieg und Aruna wich zurück, um nicht von den kräftigen Hufen getroffen zu werden. Ein klagendes Wiehern, ein trauriges Schnauben und dann machte der Hengst kehrt und galoppierte davon.

Aruna sah ihm mit Tränen in den Augen nach. „Auf Wiedersehen, Odin…“, flüsterte sie und wischte eine Träne aus ihrem Gesicht. „Ich werde dafür sorgen, dass der Mörder deines Herrn die gerechte Strafe erhält. Das verspreche ich dir, mein Freund.“

Odins Herr hieß Philitis und war ihr Vater. Er hatte der Königsfamilie in der königlichen Leibgarde, dem Orden der Asfaloth, gedient. Die Asfaloth genossen den Ruf, die besten Krieger im Königreich Silaeta zu sein. Der König selbst wählte sie nur mit größter Sorgfalt aus. Ein Asfaloth werden zu dürfen war für viele der Männer in Silaeta das Größte, was ihnen passieren konnte.

Philitis war einer der besten Asfaloth gewesen und bekam nach wenigen Dienstjahren bereits das Amt des ersten Leibwächters der Gattin des Königs, Sylvia von Silaeta, zugesprochen. Neben dem ersten Leibwächter des Königs begleitete er die höchste Position, die ein Asfaloth überhaupt erreichen konnte.

An eine Mutter konnte sich Aruna nicht erinnern. Ihr ganzes Leben hatte sie auf dem Gutshof ihres Vaters verbracht und wurde von dessen Bediensteten versorgt und erzogen, während er im Dienst war. Sie erinnerte sich, dass er mehr als Leibwächter im Einsatz war, statt als Vater auf dem Gutshof, doch dies hatte das Mädchen nie gestört.

In den wenigen Wochen, die Philitis im Jahr auf dem Gutshof verbracht hatte, hatte er Aruna alles beigebracht, was sie heute konnte. Er hatte ihr die Kunst des Reitens gelehrt und ihr schließlich Odins Sohn, einen pechschwarzen Rappen namens Orlando, geschenkt. Sie hatte eine so enge Bindung zu dem Pferd, dass die Bediensteten ihres Vaters munkelten, sie könne mit dem Pferd sprechen und dessen Gedanken lesen.

Philitis war es auch, der ihr den Umgang mit dem Schwert lehrte und ihr versprach, dass sie sein Schwert erben würde, wenn er starb. Aruna hatte das Kämpfen zunächst gefallen, doch ihr Vater hatte stets betont, dass ein Kampf kein Vergnügen war und es nichts Schrecklicheres gab, als einen Menschen durch sein eigenes Schwert sterben zu sehen.

Im gleichen Atemzug erklärte er ihr auch, dass es manchmal unmöglich war, jemanden zu verschonen, ohne selbst das Leben zu verlieren.

Doch in Silaeta gab es ein Gesetz, welches Frauen sowohl das Reiten als auch das Tragen von Waffen und den Kampf verbot. Reiten und Kämpfen galten als ein Privileg der Männer und ein Verstoß gegen dieses Gesetz bedeutete den Tod. Nahezu alle Frauen in Silaeta schreckte dies ab und nur selten wurde eine Frau erwischt.

Aruna kannte das Gesetz und wusste, dass Frauen lediglich eine Karre mit einem Ackergaul als Transportmittel hatten, aber das hatte sie nie interessiert. Sie hatte mit den Söhnen der Stallburschen gespielt und eine Mutter, die sie zur Frau erziehen würde, wie es bei Mädchen üblich war, hatte sie nie gehabt. Ihr Umgang mit Männern überwog den Umgang mit Frauen und ihr fehlte es an Weiblichkeit, wie ein paar der weiblichen Bediensteten auf dem Hof stets zu sagen gepflegt hatten.

Sie war wie ein Junge aufgezogen wurden und benahm sich manchmal sogar wie einer. Und obwohl die Dienerinnen ihr immer Kleider genäht hatten, hatte sie enge, glatt-lederne Reithosen, hohe Stiefel aus Wildleder und ein Leinenhemd getragen. Ihr langes, leicht gewelltes, rotblondes Haar, welches in der Sonne golden schimmerte, band sie zu einem Zopf. Offenes Haar störte sie bei vielen Dingen, auch wenn es noch so schön war.

Odin war in einer Staubwolke verschwunden. Sie legte eine Hand auf den Hals Orlandos und strich ihm über die Mähne. Er war ein wunderschönes Pferd, genau wie sein Vater. Blauschwarz schimmernd stand er im Sonnenlicht, sein Fell glatt wie Seide. Er hatte einen kräftigen Körperbau und war gut trainiert durch die vielen langen Ausritte, die Aruna mit ihm unternahm.

Er war ein Nachfahre des Lieblingshengstes von König Asfalothos, dem Gründer des Ordens der Asfaloth. Der König hatte seine Pferde geliebt und einen solchen schwarzen Hengst nur den Besten seiner Leibgarde gegeben. Sie waren ein Zeichen für ihre Treue und sein Vertrauen.

Leider war nur ein Teil der Zuchtlinie erhalten geblieben. Als Odysseus, Odins Vater, als kränkliches, schwaches Fohlen im königlichen Stall von Juan, der Hauptstadt von Silaeta, geboren wurde, regierte noch der Vater des jetzigen Königs. Dieser wollte starke Pferde und jede Linie, der ein schwaches Fohlen entsprang, wurde aus seinem Stall verbannt. Er war der Meinung, dass ein starkes Pferd keine schwachen Verwandten haben konnte, denn die Schwäche würde vererbt werden.

Niemand in Juan schenkte dem kleinen Odysseus Hoffnung und seine Linie war verloren. Die Pferde wurden als Ackergaul verkauft und Schulden mit ihnen beglichen, obwohl sie allesamt exzellente Vorfahren hatten, welche einst Könige, Prinzen und Asfaloth durch Kriege trugen und mit ihrem Mut die Feinde bezwangen.

Arunas Großvater kaufte das schwache Fohlen sowie einen anderen Hengst und mehrere Stuten. Schließlich begann er seine kleine Privatzucht und übertrug diese auf seinen Sohn. Doch Philitis war zu beschäftigt, als dass er die Zucht so weiterführen konnte, wie sein Vater es sich erhofft hatte. So kam es, dass nur noch Odin und Orlando übrig waren.

Aruna kannte Orlando schon von Fohlen an. Sie war ungefähr zehn Jahre alt gewesen, als er geboren wurde und sie hatte ihrem Vater bei der komplizierten Geburt zur Seite gestanden. Als die Stute kurz nach seiner Geburt verstarb, übergab Philitis seiner Tochter die Pflege des Fohlens. Es sollte das letzte Fohlen sein, welches auf dem Gutshof das Licht der Welt erblickte.

Das Flaschenkind entwickelte sich rasch zu einem stolzen Junghengst und begann, ihr für ihre Hilfe zu danken, indem er sie beschütze, wenn er Gefahr spürte. Aruna wusste, dass sie sich immer auf den Hengst verlassen konnte und er sie nie allein lassen würde.

Das Mädchen blickte zurück. Hinter ihr loderte das Feuer noch immer, wenn auch in weiter Ferne. Das war es, was von ihrer Heimat, dem Gutshof von Philitis, noch übrig war – ein alles vernichtendes Feuer.

Sie brauchte das Gut nicht. All die Bediensteten waren fort und das letzte Jahr hatte sie mit den beiden Pferden dort allein gelebt, zerfressen von ihrer Trauer über den Tod ihres Vaters. Ein Jahr war es her, dass er im Schlaf erstochen wurde, als er auf dem Gutshof seine freie Zeit genoss.

Aruna wusste tief in ihrem Herzen, dass der Mörder nur neidisch auf Philitis' Posten war. Er war ein zu guter Mensch gewesen, als dass er ein solch grausames Ende verdient hatte. Für Aruna war er einer der verständnisvollsten Menschen gewesen, die sie je gekannt hatte.

Nach seinem Tod hatte sie sein Testament entdeckt, welches sie zur alleinigen Erbin erklärte. Doch nun war der Gutshof nur noch eine Last für sie. Die Erinnerungen daran weckten den Schmerz und niemand sollte je wieder diesen Hof betreten, ohne an Philitis' grausamen Tod zu denken.

Sie wollte wie ein Vagabund leben, frei und ohne Heimat, und dann den Mord an ihrem Vater rächen, sobald sie herausgefunden hatte, wer sein Mörder war. Neider hatte Philitis viele gehabt, doch Aruna fiel nicht einer ein, der auch fähig gewesen wäre, ihn zu ermorden.

Es hatte knapp eine Woche gedauert, bevor man ihn beerdigt hatte. Doch Aruna hatte nur vom Rand zusehen dürfen und ihm damit nur bedingt die letzte Ehre erweisen können. Sie empfand es als ungerecht, schließlich war sie seine letzte lebende Verwandte. Doch sie war eben auch nur eine Frau und ihre Rechte stark beschränkt.

Trotz seines Testaments durfte sie nichts erben. Ein Testament, welches eine Frau als Erben einsetzte, war in Silaeta nichtig. Das war auch mit einer der Gründe gewesen, warum sie fast alles den lodernden Flammen übergeben und Odin die Freiheit geschenkt hatte.

Das Wenige, was sie noch besaß, trug sie bei sich. Orlando hatte Odins Sattel bekommen. Es war ein sehr kostbarer Sattel, dessen Sitzfläche mit blauem Samt, auf dem silberweiße Runen gestickt waren, überzogen war. Das mit Metallbeschlägen verzierte Vorderzeug betonte die Brust des Rapphengstes.

Ebenso trug Orlando nun Odins mit gravierten Metallbeschlägen verzierte Trense mit den wundervollen Lederzügeln - weich und gepflegt und in hervorragender Qualität. Unter dem Sattel lag Odins Decke, ebenso aus besticktem blauen Samt.

Aruna hatte auch die Satteltaschen gerettet, die sie nun mit Lebensmitteln, Wasser und Futter für Orlando gefüllt hatte. Ein Handschuh aus braunem, derbem Leder lag ebenfalls darin. Er war eine persönliche Anfertigung für Aruna gewesen. Philitis hatte ihn ihr vor drei Jahren zum Geburtstag geschenkt.

Sie kannte den Wert des Sattelzeugs. Nur die reichsten Männer Silaetas konnten sich ein solches überhaupt leisten. Abgesehen vom König und dessen Familie waren das nur die Asfaloth, denn der König belohnte seine Leibwächter sehr großzügig.

Das Mädchen sah an sich herunter. „Nein, kein Mädchen“, dachte sie. „Ich bin längst eine Frau geworden.“ Sie trug Philitis' Kleidung: schwarze, glatt-lederne Reithosen, schwarze Lederstiefel, ein weißes mit silbernen und blauen Ornamenten besticktes Hemd sowie einen blauen Mantel mit kurzen Ärmeln, die oben aufgeschlitzt waren.

Ihr Körper hatte sich in den letzten Jahren entwickelt und aus ihr eine Frau gemacht, mit allen äußerlichen Anzeichen. Aruna wusste, dass es nahezu unmöglich war, sich weiterhin so einfach als Mann zu tarnen, wie es früher möglich war. Aus diesem Grund hatte sie Philitis alten Reitmantel aus graubraunem Stoff übergezogen. Die große Kapuze verdeckte ihr herrliches Haar und ihr Gesicht. Außerdem ließ er ihre weiblichen Kurven verschwinden. Ein Reiter in diesen Farben erregte kaum Aufsehen.

Das Wertvollste für Aruna war jedoch das Schwert ihres Vaters, welches an einem braunen, aus derbem Leder gefertigten Gürtel hing, der mit mehreren Dolchen bespickt war. Auf der Schwertklinge waren Muster eingraviert, die man erst auf dem zweiten Blick als Schriftzug erkannte. Es war der Eid der Asfaloth - sie konnte ihn auswendig.

Aruna nahm den Handschuh aus der Satteltasche, zog ihn über und pfiff. Nicht nur Orlando war ihr bester Freund, auch einen jungen Bussard zählte sie dazu. Er lebte wild, aber er mochte sie und kam, wann immer sie ihn rief.

Vor dreieinhalb Jahren hatte sie, auf einem Markt, den Vogel in einem Käfig entdeckt. Manche Menschen in Silaeta verdienten ihr Geld, indem sie auf Märkten gefangene Greifvögel anboten. Aruna jedoch hatte Mitleid mit dem schönen Tier, welches sie so traurig ansah. Als der Händler abgelenkt war, öffnete sie den Käfig. Nur mit viel Glück hatte sie verschwinden können. Nach wenigen Tagen fand der Greifvogel sie wieder und blieb seit diesem Tag in ihrer Nähe - dankbar für seine neu gewonnene Freiheit.

Aruna hatte ihn Altair genannt, denn seinen richtigen Namen, den sich die Vögel untereinander gaben, kannte sie nicht. Altair schien seinen neuen Namen zu mögen.

Sie suchte den Himmel nach dem Bussard ab und pfiff erneut. Dann streckte sie den Arm aus.

Als ihr Vater von ihrer Freundschaft zu dem Greifvogel gehört hatte, ließ er den Handschuh anfertigen, damit der Vogel stets bei ihr landen konnte, wenn er einen Ladeplatz suchte.

Aus der Ferne näherte sich ein dunkler Fleck am Himmel, welcher immer mehr Vogelgestalt annahm, je größer er wurde. Aruna lächelte. Obwohl Altair sie immer wieder anflog, konnte sie sich nicht daran gewöhnen, dass er für immer bei ihr bleiben würde.

„Komm zu mir, Altair!“, rief sie leise und der Vogel setzte zur Landung an. Sie spürte den Wind, den seine Flügel ihr ins Gesicht fächerten und spannte ihren Arm an, als sie das Gewicht des Bussards spürte.

„Hallo, Altair“, murmelte sie. „Wie geht es dir, mein Freund?“ Der Bussard schaute sie mit seinen wachsamen Augen an, als ob er ihre Gedanken bereits erraten hätte.

„Also gut, mein Freund“, sagte Aruna. „Ich werde nun als Vagabund ein neues Leben beginnen. Du bleibst doch bei mir, nicht wahr?“ Altair zwinkerte und sah sie neugierig an, bevor er einen kehligen Laut ausstieß, die Flügel streckte und empor stieg. Aruna sah ihm lächelnd nach.

Dann blickte sie umher und suchte mit ihren grünen Augen die Gegend ab. Keiner war zu sehen, aber trotzdem schob sie sicherheitshalber die Kapuze über ihren Kopf. Ein letzter Blick über die Schulter auf die Flammen. Lange würde das Feuer nicht mehr brennen, denn dafür hatte es nicht genug Nahrung.

„Vorwärts, Orlando!“, sagte sie stolz und der Hengst trat an. „Auf zum Rachefeldzug für Vater, und auf zum Kampf für die Armen!“

 

2

Lucan trat von einem Fuß auf den anderen. Ungeduldig wartete er neben seinen besten Freunden Arion und Roan auf dem großen Platz vor dem Königspalast in Juan. Der Palast der Königsfamilie bildete das Herzstück der mit Abstand ältesten Stadt Silaetas.

Alle Mitglieder der königlichen Leibgarde, die Asfaloth, waren zum Hof gerufen worden und warteten nun ebenso ungeduldig wie Lucan und seine Waffenbrüder auf das Auftreten des Königs. Niemand wusste, warum er eine solche Versammlung einberufen hatte, doch es musste einen besonderen Grund geben, denn so etwas kam bisher nur äußerst selten vor.

Lucan strich seinem Pferd, einem Dunkelfuchs mit vier weißen Socken und einer schmalen Blesse, über die Schulter. Der Hengst verstand diese Aufregung nicht ganz und war verwirrt von der seltsamen Stimmung auf dem Platz.

„Ruhig, Darius“, murmelte der Reiter ihm leise zu und sofort drehte er ein braunes Ohr nach hinten, um der vertrauten Stimme zu lauschen.

„Ich frage mich, welches Anliegen dem König so schwer auf dem Herzen liegt, dass er seine Wächter aus allen Ecken Silaetas zusammengerufen hat“, sagte Arion. „Das ist eigenartig, und mir will nicht ein einziger Grund einfallen...“

Roan zuckte mit den Schultern und Lucan legte die Stirn in Falten. „Genau genommen hat uns Rabanus zusammen-getrommelt“, entgegnete der Asfaloth. „Das hat der König doch noch nie befohlen. Irgendwas ist da faul dran...“

Rabanus war der Berater des Königs und somit die einzige Person, die über den Asfaloth stand und neben dem König und dessen Familie die meiste Macht über das Volk von Silaeta hatte.

„Ich verfüge durchaus über das Wissen, dass der Herr Berater uns hat rufen lassen, aber dies muss nicht zwingend bedeuten, dass es sich nicht um ein königliches Anliegen handelt, welchem nun mal eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden muss“, erklärte Arion in seiner ruhigen Tonlage. „Der Herr Berater ist ebenso dem König untertan wie wir, doch Ihr solltet ihn mehr respektieren, Lucan, denn Rabanus verfügt über einen höheren Rang als Ihr, mein Freund.“

„Er ist ein Schuft! Und nichts weiter als ein Schuft, Arion!“, rief Lucan empört aus. „Er wird Silaeta zerstören, wenn er König wird! Und er wird einen Weg finden, den König zu entfernen und an dessen Stelle zu treten, ich spüre es!“

Arion lächelte und sah sich um. „Das mag sein, mein lieber Lucan, doch seht Euch um: Der gesamte Platz ist bedeckt mit ehrwürdigen Asfaloth, die sich durch ihren Eid allesamt an den König gebunden haben“, sagte er stolz und unterstützte seine Worte mit einer Handbewegung. „Wenn der Herr Berater sich tatsächlich die Krone auf das Haupt setzen möchte, muss er zuerst an uns allen vorbei.“

Lucan erwiderte das Lächeln nicht. „Er findet einen Weg, um uns die Hände zu binden, Arion. Glaubt mir, ich spüre das ganz deutlich!“, knurrte er. „Er wird uns alle abschlachten lassen und den König entmachten, während wir auf dem Friedhof die Grabsteine zählen!“

„Nur die Ruhe, mein Freund“, sagte Arion und klopfte seinem Pferd, einem Fuchs mit breiter Blesse, den Hals. „Rabanus ist allein, wir dagegen sind fünfzig Asfaloth. Wir sind die besten Krieger in ganz Silaeta. Glaubt Ihr wirklich, er hätte auch nur den Hauch einer Chance, solange wir den König mit unserem Leben beschützen?“

Der Vorhang des Tores am Balkon wehte zur Seite und alle hielten den Atem an. Niemand jedoch trat heraus und fragende Blicke flogen über den Platz. Wer auch immer ein Anliegen vorzutragen hatte, heute ließ er sich damit Zeit.

Lucan seufzte. „Der König hat uns immer pünktlich empfangen. Warum lässt er heute so lange auf sich warten?“ Er sah zu Arion und Roan, doch sie zuckten nur mit den Schultern.

Der Vorhang wehte wieder zur Seite und diesmal trat Rabanus auf den Balkon. Die ersten Asfaloth knieten nieder, ihre Pferde am Zügel neben sich. Lucan und seine Freunde taten es ihnen gleich. Es war ein Zeichen des Respekts vor dem Ranghöheren, doch der Asfaloth empfand es nur als Demütigung, sich vor so einer hinterhältigen Person niederknien zu müssen.

„Steht auf, Asfaloth!“, schallte Rabanus' Stimme über den Platz. Alle erhoben sich langsam und blickten aufmerksam zum Berater des Königs. „Unser König ist leider verhindert und kann Euch allen seine Entscheidung nicht persönlich überbringen. Mir selbst fällt es ebenso schwer wie ihm, sie euch zu verkünden, meine Freunde“, fuhr er fort.

Lucan zuckte mit den Augenbrauen. „Freunde? Wir sind alle ganz bestimmt nicht mit ihm befreundet und das müsste er eigentlich wissen. Aber ich wette, er plant etwas Mieses und will sich vorher noch einmal ordentlich bei uns einschmeicheln!“, sagte er leise, jedoch war der Zorn in seiner Stimme nicht zu überhören. Arion zuckte erneut mit den Schultern. „Nur Geduld. Wir werden erfahren, was er zu sagen hat.“

„Nun, ich bedauere, Euch diese Entscheidung mitteilen zu müssen, aber der König hat sich entschlossen, den Orden der Asfaloth aufzulösen, da er mutige Männer für den bevorstehenden Krieg gegen das Nebelland braucht. Die Asfaloth dürfen nach dem Gesetz von Asfalothos nicht an der Front kämpfen, daher hielt der König es für erforderlich, den Orden aufzulösen“, teilte Rabanus mit kalter Stimme vom Balkon aus mit.

Dann tat er, als würde ihm die Auflösung zutiefst traurig stimmen. „Und Ihr, meine Freunde, seid nun einmal die besten Krieger in ganz Silaeta!“

Lucan schnaubte verächtlich. „Wie kann er es wagen, unseren Ordnen, der seit Generationen unverändert besteht, einfach aufzulösen!?“, fauchte er. Urplötzlich brach ein großes Gemurmel vor dem Palast aus, an dem sich fast alle Asfaloth beteiligten. Sie waren empört über Rabanus' Worte.

Nur Roan allein schwieg. Lucan und Arion hatten schon früh gelernt, dass die meisten Situationen für Roan nicht wichtig genug waren, als dass er Worte daran vergeuden würde. Er hatte eine traurige Vergangenheit, welche ihn wortkarg gemacht hatte, doch kaum einer kannte die ganze Geschichte und niemand war so töricht, dem Asfaloth Worte aus dem Mund locken zu wollen.

„Bitte Ruhe!“, rief Rabanus, doch niemanden interessierte es. Gemurmel, verachtende Rufe und Beschimpfungen schmetterten über den Platz.

„Ich bitte um Ruhe!“, schrie er erneut, aber nur wenige der Männer wurden tatsächlich still. „Ich muss noch etwas hinzufügen, damit diese Sätze nicht vollkommen sinnlos sind.“

Überrascht stellte sich das Gemurmel augenblicklich ein, jeder hoffte auf Worte, die seine vorherigen rückgängig machen würden. Aber sie kamen nicht.

„Nun, alle Asfaloth müssen ihre Uniform und ihre Schwerter abgeben. Das Sattelzeug für Eure Pferde dürft Ihr als Andenken behalten“, sagte er sachlich und ohne jede Art von Emotionen. „Alle, die sich weigern, werden verhaftet und zu Tode verurteilt.“

Lucan fauchte. „Habe ich es nicht gleich gesagt, Freunde? Rabanus findet einen Weg, um uns loszuwerden. Und das auch noch schneller, als wir gedacht haben!“, rief er. „Seine Majestät weiß bestimmt nichts von diesem Beschluss, aber Rabanus steht über uns und somit ist dieser Beschluss gültig. Eine Frechheit ist das!“

Hastig setzte er einen Fuß in den Steigbügel seines Pferdes und zog sich in den Sattel. Er nahm die Zügel auf und schob den anderen Fuß in den Steigbügel.

„Meine Freunde, meine Zeit mit Euch war wundervoll, aber ich werde meinen Stand nicht aufgeben. Ich habe geschworen, den König bis an mein Lebensende zu schützen und genau das werde ich tun, ganz egal, was Rabanus beschließt“, sagte er und ließ Darius antreten. „Auf Wiedersehen, Arion. Auf Wiedersehen, Roan. Es war mir eine Ehre, Euch gekannt haben zu dürfen.“

Lucan neigte kurz den Kopf, dann galoppierte er an und jagte durch die Menschenmassen vom Platz. Juans Straßen waren gut befestigt und sein Pferd beschlagen. Allerdings wusste er, dass Flucht die einzige Chance war und er die Stadt verlassen haben musste, bevor Rabanus seine Männer auf ihn hetzen würde. Wenn sie ihn fanden, war alles vorbei.

Plötzlich erklang lautes Hufgeklapper auf der Straße hinter ihm. Sie haben zu schnell bemerkt, dass ich verschwunden bin, schoss es ihm durch den Kopf. Aber ich werde trotzdem schneller sein als sie!

Lucan gab seinem Dunkelfuchs die Zügel hin und trieb ihn noch etwas an. „Los, Darius, hängen wir sie ab!“, feuerte er seinen Hengst an.

Der Dunkelfuchs streckte sich, seine Hufe donnerten über die Straße. Lucan wagte es nicht einmal, nach hinten zu sehen. Er hörte die rhythmisch trommelnden Hufe der anderen Reiter - es mussten zwei oder drei sein - und das war ihm genug Ansporn.

Lucan wusste, dass es kein Entkommen vor dem Tode mehr gab, hatten Rabanus' Männer ihn erst einmal eingeholt. Er war ein wirklich guter Kämpfer, aber gegen drei Krieger gleichzeitig konnte er nicht besonders lange standhalten. Auch ein Überraschungsangriff von seiner Seite aus würde ihm nicht viel helfen können.

Durch eine schmale, kurvenreiche Gasse lenkte er sein Pferd und dann ging der schnelle Ritt immer weiter in Richtung Hauptstadttor. Er hoffte, dass niemand dort sein würde, der ihn aufhalten konnte. Darius spitzte die braunen Ohren und lauschte. „Weiter, weiter!“, feuerte Lucan ihn an. „Wenn du jetzt stehen bleibst, sind wir beide tot!“

Der Hengst schnaubte und schüttelte den Kopf. Lucan gab ihm noch mehr Zügel und lehnte sich weit über den Pferdehals, um Darius' Rücken zu entlasten, damit dieser noch schneller laufen konnte.

Dann kam das Hauptstadttor in Sicht. Er atmete erleichtert auf, denn es war nur spärlich bewacht und geöffnet. Scheinbar hatte die Information, dass Lucan flüchtete, die Wächter noch nicht erreicht.

„Halt, mein Herr!“, rief einer der Wächter. „Wohin des Weges?“ Lucan lächelte nur und nickte, als er vorbei galoppierte. Darius legte an Tempo zu.

„Vielen Dank!“, rief Lucan den Stadttorwächtern zu, bevor er den Wüstensand unter den Hufen seines Pferdes sah.

Außerhalb von Juan und den anderen Städten gab es nur noch die weite Wüste. Bis zur nächsten Stadt würde es noch ein paar Stunden dauern, aber Lucan brannte bereits die Kehle vor Durst.

Auch Darius brauchte dringend Wasser. Er hatte seit Stunden nichts mehr trinken dürfen, da sie auf dem Platz vor dem Palast so lange hatten warten müssen. Es war strengstens untersagt, die Pferde zu tränken, wenn der König jeden Augenblick in Erscheinung treten würde.

Nur war nicht der König, sondern Rabanus erschienen und hatte den Orden der Asfaloth aufgelöst. Jetzt hatte er niemanden mehr, der ihm eine ernsthafte Gefahr war und er konnte mühelos die Krone von Silaeta an sich reißen. Niemand mehr, der zwischen ihm und der Macht über das Königreich stand. Nur noch ein alter König, der schon lange kein Schwert mehr geführt hatte.

„Lucan!“ Er zuckte zusammen, als er die Stimme hinter sich hörte, die seinen Namen rief. Er kannte diese Stimme, aber sie gehörte keinem von Rabanus' Männern, sondern...

„Arion?“, fragte er und parierte Darius durch. Hinter ihm kamen Arion auf seinem Fuchs und Roan auf seinem Blauschimmel galoppiert.

„Lucan!“, rief Arion erleichtert und hielt sein schnaufendes Pferd an. „Ich hatte schon geglaubt, Ihr würdet niemals mehr eine Rast machen, mein Freund.“

Erleichtert seufzte Lucan. „Und ich habe geglaubt, Ihr wäret Rabanus' Männer, die mich verhaften sollen“, erwiderte er lachend. „Meine Freunde! Ich hätte wissen müssen, dass auch Ihr nicht Eure Uniformen abgeben würdet, egal was auch geschehen würde!“

Arion lächelte. „Wir sollten uns zum Fluss begeben, Anatol und ich brauchen kühles Wasser, sonst findet man uns morgen bereits als Mumien.“ Lucan nickte. „Auch Darius und ich sind geschwächt. Und Euch, Roan, ergeht es sicher nicht anders, nicht wahr?“

Roan nickte nur. Wenn Lucan sich recht erinnerte, hatte der Asfaloth heute noch nicht ein einziges Wort gesprochen. Schweigend ritt er neben den anderen her, während sie Kurs auf die nächstgelegene Quelle hielten, die nur noch wenige hundert Meter entfernt lag.

Silaeta war keine ganz gewöhnliche Wüste, wie die Gesetzlosen, die Piraten, zu berichten pflegten. Die Piraten waren die einzigen Menschen, die Silaeta jemals verlassen hatten. Sobald sie das Versprechen, diese Insel geheim zu halten, brachen, würde das Meer ihr Schiff verschlingen – so erzählten es die Bewohner der schwarzen Stadt.

Die Piraten berichteten, dass alle anderen Wüsten der Erde am Tag heiß und staubig und in der Nacht kalt waren. Die große Silaetanische Wüste war zwar warm, jedoch nicht drückend heiß. Auch die Nächte waren mild genug, um unter freiem Himmelszelt schlafen zu können.

Allerdings gab es noch einen großen Unterschied zu den anderen Wüsten der Erde. In den anderen Wüsten regnete es angeblich sehr wenig und wenn es doch einmal regnete, dann dauerte der Regenguss mehrere Tage und Wassermassen überfluteten das gesamte Gebiet.

In der großen Silaetanischen Wüste dagegen regnete es manchmal mehrere Male in der Woche für kurze Zeit und dann wieder monatelang gar nicht, doch zu Überflutungen kam es nur höchst selten. Und in Silaeta gab es mehrere große Flüsse, die das Land feucht hielten, obwohl überall der feine Sand lag.

Als sie an der Quelle ankamen, hielt Lucan Darius an und stieg ab. „Trink, mein Junge“, murmelte er und ließ die Zügel los. Dann füllte er seine Wasserflasche mit dem kühlen Nass und trank sie in einem Zug aus, bevor er sie erneut füllte. Es war töricht, ohne Wasser in der Wüste unterwegs zu sein und Lucan hatte mehr als eine Wasserflasche dabei, die er auffüllte, als sein Durst gestillt war.

3

„Er hat was getan!?“, fragte Sylvia entsetzt. Leonardo senkte den Blick. „Er hat den Orden der Asfaloth aufgelöst und alle, die sich ihm widersetzen, will er verhaften und hängen lassen, Sylvia“, wiederholte er. „Ich kam zu spät, als dass ich ihn hätte aufhalten können.“

„Das ist eine Frechheit!“, rief die Königin. „Eine bodenlose Frechheit! Was bildet sich dieser Kerl denn ein!? Damit ist unser Schutz komplett erloschen!“

Der Prinz nickte langsam. Sylvia war zwar die Königin und Gemahlin des Königs, doch sie war nicht Leonardos leibliche Mutter. Sie hatte ihn lediglich aufgezogen und erzogen. Deshalb sprach er sie auch nie mit Mutter, sondern immer mit ihrem Namen an.

„Dieser Schuft!“, polterte die Königin weiter. „Jetzt ist unser Untergang schon so gut wie besiegelt.“ Leonardo nickte vorsichtig.

„Er hat Vater nicht beraten, sondern ihn verraten. Aber ich kam zu spät, als dass ich ihn hätte aufhalten können. Es tut mir unendlich leid...“, sagte er gedemütigt, als ob es nur seine Schuld wäre, dass die Königsfamilie ihre Leibwächter verloren hatte.

Sylvia schüttelte erbost den Kopf. „Ihr tragt keine Schuld daran, Leonardo“, unterbrach sie ihn. „Die Schuld trägt mein Gatte. Er hätte Rabanus niemals vertrauen dürfen!“

„Habt Ihr ihm denn nicht auch vertraut?“, fragte Leonardo schweren Herzens und ließ sich erschöpft auf einen Stuhl fallen. „Ohne die Asfaloth sind wir nun vollkommen schutzlos...“

Sylvia nickte langsam. „Ich weiß, wer er wirklich ist. Rabanus meine ich“, gestand sie. Der Prinz zuckte zusammen und starrte sie an. „Wer?“

„Ihr kennt ihn auch unter seinem richtigen Namen. Ich hatte schon lange den Verdacht und jetzt habe ich ein paar wenige Beweise gefunden, die meine Theorie bestätigen. Er war einst auch ein Asfaloth“, berichtete sie. „Der einzige Asfaloth, der jemals seinen Eid gebrochen hatte. Er ist Orka.“

Leonardo gefror das Blut in den Adern, als er den Namen hörte. Orka. „Der Mörder von Asfaloth Philitis?“, versicherte er sich. „Der Mörder eures Ersten Leibwächters?“

Sylvia nickte. „Ja, er hat Philitis ermordet. Und dann versteckte er sich eine Weile im Nebelland, änderte sein Aussehen, bevor er als Rabanus schließlich wieder zurückkehrte“, erzählte sie.

„Aber wurde Orka nicht verbannt?“, hakte er nach. „Er wurde von den Asfaloth verstoßen und aus dem Königreich verbannt, nicht wahr?“

„Ja, das wurde er. Aber mein Gatte war blind, hat ihn nicht durchschaut, weil er so völlig anders aussah und sich anders benahm, als er zurückkehrte“, sagte sie und schüttelte den Kopf, so dass das schimmernde Haar um ihren Kopf wirbelte.

„Er schien ein völlig anderer Mensch zu sein, nur sein Hass auf unsere Familie und sein böses Herz erinnern noch an den Orka von damals.“

Leonardo schoss ein Bild von Orka durch den Kopf und er verglich es vor seinem inneren Auge mit einem Bild von Rabanus. „Tatsächlich. Das Einzige, woran man ihn noch erkennt, sind seine schmalen graugrünen Augen“, stellte er fest. „Weiß Vater von Euren Nachforschungen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Er würde mir nicht glauben, denn er schätzt Rabanus' vernünftige, aber – wie ich nun weiß – nur gestellte Seite sehr. Er hat von dessen wahrem Ich nicht die leiseste Ahnung und ist seit Rabanus' Auftauchen immer naiver geworden. Mein armer Gatte!“

Der Prinz sprang auf und trat heftig gegen den Stuhl, auf dem er gerade noch gesessen hatte. Krachend fiel er zur Seite. „Er ist ein Schuft!“, schrie er. „Ein Schuft! Ein Schuft! Ein Schuft!“

„Das ist er tatsächlich, Leonardo. Ein Betrüger und Verräter, den wir nicht stellen können - noch nicht“, erwiderte sie ruhig, stellte den Stuhl wieder auf und bat ihren Stiefsohn, sich wieder zu setzen.

„Genau genommen habe ich Euch nicht wegen Rabanus rufen lassen. Euer Vater, mein Gemahl, plant etwas Großes für Euch und bat mich, Euch die Nachricht davon zu überbringen“, fuhr sie fort, ohne die Betonung zu ändern. Leonardo zog die Augenbrauen hoch. „Etwas Großes?“, wiederholte er verwirrt.

Sylvia nickte. „Euer Vater plant einen großen Ball. Alle wohlhabenden Mädchen sind dazu eingeladen“, erklärte sie. „Ihr hättet schon längst Hochzeit halten müssen, sagt er.“

Leonardo sprang auf. „Heiraten!? Ihr wollt mich verheiraten!?“, rief er entsetzt aus. Sylvia lächelte. „Nein, nicht ich möchte Euch verheiraten, sondern Euer Vater“, widersprach sie. „Er hofft, dass Ihr auf dem Ball Eure zukünftige Gemahlin finden werdet. Das Volk von Silaeta erwartet schon sehnsüchtig seine Prinzessin.“

„Aber ich will nicht heiraten!“, rief der Prinz zornig. Sylvia legte den Kopf schief. „Warum denn nicht, Leonardo?“, fragte sie. „Das Volk wartet auf Eure Verlobung, Ihr würdet endlich mehr als der Erbe von Silaeta anerkannt werden mit einer Frau an Eurer Seite.“

Ich will aber gar kein Erbe sein, dachte er trotzig. Warum erwarten immer alle, dass ich mich darauf freue, eines Tages selbst die Krone zu tragen? Warum lässt mich niemand mein eigenes Leben so leben, wie ich es möchte?

„Aber warum wollt Ihr denn keine Frau an Eurer Seite haben?“, versuchte es Sylvia erneut. Er sah betrübt zu Boden. Mit Sicherheit würde sie ihn nicht verstehen können, ganz gleich, wie er es formulierte.

„Ich werde nur das Mädchen jemals heiraten, welches ich wirklich liebe“, flossen die Worte von seinen Lippen. „Ganz gleich, welchem Stand sie angehört. Und wenn sie eine Bettlerin ist, dann würde ich mich ihrem Stand anpassen und mit ihr ein neues Leben aufbauen, auch wenn das nicht Euer Wunsch ist.“ Dann hob er den Kopf und sah Sylvia selbstbewusst an.

Die Königin rührte sich nicht. Seine Worte schienen sie überrascht zu haben. „Habt Ihr denn schon dieses Mädchen gefunden, mein Prinz?“, hakte sie nach einer Weile des Schweigens nach. „Ist es das? Seid Ihr bereits verliebt und wollt deshalb nicht heiraten?“

Nein, verliebt war er nicht. Er blickte erneut auf den Boden und schüttelte dann den Kopf. „Nein. Nein, das ist es nicht“, sagte er rasch.

„Aber das spielt doch überhaupt keine Rolle! Ich möchte nur einfach keine von diesen reichen, hoffnungslos verwöhnten und eingebildeten Mädchen heiraten. Ich möchte eine Frau, die nicht jammert, weil sie sich hässlich fühlt oder nicht genug Komplimente über ihr Äußeres bekommt, sondern eine Frau, die sich selbst behauptet und ihren eigenen Weg geht. Eine Frau, die sich nicht abschrecken lässt von Banalitäten und die in mir nicht nur den Prinzen sieht und die Macht, sondern den Mann liebt, der ich wirklich bin. Ich möchte eine Frau, bei der ich mich nicht verstellen muss...“

Die Worte prasselten aus seinem Munde, bevor er sich wirklich klar darüber war. Was würde nun seine Stiefmutter dazu sagen? Was würde sein Vater sagen?

„Er wird nicht begeistert sein“, stellte Sylvia nüchtern fest, aber das wusste Leonardo bereits. „Doch ist es Eure Pflicht als Prinz von Silaeta, diesem Ball beizuwohnen.“

„Pflicht, Pflicht, Pflicht! Immer höre ich nur Pflicht!“ Er stand ruckartig auf. „Aber was wäre, wenn ich einfach nicht ... da wäre?“, überlegte er laut und begann im Saal auf und ab zu marschieren. Sylvia stand ebenfalls auf und hielt ihn an der Schulter fest, als er an ihr vorbei stolzierte. „Wollt Ihr Euren Vater entehren, mein Prinz?“

„Entehren? Nein, ich möchte nur nicht einem so sinnlosen Ball beiwohnen“, entgegnete er. „Könnt Ihr den Ball nicht absagen? Oder wenigstens Vater dazu bringen, dass er ihn erst ein paar Monate später stattfinden lässt?“ Es musste doch eine Möglichkeit geben, jetzt nicht heiraten zu müssen. Irgendeine.

„Ich könnte mit ihm reden, doch ich bezweifle, dass er sich umstimmen lässt“, erklärte Sylvia bestimmt. „Es tut mir leid, Leonardo, aber ich kann dir da nicht helfen.“

Er presste die Lippen zusammen und nickte. „Bis später, Sylvia“, sagte er kalt und wandte sich ab. „Persia muss noch bewegt werden.“ Dann verließ er den Saal und eilte zu den Stallungen.

Persia, ein mondheller Schimmelhengst, war eines der besten Pferde in ganz Silaeta. Sein Vater, der König, hatte ihn Leonardo vor sieben Jahren geschenkt. Er war der Sohn der besten königlichen Zuchtstute Kassiopeia.

Leonardo eilte die Stallgasse entlang. Persias Box lag ganz hinten und außer Leonardo oder seinem Vater durfte den Hengst niemand berühren. Sogar der Stallmeister hielt wie die anderen freiwillig größtmöglichen Abstand zu dem Pferd.

Er holte sich ein paar Bürsten aus der Sattelkammer und lief zu Persia. Es war wie ein Ritual für Leonardo, sein Pferd vor jedem Ritt auf Hochglanz zu bringen. Und Persia genoss die Pflege.

Dann holte der Prinz den kostbaren Sattel, eines der Familienerbstücke, aus der Sattelkammer und legte ihn vorsichtig auf den Rücken des Pferdes. Danach nahm er die ebenso kostbare Trense vom Haken und schob dem Schimmel das Gebiss ins Maul.

Der Hengst schnaubte, als Leonardo die Schnallen schloss, und schüttelte den Kopf. Er konnte es ebenso wie sein Reiter kaum erwarten, durch die Wüste zu galoppieren. Leonardo setzte einen Fuß in den Steigbügel und schwang sich in den Sattel.

Persia tänzelte zu Seite und er lächelte. „Auf geht's, mein Freund!“, rief er glücklich und ritt durch ein paar gewundene Straßen zum Stadttor und dann hinaus in die Wüste. Der Hengst wieherte laut, als er den feinen Sand unter den Hufen spürte und galoppierte an.

Warmer Wüstensand flog um die kräftigen Hufe des Schimmels, seine seidige Mähne wehte sanft im Wind.

4

Die warme Mittagssonne schien auf Aruna und Orlando. Die junge Frau hielt schließlich im Schatten eines Felsen an und stieg ab. Dann löste sie die Schnallen des Sattels und der Trense und legte beides neben den Felsen.

Sie zog ihre Kapuze über den Kopf. Der Stoff schützte vor Verbrennungen, denn die Sonne schien sehr aggressiv, auch wenn man das nicht sofort bemerkte.

Aruna setzte sich unter den einzigen Baum, der dort einsam und verlassen stand. Er war seit langer Zeit dürr und tot.

Orlando schnaubte leise. Er hatte kaum geschwitzt und die brennende Sonne machte ihm fast gar nicht zu schaffen. Er war daran gewöhnt und für das Leben in der Silaetanischen Wüste gezüchtet worden.

„Pause, mein Freund?“, fragte sie. Der Hengst nickte. „Dann machen wir hier Rast und ruhen uns ein wenig aus“, beschloss sie und schob den Sattel unter ihren Kopf.

Sie hatte nicht die geringsten Bedenken, wenn sie Orlando frei herumlaufen ließ. Der Hengst hasste es, angebunden zu sein und kam auch ohne Seil stets zu ihr zurück. Im Gegenteil, er würde sie ohne Seil viel besser beschützen können, wenn Gefahr drohte.

Sie öffnete eine der Satteltaschen und fischte etwas getrocknetes Brot und Kekse heraus. Orlando nahm mit seinen Lippen vorsichtig die Brotscheiben und zermalmte sie genüsslich, während sie von einem der Kekse abbiss.

Dann holte sie aus der anderen Satteltasche eine Flasche mit Wasser heraus. Aruna trank ein paar Schlucke und flößte anschließend Orlando etwas von der Flüssigkeit ein.

„Wir müssen heute noch einen Fluss erreichen, damit du mehr trinken kannst, mein Freund“, meinte sie. „Und vielleicht finden wir dann auch endlich wieder eine Oase zum Kraft tanken.“

Sie hatte dummerweise nicht daran gedacht, eine Karte mitzunehmen. Aruna wusste nur, dass mehrere Flüsse das Wüstenland durchkreuzten und an deren Rändern so genannte Oasen langen. Dies waren kleinere oder größere Flecken Erde, an denen es mehr oder weniger fruchtbares Land gab sowie einen Zugang zu Frischwasser. Die kleineren Oasen wurden meist von Bauern genutzt, während die größeren inzwischen schon zu prächtigen Städten ausgebaut worden waren.

Aruna lehnte sich zurück und klopfte mit der flachen Hand auf den Boden. „Leg dich hin, mein Freund, und döse ein wenig.“ Orlando schnaubte und knickte mit den Vorderbeinen ein. Dann ließ er sich langsam zu Boden gleiten und legte den Kopf auf Arunas Schoß.

Sie streichelte sein schwarzes, schimmerndes Fell und der Hengst schloss die Augen. „Schlaf, mein Junge, schlaf“, murmelte sie. „In zwei Stunden reiten wir weiter.“

Dann streckte sie sich nach dem Handschuh, zog ihn über und pfiff. Am Himmel tauchte ein kleiner, dunkler Punkt auf und sie wiederholte den Laut. „Altair!“, rief sie. Der Punkt wurde größer und nahm die Form des Greifvogels an, der zu ihr flog.

Der Bussard setzte sich auf ihre Faust. „Ruh auch du dich aus, mein Freund“, sagte sie und strich dem Vogel über die Flügel. „Ich werde über euch beide wachen, versprochen.“

Altair sah sie mit leuchtenden Augen an und flog dann auf den niedrigsten Ast des dürren Baumes, an dem Aruna lehnte. Sie lächelte, als sie ihre beiden Freunde betrachtete. Sie konnte sich glücklich schätzen, Orlando und Altair zu haben.

Die Ohren ihres Pferdes zuckten. Er träumte, wusste Aruna. Er vertraute ihr und genehmigte sich nur deshalb diesen Schlaf, denn er wusste, dass sie ihn warnen würde, wenn Gefahr drohte.

Sie schätzte dieses Vertrauen sehr. Es beruhte auf Gegenseitigkeit, jeder beschützte jeden. Orlando passte auf sie auf und sie gab auf den Hengst Acht.

Aruna atmete tief durch. Grenzenloses Vertrauen zu seinem Pferd zu haben - konnte jeder Krieger, jeder Asfaloth dies von sich behaupten? Nein, denn sie fand, dass zu viele ihr Pferd nur als Fortbewegungsmittel und Kriegsmaschine sahen anstatt als treuen, ebenbürtigen Freund. Leider.

Die Sonne wanderte weiter und die Schatten der Felsen veränderten sich im Laufe der nächsten zwei Stunden. „Orlando?“, fragte sie und berührte sanft eines der pechschwarzen Ohren des Hengstes. Das Ohr zuckte, dann flatterten seine Augenlider. „Orlando“, wiederholte sie seinen Namen.

Der Rappe hob den Kopf und öffnete die Augen. „Mein Freund, die Zeit des Aufbruchs ist gekommen. Wir müssen weiter, um vor Einbruch der Nacht noch ein Nachtlager finden zu können.“ Aruna hatte keine Angst, nachts unter freiem Himmel schlafen zu müssen, doch sie wusste, dass das leichtsinnig war. Die unberechenbaren Sandstürme konnten in wenigen Minuten Menschen im Schlaf begraben und ersticken lassen.

Orlando spitzte die Ohren und Aruna stand auf. „Altair“, murmelte sie. Der Bussard riss die Augen auf und spreizte die Flügel. „Wir brechen auf, Altair.“ Der Vogel blickte umher und streckte sich.

Unterdessen war der Rapphengst aufgestanden und Aruna begann, ihn zu satteln und zu trensen. Dann kontrollierte sie noch einmal die Satteltaschen und den Gurt, bevor sie aufstieg.

Aruna schob den Handschuh in eine der Satteltaschen und sah zu, wie Altair sich in die Luft schwang. Sie nahm die Zügel auf und bereute erneut, dass sie so wichtige Dinge wie Karte und Kompass nicht mitgenommen hatte.

Sie hätte wirklich ein bisschen Orientierungshilfe gebrauchen können. Wo sollte sie bloß hin? Zu sagen, dass man von nun an ohne Heimat in der Welt herum streifen würde, war eine Sache, aber plötzlich ohne Ziel in der Wüste zu sein, eine ganz andere.

Vor ihr türmte sich ein kleiner Hügel auf. Aruna strich dem Hengst über die Schulter. „Wir werden schon Wasser finden, mein Freund“, murmelte sie beruhigend, doch sie wusste nicht, ob die Beruhigung dem Hengst oder ihr selbst galt. „Wir schaffen das schon, nicht wahr? Wir haben doch immer alles gemeinsam schaffen können...“

Plötzlich blieb Orlando stehen und spitze die Ohren. „Was hörst du, mein...“, fing sie an und brach abrupt ab. Ein Schrei hallte durch die Wüste. Dann metallische Klänge.

Aruna trieb den Hengst an und griff dann nach dem Schwert. Mit der anderen Hand zog sie rasch ihre Kapuze so tief wie möglich ins Gesicht, um von niemanden erkannt zu werden.

Hinter dem Hügel sah sie schließlich das, was sie vermutet hatte: Ein Bauer hieb mit seiner Mistgabel auf einen schwarz gekleideten Krieger ein, der ein sonderbares Zeichen auf seinem Mantel trug. Es zeigte eine Rune in blutigem Rot. Eine Rune, die eindeutig nicht zu den heiligen, königlichen Runen gehörte.

„Aber Euer Pferd gehört meinem Herrn. Mein Meister hat es verlangt!“, schrie der schwarze Krieger lauthals und hieb mit seinem Schwert weiter auf den armen Bauern ein, welcher versuchte, hinter seiner Mistgabel in Deckung zu gehen.

„Banjo ist der Sohn meiner Pferde! Er ist bei mir geboren und gehört mir schon sein gesamtes Leben lang!“, entgegnete der Bauer wütend. „Verschwindet sofort von meinem Land!“ Der schwarzgekleidete Krieger lachte jedoch nur.

„Orlando, wir greifen ein“, flüsterte Aruna, nachdem sie noch ein paar Sekunden dem Streit zugesehen hatte. Es war ihre Aufgabe als Vagabund, für Gerechtigkeit zu sorgen. Den Bauern zu verteidigen, sah die junge Frau als Ehre.

Sie hob ihr Schwert und der schwarze Hengst galoppierte augenblicklich an. „Lasst den Bauern in Ruhe, Fremder!“, schrie sie mit tiefer gestellter Stimme. Sie konnte es sich nicht leisten, an ihrer Stimme als Frau enttarnt zu werden.

„Er hat Euch nichts getan!“, rief sie wieder und schwang drohend ihr Schwert. Beide hielten mitten in der Bewegung inne und sahen sie überrascht an. Dann ließen sie die Waffen sinken.

Der Krieger fand zuerst seine Sprache wieder. „Wer wagt es, die Verhandlung zu stören?“, fauchte er böse und sein messerscharfer Blick peitschte ihr mitten ins Gesicht. Sie war unendlich froh, dass die Kapuze ihre Augen verdeckt hielt.

„Ich wage es“, sagte Aruna laut und hielt Orlando an. Sie legte so viel Selbstbewusstsein, Stolz und Kampfgeist in ihre Worte, dass es sie selbst schon erstaunte. Orlando hob stolz seinen Kopf und seine wellige, lange Mähne wehte im Wind.

Der Krieger funkelte sie böse an. Sie konnte seinen Blick sehen, wenn sie schielte. „Euer Name“, verlangte er. Stolz hob sie den Kopf und reckte das Kinn vor. Ihre Augen hätten ihn direkt angesehen, wenn sie nicht hinter der Kapuze versteckt gewesen wären.

„Verzeiht, Fremder, aber ich habe keinen Namen“, antwortete sie kalt. Der Bauer atmete hörbar aus. „Ein Vagabund!“, rief er erfreut und der Krieger schwieg für einen Augenblick.

„Vagabund, so hört mich an“, flehte der Bauer. „Er will meinen Banjo, mein letztes Pferd, nachdem meine beiden anderen mit hohem Alter verstorben sind. Aber er behauptet ständig, Banjo würde seinem Herrn gehören.“

„Wer ist Euer Herr, Fremder?“, fragte Aruna ebenso kalt wie zuvor und richtete das Schwert ihres Vaters auf den Krieger. „Nennt mir seinen Namen! Sofort!“

„Der Name meines Herrn ist geheim“, entgegnete der Krieger mit der blutroten Rune. „Aber glaubt mir, Vagabund, das Pferd gehört meinem Herrn. Der Bauer hat es gestohlen!“

„Ich habe überhaupt nichts gestohlen!“, widersprach der Bauer heftig. „Vagabund, der dort ist ein Lügner!“ Aruna fühlte sich wie ein Richter zwischen zwei Parteien. Sie wusste nicht, welcher Partei sie glauben sollte, doch als Vagabund musste sie das Recht sprechen.

„Der Bauer lügt!“, schrie der Krieger und hob das Schwert auf. Dann schwang er es drohend durch die Luft. „Der lügt!“

„Ruhe!“, fuhr Aruna dazwischen und die beiden waren augenblicklich still. Sie hatte sich entschieden, wem sie glauben würde. „Das Pferd gehört dem Bauern. Lasst ihn in Frieden und verschwindet, wenn Euch Euer Leben lieb ist, Fremder!“

„Ihr habt Euch aber nicht in so etwas einzumischen, geschweige denn zu entscheiden!“, entgegnete der Krieger und schlug mit dem Schwert nach ihr. „Eure Gesetze gelten nicht für einen Krieger wie meinen Herrn und sie gelten auch nicht für seine Männer!“

Aruna parierte den Schlag, denn sie hatte ihn früh kommen sehen. Gleich darauf ging sie zum Angriff über. Der Krieger jedoch hatte sie offensichtlich unterschätzt und konnte nicht weit genug ausweichen. „Solange Ihr auf silaetanischem Boden steht, gelten unsere Gesetze auch für Euch – ein Vagabund ist der Richter bei Streitigkeiten zwischen dem niederen Volk!“, sagte sie kalt.

Das Schwert riss ihm ein Stück Fleisch aus der Schulter heraus. Blut tropfte aus der Wund und befleckte den schwarzen Mantel. „Verschwindet von hier oder ich sorge für Euer Unglück, Fremder!“, knurrte sie und wischte das blutige Schwert am Mantel des Kriegers ab, der nur noch wie ein Schluck Wasser auf seinem Pferd saß. Ohne ein weiteres Wort machte er kehrt und galoppierte davon.

„Ich danke Euch, Vagabund“, rief der Bauer überglücklich. „Ohne meinen Banjo hätte ich mein Feld nicht mehr bewirtschaften und kein Wasser vom Fluss holen können...“

„Bauer“, unterbrach Aruna ihn. „Wo ist dieser Fluss? Mein Pferd und ich sind am Verdursten.“ Der Bauer nickte verständnisvoll. „Etwas nördlich von hier steht eine alte Palme. Von dort reitet Ihr nach Westen, mein Herr. Es sind nur ein paar Meilen.“

Aruna dankte ihm, steckte das Schwert zurück in die Scheide am Gürtel und ritt davon. Der Bauer hatte wirklich nur ein kleines Feld hinter dem Haus gehabt, wie sie sehen konnte, aber Ackerwirtschaft war außerhalb einer Oase schon immer etwas schwierig gewesen im Königreich Silaeta.

Nachdem der Bauer außer Sichtweite war, setzte sie die Kapuze wieder ab. Er hatte nicht erkannt, dass sie kein Mann war, und darüber war sie sichtlich erfreut. Orlando trabte zügig nach Norden. Aruna ließ ihm die Zügel lang und setzte sich zurück.

Kurze Zeit später erreichten sie die Palme und wendeten nach Westen, wo sie bald schon den Klang des rauschenden Wassers vernahm. Es war die herrlichste Musik in ihren Ohren. „Orlando, wir sind endlich da“, rief sie glücklich und der Hengst galoppierte freudig auf den plätschernden Fluss zu.

Kurz vor dem Fluss legte er eine Vollbremsung hin und Aruna rutschte lachend vom Rücken des schwarzen Pferdes. Sie ließ die Zügel los, kniete sich ans Ufer und sah einen Augenblick lang auf ihr verschwommenes Spiegelbild im Fluss.

Ihr rotblonder Zopf fiel ihr über die Schulter, als sie sich Wasser ins Gesicht spritzte. Ihre leuchtend grünen Augen spiegelten sich im Wasser und schimmerten wie Smaragde.

Neben ihr senkte Orlando sein stolzes Haupt und trank. Die Spitzen seines langen Schopfes tauchten dabei ins Wasser ein. Aruna stand auf und nahm den Hengst die Trense ab. „So ist es doch viel besser, nicht wahr, mein Freund?“ Der Rappe hob den Kopf und schnaubte leise.

Sie holte die Wasserflaschen und füllte sie am Fluss kniend wieder auf. Dann verstaute sie diese wieder in den Satteltaschen und sattelte den Hengst ab. Sie legte den Mantel und die Stiefel ab, so dass sie nur noch Reithosen und Hemd trug, und sprang in den Fluss.

5

„Was soll das heißen!?“, donnerte Rabanus. „Sie seien was!? Weg!?“

„Ja, mein Herr“, murmelte der Mann ihm gegenüber und senkte betrübt den Blick. „Ja, sie sind weg... Alle drei...“

„Was seid ihr eigentlich für Dummköpfe!? Nicht mal mehr ein Tor bewachen lassen kann man euch, ohne dass ihr die Feinde hindurch reiten lasst!“, fauchte Rabanus. „Wisst ihr eigentlich, was das bedeutet? Wisst ihr eigentlich, was ihr da angerichtet habt?“

Der Mann schüttelte den Kopf. Die Krieger hinter ihm hatten sich abgewandt und hofften so, dem Tadel ihres Meisters zu entgehen, während dieser sich ihren Hauptmann vorknöpfte.

„Mein Herr, ich kann sie suchen gehen. Ich werde sie finden, mein Herr, ganz bestimmt werde ich sie finden“, wiederholte er in der Hoffnung auf Gnade. Er wusste, dass seine Mission, die Stadttore zu bewachen, heute gründlich gescheitert war. Und all das war nur sein Fehler.

„Ihr werdet gar nichts! Ihr wäret zu dumm, um sie zu finden! Noch mehr eurer Fehler kann ich mir nicht erlauben!“, zischte er. „Ihr habt mich lange genug zum Narren gehalten!“

Er winkte einen anderen Mann zu sich. „Sperrt ihn ins Verlies! Sofort!“, fuhr er ihn an. „Ich kann seinen unfähigen Anblick nicht länger ertragen!“ Der Mann verbeugte sich und zerrte den anderen dann aus dem Raum.

Rabanus ließ seine beiden besten Krieger rufen. Er würde die Sache lieber selbst in die Hand nehmen, denn diesmal durfte nichts schief gehen. Die drei geflohenen Asfaloth mussten gefunden und unschädlich gemacht werden, bevor sie ihn unschädlich machten.

„Sattelt mein Pferd, Bursche!“, rief er dem Sohn eines Kriegers, der ihm diente, zu. „Nun macht schon! Beeilt Euch!“

Rabanus fluchte. „Alles, was ordentlich werden soll, muss man hier selbst erledigen! Wozu hat man denn Männer, welche die Drecksaufgaben erledigen sollen? Dieser Idiot hat mich fast ruiniert! Drei Rebellen und alle drei verschwunden! Einfach weg! Unfassbar!“

Seine beiden wichtigsten Krieger traten ein. „Da seid Ihr ja endlich, Marek und Brando“, sagte er. „Man hat uns verraten und die drei Rebellen fliehen lassen. Offenbar haben sie auch noch gute Pferde, was uns noch weiter schadet.“

Er schwieg kurz. „Ich werde sie selbst suchen müssen. Ihr beide begleitet mich. Beeilt euch! Wir dürfen nicht zu lange warten - noch können sie nicht weit gekommen sein!“

Marek und Brando verbeugten sich und eilten dann davon, um ihre Pferde zu satteln. Rabanus sah ihnen noch kurz nach. Er hatte die richtige Entscheidung getroffen, sie mitzunehmen. Sie waren die einzigen beiden seiner hundert Krieger, auf die er sich auch wirklich verlassen konnte. Sie würden ihm treu dienen, statt ihn wie dieser Dummkopf und dessen Männer zu verraten.

„Euer Pferd ist bereit, mein Herr“, sagte der Junge, den er zuvor in die Stallungen geschickt hatte. Rabanus legte seinen Waffengürtel um und zog seine ledernen Handschuhe über. Dann lief er nach draußen, wo bereits sein Pferd auf ihn wartete.

Es stammte aus der königlichen Zucht. Der König selbst hatte es ihm geschenkt, als er ihn zum Ratgeber ernannt hatte. Was er jedoch nicht wusste, war, dass Rabanus ihm nicht so treu diente, wie er glaubte. Er würde das auch nie tun, denn seine Pläne gingen eigene Wege.

Der einzige Grund, den er mit seiner Position als Ratgeber des Königs erreichen wollte, war die eigene Krönung zum König, nachdem dieser den Tod fand. Und diese Sache musste noch ein wenig beschleunigt werden, denn Rabanus war ungeduldig.

Doch der König stand unter dem Schutz der besten und tödlichsten Krieger des Reiches: den Asfaloth. Erst, wenn deren Orden und all seine Mitglieder vernichtet waren, würde er den König zu Fall bringen und sich selbst die Krone auf den Kopf setzen können.

Er war einst selbst ein Asfaloth gewesen. Stets einer der besten und ehrgeizigsten überhaupt. Er hatte sich all die Jahre bemüht, einmal die Position des ersten Leibwächters der Königin zu bekommen. Er fand, dass nur er den Mut und die Fähigkeit hatte, diese Position zu beziehen. Für die schöne Königin Sylvia hätte er sein Leben gegeben.

Als diese Position dann frei wurde, versetzte ihn der König und vertraute den Schutz der Königin einem anderen an. Rabanus spukte auf den Boden, als er sich an diesen Mann erinnerte. Sein Name, sein Charakter waren abscheulich: Philitis.

Doch in den wenigen Zeiten, in denen Philitis auf seinem Gutshof war und ein anderer die Königin bewachte, hatte Rabanus sich an ihm gerächt. Im Schlaf hatte er Philitis erstochen und wäre dabei fast von dessen Tochter, einem ungezogenen Weib, welches sich wie ein Mann aufführte, erwischt und überwältigt worden. Er hatte nicht mit dieser Furie namens Aruna gerechnet, die so plötzlich ins Zimmer gestürmt war.

Aber Rabanus war einer der besten und schnellsten Asfaloth. Er hatte flüchten können, bevor Philitis' Tochter ihren Vater mit dem Dolch im Herzen fand. Glücklicherweise war in dem Dolch nicht sein Name eingraviert, wie er zu dieser Zeit sonst all seine Waffen zu markieren pflegte.

Der König hatte ihm den Verrat allerdings angesehen und ihn aus dem Orden der Asfaloth geworfen. Sein Todesurteil jedoch konnte Orka, wie er damals noch hieß, erfolgreich abwenden und bekam nur lebenslange Verbannung aus dem Reich.

Doch er sah einen Funken Hoffnung auf Rache, kehrte dem Reich und seinem Namen Orka den Rücken und schloss sich als Rabanus den Nebellandkriegern an. Die gefährlichen und nahezu unbesiegbaren Krieger hatten ihn aufgenommen. Niemand legte sich mit ihnen an, schon gar nicht der König von Silaeta.

Aber Rabanus hatte schnell erkannt, dass die Nebellandkrieger Silaeta nie würden einnehmen können. Sie leben in Grüppchen nur für sich selbst, waren nicht organisiert genug, um einen Krieg zu führen. So hatte sich Rabanus selbst zu ihrem König gekrönt und begonnen, eine neue Welt für sie zu schaffen.

Schon nach einem Jahr jedoch hatte er die Krieger verlassen - mit dem Versprechen, dass sie bald das Königreich Silaeta ihr Eigen nennen durften. In Wirklichkeit wollte er nur Rache - Rache am König und dann am ganzen Königreich. Mit seinem neuen Namen und seiner neu erfunden Person kehrte er über die Grenzen zurück und hatte sich als königlicher Ratgeber beworben.

Es hatte Rabanus nur wenig Mühe gekostet, den König zu überzeugen und dieser vertraute ihm nun inzwischen blind. Er schenkte ihm eines der seiner Meinung nach besten Pferde aus der königlichen Zucht und übergab ihm den Oberbefehl über alle Krieger des Reiches.

Die Asfaloth betraf dies zwar nicht direkt, doch Rabanus wusste, dass es ihn nicht besonders viel Überzeugungsarbeit kosten würde, dem König die Auflösung und dessen Richtigkeit schmackhaft zu machen. Der Orden war ausgeschaltet, den Lieblingen des Königs die Hände gebunden.

Nun ja, fast alle dieser Asfaloth waren vernichtet, abgesehen von drei Männern. Drei Männer, die ihm schon immer ein Dorn im Auge gewesen waren - sogar zu seinen Zeiten als Asfaloth.

Sie waren die engsten Freunde von Philitis und Rabanus befürchtete, dass ausgerechnet diese drei ihn und seine Taten längst durchschaut hatten. Sie waren alle drei viel zu schlau für Rabanus' Geschmack.

Und ausgerechnet diese drei hatte dieser Idiot mit seinen Kriegern entkommen lassen. Die letzten drei Asfaloth, die ihrem Schwur dem König gegenüber, ihn und seine Familie mit dem Leben zu schützen, niemals brechen würden.

Rabanus fluchte und sprang auf sein Pferd. Marek und Brando führten ihre Pferde gerade aus dem Stall, als er dem Dunkelbraunen die Sporen in die Rippen rammte und davon galoppierte. Seine beiden Krieger folgten ihm hinaus in die Wüste.

Es war nicht schwer, den Spuren der drei geflüchteten Rebellen zu folgen, zumindest die ersten fünfhundert Meter lang. Dann jedoch kam er auf freies Feld und der Wind hatte ganze Arbeit geleistet. Ohne einen Felsen als Hindernis hatte er die Spuren blasser werden und bald darauf verschwinden lassen.

Schnaubend hielt Rabanus sein Pferd an. Diese verdammten Asfaloth hatten ihn ausgetrickst! Ohne ihre Spuren konnte er die Verfolgungsjagd vergessen. Eher würde er sich in der Wüste verirren, als diese drei Männer zu finden.

„Mein Herr, was sollen wir tun?“, fragte Brando und hielt sein Pferd an. Rabanus funkelte ihn wütend an. „Wir können nichts tun, Brando! Dieser Idiot muss dafür zahlen – mit seinem Leben!“, fauchte er. „Reiten wir zurück und drehen diesem Verräter den Hals um!“

Nur widerstrebend ließ er den Hengst wenden. Zu groß war seine Wut auf diesen Verräter, der alle drei hatte entkommen lassen. „Es wird sich noch eine Chance bieten, diese Rebellen zu fangen. Es muss sich noch eine Chance bieten und dann werde ich bereit sein, sie endgültig aus dem Weg zu schaffen!“, murmelte er vor sich hin und gab dem Hengst die Sporen.

6

Aruna ritt weiter. Doch so, wie sie gerade auf Orlandos schwarzem Rücken hing, konnte man wohl kaum vom Reiten sprechen. Sie war zusammen gesunken und glich mehr einem Sack voll Korn als einem Reiter.

Orlando schien das zu ignorieren. Er wusste offenbar genau wie sie, dass sie dringend einen Schlafplatz für die Nacht brauchten. Immerhin war es seit geraumer Zeit schon stockdunkel und nur noch der bleiche Mond beleuchtete den Weg.

Seine Reiterin war bereits seit einiger Zeit im Halbschlaf und wachte nur hin und wieder auf. Der Hengst wusste, dass er nun an ihrer Stelle einen geeigneten Schlafplatz finden musste. Er konnte sich nicht mitten in der Wüste niederlegen, denn Sandstürme und kräftige Winde waren eine tödliche Überraschung, wenn man schlief, auch für ein Pferd.

Mühsam setzte der Hengst seinen Weg Schritt für Schritt fort. Aruna blinzelte ein wenig. Sie hätte ein Zelt aufschlagen können, doch dieses wäre niemals groß genug gewesen, um ihren treuen Freund darin unterzubringen. Orlandos Leben zu riskieren, kam ihr nicht in den Sinn.

Der beste Schlafplatz war eine Höhle und davon gab es im felsigen Wüstenland sehr viele, doch nur wenige waren hoch genug, um auch Orlando zu beherbergen. Auch der Eingang musste in der windabgewandten Seite des Felsengebirges liegen, denn sonst würde der Wind den Sand in die Höhle wehen und diese vielleicht verschließen.

Bei dem Gedanken, in der Höhle durch den Sand eingesperrt zu sein, wurde ihr mulmig. Sie und Orlando würden gnadenlos verhungern. Warum hatte sie bloß ihr bequemes Zuhause aufgegeben?

„Weil ich Rache suche“, murmelte Aruna. „Wenn ich nicht fortgehe, wie soll ich da den Mörder meines Vaters finden?“

Trotz der Müdigkeit zwang sie sich, die Augen zu öffnen und sich gerade hinzusetzen. Als Kartoffelsack war sie alles andere als eine Hilfe für den schwarzen Hengst.

Sie suchte die Felswand neben ihr ab. Eigentlich war die einzige Höhle, die sie finden konnte, viel zu klein, aber Aruna war das nun alles egal. Sie musste dringend schlafen, Orlando ebenso.

Die junge Frau ließ sich aus dem Sattel gleiten und führte den Rappen in das dunkle Loch. Der Hengst hielt den Kopf tief und knickte die Vorderbeine ein, als er sich durch den Eingang zwängte.

Wieder dachte sie an ihr Zuhause. Da hatte es Kerzen und Streichhölzer gegeben. Sie hatte bei ihrem Aufbruch nicht daran gedacht, dass so etwas möglicherweise von Nutzen sein konnte.

Jetzt hatte sie nichts, das Licht spenden würde. Ganz und gar überhaupt nichts. Sie fluchte und versuchte, in der Finsternis ihr Pferd abzusatteln und abzutrensen, doch es wollte ihr nicht ganz gelingen.

„Es tut mir leid, mein Freund, aber es ist zu dunkel“, murmelte Aruna. „Wenn mir nur irgendetwas Licht spenden würde, ...“ Sie wusste selbst nicht so genau, warum sie den Satz nicht zu Ende sprach und sich schweigend umdrehte. Als ob irgendetwas dort war, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte.

Plötzlich drangen Murmellaute und das Knarren von Leder an ihr Ohr. Irgendjemand kam auf ihre Höhle zu. Sie hörte die Stimme eines Mannes und in wenigen Minuten, wusste sie, würde er sie hier drin finden.

Rasch zog sie sich die Kapuze tief ins Gesicht, griff nach ihrem Schwert und schlich sich an den Eingang. Im Schatten der Nacht beobachtete sie Reiter. Drei Männer, die wie eiskalte Krieger aussahen, so furchteinflößend.

Sie trat einen Schritt nach vorn und scharfe Augen hätten sie jetzt sogar sehen können, doch die Männer sahen nicht in ihre Richtung und plauderten ungestört weiter. Sie waren nur fünf Meter von ihr entfernt und Aruna erkannte, dass sie alle drei bewaffnet waren. Nicht unbedingt beruhigend.

Sie griff den Knauf ihres Schwertes noch fester und zog es so lautlos wie möglich heraus. Plötzlich hielt einer dieser Männer an. Er ritt auf einem sehr hellen Pferd, doch die genaue Farbe konnte sie aufgrund der Finsternis nicht ausmachen.

Dieser Mann war anders als seine beiden Kameraden, dass hatte Aruna schon längst bemerkt. Im Gegensatz zu ihnen sprach er kein einziges Wort. Er starrte in ihre Richtung und Aruna wusste, dass sie entdeckt worden war.

Als seine Kameraden bemerkten, dass er sein Pferd angehalten hatte, wendeten sie ihre Pferde und hielten neben ihm an. „Roan?“, fragte einer der beiden, doch der Mann auf dem hellen Pferd rührte sich nicht und starrte Aruna weiter an.

Dann richtete der andere Mann ebenfalls den Blick in ihre Richtung. „Fremder!“, rief er und schlug mit dem Schwert nach ihr. Aruna jedoch hatte mit einem solchen Angriff gerechnet und parierte den Schlag mühelos.

„Lucan, was soll das?“, fauchte der dritte Mann. Der Mann mit dem gezogenen Schwert, Lucan, rührte sich nicht, zog das Schwert auch nicht zurück. Seine kräftige Stimme drang durch die Nacht. „Wer seid Ihr, Fremder? Seid Ihr etwa einer seiner Handlanger?“

Aruna hatte Angst, doch sie zitterte nicht. Philitis hatte ihr eingeschärft, dass sie niemals ihre Unsicherheit zeigen durfte, denn sonst würde sie den Kampf verlieren. Dies hier war kein Kampf, doch Aruna wollte nicht wie ein Feigling aussehen.

Starr hielt sie das Schwert hoch, um Lucans Schlag zu halten. Bevor der Mann es nicht von sich aus zurückzog, würde sie auch nicht ihre Deckung aufgeben.

„Ich bin Vagabund“, erklärte sie und stellte die Stimme tiefer. Lucan lachte. „Vagabund? Das ist kein Name, sondern eine Bezeichnung!“

„Ich habe keinen Namen mehr“, sagte Aruna. „Aber nennt mich Vagabund, Herr.“ Der Mann lachte erneut. „Wer seid Ihr und woher kommt Ihr?“, fragte er weiter.

Arunas Körper zeigte keine Reaktion. Alles, was sich an ihr bewegte, waren ihre Lippen, als sie schließlich die Frage des Mannes beantwortete. „Ich bin Vagabund, komme von einem Ort und ziehe zum nächsten. Alles Weitere geht Euch nichts an, Herr“, beharrte sie eindringlich.

7

Arion sah zwischen Lucan und dem fremden Krieger hin und her. Sie konnten ihn nicht einfach ziehen lassen, wenn er einer von Rabanus' Männern war. Oder gar ein Spion aus dem Nebelland.

Als Lucan Anstalten machte, abzusteigen und dann dem Krieger das Schwert erneut unter die Nase zu halten, schüttelte Arion den Kopf. „Lucan, es reicht!“, sagte er bestimmt. „Steckt das Schwert weg und lasst uns zuerst mit diesem Fremden reden, bevor Ihr ihn in Scheiben schneidet!“

Lucan zischte grimmig und schob das Schwert zurück in die Scheide. Doch auf halben Wege änderte er seine Meinung und riss es erneut heraus in Richtung des Fremden. Der parierte den Schlag wieder mit dieser fast unmöglichen Reaktionsgeschwindigkeit, die Arion schon beim ersten Schlag verblüfft hatte.

In diesem Moment fiel sein Blick auf die Klinge des Fremden. Im silbernen Mondlicht glänzte es und eine Gravur leuchtete auf. Eine ihm nur zu bekannte Gravur. Die Gleiche wie auf seinem eigenen Schwert.

„Sein Schwert! Seht auf die Klinge!“, rief er und Lucan hielt in der Bewegung inne. Er starrte nun ebenfalls auf die Gravur. Arion wusste, dass sein Freund ebenso überrascht war wie er selbst.

„Fremder!“, rief Lucan. Doch als der fremde Mann die Blicke auf seinem Schwert zu bemerken schien, schob er es eilig wieder zurück in die Scheide an seinem Gürtel, als ob es niemand sehen dürfte.

Arion versuchte, das Gesicht des Fremden zu sehen, doch die Kapuze ragte bis unter die Nase und schützte seine Identität. Aber vielleicht traute der Fremde ihnen nicht. Vielleicht war er wie Arion und seine Waffenbrüder ebenfalls geflohen, als Rabanus...

Da riss Lucan ihm die Kapuze vom Kopf und Arion erstarrte erneut. Ein langer, rotblonder Zopf fiel über die Schultern und ein weibliches, misstrauisches Gesicht starrte zurück. Eine Frau!

„Eine Frau?“ Verwirrt blickte Lucan drein. Arion schüttelte den Kopf und sah noch einmal genauer hin. Immer noch eine Frau.

„Ihr wisst bestimmt genau, dass Frauen Kämpfen und Reiten streng verboten sind, warum also tragt Ihr ein Schwert und könnt damit auch noch so gut umgehen?“, fauchte Lucan. Arion stieg von Anatol und nahm die Zügel des Hengstes in eine Hand.

„Woher habt Ihr das Schwert?“, fragte Arion. „Habt Ihr eigentlich eine Ahnung, was für ein Schwert Ihr da überhaupt tragt?“ Die Frau nickte. „Natürlich weiß ich, was das für ein Schwert ist“, sagte sie selbstbewusst und stolz. „Es war das Schwert meines Vaters.“

Das Schwert ihres Vaters? Woher hatte es ihr Vater? War dieser einer der Ordensbrüder gewesen oder hatte er es als Trophäe jemanden nach einem Duell abgenommen?

„Wisst Ihr überhaupt, was diese Runen auf dem Schwert bedeuten?“, fragte Lucan, nachdem er sich nur wenig beruhigt hatte. Kaum einer wusste dies außer den Ordensbrüdern. Doch die rotblonde Frau nickte erneut.

„Natürlich. Ich kann die Runen nicht lesen, aber Vater hat mir erzählt, was darauf steht. Ich habe es auswendig gelernt“, sagte sie stolz, als wäre es das Normalste der Welt. „Ich schwöre, die Königsfamilie zu beschützen mit dem Leben und das Schwert wird mir dabei Hoffnung geben. Ich schwöre bei meinem Leben, die Königsfamilie zu ehren und vor allem Unheil zu bewahren.“

Arion staunte. Er hatte alles erwartet, nur nicht das. Sie sagte diese Worte - den Eid der Asfaloth - nicht irgendwie, sondern mit Stolz und Ehre. Ganz wie seine Ordensbrüder. Ihre Stimme klang ehrlich und Arion spürte, dass sie diese Zeilen nicht einfach nur auswendig gelernt hatte wie ein Gedicht, um sie aufsagen zu können. Sie schien auch danach zu leben. Genau wie die Asfaloth.

„Wenn Ihr wisst, was darauf steht, wisst Ihr denn auch, was das bedeutet?“, fragte Arion nach. Wieder nickte die junge Frau.

„Es ist der Eid, den die Asfaloth schwören. Der Eid, der niemals gebrochen werden darf“, erwiderte sie. „Mein Vater hat mir alles über die Asfaloth erzählt. Wie sie kämpften, wie sie dachten, woran sie glaubten und er lehrte mich all dies ebenfalls.“

Ihre Stimme wurde leiser und ein Hauch von Trauer und Rache zog über ihr schönes Gesicht. Arion sah sie fragend an. „Ihr wisst, dass Euer Vater damit etwas Verbotenes getan hat, oder?“

Sie nickte. „Doch wird man ihn nicht mehr bestrafen können“, murmelte sie und wirkte mit einem Mal sehr zerbrechlich. „Nur noch mich kann man bestrafen, aber ich bin flink und niemand wird mich einholen können.“

„Warum kann man Euren Vater nicht mehr bestrafen?“, fragte Arion und sah dann schuldbewusst zu Boden. „Verzeiht die Frage, sie schoss mir durch den Kopf, doch ist sie unhöflich.“

Die Frau sah auf. „Das ist sie allerdings“, tadelte sie ihn. „Aber dennoch: Mein Vater wurde ermordet.“

Arion zuckte zusammen. Ermordet. Ein Asfaloth, denn ein Dieb konnte nicht so viel über den Orden wissen. Er wusste, dass Morde an einem Asfaloth bisher in der Geschichte Silaetas nur sehr, sehr selten waren. Um genau zu sein, wusste er nur von fünf ermordeten Asfaloth. An das letzte Opfer erinnerte er sich nur allzu gut. Es war der vierte der eng befreundeten Waffenbrüder neben Lucan, Roan und ihm selbst gewesen: Philitis.

„Wer war Euer Vater?“, fragte Arion schnell. „Und warum tragt Ihr sein Schwert bei Euch? Was wollt Ihr damit überhaupt erreichen?“

„Ich will Rache. Ich will mich am Mörder meines Vaters rächen, auch wenn ich von diesem absolut nichts, noch nicht einmal seinen Namen, weiß oder sein Aussehen kenne“, erwiderte sie entschlossen. „Doch werde ich nicht ruhen, bevor ich meine Aufgabe ausgeführt habe.“

„Wer war Euer Vater?“, wiederholte Arion. Inzwischen war ihm klar, dass sie nicht zu den Handlangern Rabanus' oder zu den Spionen der Nebellandkrieger gehörte. Dazu kannte sie sich einfach viel zu gut mit der Lebensweise der Asfaloth aus.

„Wozu braucht Ihr dieses Wissen? Und was wollt Ihr eigentlich?“, fragte die Frau und Arion wurde bewusst, dass er nicht einmal ihren Namen kannte.

„Ich kann Euch alles erklären, aber Ihr würdet mir nicht zuhören. Und wenn es Eure Fragen beantwortet: Wir sind auf der Flucht. Der Orden der Asfaloth wurde aufgelöst und alle, die sich weigern, Waffen und Uniform niederzulegen, sollen hingerichtet werden“, erklärte Arion und versuchte den Hass auf Rabanus zu unterdrücken. „Es klingt unschön, doch das ist die Wahrheit.“

Die Frau taumelte ein paar Schritte zurück. „Bringt Ihr mich um, wenn ich Euch all das anvertraue, was Ihr wissen wollt?“, fragte sie und plötzlich tauchte die Angst in ihrem Gesicht auf und zerstörte ihre hübschen Züge.

Arion schüttelte den Kopf. „Ich werde Euch beschützen, das verspreche ich. Keiner meiner Freunde wird Euch etwas antun.“ Es war Roan gewesen, der dies gesagt hatte. Der erste Satz überhaupt, den er an diesem Tag gesprochen hatte.

Dann hörte Arion ein Rascheln und Roan stieg ab, bevor die Frau in die Höhle zeigte. Es war stockdunkel, aber hinter ihm leuchtete plötzlich ein Licht. Kerzenlicht. Roan trug stets Kerzen und Streichhölzer bei sich, für Fälle wie diesen.

8

Aruna wusste nicht, ob sie den Männern trauen konnte. Ihr Herz zögerte, doch sie ließ sich nichts anmerken und schritt in die Höhle. Ein Licht flackerte auf. Der schweigsame Mann, der sie zuerst entdeckt hatte, hatte eine Kerze angezündet.

Sie pfiff nach Orlando und der Hengst trottete treu auf sie zu. Im schwachen Kerzenschein sattelte und trenste sie den Rappen ab und streichelte ihn noch, bis die Männer ihre Pferde ebenfalls abgesattelt hatten. Ihr entging nicht, wie Lucan das Gesicht verzog, als er das Pferd sah.

Für einen Augenblick betrachtete Aruna die Pferde der Männer: Ein Dunkelfuchs, ein Fuchs und ein Hengst der seltenen, besonderen Farbe des Blauschimmels. Sie lauschte, als sie sich von ihren Pferden verabschiedeten. Der Fuchs wurde Anatol genannt, der Dunkelfuchs hörte auf den Namen Darius und der Blauschimmel trug den Namen Albin.

Der Mann, der sie zuvor ausgefragt hatte, trat neben sie. „Odin?“, fragte er sichtlich verwirrt und deutete auf Orlando. „Woher habt Ihr Odin?“ Aruna sah ihn lächelnd an. Sie wusste, wie ähnlich sich Vater und Sohn sahen. „Das ist nicht Odin“, korrigierte sie. „Er heißt Orlando.“

„Mädchen, das ist Odin. Ich kenne dieses Pferd. Es ist das Pferd eines Asfaloth und es heißt Odin!“, beharrte der Mann.

Doch sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß selbst, wie Odin aussieht. Und ich weiß, dass das hier nicht Odin, sondern Orlando ist“, erklärte sie. „Odin ist viel älter als dieser Hengst hier. Er sieht ihm nur so ähnlich, da er der Sohn von Odin ist.“

Der Mann glaubte ihr nicht, doch als Aruna darauf bestand, dass Orlando viel zu jung war, um Odin zu sein, und ihm schließlich das Gebiss überprüfen ließ, glaubte er ihr. „Odins Ebenbild“, murmelte der Mann erstaunt. „Aber woher kennt Ihr Odin?“

„Er war das Pferd meines Vaters“, sagte Aruna, streichelte ein letztes Mal Orlandos Nase, bevor sie sich zu den Anderen setzte. Der Mann folgte ihr schweigend.

„Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt, verzeiht“, sagte Lucan. „Man nennt mich Lucan. Das sind meine Freunde, Arion ...“ Er deutete auf den Mann, der nach Odin gefragt hatte. „... und das ist Roan.“ Lucan nickte in Richtung des Schweigsamen.

„Ich bin Aruna“, stellte sie sich vor. „Ihr versteht sicher, dass ich meinen Namen vorhin nicht nennen konnte, ohne dass ihr, werte Herren, Verdacht schöpfen würdet.“

Die Männer nickten. Schließlich ergriff Arion das Wort. „Sie kann nicht nur kämpfen und trägt das Schwert unseres vierten Bruders, meine Freunde, ihr Pferd ist der Sohn seines Pferdes Odin“, platzte er schließlich heraus.

„Odin?“, fragte Lucan. „Ich habe hier kein Pferd gesehen.“ Arion lachte. „Lucan, seit wann bemerkt Ihr etwas, das Ihr nicht bemerken wollt?“, entgegnete er und Aruna pfiff leise. Es wurde Zeit, dass die Männer Orlando kennen lernten.

Der Rapphengst spitzte die Ohren und trottete dann langsam auf sie zu. „Orlando, mein Freund“, murmelte sie und schmiegte ihre Wange an das weiche Fell seines Kopfes. Der Hengst schnaubte leise und stupste sie sanft an.

Sie klopfte auf den Boden neben sich. „Leg dich schlafen, mein Freund“, flüsterte sie und der Hengst sah sie fragend an. „Nun mach schon, Orlando“, forderte sie ihn auf. Sie klopfte noch einmal auf den Höhlenboden und der Rappe knickte mit den Vorderbeinen ein und legte sich langsam hin. Zum Schluss legte er Aruna den Kopf in den Schoß und schloss die Augen.

„Da sieh einer an!“, rief Arion entzückt. „Sie kann mit diesem Pferd sprechen!“ Aruna streichelte den schwarzen Kopf und fuhr mit den Fingern durch die lange, gewellte Mähne.

„Ja, wir können miteinander sprechen“, bestätigte sie. „Wir sind Freunde, die sich grenzenlos vertrauen. Der eine ist der Schutzengel des anderen.“ Noch immer hingen die bewundernden Blicke der Männer an ihr, doch sie wich ihnen aus und konzentrierte sich ganz auf Orlando.

„Darf ich vorstellen? Das ist Orlando, Sohn des Hengstes Odin, der einst einen sehr mutigen, klugen Asfaloth getragen hatte: Meinen Vater“, sagte sie schließlich.

„Wer war Euer Vater, Aruna?“, richtete Lucan die Frage an sie. Offenbar wollte er eine Bestätigung für eine Vermutung, denn dass er eine hatte, war nicht zu übersehen. Alle Blicke richteten sich auf sie.

„Was nützt Euch dieses Wissen, Lucan?“, wich sie mit einer Gegenfrage aus. Sie wollte nicht mehr von sich preisgeben, als unbedingt nötig sein würde.

„Wir wollen nur wissen, ob er wirklich unser vierter Bruder war“, erklärte Lucan. Aruna schüttelte den Kopf. „Er hatte weder Brüder noch Schwestern, nur mich und die Pferde und lebte allein“, sagte sie. „Ich fürchte, es liegt eine Verwechslung vor.“

„Einst waren wir zu viert - unzertrennliche Freunde, Waffenbrüder, Ordensbrüder der Asfaloth“, sagte Arion. „Bis er ermordet wurde. Sein Tod war ein schmerzhafter Verlust, der uns bis heute in Trauer hüllt.“

„Dann behauptet Ihr weiterhin, Asfaloth zu sein, so wie mein Vater es auch war?“, fragte Aruna und kannte die Antwort schon, bevor Lucan sie aussprach.

„Das sind wir“, bestätigte Lucan und Roan nickte zustimmend, sprach jedoch kein Wort. „Die letzten drei Asfaloth von Silaeta, die es noch gibt.“

„Die letzten drei?“ Aruna war verwirrt. Mit dieser Aussage hatte sie nicht gerechnet. „Was ist mit den anderen Asfaloth geschehen?“

„Der Orden wurde von Rabanus, dem Ratgeber des Königs aufgelöst, vor einigen Tagen. Wir drei sind geflohen, denn wir sind die Einzigen, die ihren Eid niemals brechen und ihre Ehre niemals hinwerfen würden. Wir sind auf der Flucht, gejagt von Rabanus' Handlangern, die uns für unsere Tat ermorden sollen“, erklärte Lucan leise. „Aber wir haben geschworen, den König zu schützen, und das werden wir auch tun!“

Arion nickte. „Der Feind weiß von der Flucht, der Feind kennt unsere Namen, doch unser Herz hat keine Furcht vor schwarz wehenden Fahnen.“

„Was ist das? Seit Ihr ein Dichter?“, fragte Aruna. Arion lachte auf. „Er liebt es, alle möglichen Dinge zu dichten, zu reimen, wenn ihm danach ist“, erklärte Lucan an seiner Stelle. „Das ist eine Eigenart von ihm, an die Ihr Euch gewöhnen müsst, wenn Ihr Euch uns anschließt.“

„Aber Lucan beispielsweise ist starrköpfig, rennt gern mit dem Kopf durch die Wand und übersieht dabei die Tür gleich daneben. Er haut drauf und denkt erst dann über seine Tat nach, obwohl er doch immer wieder sich in der Diplomatie versucht“, meinte Arion.

„Und Arion, immer muss er dichten und den gutmütigen Edelmann spielen. Überlegt stundenlang und manchmal ist es schon längst zu spät, eh er eine Entscheidung gefällt hat. Aber wenn die Entscheidung dann doch mal rechtzeitig kommt ...“, konterte Lucan.

„Dann ist sie brillant!“, unterbrach Arion seinen Redeschwall. „Alle meine Ideen sind brillant. Ich bin sozusagen der Denker unter uns Brüdern. Wie oft hat schon mein brillanter Plan geholfen, uns aus einer verzwickten Situation herauszuholen!“

„Den schärfsten Verstand hat immer noch Roan“, entgegnete Lucan. „Er hat die besten Adleraugen und hat uns oder unsere Mission schon oft genug gerettet.“

„Er hat viel Trauriges in seiner Vergangenheit erlebt. Seitdem spricht er nicht mehr viel“, fügte Arion leise hinzu. „Aber meist wissen wir auch ohne große Worte, was er meint.“

Aruna fragte nicht nach, was denn passiert sei. Die Frage wäre zu unhöflich gewesen. Stattdessen erzählte sie von ihrer Mission.

„Aber wer ist nun Euer Vater, Aruna?“, drängte Lucan sie. Aruna seufzte und beschloss, nun doch den Namen zu verraten. „Sein Name ist Philitis, er war der erste Asfaloth der Königin.“

„Unser Bruder!“, stieß Arion hervor. „Ihr seid wahrhaftig seine Tochter!“

„Natürlich ist sie das. Sie ist ihm so unglaublich ähnlich in allem“, erklang Roans Stimme. Das Erste, was sie aus seinem Munde hörte, seit sie zusammen in der Höhle saßen. Seine Stimme war ruhig, ein sanfter Bariton, der Aruna bis ins Mark ging. Sie mochte seine Stimme sofort und fragte sich erneut, was geschehen war, dass man sie so selten hören konnte.

„Ich habe doch gesagt, dass er den schärfsten Verstand hat, Arion“, rief Lucan. „Aber Ihr seid einfach nur zu arrogant, um das zu akzeptieren!“

„Arrogant? Was bildet Ihr Euch ein?“, konterte Arion, doch als Roan leise knurrte, schwiegen beide wieder. Lucan zuckte mit den Schultern. „Tut mir leid, aber Arion und ich, wir duellieren uns nur allzu gerne mit Worten und Waffen, aber alles auf freundschaftlicher Basis...“

„Aber wenn Ihr doch Asfaloth seid...“, fing Aruna an. Arion jedoch unterbrach sie. „Asfaloth wart“, verbesserte er.

Lucan sprang auf. „Nein!“, fauchte er. „Wir sind und wir bleiben Asfaloth!“

„Mir ist egal, ob ihr welche seid oder wart“, sagte Aruna laut und die beiden Streithähne wurden wieder still. „Ihr habt die Ausbildung durchlaufen. Vielleicht könnt Ihr mir noch die ein oder andere Technik beibringen. Ich will selbst Asfaloth werden.“

Lucan lachte. „Ihr seid nur eine Frau. Ihr dürftet nicht einmal ein Schwert tragen oder reiten, dass wisst Ihr doch hoffentlich, oder?“, warf er ein.

„Und ob ich das weiß!“, rief Aruna selbstbewusst. „Aber wenn der Orden offiziell ausgelöst ist, ist es doch eigentlich egal.“

Arion und Lucan wollten zum Sprechen ansetzen, doch Roan hob die Hand. „Streiten könnt Ihr auch später noch, Freunde. Und sie hat recht.“ Er zeigte auf Aruna, bevor er dann sein Schwert ergriff. „Auf geht's!“, rief er kampflustig und stand auf. „Verteidigt Euch, Aruna!“

Sie genoss seine Stimme und zog ohne ein weiteres Wort ihr Schwert. Dann eröffnete Roan das Duell. Lucan sah erstaunt auf, bevor auch er sich in den Übungskampf einmischte. Es war nicht einfach, gegen zwei Gegner standzuhalten, doch sie schaffte es irgendwie.

Als dann jedoch auch Arion noch am Kampf gegen Aruna teilnahm, wurde es wirklich schwer für sie. Aruna wollte nicht als schwache Frau einfach aufgeben und kämpfte tapfer weiter, bis Roan die Hand hob und den Kampf abbrach.

„Sie hat Talent. Wir werden ihre Kampfkünste weiter trainieren“, beschloss Roan, ohne sich mit den anderen zu beraten. Dann versank er wieder in seinem Schweigen.

Arion nickte langsam. „Gut, Aruna, dann bleibt Ihr bei uns und wir trainieren Euch, wenn Ihr Euch uns anschließen möchtet“, versprach er. Aruna willigte ein. Von da an reiste sie mehrere Tage mit den Rebellen umher und lernte von ihnen die Kampftaktiken der Asfaloth. Da sowohl sie als auch ihre neuen Freunde von niemandem erkannt werden durften, versprachen sie sich gegenseitig, die Identitäten einander zu schützen.

9

„Leonardo, Euer Vater wartet“, hörte er Sylvias Stimme. Und dann klopfte es an der Tür seines prächtigen Privatraumes. „Seid Ihr fertig?“

„Noch nicht“, antwortete er, während eine Zofe ihm beim Anziehen des Seidenhemdes half. Dann legte er das bestickte Wams an und kroch in seine Stiefel, während eine andere Zofe an seinem dunkelbraunem Haar herumfingerte.

„Beeilt Euch, Leonardo“, drang Sylvias Stimme erneut durch die schwere Tür aus Eichenholz. „Euer Vater wird langsam ungeduldig.“

„Schon gut, schon gut!“, erwiderte der Prinz genervt und sprang auf, wobei er fast den Stuhl umstieß. Er lief zur Tür, legte seinen Umhang an und ging hinaus.

„Da seid Ihr ja endlich!“, sagte sie erleichtert. „Wie geht es Euch?“ Leonardo wandte den Blick von ihr ab und schüttelte mürrisch den Kopf. „Ganz und gar nicht gut“, erklärte er. „Ich will mir heute nicht meine Braut aussuchen müssen.“

„Ihr könntet ja fliehen!“ Sylvia lachte über ihren eigenen Witz, wurde dann aber schnell wieder ernst.

„Nun zieht nicht so ein Gesicht. Ihr werdet sicher eine hübsche Frau finden, die Euch liebt. Immerhin seid Ihr anmutig und könnt tanzen. Die Damen werden Euch bestimmt allesamt zu Füßen liegen.“

„Was will ich denn mit einer Dame, die mich nur aufgrund meines Äußeren anbetet? Wenn schon, dann will ich eine Frau, die mich wirklich liebt und nicht nur meinen Stand, meine Talente oder mein Aussehen“, sagte er und lief mit hängendem Kopf schweigend neben Sylvia weiter zum Festsaal.

Fliehen. Dieses Wort war Musik in seinen Ohren.

Fliehen. Aber wie sollte er das schaffen, wo doch sein Vater ihn nicht aus den Augen lassen würde. War es möglich, fliehen zu können, ohne Ärger zu bekommen?

Mit Sicherheit nicht. Ärger würde es geben, dass wusste Leonardo nur zu genau. Und er wusste, dass er mit allen Mittel versuchen würde, sich dieser Brautschau zu entziehen.

Fliehen. Ja, er würde von diesem Fest fliehen. Er brauchte nur noch eine Idee, wie er das anstellen konnte. Aber er würde es schaffen. Irgendwie...

Mit neuem Mut und schwungvollen Schritten lief der junge Prinz in den Saal. Es spielte noch keine Musik, aber die Gäste - allesamt reiche Familien mit ihren Töchtern - standen an einer Wand aufgereiht und unterhielten sich leise murmelnd.

Als sie jedoch Leonardo erblickten, verfielen alle in ein erwartungsvolles Schweigen. Die Gäste verneigten sich respektvoll, nur der König blieb bewegungslos auf seinem Thron sitzen und Sylvia hinter Leonardo verharrte in der Bewegung.

Die Wächter, welche an den Wänden aufgestellt waren, neigten kurz den Kopf, bevor sie wieder in ihre steife Haltung zurückfielen und mit wachsamen Augen das Geschehen im Saal verfolgten. Sie waren nur ein dürftiger Ersatz für die Asfaloth und sicherlich von Rabanus ausgewählt.

Genau so hatte er das kommen sehen. Die Damen lagen ihm zu Füßen, alle wollten unbedingt seine Braut werden und sein Vater sah ihn erwartungsvoll an.

Nein, er würde heute nicht heiraten. Er würde sich auch heute keine Braut wählen. Vielleicht später irgendwann, wenn er eine Frau fand, die nicht nur seinen Stand, sondern vor allem ihn als Menschen lieben würde.

Aber solche Damen gab es nicht. Nicht hier und nirgendwo in Silaeta. Es war hoffnungslos, aber das wollten weder sein Vater noch Sylvia begreifen.

Er setzte sich auf seinen kostbar verzierten Thron und schwieg. Dann kam ein kleiner Diener mit einer ellenlangen Liste in der Hand angerannt. Wenn man diese Liste komplett ausrollen würde, dann würde sie wohl am anderen Ende des Saals beginnen, mutmaßte Leonardo.

Der Diener räusperte sich und der König hob die Hand, um die Wenigen, die nun noch einmal ein paar Worte miteinander wechselten, zur Ruhe zu bitten. Der Saal hüllte sich augenblicklich in ein tiefes Schweigen.

Dann räusperte sich der Diener erneut und begann, die Gästeliste vorzulesen und alle Personen nacheinander vorzustellen. Die aufgerufenen Familien traten nach vorn, verbeugten sich vor der Königsfamilie und verschwanden dann wieder in der Menschenmasse.

Manche der Töchter legten auch rote Rosen vor Leonardos Thron - ein Zeichen, dass sie um ihn warben, aber Leonardo würdigte die Blumen keines einzigen Blickes.

Die ganze Prozedur dauerte länger, als Leonardo erwartet hatte. Die Blumen stapelten sich, die Zeit verstrich. Er hatte schon zu Beginn nicht auf die Namen der Familien und Töchter geachtet, saß bloß gelangweilt auf dem Thron und wartete.

Vergeudete Zeit, wie er fand. Er hätte die Zeit viel sinnvoller mit Persia verbringen können. Die Gesellschaft des Schimmelhengstes war ihm in jedem Fall lieber als eine Brautschau. Wozu brauchte er schon eine Braut? Und warum ausgerechnet jetzt?

Der König sah Leonardo auffordernd an, als der Diener seine Liste komplett vorgelesen hatte. „Los, sucht Euch eine Dame aus und eröffnet den Tanz, mein Sohn“, sagte er und schob den Prinzen ohne ein weiteres Wort von seinem Thron.

Mit einem leicht mürrischen Ausdruck sah er sich kurz die Damen an und stellte schnell fest, dass eigentlich alle gleich aussahen: Blonde oder braune Haare, die meisten spindeldürr, ein paar wenige Ausnahmen wie aufgebläht, und alle trugen lange, mehr oder weniger elegante Kleider. Eine wirkliche Naturschönheit war keine. Sie wirkten allesamt wie Puppen.

Der Prinz zuckte mit den Schultern, drehte sich ein paar Mal mit geschlossenen Augen im Kreis und lief dann einfach los, bis er vor einer der Damen stand.

Sie trug ein mit Perlen verziertes, smaragdgrünes Kleid. Das Haar fiel ihr aalglatt über ihre Schultern. Eine kantige Nase entstellte ihr Gesicht. Keine sonderliche Schönheit, fand Leonardo.

Dennoch tanzte er mit ihr den Eröffnungstanz und kam dabei auf die Idee, sich einfach an den Wachen vorbei zu schleichen. Er beendete den Eröffnungstanz, verabschiedete sich von der Dame und eilte in Richtung Ausgang, als ihm schon die Nächste am Arm hing.

Er fluchte leise und akzeptierte den Tanz. Solange musste er ja bestimmt nicht auf seine nächste Chance warten.

Doch auch der nächste Versuch scheiterte. Bevor er den Ausgang erreichte, musste er mit der nächsten Werberin tanzen. Allmählich sah er ein, dass die Flucht wohl noch nicht ganz so einfach werden würde. Er brauchte dringend einen neuen Plan.

„Mein Prinz, Ihr tanzt so ausgesprochen hervorragend“, bemerkte die Dame, mit der er gerade tanzte. Eine Schleimerin, stellte er rasch fest und hatte plötzlich einen neuen Fluchtplan. Dieser würde vielleicht sogar funktionieren.

„Danke sehr“, erwiderte er und versuchte, ein künstliches Lächeln aufzusetzen. Ein echtes wollte ihm nicht gelingen, doch die Dame dufte seinen Plan nicht durchschauen, sollte sie doch selbst ein Teil von diesem werden.

„Ihr tanzt aber auch sehr gut. Darf ich Euren werten Namen erfahren, meine Dame?“, frage er und betrachtete sie eine Weile. Langes blondes Haar, kunstvoll zusammengesteckt, ein hellblaues Kleid und ein doch recht schönes Gesicht. Nicht die schönste aller Damen, aber glaubwürdig genug für seinen Plan, fand der Prinz.

„Ich bin Juliette“, sagte sie und knickste leicht. Dann lächelte sie. Er tanzte schweigend weiter, um seinem Vater den Eindruck zu vermitteln, dass er eine Dame gefunden hatte.

Schließlich nahm er sie an der Hand und ging zur Tür. „Ich sehe, dass Euch zu warm wird“, bemerkte Leonardo. Ihm war egal, ob ihr wirklich warm war oder ob sie fror. „Ich bringe Euch kurz nach draußen, dort sind wir außerdem auch noch ungestört.“

Juliette willigte ein und strahlte. Innerlich lächelte er, aber nur aus Freunde über seinen funktionierenden Fluchtplan. Dass er so schnell eine so naive Dame finden würde, hatte er nicht gedacht. Doch offenbar war diese Juliette wohl schon im Glauben, dass sie die zukünftige Prinzessin von Silaeta werden würde.

Er nahm ihre Hand und führte sie an den strengen Wachen vorbei nach draußen in die Schwärze der lauwarmen Nacht. Bis zum Stall waren es nur wenige Meter und der Hof war wirklich schlecht beleuchtet. Welch ein Glück!

„Verzeihung, Dame Juliette“, fing Leonardo an. „Ich glaube, ich hörte so eben jemanden meinen Namen rufen. Wartet hier einen Augenblick!“ Juliette nickte und Leonardo lief los. Zuerst langsam, dann immer schneller und schließlich sprintete er in den Stall.

In einer Ecke hatte er noch ein paar besondere Kleidungsstücke versteckt. Tarnkleidung, wie er es nannte, da man ihn in dieser Kleidung nicht erkannte. Eine Reithose, schlichte Stiefel und ein langes Gewand aus weißem, dünnem Leder, welches teils mit Metall verstärkt war. Eine Art versteckte Rüstung.

Rasch band er sich den Waffengürtel um, den er bereits am Nachmittag bei seiner Kleidung versteckt hatte, und legte die Armschienen an. Eine davon verbarg sogar ein kleines Geheimnis. Ein Ass im Ärmel für besonders heikle Situationen.

Er sah kurz an sich herab, um sich zu vergewissern, dass seine Haut an keiner Stelle außer den Händen zu sehen war und zog schließlich farblich zu den Reitstiefeln passende Handschuhe an.

Blitzschnell und ohne jedes Geräusch sattelte er seinen Hengst Persia, führte ihn aus dem Hinterausgang des Stalles und schwang sich in den Sattel. Auf einem unscheinbaren Pfad ritt er vom Hof und verschwand lautlos in der Nacht.

Er hatte nicht einmal Gewissensbisse, dass er die arme Juliette allein auf dem Schlosshof zurück ließ. Irgendjemand würde sie schon finden und wieder in den Saal bringen.

Endlich war er frei! Keine Brautschau mehr! Keine Hochzeit mehr! Nur noch Freiheit, sein geliebter Persia und die weite Wüste, die er so liebte.

Sein Vater würde wohl nicht besonders gut gelaunt sein, wenn Leonardo zurück kehren würde, doch alles war besser, als heiraten zu müssen.

Und dem Prinzen war ein kurzzeitig wütender Vater lieber, als eine dieser Damen als Braut und dann als Frau für den Rest seines Lebens an seiner Seite zu wissen.

Er hatte keine Zeit für eine Frau. Nicht jetzt. Vielleicht später einmal. Bestimmt später einmal, aber nicht jetzt.

10

Aruna scherzte und lachte mit ihren neuen Freunden. Sie lebte nun seit einigen Tagen bei ihnen und lernte jeden Tag mehr dazu.

„Bleibt ihr hier oder kommt ihr mit mir ausreiten?“, fragte sie und ging zu Orlando. Arion schüttelte jedoch den Kopf.

„Jeden Tag reiten? Nein, unsere Pferde brauchen dringend einen Ruhetag. Und Anatol hat sich letztens ein Bein vertreten und lahmt heute ein wenig“, meinte der Asfaloth. „Viel Vergnügen bei Eurem Ritt, Aruna. Gebt Nachricht, wenn irgendetwas schiefläuft.“

Er lachte und Aruna sattelte ihren Rapphengst. Orlando war voller Tatendrang - wie immer, denn er hasste das Warten und Stillstehen. Sie dachte an Arions Worte und beschloss, all ihr Hab und Gut mitzunehmen. Sollte sie aus irgendeinem Grund nicht zurückkehren können, würde sie wenigstens alles bei sich haben und keine Verluste von wertvollen und bedeutsamen Dingen riskieren.

Der Hengst schnaubte, als sie aufsaß. Rasch kontrollierte sie noch einmal die Waffen an ihrem Gürtel und legte den Mantel so darüber, dass man das Schwert nicht sofort sehen konnte. Die Kapuze jedoch setzte sie erst einmal nicht auf. Solange niemand in der Nähe war, musste sie sich auch vor niemanden verstecken.

Orlando trabte ausgelassen durch den warmen Wüstensand und Aruna genoss seinen Gang. Dann galoppierte er von allein an und sie ließ ihm die Zügel lang, damit er sich strecken und seinen Weg finden konnte.

Ihr Herz schlug im Takt der Hufschläge, die auch im Sand nicht vollkommen lautlos waren. Der Dreitakt donnerte ihr durch Mark und Bein.

Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als sich nicht mehr verstecken zu müssen und frei leben zu können. Als Mann, als Krieger, als Asfaloth. Geachtet und respektiert von allen Männern Silaetas. Dennoch wusste sie, dass dies niemals möglich sein würde.

Aruna parierte Orlando durch, stülpte den Handschuh über ihre Faust und rief Altair zu sich. Der Bussard flog zu ihr und ließ sich auf ihrer Faust nieder.

„Mein Freund, du musst in meiner Nähe bleiben. Vielleicht musst du Lucan, Arion und Roan eine dringende Nachricht überbringen, falls mir etwas geschehen sollte. Die Wüste ist gefährlich“, erklärte sie und ließ den Vogel wieder fliegen. Sie wusste, dass Altair sie verstanden hatte.

Dann zog sie eine Feder und ein Tintenfass sowie einige Blätter Papier aus ihrer Satteltasche. Arion war der Meinung gewesen, dass man immer und überall etwas zum Schreiben dabei haben sollte und hatte ihr diese Dinge geschenkt.

Aruna konnte Schreiben. Lesen und Schreiben wurden den Asfaloth gelehrt und ihr Vater hatte es ihr beigebracht. Kaum eine andere Frau konnte lesen oder schreiben. Die meisten hatten nicht genug Geld für eine Ausbildung bei einem Asfaloth. Wäre ihr Vater nicht ebenfalls Asfaloth gewesen, hätte Aruna auch nicht Lesen und Schreiben lernen können.

Rasch kritzelte sie eine kurze Nachricht darauf. „Wurde von jemanden gefunden, werde vor den König geführt“, stand danach auf dem Papier. Das war die einzige bedeutende Gefahr, der sie allein in der Wüste ausgesetzt war. Wenn sie wirklich gefunden werden würde, dann hatte sie sicher keine Zeit mehr, eine Nachricht zu schreiben, sondern musste gleich Altair rufen und ihm die Nachricht geben.

Aruna hoffte natürlich, dass sie die Nachricht niemals abschicken musste, aber jede Tarnung konnte plötzlich auffliegen, egal wie sicher sie auch schien. Es konnte alles passieren, egal wie gut man sich darauf vorbereiten würde, und sie hatte so ein eigenartiges Gefühl an diesem Tag.

Nach ein paar Metern hielt sie ihren Hengst erneut an. Nicht besonders weit von ihr entfernt kämpfte eine einzelne Gestalt in weißen, wehenden Gewändern gegen fünf Männer in Schwarz verzweifelt um sein Leben. Zumindest sah es in Arunas Augen danach aus.

Sie zog die Kapuze über ihren Zopf und galoppierte auf das Geschehen zu. Je näher sie kam, desto besser sah sie den einzelnen Kämpfer. Er war groß, wahrscheinlich gut gebaut - obwohl sie das aufgrund der wehenden Kleidung nicht ganz einschätzen konnte - und war äußerst geschickt mit dem Schwert, worum sie ihn fast beneidete.

Und er war hoffnungslos in der Unterzahl.

Plötzlich ließ er die linke Hand nach hinten klappen und aus einer Armschiene am Unterarm schoss blitzend eine Klinge hervor, welche er sofort einem der Männer in die Kehle rammte. Das schneeweiße Pferd des weißen Kriegers stieg und keilte danach mit den Hinterhufen aus, wobei es einen weiteren schwarzen Krieger verwundete.

Aruna war beeindruckt, doch dann schoss ihr wieder der Gedanke in den Sinn, dass der weiße Mann gegen drei Gegner immer noch in der Unterzahl war und durch eine der gegnerischen Klingen sterben könnte.

Noch ein Stück tiefer zog sie ihre Kapuze und griff nach ihrem Schwert, bevor sie sich in das wilde Kampfgetümmel stürzte. Sie wollte diesem weißen Krieger beistehen, wer immer er auch sein mochte.

Orlando keilte nach den schwarzen Männern aus, sobald sie in seiner Nähe waren. Aruna schwang ihr Schwert und versuchte, die Angreifer von dem weißen Krieger abzulenken. Als ein schwarz-gewandter Krieger zu Boden ging, wusste sie nicht, welche Klinge ihn wirklich getroffen hatte.

Triumph wallte in Aruna auf. Nun war es ein fairer Kampf - zwei gegen zwei. Sie hatte keine Ahnung, ob der weiße Krieger ihr Eingreifen bemerkt hatte, doch sie würde nach dem Kampf herausfinden, wer er war - dazu war jetzt keine Zeit.

Wieder ging ein Krieger zu Boden. Orlando hatte ihn am Kopf mit einem seiner harten Hufe getroffen. Angewidert sah sie weg. Sie wollte sich nicht von ihren mörderischen Taten ablenken lassen.

Und schließlich stach der weiße Mann den letzten Krieger nieder und wandte sich dann verblüfft zu ihr um. „Herr, ich danke Euch“, sagte er und nickte, um seine Worte zu bekräftigen. Seine Stimme klang warm und herzlich. „Ihr habt mich gerettet. Mein Dank gebührt nur Euch.“

Aruna verbeugte sich leicht, während sie noch immer im Sattel saß. „Es war mir eine Ehre, mein Herr“, erwiderte sie in tieferer Stimmlage.

Doch dann zog der Mann seine Kapuze vom Kopf und Aruna erstarrte augenblicklich. Es war nicht irgendein Herr, sondern kein Geringerer als Prinz Leonardo von Silaeta, der Thronfolger höchstpersönlich.

„Ihr könnt sehr geschickt mit dem Schwert umgehen“, stellte er fest und schob seine Waffe in den Gürtel. Arunas Blick folgte seinen geschmeidigen Bewegungen. Er trug einen Waffengürtel, an dem mehr Waffen hingen, als sie je zuvor gesehen hatte. Dolche, ein Langschwert, ein Kurzschwert, ein Säbel und viele kleine, sicher äußerst scharfe Messer.

„Wie lautet Euer Name?“, fragte er. Aruna hob stolz den Kopf. Wenn sie ihren Schreck nicht sofort überwinden würde, schöpfte der Prinz vermutlich Verdacht.

„Ich habe keinen Namen“, erklärte sie kurz. Der Prinz sah sie irritiert an. „Keinen Namen, sagt Ihr? Aber wie soll ich Euch dann nennen? Wem darf ich dankbar sein für seine mutige Unterstützung?“

„Ich habe keinen Namen“, wiederholte Aruna. „Aber wenn Ihr, mein Prinz, unbedingt einen Namen hören wollt, so nennt mich Vagabund, wie alle in dieser Gegend. Denn das ist es, was ich bin: Ein Vagabund.“

Er senkte den Kopf ein wenig, so als müsste er nachdenken, ob er diesem Vagabund schon jemals begegnet war oder von ihm gehört hatte.

„Sagt mir, Vagabund, wollt Ihr nicht Eure Kapuze abnehmen?“ Aruna schüttelte rasch den Kopf. „Verzeiht, mein Prinz, doch ich bin arg in Eile“, ignorierte sie seine Aufforderung. „Lebet wohl, mein Prinz!“

Sie wendete Orlando und galoppierte zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war. Flucht war alles, was ihr noch helfen konnte. Wenn der Prinz sie als Frau erkennen würde, würde sie definitiv ohne Umweg vor dem König landen. Keine besonders schöne Aussicht.

Orlando zog an und Aruna blickte kurz zurück über die Schulter. Mit jedem Galoppsprung wurde der Prinz kleiner und kleiner. Bald war er schon mehr als hundert Meter von ihr entfernt.

Sie wollte gerade erleichtert ausatmen, als ihre Kapuze ins Rutschen geriet. Aruna versuchte, danach zu greifen, doch sie glitt ihr durch die Finger. Dann gab sie ihr Geheimnis preis und der lange, rotblonde Zopf wehte hinter ihr her.

 

 

*** Ende der Leseprobe ***

 

 

Dieses Buch ist auf Amazon als Taschenbuch (8,99€) und in vielen weiteren Shops als eBook (1,49€) erhältlich:

http://von-der-buecherfreundin-zur-autorin.blogspot.de/p/shop-liste_5.html

Die Palominostute

Die Palominostute

 

Jennifer hat viel zu tun: Der Tag der offenen Tür auf dem Gestüt steht an, die Kreismeisterschaften rücken näher und ausgerechnet ein guter Freund ist in sie verliebt. Da bleibt kaum Zeit, an etwas anderes zu denken - bis ihre Stute Calista spurlos über Nacht verschwindet. In einer einsamen Waldhütte findet Jennifer dann ein uraltes Tagebuch und nichts ist mehr wie zuvor - denn plötzlich ist da Ingrid, die vor einhundert Jahren gestorben ist. Kann Jennifer aus der Gegenwart Ingrid aus der Vergangenheit helfen? Und wo ist Calista?

 

 

 

erschienen: XXX 2015

Kapitel 1: Gestüt Graf

Lachend parierte ich mein Pferd durch und klopfte ihm den Hals. Der dunkelgraue Kaltblutwallach schüttelte den Kopf und schnaubte freudig. Er liebte es genau wie ich, im Galopp durch den Wald zu preschen.

"Komm schon, Großer. Auf nach Hause!", rief ich. "Cheyenne macht sich bestimmt schon wieder Sorgen um uns." Der Wallach schnaubte enttäuscht und schüttelte erneut den Kopf.

Ich lachte. "Ich weiß ja, Herkules. Ich würde den Ausritt auch gern noch etwas ausdehnen, aber ich muss noch meine Stallarbeiten erledigen. Und außerdem wird es bereits dunkel."

Cheyenne Graf war siebenundzwanzig Jahre alt und meine älteste Schwester. Nach dem Tod meiner Eltern hatte sie mit ihrem Mann Jonas ohne zu zögern das Gestüt Graf in vierter Generation und die Vormundschaft über mich und meine jüngste Schwester Alice übernommen.

Im Grunde war sie uns allen stets eine gute Freundin und Chefin, wenn sie nicht immer so schrecklich übervorsichtig sein würde. Sie drehte förmlich durch, wenn eines ihrer Geschwister sich um ein paar Minuten bei einem Ausritt verspätete oder sich nicht abmeldete.

Und Cheyenne hatte einige Geschwister, um die sie sich Sorgen machen konnte.

Als sie gerade den dritten Sommer erlebt hatte, erblickten die Zwillinge Marc und Tobias das Tageslicht. Sie waren eineiige Zwillinge, doch das beschränkte sich scheinbar nur auf das Äußere.

Marc war der geborene Wirtschafter, er lebte und wirkte in Zahlen und wachte nach seinem Studium in Betriebswirtschaftslehre eisern über alle finanziellen Dinge, die das Gestüt betrafen. Gemeinsam mit Nathalie, seiner langjährigen Lebenspartnerin, bewohnte er die obere Hälfte des Nordflügels im Haupthaus.

Tobias dagegen waren Zahlen egal. Stattdessen hatte er solch ein Charisma, dass es ihm nicht besonders schwer fiel, Kontakte zu knüpfen - sowohl zu Frauen als auch zu anderen Züchtern, Ausbildern und Richtern. Wenn irgendwo etwas stattfand, war er stets zu Stelle und repräsentierte das Gestüt. Im Vergleich zu seinem Bruder wechselten die Freundinnen an Tobias' Seite. Zu Zeit lebte Johanna bei ihm unteren Teil des Nordflügels, denn er hatte sich geweigert, für sie das Gestüt zu verlassen.

Und dann war da noch Alexa, meine zwanzigjährige Schwester. Sie leitete die Reitschule des Gestüts und absolvierte eine Weiterbildung zur Reittherapeutin. Sie war der absolute Ruhepol des Gestüts, der uns alle zusammen hielt. Alexa war inzwischen mit Sven zusammen, der ebenfalls auf dem Gestüt Graf das Reiten gelernt hatte, um seine damalige Freundin zu beeindrucken. Nur dass diese nicht besonders beeindruckt war, als sie von den Reitstunden erfahren hatte. Ein paar Wochen nach seinem ersten Galopp hatte sie mit ihm Schluss gemacht.

Ich selbst trug den Namen Jennifer und hatte gerade mein neunzehntes Lebensjahr erreicht. Somit war ich Cheyennes zweitjüngste Schwester. Mein Leben war der Turniersport - sowohl mit den Pferden aus unserer Zucht, als auch mit Calista, meiner wunderschönen Palominostute. Sonst war ich eine absolut durchschnittliche Frau mit einem rotbraunen Kurzhaarschnitt. Kurze Haare waren einfach praktischer, wenn man jeden Tag über Stunden eine Reitkappe trug oder im Stall arbeitete. Mit gerade mal zwei Jahren saß ich zum ersten Mal auf einem Pony. Es hätte mich gewundert, wenn es anders gewesen wäre, da ich quasi im Stall aufgewachsen bin.

Das Schlusslicht in der Familie bildete die sechzehnjährige Alice. Sie war am wenigsten in den Betrieb eingebunden, da sie noch zur Schule ging und mit ihren Vorzeigenoten später Tiermedizin studieren wollte.

Alice war ebenso wie ich noch Single, obwohl sie bereits einige Beziehungen hinter sich hatte. Möglicherweise war sie deshalb auch meine engste Vertraute und beste Freundin. Wann immer mir etwas auf der Seele brannte, war Alice sofort zur Stelle und hielt mir den Rücken frei. Dafür konnte sie sich auch stets auf meine Hilfe verlassen.

Ich zog die Kapuze tiefer ins Gesicht, als ich die Zufahrt des Gestüts entlang ritt. Die Jacke klebte an meiner Haut, das Wasser lief mir in die Stiefel und sickerte durch meine Socken. Was für ein widerliches Wetter!

Doch Herkules und ich waren diese Regengüsse gewohnt. Wir kamen lieber nass bis auf die Haut zum Hof zurück, als ganz auf unseren Ausritt zu verzichten.

"Jenny, du warst doch nicht wirklich bei diesem Mistwetter ausreiten, oder?", rief Alice mir entgegen. An ihrer Hand tänzelte eines der Jungpferde, welches sie gerade von der Halle in den Stall brachte. Ich lachte.

"Doch, natürlich. Es ist doch nur Regen", erwiderte ich.

Alice sah zum Himmel und zog die Kapuze ihres Regenmantels ins Gesicht. "Nur ein bisschen Regen, ja?", wiederholte sie. "Jenny, es gießt wie aus Kübeln!"

"Ich lebe noch", sagte ich und fuhr mit den Füßen aus den Steigbügeln. Sie schüttelte den Kopf und zupfte am Führstrick, bevor sie Richtung Stall marschierte.

"Ach ja, Cheyenne hat schon nach dir gesucht", teilte sie mir im Gehen mit.

"Cheyenne hat sich also tatsächlich Sorgen um mich gemacht", wiederholte ich leise, lenkte Herkules in den Stall und streifte mit meine Kapuze ab. Es tat mir irgendwie leid, dass sie sich immer um mich sorgen musste, dabei hatte ich doch im Grunde genommen nichts falsch gemacht. Ich hatte mich ordentlich abgemeldet und war pünktlich zurück auf dem Hof.

"Wann versteht sie endlich, dass ich gut auf mich allein achtgeben kann?", murmelte ich.

Geübt schwang ich mein rechtes Bein hinten über den Sattel und rutschte von Herkules' Rücken. Die Regenjacke ließ ich achtlos hinter mir fallen. Dann löste ich den Riemen meiner Reitkappe und brachte den Wallach in seine Box, wo ich ihm das Sattelzeug abnahm.

Der Herbst war hier in der Gegend schon immer sehr regnerisch gewesen, doch ich musste meine Pferde bewegen - egal bei welchem Wetter. Mit allen Pferden konnte man in die Reithalle ausweichen, doch der Kaltblüter fand daran keinen Spaß, weshalb ich ihn stets mit ins Gelände nahm.

Calista dagegen war anders. Sie liebte das Gelände, doch sie hasste den Regen. Sie hasste alles, was mit Wasser in Verbindung stand und nahm lieber riesige Sprünge in Kauf, als sich die Hufe nass zu machen.

Mich erstaunte es immer wieder, wie unterschiedlich meine beiden Pferde doch waren. Und egal, wie oft ich gefragt wurde: Ich wusste nicht, welches Pferd ich je dem anderen vorziehen würde. Ich liebte sie alle beide über alles.

 

*****

 

"Jennifer, was hast du dir dabei gedacht, bei diesem Wetter auszureiten!?", rief Cheyenne sogleich, als ich die Tür zu ihrem Büro öffnete.

"Es ist nass, es ist kalt und du erkältest dich bloß wieder, ganz zu schweigen von Herkules!"

"Cheyenne, beruhige dich", warf ich ein. "Ich bin neunzehn. Volljährig. Glaubst du nicht, dass ich auf Herkules und mich aufpassen kann?"

Meine Schwester schüttelte den Kopf. "Das ist es nicht. Du passt auf Herkules auf, aber kannst du bei solchem Wetter ..." Um ihre Wort zu unterstützen, zeigte sie zum Fenster. "... nicht die Halle benutzen?"

"Du weißt doch genau, dass Herkules die Halle hasst. Wir sind schließlich nicht aus Zucker", entgegnete ich leicht genervt. Wir führten diese Diskussion nicht zum ersten Mal.

Cheyenne schüttelte den Kopf. "Das weiß ich doch, aber... Ach, du weißt schon!", sagte sie. "Ich mache mir einfach nur Sorgen um dich, seit du damals diese zwei Nächte verschollen warst."

Ich konnte sie verstehen, auch wenn das Ereignis, welches sie angesprochen hatte, schon weit zurück lag.

Es hatte sie sehr geprägt. Ich war damals vierzehn und zu einer Geburtstagsparty eingeladen. Cheyenne hatte mich begleitet, um auf mich aufzupassen. Doch ich hatte mich heimlich davon geschlichen und mit meinem besten Kumpel Shane Reichmann gewettet, dass ich den Mut hatte, zu spät nach Hause zu kommen.

Ich hatte gewonnen, doch meine Eltern waren schrecklich wütend gewesen. Und ich war wütend auf Cheyenne gewesen, weil sie mir hinterher eine Standpauke gehalten hatte.

Am Ende der Diskussion wurde mir jeder Kontakt zu Shane verboten, denn sie befürchteten, dass er einen schlechten Einfluss auf mich ausübte.

Als ich Hausarrest bekommen hatte, war ich nachts aus dem Fenster geklettert. Damals hatte ich so etwas regelmäßig getan, wenn ich nicht schlafen konnte oder wollte, um noch einmal heimlich zu den Pferden in den Stall gehen zu können.

Doch in jener Nacht ging ich nicht zu den Pferden, sondern lief weg. Nicht besonders weit weg, doch weit genug, um das Gestüt nicht mehr zu sehen. Mein Ziel war eine Hütte im Wald, welche Shane und ich aus alten Brettern gebaut hatten, als wir noch Kinder waren. Ich verharrte dort zwei Nächte, bevor Shane mich fand.

Cheyenne, geplagt von Schuldgefühlen, hatte damals Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um nach mir zu suchen. Schließlich hätte sie auf mich Acht geben sollen. Sie war grenzenlos erleichtert, als Shane mich nach Hause gebracht hatte.

Shane war noch immer mein bester Kumpel und Nachbar. Wir kannten uns seit dem ersten Lebensjahr, gingen gemeinsam in den Kindergarten und in die Grundschule. Sandkastenfreunde sozusagen.

Später wurde gemunkelt, wir wären ein Paar, doch das waren wir nie. Shane und ich, wir waren das lebende Beispiel, dass Jungen und Mädchen einfach nur befreundet sein konnten.

"Entschuldigung, Cheyenne", sagte ich schließlich. "Ich erledige jetzt meine Stallarbeiten, falls du nichts dagegen hast."

Sie schüttelte den Kopf. "Morgen soll es übrigens regenfrei bleiben", bemerkte sie, als ich mich umdrehte, um zu gehen.

"Ach, Jennifer, die Bestätigung für das Turnier am Wochenende ist gekommen. Trainiere noch ein wenig mit Calista und Karamell. Momentan laufen die Geschäfte nicht so besonders und ein wenig positive Werbung würde uns gut tun."

Wie immer startete ich nicht nur mit meiner eigenen Stute in der Vielseitigkeit, sondern auch mit einem der Jungpferde. Momentan war dies die neunjährige Karamell, welche sich vor allem im Springen hervorragend schlug. Ihre Erfolge sollten potenzielle Käufer und neue Reitschüler anlocken.

"Geht klar, Schwesterherz. Dann werde ich morgen auf die Geländestrecke mit Calista gehen, wenn diese nicht völlig überflutet ist", erwiderte ich und verließ das Büro.

 

****

 

Wir betrieben, wie gesagt, ein Familiengestüt, welches sich auf Fjordpferde spezialisiert hatte. Da wir nur einen fest angestellten Mitarbeiter von außerhalb der Familie hatten, nämlich den alten Georg, mussten alle mit anpacken. Jeder hatte zwei bis vier Jungpferde, die er versorgte und ausbildete.

In meinem Teil des Stalls standen neben meinen beiden eigenen Pferden Calista und Herkules auch drei Falben, die mich bereits neugierig ansahen, als ich mich ihnen näherte: der fünfjährige Golden Prince, die neunjährige Karamell und der dreijährige Faramir.

"Na, Fara", begrüßte ich den jungen Rotfalben-Wallach, schüttelte den Eimer mit seinem Futter in den Trog und prüfte die automatische Tränke, bevor ich die Box verließ.

Faramir, dessen Namensgeber eine Figur aus Der Herr der Ringe war, hatte gerade seine Reitausbildung begonnen. Seit gut zwei Wochen konnten wir ohne Longe einen mehr oder weniger schönen, jedoch nicht ganz ausbalancierten Galopp hinlegen.

Karamell schlug gegen die Boxentür und wieherte fordernd, als sie erkannte, was das für Eimer waren, die ich mitgebracht hatte.

"Ruhig, Kara", murmelte ich. "Schon gut, Süße, ich habe dich nicht vergessen." Karamell hasste es, wenn ich mich mit ihrem Abendessen auch nur um drei Minuten verspätete. Heute waren es zehn gewesen, wegen Cheyennes Standpauke.

Ich schob Karamells Nase zur Seite und schüttete den Eimer aus. Dann prüfte ich auch ihre Tränke und huschte aus der Box.

Der Eimer von Prinz stand noch in der Futterkammer. Georg war nicht nur als Pferdepfleger bei uns tätig, sondern auch als Futtermeister. Jede Mahlzeit für jedes Pferd stellte er ganz gewissenhaft zusammen. Diese Eimer trugen die Namen der Pferde, um Verwechslungen auszuschließen.

Prinz wieherte laut, als ich die Futterkammer wieder verließ. Er hatte keine Lust, auf sein Abendessen zu verzichten, während seine Kameraden genüsslich mampften. Ich stellte den Eimer ab und schob die Boxentür auf.

"Prinz, lass mich doch rein", murmelte ich. Doch das Fjordpferd dachte nicht daran und presste sein gelbfalbenes Hinterteil genau in die Tür, so dass ich nicht hinein konnte.

"Prinz, lass doch den Unsinn! Es geht hier um dein Abendessen...", säuselte ich. Der Falbe drehte den Kopf zu mir und guckte mich traurig an.

"Ich kenne dich schon, du Schauspieler", lachte ich und schlüpfte hindurch, sobald Prinz seine Stellung aufgab. Nun konnte das Pferd es überhaupt nicht mehr erwarten und stürzte sich über den Trog. Ich prüfte seine Tränke, strich Prinz über den Hals und verabschiedete mich dann von allen drei Pferden, bevor ich die leeren Eimer gegen die von Herkules und Calista tauschte und mich zu meinen Pferden aufmachte.

"Hey, ihr beiden", begrüßte ich das Kaltblut und die Palominostute. Ich gab beiden das Futter und ging dann zu Herkules, um ihn zu putzen. Nach dem Ritt war er zu nass dafür gewesen, so dass ich ihm nur eine Decke übergeworfen hatte.

Herkules war eines der wenigen Pferde auf dem Gestüt, die man zum Putzen nicht anbinden müsste. Im Gegenteil: Sobald man ihm den Führstrick einhakte und im Stall anbinden wollte, begann er, Theater zu machen und vergaß all seine guten Manieren.

Mit kräftigen, gleichmäßigen Strichen bürstete ich sein dunkelgraues Fell und kontrollierte jeden Zentimeter nach Druckstellen, Schürfwunden und Kratzern. Die Beine hatte ich gleich nach dem Ritt abgetastet. Es war alles in Ordnung. In einem seiner Hufe stak ein Stein, den ich rasch mit dem Hufkratzer entfernte.

"So, Großer. Wir sind fertig. Bis morgen", verabschiedete ich mich von Herkules und ging zu Calista. "Bis morgen, meine Schöne", murmelte ich und nahm ihren goldenen Kopf in die Hände. Ihr warmer Atem strich mir über das Gesicht.

Als ich die Box verließ, hörte ich Alice rufen: "Cookie!"

Sie klang verzweifelt und ich konnte mir denken, woran das lag. Ich wollte zu ihr laufen, um zu sehen, ob sie meine Hilfe brauchen konnte, doch da kam mir die schokoladenbraune Stute bereits entgegen.

Gemütlich schlenderte sie durch die Stallgasse. An ihrem Führstrick hing Alice, aber das schien Cookie nicht zu bemerken.

"Cookie! Halt. Brrrrr!", machte meine kleine Schwester, doch die Stute schüttelte nur den Kopf und schnaubte.

Ich breitete reflexartig die Arme aus. "Hey, Cookie", begann ich einen Singsang. "Sei schön brav und bleibt stehen, kleine Cookie."

Die Stute spitzte die Ohren und hielt genau vor mir an. Ich klopfte ihren Hals und Alice stöhnte erleichtert auf.

"Kaum zu fassen, was sie für eine Kraft hat. Und was für einen Dickschädel", sagte sie schwer atmend. "So, und du gehst jetzt wieder in deine Box." Die Stute bog den Hals und stupste Alice an, als wollte sie ihr zustimmen.

Cookie war schon immer so gewesen. Sie kannte sich mit dem Ausbrechen wie kein anderes Pferd auf dem Hof aus, bekam jeden noch so komplexen Riegel auf. Deshalb trug sie auch stets ein Halfter, um das Einfangen zu erleichtern.

Alice hatte es diesmal offensichtlich geschafft, den Führstrick einzuhaken, doch Cookie ließ sich selbst davon nicht immer beeindrucken.

Meine Schwester hatte die Stute schon fast vier Jahre. Sämtliche Erziehungsmaßnahmen waren gescheitert, doch Alice liebte das sonst ganz sanfte Pferd über alles, auch wenn sie immer wieder mit ihren Dickschädeln aufeinander prallten.

 

*****

 

"Jennifer!" Ich drehte mich um. Marc kam mir entgegen. "Ich habe die Post heute morgen durchgesehen", sagte er. "Die Bestätigung für das Turnier nächsten Samstag war dabei. Sind Calista und Karamell in Bestform?"

Ich nickte. "Das sind sie. Cheyenne hat mir von der Bestätigung bereits erzählt", antwortete ich. "Keine Sorge, ich schaffe das schon. Ich weiß, wie wichtig diese Werbung für uns ist."

"Nathalie wird dich begleiten", erklärte Marc. "Cheyenne hat einen Interessenten. Ein Vater, der ein liebes Pferd für seine Tochter sucht."

"Wen wird sie vorstellen?", fragte ich nach.

Marc überlegte kurz. "Ich glaube, sie hat Caspar erwähnt. Er ist ruhig und gut erzogen. Mit seinen fünfzehn Jahren sollte er gut als erstes eigenes Pferd geeignet sein, hat sie gesagt."

Ich nickte. "Eine gute Wahl", bestätigte ich. "Caspar ist ein Anfängerpferd, aber er wird vermutlich nie ein gutes Turnierpferd werden. Dafür ist er viel zu faul."

"Hoffentlich kündigen sich bald mehr Interessenten an. Alle Pferde, die älter als zwölf sind, sollten dringend verkauft werden. Wenn die Stuten nächstes Jahr abfohlen, kommen wir sonst mit der Arbeit nicht mehr hinterher", erklärte Marc. "Bis später beim Abendessen, Jennifer. Ich muss meine Pferdchen noch füttern."

"Bis später, Marc", verabschiedete ich mich. Ich wollte noch bei Shane anrufen und fragen, ob er mir morgen beim Training mit Calista helfen würde.

Gerade als ich die Tür zu meiner kleinen Wohnung im Haupthaus geöffnet hatte, rief Alice nach mir. "Jenny, bist du das?"

"Ja!", rief ich zurück und schloss die Tür wieder, bevor ich mich auf den Weg zu ihrem Zimmer machte. "Was gibt’s denn?"

"Nun ja, du musst mir noch mal bei meiner Seminarfacharbeit helfen...", begann sie und reichte mir eine ausgedruckte Seite. "Kann man das so schreiben oder klingt das total bescheuert?"

Alice schrieb über das Gestüt und die Fjordpferde. Ihre beiden besten Freundinnen - selbst begeisterte Reiterinnen, die täglich auf dem Gestüt waren - hatte sie schnell für dieses Thema begeistern können. Von der ersten Idee an waren Kerstin und Mandy Feuer und Flamme.

Als Betreuer gewannen sie Cheyenne für das Projekt, doch genau genommen halfen alle mit. Am meisten Alexa und ich. Vermutlich, weil wir ebenfalls beide Abitur hatten und ebenfalls Seminarfacharbeiten schreiben mussten. Marc hatte ebenfalls Abitur, sogar studiert, jedoch war er meist zu sehr mit der Buchhaltung des Gestüts beschäftigt, so dass wir ihn nicht bedrängen wollten.

Ich nahm die Seite in die Hand und begann zu lesen. Es war ein Auszug aus der Geschichte des Gestüts.

Hin und wieder machte ich sie auf Rechtschreibfehler aufmerksam und nickte zwischendurch. Es klang eigentlich ganz gut, doch etwas trocken. Allerdings war Geschichte immer trocken.

"Ja, das kannst du so lassen", meinte ich schließlich und gab ihr das Blatt zurück.

"Sag mal, Jenny, hast du gewusst, dass es vor hundert Jahren in der Nachbarschaft einen Brand gab, bei dem sogar der halbe Wald in Flammen stand? Es soll keine Überlebenden gegeben haben."

Ich schüttelte den Kopf. So intensiv hatte ich mich mit der Geschichte des Gestüts noch nicht befasst. "Keine Überlebenden? Woher stammen dann die Informationen?"

"Ich habe Aufzeichnungen in einem Buch über die Geschichte dieser Gegend von einem der Nachbarn geliehen bekommen. Der Hof soll komplett abgebrannt sein, mit allen Bewohnern und Tieren. Aber die Nachbarn waren wohl Zeuge des schrecklichen Ereignisses.

Das Buch stammt von einem unserer Vorfahren und seinem Freund. Zumindest vermute ich das. Mehr weiß ich nicht. Die Unterschrift unter dem Artikel lautet: L. Graf, C. Steinherz."

"L. Graf? Das können viele unserer Vorfahren sein. Laurenz, unser Großvater mütterlicherseits. Oder Lucas, dessen Bruder. Oder aber Ludwig, unserer Urgroßvater. Von einem C. Steinherz hab ich noch nie gehört."

Alice runzelte die Stirn. "Wohl war. Wobei Laurenz damals erst dreizehn Jahre alt war und Lucas nur vier Jahre älter", warf meine Schwester ein.

Ich zuckte mit den Schultern. "Zu doof, dass die Zeugen bereits alle gestorben sind", sagte ich. Alle drei Vorfahren waren im ersten oder im zweiten Weltkrieg gefallen.

"Auf alle Fälle werde ich weiter forschen. Vielleicht gibt es ja doch noch ein paar Informationen über diesen Brand, L. Graf und C. Steinherz. Irgendjemand muss doch davon wissen."

Ich klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. "Was immer du herausfindest, es würde mich sehr interessieren", meinte ich.

Alice lachte. "Natürlich! Schließlich ist das ja irgendwie auch unsere Vergangenheit!"

"Ich werde ebenfalls die Augen offen halten, Schwesterherz", versprach ich ihr und ging zurück in meine Wohnung. Wo ich mit der Suche anfangen sollte, wusste ich allerdings auch nicht so genau.

 

*****

 

Noch vor Sonnenaufgang war ich wieder auf den Beinen und stand Kaffee kochend in der Küche. Es war eine ungeschriebene Familienregel, dass der Erste, der morgens auf den Beinen war, das Frühstück vorbereitete und Kaffee kochte. Heute war ich das.

Pfeifend teilte ich die Messer aus, als Marc die Treppe herunter kam. "Morgen Jennifer", murmelte er. "Brauchst du Hilfe?"

Ich schüttelte den Kopf. "Nein, nein. Ich bin bereits fertig", erwiderte ich.

"Aber du darfst die anderen wecken, wenn du möchtest." Mein großer Bruder nickte und ging die Treppe wieder hinauf.

Das Haupthaus war ein großes, altmodisches Herrenhaus mit zwei Stockwerken, in dem jeder seine eigene Wohnung hatte. Marc lebte mit Nathalie im zweiten Stock des Nordflügels, sein Bruder mit seiner Freundin genau darunter. Im zweiten Stock des Ostflügels hatte ich meine kleine Wohnung, gleich daneben im zweiten Stock des Südflügels lagen die Zimmer von Alice. Die untere Etage des Ostflügels bewohnten Cheyenne und Jonas. Dort befand sich auch Cheyennes Büro. Alexa bewohnte das Erdgeschoss des Südflügels.

Im Zentrum des Herrenhauses lagen die Gemeinschaftszimmer: Im Erdgeschoss die Küche und das Esszimmer, welches gleichzeitig zur Beratung diente, und im Obergeschoss eine Bibliothek mit einem großen Fernseher und gemütlichen Sesseln für die seltenen gemeinsamen Videoabende.

Ich hielt einen Moment inne und betrachtete das Esszimmer. Es war groß, so wie alles an diesem Haus. Die Fenster reichten bis zum Fußboden, ein steinalter Kronleuchter aus den Zeiten meiner Urgroßeltern zierte die Decke. In der Mitte stand ein genauso alter Tisch aus Eichenholz. Nur der Fußboden war erneuert worden, aber ebenfalls aus dunklem Holz, um den Stil nicht zu brechen.

Alles an diesem Haus war alt. Sehr alt. Vermutlich hatten sich in all den Jahren Gegenstände angesammelt, die heute mehr Geld wert waren als manche unserer Pferde.

Waren wir reich? Nein, zumindest fühlte ich mich nicht so. All den Luxus hatten sich meine Vorfahren im Laufe der Jahre erarbeitet.

Ich mochte das Herrenhaus und das Gestüt. Es war ein Ort der Ruhe und der Freiheit für mich. Natürlich durfte man das nicht wörtlich nehmen. Es gab selten Tage, an denen hier wirklich Ruhe herrschte.

Es war für mich kein Lärm, wenn ein Pferd wieherte und fordernd gegen die Boxentür trat. Lärm war für mich die Stadt mit all ihren Autos und all ihrem Dreck.

Ich schüttelte mich angewidert. Nein, niemals wollte ich in einer Großstadt leben, in der man immer irgendwo war und sich nie nach draußen setzen konnte, um den Vögeln zu lauschen.

Außerdem waren Städte nicht sonderlich gut geeignet, um Pferde zu halten und auszureiten. Ein Leben ohne Calista und Herkules war für mich unmöglich.

Herkules kannte ich bereits von dessen Geburt an. Er gehörte früher einem Nachbarn, der mit seinen beiden Stuten Lissy und Bonnie seine Äcker bewirtschaftete. Irgendwann hatte er beschlossen, Bonnie decken zu lassen.

Ich war als Kind oft bei ihm, half ihm bei der Pflege seiner Kaltblüter und später auch bei der Ausbildung von Herkules. Der Nachbar überließ es mir, dem Fohlen einen Namen zu geben, und ich fand, dass der griechische Halbgott ein guter Namensgeber für einen Kaltblutwallach war.

Vier Jahre nach der Geburt von Herkules starb der Nachbar urplötzlich an Lungenkrebs und sein Hof und die Pferde wurden zur Auktion freigegeben, da er keine Erben hatte. Ich kratzte meine gesamten Ersparnisse zusammen und ersteigerte Herkules. Cheyenne akzeptierte das und half mir später auch auf der Suche nach einem guten Turnierpferd, welche bei Calista endete.

 

 *****

 

"Guten Morgen, Jennifer." Rasch kehrte ich in die Gegenwart zurück. Jonas kam gerade in das Esszimmer und streckte sich. Hinter ihm gähnte Nathalie.

"Guten Morgen, ihr beiden", grüßte ich zurück. "Wo bleiben denn die anderen?"

"Also ich bin hier", meinte Alexa und band sich die Haare zusammen. "Sven kommt erst am späten Nachmittag vorbei. Sein Chef möchte, dass alle Überstunden machen."

"Cheyenne sollte auch gleich fertig sein", erklärte Jonas. Alice huschte in die Küche. "Was auch immer für eine Besprechung ansteht - es ist Montagmorgen, die Schule ruft", erklärte sie und packte die Brotdose in ihre Tasche.

"Dann fehlt ja nur noch Marc", stellte ich fest. In diesem Moment blickte Marcs ungekämmter Wuschelkopf ins Zimmer. "Was ist mit mir?"

Ich lachte. "Wir haben davon gesprochen, dass du der Letzte bist, der das Esszimmer betreten hat", klärte ich ihn auf.

Marc schüttelte empört den Kopf. "Nein, stimmt nicht. Tobi fehlt auch!", rief er. "Wo ist meine Kirschmarmelade?"

"Hier drüben", antwortete Alexa. "Fang!"

Marc riss die Arme nach oben und schon flog das Marmeladenglas durch die Luft. Mühelos fing Marc es auf.

Ich zog die Kanne aus der Kaffeemaschine und schenke meinen Geschwistern ein. Alice hatte sich bereits ihren Cappuccino gemacht, denn sie hasste Kaffee.

"Seltsam, dass Tobias verschwunden ist", bemerkte ich. "Der wollte euch eigentlich wecken."

"Mich hat er nicht geweckt", erklärte Marc. "Aber ich würde mich freiwillig anbieten, ihn zu suchen."

"Ach was, der kommt schon, wenn ihn der Hunger ruft. Schließlich warten hier warme Brötchen auf ihn", sagte Cheyenne und hielt ihn zurück.

"Brötchen?", rief plötzlich eine Stimme und alle lachten. "Oh, Tobias, du hast ja doch noch zu uns gefunden", meinte Nathalie grinsend. "Wie recht Cheyenne doch immer hat."

Kapitel 2: Große Pläne

"Bevor ihr alle wieder verschwindet, muss ich noch schnell etwas in den Raum stellen", erklärte Cheyenne und angelte sich das Glas mit der Schokocreme. "Wie ihr wisst, findet in ein paar Wochen unser fünfter Tag der offenen Tür statt."

Sie schmierte etwas Schokocreme auf das Brötchen und sah in unsere erwartungsvollen Gesichter. "Die Reitschüler haben sich ein Programm gewünscht. Einige der Jüngeren sind an mich herangetreten und haben gefragt, ob sie nicht voltigieren dürften. Die größeren Kinder wollten ein kleines Springturnier veranstalten.

Wir nickten einstimmig. "Gut", murmelte sie und biss in ihr Brötchen. Es dauerte ein wenig, bevor sie weiter sprach.

"Nun, ich würde vorschlagen, wir nehmen auch an dem Programm teil. Was haltet ihr von einer Dressurquadrille?"

"Klingt toll", meinte ich. "Ich bin auf jeden Fall dabei."

"Andere Frage: Ist irgendjemand absolut dagegen?", fragte meine älteste Schwester und alle schüttelten den Kopf. Sie lächelte zufrieden.

"Ich werde mich heute Abend mal an eine Choreografie setzen. Vorschläge sind natürlich immer willkommen", kündete sie an.

"Ach ja, überlegt euch, welches eurer Fjordpferde ihr dafür reiten wollt. Ihr entscheidet selbst, schließlich könnt ihr eure Pferde am besten einschätzen."

Golden Prince. Er war meine erste Wahl. Karamell war zwar ruhiger und erfahrener, doch Prinz hatte einfach viel mehr Ausstrahlung. Und Faramir hatte gerade erst mit seiner Ausbildung begonnen. Er war noch so schreckhaft, dass sich kein Zuschauer auch nur eine Strähne hinter das Ohr streichen durfte. Außerdem mochte er es nicht, hinter anderen Pferden zu gehen. Das konnte knifflig bei einer Quadrille werden...

In diesem Augenblick klingelte mein Handy. "Entschuldigung", sagte ich und eilte in die Küche. Dann nahm ich ab. "Hallo?"

"Hey, Jennifer. Ich sollte dich doch zurückrufen?" Die Stimme gehörte Shane Reichmann.

"Ah, Shane. Ja, richtig. Ich wollte mit Calista heute auf die Geländestrecke. Du kommst doch mit und hilfst mir, oder?", frage ich ihn.

"Klar, natürlich helfe ich", meinte Shane. "Halb zehn an der Mauer?"

"Klingt gut. Bin später", antwortete ich und legte auf.

Die Mauer war ein Teil der Grenze zwischen dem Gestüt Graf und dem Hof der Reichmanns, auf dem Shane mit seinem drei Jahre älteren Bruder Riccardo, kurz Ricky, und seinen Eltern und Großeltern lebte. Ein hübscher Hof, obwohl er ein ganzes Stück kleiner war als das Gestüt.

Auch die Reichmanns hatten Pferde. In ihrem Stall stand unter anderem auch Shanes Pferd, ein Friesenwallach namens Vulcano, mit denen er vor allem an Dressurturnieren teilnahm.

Ich ging zurück zu den anderen. Sie waren bereits fertig mit dem Frühstück, also nahm ich mir das letzte Brötchen aus dem Korb.

"Jennifer", sprach Cheyenne mich an. "Heute Abend halb acht ist Versammlung wegen der Quadrille. Sei pünktlich!"

"Werde ich", erwiderte ich. "Ich bin dann mal weg. Meine Pferde warten auf mich. Halb zehn gehe ich mit Calista auf die Geländestrecke."

"Was ist mit dem Training von Karamell?"

"Das mache ich heute Nachmittag. Ich werde gegen halb eins mit Calista zurück sein, dann ist Karamell an der Reihe", erklärte ich.

Cheyenne nickte. "Pass bitte auf dich auf." Ich verdrehte die Augen.

Wieder klingelte ein Handy. Eine eMail an Cheyenne, ordnete ich den Klingelton zu. Meine Schwester fischte es aus der Hosentasche.

"Eine Nachricht von Louise. Sie wünscht sich ein Pferdefußballspiel zum Tag der offenen Tür. Alexa, könntest du das nicht organisieren?"

"Ich denke schon. Wenn die Reitschüler morgen fertig sind, frage ich nach, wer teilnehmen möchte", hörte ich meine Schwester sagen, während ich die Küche verließ. "Bis später."

Dann lief ich hinaus und bog in den Stall ein. Der Geruch von Pferd, Mist und Heu stieg mir in die Nase. Ich atmete kurz durch. Es war der schönste Duft auf der ganzen Welt für mich.

 

*****

 

 Ich trieb Calista an und die Stute trabte zügig los. Die Wege sahen gut aus, obwohl es gestern geregnet hatte. Ich würde springen können, ohne dass es eine Gefahr für Calista darstellte.

Nach zehn Minuten galoppierte ich an und lenkte die Stute durch den Wald. Ich hatte mich ein wenig verspätet. Nur um zehn Minuten, doch ich wollte Shane nicht warten lassen. Dabei kannte er meine Unpünktlichkeit bereits.

Locker stand ich in den Steigbügeln und genoss Calistas Dreitakt. Es fühlte sich an wie Fliegen. Sie bog den Hals und schnaubte, während sie auf dem Gebiss herum kaute.

Ich strich ihr über die helle Mähne und parierte sie zum Trab durch. Ihre Ohren spielten in alle Richtungen, wobei eins immer zu mir gedreht war.

Plötzlich hob sie den Kopf und spitze die Ohren. Ich bremste sie in den Schritt und gab ihr dann die Zügel hin.

Wenige Meter vor mir saß Shane auf seinem Friesenwallach. Vulcano wieherte Calista zu und sie antwortete mit einem freundlichen Brummeln.

"Als ob sie sich Ewigkeiten nicht gesehen hätten!", rief Shane und lachte. "Hey, Jennifer."

"Ja, du hast ganz recht", erwiderte ich. "Hallo, Shane. Danke, dass du da bist."

"Wozu hat man denn Freunde?", sagte er und zeigte dann auf Calista. "Sie sieht gut aus." Ich nickte. "Ja, sie ist gut in Form für das Turnier am Samstag. Wenn alles glatt läuft, starten wir bei den Kreismeisterschaften."

"Denkst du, sie ist schon so weit?", fragte Shane und runzelte die Stirn. "Es wäre fatal, wenn sie zu früh in einen so schweren Wettkampf gehen würde."

Ich klopfte meiner Palominostute den Hals. "Ich weiß", sagte ich. "Es hängt alles davon ab, wie wir uns am Samstag schlagen. Legen wir los?"

"Okay", antwortete Shane. "Ich bin die Strecke vorhin schon abgeritten. Sieht gut aus soweit. Nur vor dem Graben ist es ein bisschen rutschig."

"Damit sollten wir fertig werden, nicht wahr, Calista?" Die Stute spitze die Ohren und nickte eifrig mit dem Kopf. Ich lachte und ritt einen Zirkel, bevor ich angaloppierte.

Calistas Galoppsprünge waren raumgreifend und ruhig, als es auf das erste Hindernis, einen Baumstamm, zuging. Sie sprang im richtigen Moment ab, dann schwebten wir schon darüber und ich fixierte mit den Augen Nummer zwei, einen Haufen aus sämtlichen Gestrüpp, das man finden konnte.

Calista erkämpfte sich etwas mehr Zügel und rauschte hinüber. Dann kam ein Steilsprung, bei dem man im Wasser landete.

Obwohl die Stute Wasser hasste, hatte ich sie irgendwann davon überzeugen können, dass wir auch solche Hindernisse überwinden mussten. Besonders begeistert war sie davon jedoch immer noch nicht.

Ich musste sie nicht antreiben, während sie gleichmäßig durch den Parcours galoppierte und ein Hindernis nach dem anderen locker und fehlerfrei übersprang.

Ein kleiner Fluss kreuzte die selbst gebaute Geländestrecke. Ich gab Calista ein paar halbe Paraden, um sie daran zu erinnern, dass ich der Reiter war. Sie drehte ein Ohr in meine Richtung und schnaubte.

Ich lächelte. "Also gut, meine Schöne", murmelte ich. Calista sammelte sich, sprang ab und flog über das Hindernis. Dabei beugte ich mich über ihren Hals und griff mit einer Hand in die Mähne, um das Gleichgewicht bei ihrem Sprung zu halten.

Mein Blick war zwischen die Pferdeohren gerichtet und noch im Sprung sah ich, was Shane gemeint hatte. Auf der anderen Seite erwartete uns ein Matschloch.

Calista hatte das wohl auch erkannt und strecke sich noch mehr. Als sie landete, spürte ich, wie sie eine Sekunde um ihr Gleichgewicht kämpfte. Irgendwie fand sie dann Halt und der Ritt ging weiter.

Mit Calista im Gelände zu springen war jedes Mal wie ein Rausch für mich. Es gab nichts Schöneres als mit einem Pferd zu fliegen.

Inzwischen hatten wir den fast den gesamten Parcours hinter uns gebracht und galoppierten auf das letzte Hindernis, eine Hecke, zu. Ich lehnte mich nach vorn und entlastete ihren Rücken, als sie flüssig darüber sprang.

"Ihr wart gut", rief Shane und winkte mit einer Stoppuhr. "Besser als eurer Durchschnitt."

"Echt?" Ich parierte Calista in den Trab durch und ließ sie noch ein paar Runden am langen Zügel traben.

"Trotz dem Graben mit dem Matsch?", fragte ich erstaunt.

Shane nickte. "Hattest du Probleme?" Ich schüttelte den Kopf.

"Keine ernsthaften Schwierigkeiten. Der Graben war etwas matschig, wie du gesagt hast", erklärte ich und parierte Calista in den Schritt durch, während ich nach Atem rang. "Aber sonst ein flüssiger und gleichmäßiger Ritt."

"Genau so soll es sein", meinte Shane zufrieden. "Ich denke, für den Wettkampf ist sie bereit."

"Das sehe ich auch so", stimmte ich ihm zu. "Kommst du noch mit zum Gestüt? Ich muss noch Karamell reiten und bräuchte einen Parcourshelfer, falls sie wieder mal Kleinholz machen möchte."

Shane lache. "Aber sicher doch", sagte er. "So schlecht ist Kara doch nun auch wieder nicht."

"Glaubst du!" Ich lachte und trieb Calista wieder an. "Du hast noch nie eine schlecht gelaunte Karamell im Parcours erlebt, oder? Da reichen nicht mal drei Helfer zum Stangen auflegen!"

Am langen Zügel ritten wir nebeneinander her. "Habe ich dir eigentlich schon das größte Geheimnis meines Bruders erzählt?", fragte Shane auf einmal. Ich schüttelte den Kopf. Wir sprachen normalerweise nicht oft über Ricky.

"Ich finde, du solltest es wissen", meinte Shane. "Es geht schließlich um dich."

"Um mich?"

"Mm. Er hat's niemanden je erzählt, aber er hat sein Tagebuch öffentlich liegen gelassen", erklärte er. Dass Ricky Tagebuch schrieb, war mir nicht ganz neu.

"Du Schnüffler!", rief ich und lachte. "Also, schieß los. Was steht denn so über mich drin?"

Shane brach in einen Lachanfall aus. "Er ist vollkommen in dich verknallt!"

Ich zuckte zusammen. Mit allem, aber wirklich mit allem hatte ich gerechnet, außer mit dem! Ich wusste nicht, ob es für mich ein Schock sein sollte oder nicht.

Riccardo Reichmann war eigentlich ein Mädchenschwarm durch und durch. Jede, die in etwa in meinem Alter war, fuhr auf ihn ab.

Und ja, er war wirklich äußerst hübsch.

"Jennifer, was ist denn mit dir los?", fragte Shane verwirrt. "Du bist ja feuerrot geworden!"

Verdammt, war ich das wirklich? Ich wandte das Gesicht von ihm ab.

Wie bitte sollte man denn sonst werden, wenn man gerade erfahren durfte, dass der gutaussehende Bruder des besten Kumpels auf einen stand? Giftgrün vielleicht? Oder violett?

"Haha, Jennifer!", rief Shane und krümmte sich vor Lachen. "Jetzt verstehe ich. Du bist also auch in ihn verknallt. Ich werde Liebesbote! Shane Amor Reichmann."

"Du willst mich unbedingt mit deinem Bruder verkuppeln, oder?", warf ich spöttisch ein.

Shane grinste. "Hey, das ist doch die Gelegenheit", meinte er. "Ricky wird begeistert sein, wenn ich ihm davon erzähle."

"Begeistert? Weil du sein Tagebuch gelesen hast?", hakte ich nach. "Vermutlich wohl nicht."

Shane schüttelte den Kopf. "Da würde er mich umbringen, das kann ich niemals tun", räumte er betreten ein, dann hellte sich sein Gesicht wieder auf.

"Ich erzähle ihm einfach, dass ich es irgendwie gespürt habe. Gedankenübertragung unter Geschwistern oder so."

"Gedankenübertragung unter Geschwistern!", rief ich aus. "Ja, freilich! Sonst noch Einfälle?"

Er schüttelte grinsend den Kopf. "Aber das Lustigste habe ich ja noch gar nicht erwähnt", verkündete er.

Jetzt runzelte ich die Stirn. "Was ist denn noch?"

Shane lachte. "Weiterhin stand drin, dass er panische Angst hat, dass ich in dich verknallt wäre und du mich an seiner Stelle auserwählen würdest!"

Ich musste lachten. Shane und ich waren nur Freunde und das seit Kindertagen. Wir wollten auch immer nur Freunde bleiben. Ricky machte sich über so etwas völlig unnötige Gedanken.

"Aber, Shane", fing ich an. "Wo wir schon beim Thema sind... Auf wen stehst du eigentlich?"

Er schwieg und begann dann ebenfalls rot anzulaufen. "Du verrätst mich doch nicht, oder?", fragte er.

Ich schüttelte den Kopf. "Natürlich nicht, wozu hat man denn Freunde?"

Er wich meinem Blick aus und sortierte eine Strähne von Vulcanos Mähne. "Alice."

"Welche Alice?", fragte ich und im gleichen Moment wurde es mir klar. Alice! Alice Graf, meine Schwester und Freundin!

Ich begann zu lachen und Shane sah mich verwirrt an. "Ich glaube, mein lieber Shane, es wäre besser, wenn ich Amor spielen würde!", rief ich. "Ich kann damit sogar viel früher damit beginnen als du."

Dann zeigte ich nach vorn. Auf dem Hof stand Alice, an der Hand hielt sie Cookie. Als wir näher kamen, sah sie in unsere Richtung.

"Oh, Gott!", flüsterte Shane. "Tu mir das bitte nicht an!"

 

*****

 

"Los, Kara!", rief ich und drückte der Stute die Schenkel in die Seiten. Karamell warf entsetzt den Kopf hoch, sprang aber sauber über das Hindernis. Ich strich ihr kurz über die stachlige Stehmähne und parierte sie zum Schritt durch.

"Ich baue jetzt die Dreifache auf", teilte Shane mir mit und betrat den Platz.

Ich gab Karamell die Zügel hin und ließ sie bei C auf den Zirkel gehen. Dann wieder ganze Bahn, eine Volte, aus der Ecke kehrt und schließlich war Shane fertig.

Er verließ den Platz und ich trabte Karamell an, ritt nochmals einen Zirkel und wechselte dann in den Galopp.

Karamell flog auf das erste Hindernis, ein kleines Kreuz, zu und sprang sauber darüber. Ohne einen Galoppsprung dazwischen nahm sie auch gleich den Oxer. Dann noch zwei Galoppsprünge und vor uns türmte sich der letzte Sprung, ein Steilsprung, auf.

Die Stute schnaubte und ich drückte wieder die Schenkel in ihre Seiten. Noch ein Galoppsprung und...

Karamell rammte die Beine in den Boden und stand. Nur mit Mühe konnte ich mein Gleichgewicht halten.

"Karamell!", schimpfte ich ärgerlich. "Das Training ist noch nicht vorbei."

Ich ritt wieder an, lenkte sie am Hindernis vorbei und galoppierte erneut an. Wieder das Kreuz, dann der Oxer. Ich drückte energischer meine Schenkel an ihre Seiten. Und dann rammte sie auch schon die Beine in den Boden.

Da hörte ich Alice' Lachen. "Na, meint sie wieder, das Training sollte beendet werden?", fragte sie und lehnte sich an den Zaun.

Ich nickte. "Ja. Alles klappt wunderbar, außer dem letzten Sprung der Dreifachen."

Ich lenkte die Fjordstute wieder am Hindernis vorbei und ritt auf Alice hinzu. "Holst du mir bitte eine Gerte?", fragte ich sie. Alice nickte und rannte los.

Wenig später kam sie mit einer feuerroten Springgerte zurück. "Danke", sagte ich und griff danach, doch Karamell scheute.

Ich fasste die Zügel kürzer und schnappte mir die Gerte. Karamell riss den Kopf hoch, soweit es das Martingal erlaubte, und schnaubte, bevor sie kurz buckelte.

Ich gab ihr nur einen leichten Klaps mit der Gerte, während ich die Schenkel andrückte und sie buckelte erneut.

"Kara, hör auf mit dem Mist", murmelte ich. Ich trieb sie wieder an und Karamell wich nicht von der Stelle.

Dann setzte ich noch einmal die Gerte ein und auf einmal schien die Stute wieder das liebste Pferd der Welt zu sein.

Ich schüttelte den Kopf. "Dann also noch mal", murmelte ich und galoppierte an. Locker und gleichmäßig nahm Karamell die ersten beiden Hindernisse und rammte wie zuvor die Beine in den Boden, als sie das dritte Hindernis sah.

Diesmal jedoch hatte ich eine Gerte und war auf ihr Verweigern vorbereitet. Ich presste die Schenkel in ihre Seiten und gab ihr einen Klaps mit der Gerte.

Karamell legte die Ohren an und sprang aus dem Stand ab. Die Stange polterte hinunter und Karamell machte vor Schreck einen Satz in die Luft.

Ich ließ mich nicht beirren und trieb sie weiter im Galopp auf den Zirkel, während Shane die Stange neu auflegte.

Dann lenkte ich sie wieder auf die Hindernisse zu. Sie sprang über die ersten beiden Sprünge und wollte wieder eine Vollbremsung machen, doch bevor sie stoppten konnte, trieb ich sie an und gab ihr einen Klaps. Wieder polterte die Stange hinunter, aber sie unterließ das Buckeln.

Ich parierte zum Trab durch und ließ sie ein paar Volten an verschiedenen Punkten der freien langen Seite gehen, während Shane die Stangen wieder auflegte.

"Und jetzt ordentlich, ihr beiden!", rief Shane lachend und stellte sich wieder an den Zaun. Ich galoppierte die Fjordstute an und lenkte Karamell auf die Dreifache zu. Erster Sprung, zweiter Sprung.

Ich war gespannt, ob sie nun endlich ihre Lektion gelernt hatte oder ob sie sich immer noch weigerte, die Dreifache zu beenden.

Ich tendierte zum Verweigern, denn Karamell hatte einen Dickschädel. Wenn sie sich weigerte, dann aber richtig.

Zu meiner Überraschung sprang sie jedoch sauber über den Steilsprung und zwar mit einem riesigen Satz, so dass ich fast vorn über geflogen wäre.

Noch während der Landung sammelte ich mich wieder und lobte die Stute überschwänglich. Karamell parierte durch. Ich ließ sie die Zügel aus der Hand kauen und streichelte ihren Hals. Sie schnaubte und schüttelte den Kopf. Ich lachte.

"Na also, meine Kleine. Es geht doch", murmelte ich und schob die Füße aus den Steigbügeln.

"Sicher, dass du aufhören willst?", fragte Shane. Ich nickte.

"Wenn es am schönsten ist, hört man doch immer auf. Vielleicht merkt sie sich endlich mal, dass ich diejenige bin, die das Training beendet."

Alice und Shane lachten. "Du glaubt immer noch - nach all den Jahren - an das Wunder aller Wunder?", fragte meine Schwester.

Ich zuckte mit den Schultern. "Die Hoffnung stirbt zuletzt", erwiderte ich. "Diese Einstellung hat bei Faramir bisher auch immer geholfen."

"Mit dem Unterschied, dass Faramir Ängste hat und Karamell einfach faul wird. Und Karamell um einiges erfahrener ist als Faramir", warf Shane ein. "Aber du packst das schon, Jennifer."

Ich stieg ab und lockerte den Sattelgurt der Stute. Dann öffnete ich meinen Reithelm, schob die Steigbügel hoch und führte Karamell vom Reitplatz, während Shane den Parcours abbaute. Alice half ihm dabei.

Karamell trottete hinter mir her bis zu ihrer Box, wo ich sie dann endgültig von Sattel und Trense befreite. Ich brachte alles zurück in die Sattelkammer und legte meinen Helm ins Regal.

Mit einem Halfter bewaffnet betrat ich erneut die Box der Fjordstute. Sie ließ es sich problemlos anlegen, so dass ich sie noch putzen und dann auf die Weide entlassen konnte.

 

*****

 

Kurz nach dem Abendessen trafen wir uns in der Halle. Cheyenne hatte eine Choreografie für die Quadrille aufgeschrieben und winkte uns mit dem Zettel zu sich.

"Ich habe mir Gedanken über die Quadrille gemacht. Wenn niemand etwas dagegen hat, werden wir alle im Turnieroutfit reiten. Jeder mit seinem Partner oder seiner Partnerin. Damit haben wir dann eine Männergruppe und eine Frauengruppe."

Sie sah Alice und mich an. "Da ihr Single seid, muss eine von euch allerdings im Team der Jungs mitreiten", fügte sie hinzu.

Ich warf einen vielsagenden Blick zu Alice und meine Schwester erwiderte diesen. Wie sah das denn bitte aus? Ein Team mit Damen und eines mit Herren und einer Dame? War das nicht Stilbruch? Ich verschwieg meine Gedanken.

"Nun zum Ablauf", sagte Cheyenne. "Wir beginnen in paarweiser Aufstellung an der Mittellinie und reiten dann jeweils nach rechts oder links. Je nach Gruppe biegen wir bei H oder M dann zu C ab und treffen uns dort mit dem jeweiligen Partner. Dann geht es weiter nach F beziehungsweise zu K.

Danach durch die ganze Bahn wechseln. Die Gruppe, die innen ist, biegt bei B ab und reitet zu X, bevor sie dann den Zirkel von C nimmt. Die anderen biegen bei E ab und reiten bei X dann auf den Zirkel von A.

Nach einer Runde geht die Gruppe vom C-Zirkel auf die ganze Bahn und reitet neben ihren Partner. Dann bei A durch die Länge der Bahn geritten und dabei sollte dann wirklich jeder Steigbügel an Steigbügel reiten.

Wenn alle auf der Mittellinie sind, brechen wir rechts und links ab und bilden wieder zwei Gruppen. Dann erreichen wir die lange Seite, brechen nach innen ab und reiten zur anderen Seite.

Bei A fädeln wir uns dann hintereinander ein und reiten auf der Mittellinie auf C zu bis alle in einer Reihe stehen. Dann Halten, kehrt Richtung Tribüne und Grüßen."

Meine älteste Schwester sah und fragend an. "Alles klar? Verbesserungsvorschläge?"

Mit ratterte der Kopf und ich hoffte, dann wir die Aufgabe auch schriftlich bekommen würden. Dann schüttelte ich den Kopf.

"Gut", meinte Cheyenne. "Laufen wir das Ganze doch mal ab."

"Warte mal, Cheyenne", meldete sich Alice zu Wort. "Sieht es nicht albern aus, wenn in einer Gruppe alle männlich sind außer einer?"

Cheyenne zuckte mit den Schultern. "Tja, wie soll ich das lösen? Wir sind nun mal mehr Mädels als Jungs hier", meinte sie schmunzelnd.

"Ich wüsste da etwas", rief ich. "Ich könnte doch Shane und Ricky fragen. Sie würde bestimmt mitmachen und könnten ja Fjordpferde leihen. Dann wären wir zwar ein Duo mehr, aber es würde gleich aussehen."

"Das ist eine tolle Idee, Jennifer", stimmte mir Marc zu. "Guter Einfall, Schwesterherz."

Ich lachte. "Also, Cheyenne, was sagt du?"

Sie nickte. "Wenn die Reichmanns mitmachen, dann ist das kein Problem. Da es dein Vorschlag war, kümmerst du dich darum", sagte sie zu mir.

"Na klar. Ich rufe Shane noch heute an", erklärte ich mich einverstanden. Nach Karamells Training war er bereits wieder nach Hause geritten.

"Für die Probe jetzt müssen wir uns dann so aufstellen, dass neben Jennifer und Alice ein Platz frei bleibt. Ein Mal geht das bestimmt", sagte Cheyenne. "Ich würde sagen, wir ordnen uns nach dem Alter."

Da alle einverstanden waren, rief sie gleich darauf: "Alles Aufstellung!"

Cheyenne war eine gute Leiterin. Sie rief nacheinander den Ablauf durch die Halle. Ohne Pferde klappte dies auch schon ganz passabel.

Allerdings fehlte noch die Musik und auch das entsprechende Tempo mit Gangartenwechseln stand noch nicht fest. Niemand wollte alles im Schritt reiten.

Alexa erklärte sich bereit, dafür zu sorgen. Sie hatte eine große Musiksammlung - eine riesige Festplatte und mehrere Schränke voll mit CDs.

 

*****

 

Als die Stellprobe vorbei war, rief ich Shane an und erzählte ihm von der Quadrille und meinem Vorschlag. Wie ich erwartet hatte, war er gleich mit Feuer und Flamme dabei.

Auch Ricky war einverstanden und versprach, sofort morgen vorbei zu kommen, damit er sich für eines der Fjordpferde entscheiden konnte. Ich hatte ihm gegenüber allerdings nicht erwähnt, dass ich seine Partnerin sein würde. Er würde das noch früh genug erfahren.

Es hätte mich nur zusätzlich nervös gemacht. Und glauben konnte ich Shanes Geschichte auch nicht so recht. Riccardo Reichmann sollte ausgerechnet in mich, das Pferdemädchen von nebenan, verknallt sein?

Ehr hätte ich ihm zugetraut, dass er sich eine aus der Stadt schnappte. Die sahen doch alle besser aus als ich und hatten bestimmt viel mehr Ahnung von Mode und Styling.

Ich dagegen... Ich hatte doch bloß Ahnung von dem, was mich interessierte: Pferde, Pferdepflege und -haltung, Aufzucht und Reiten.

Aber Ricky sollte wirklich ausgerechnet auf mich stehen?

Andererseits hatte mir Shane schon manchmal einen Bären aufgebunden und dann gelacht, als ich darauf hereingefallen war.

Diesmal jedoch hatte er nicht seinen schelmischen Blick aufgesetzt, der diese Witze begleitete. Er klang aufrichtig und ernst. Meinte er diesmal wirklich das, was er sagte?

Ich wollte das herausfinden und die Quadrille kam mir aus diesem Grund nicht ganz ungelegen. Außerdem bot sie eine Möglichkeit, Shane mit Alice zu verkuppeln.

Kapitel 3: Nur ein Blick

Pünktlich um halb acht kamen Shane und Ricky auf dem Hof an. Shane wäre am liebsten schon viel früher gekommen, doch die Arbeit in ihrem eigenen Stall ging vor.

Nun standen sie mit Cheyenne, Alice und mir in der Stallgasse. "An welches Pferd habt ihr denn gedacht?", fragte meine große Schwester.

Shane zuckte mit den Schultern. "Ich weiß nicht. Legolas oder Freya vielleicht", antwortete er. Cheyenne nickte zustimmend.

"Mach dir erst mal Legolas fertig und wir treffen uns in der Halle. Ich bringe Freya mit, dann kannst du sie im Vergleich testen", sagte sie. "Was ist mit dir, Ricky?"

Ricky zuckte mit den Schultern und ich versuchte, nicht in seine Richtung zu schauen. "Ich würde gerne Faramir nehmen", meinte er schließlich.

Cheyenne und ich runzelten gleichzeitig die Stirn. "Faramir ist bisher nur allein geritten worden, ist schreckhaft und noch nicht ganz ausbalanciert. Warum nimmst du stattdessen nicht King? Der geht bei so etwas sicher sehr gut."

Ricky überlegte. Ich wusste nicht, warum er ausgerechnet Faramir nehmen wollte, denn King war durchaus besser geeignet für die Quadrille. Er war neun Jahre alt und wurde von Cheyenne ausgebildet.

"Ich probiere beide aus, einverstanden?", schlug Ricky einen Kompromiss vor. Cheyenne schien erleichtert zu sein.

"Jennifer, machst du bitte Faramir fertig?"

"Schon unterwegs", antwortete ich und eilte zu dem Fjordwallach. "Hallo, Fara", grüßte ich das Pferd und schob die Box auf.

"Heute wird dich mal der Ricky reiten. Keine Angst, der ist ein ganz toller Reiter. Er will schauen, ob du für unsere große Quadrille geeignet bist. Ich glaube allerdings, dass das noch etwas früh für dich ist..."

Faramir suchte die Taschen meiner Reithose nach Leckerlis ab, doch ich hatte nichts dabei. Enttäuscht wandte er sich ab.

Ich lachte und klopfte ihm den Hals, dann holte ich die Putzkiste und schrubbte die größten Erdklumpen aus seinem Fell. Der Wallach weigerte sich zunächst, die Hufe zu heben und oben zu halten. Nur mit viel Kraft konnte ich ihm den Dreck heraus kratzen.

Dann holte ich Sattel und Trense und machte Faramir fertig. Gerade noch rechtzeitig führte ich den Wallach auf den Platz.

"Wen willst du zuerst, Ricky?", fragte Cheyenne. Ricky lief zielstrebig zu mir. "Ich nehme Faramir."

Ich half Ricky in den Sattel und Faramir trabte los, bevor sein Reiter die Füße in die Steigbügel schieben konnte. Doch Ricky war ein guter und erfahrener Reiter. Nach wenigen Tritten hatte er die Steigbügel aufgenommen und das Fjordpferd zum Schritt durchpariert.

 "Tür frei?", rief Shane fragend. Ich lachte auf.

"Siehst du das nicht selbst?", fragte ich mit einem Grinsen. Shane überragte die Bande locker um einen Kopf und konnte mühelos darüber schauen.

"Oh, stimmt", grinste er. "Dann eben: Tür frei!"

Gleich darauf betrat mit Legolas die Halle. Der Wallach schnaubte und reckte den Kopf nach oben. Cheyenne half Shane auf den Rücken des Pferdes.

Er rückte sich im Sattel zurecht und ließ das Pferd antreten. Legolas, der seinen Namen ebenfalls mit einer Figur aus Der Herr der Ringe teilte, versuchte, einen Blick auf Shane zu erhaschen und dieser ließ ihn gewähren.

Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf Ricky, der gerade abgestiegen war und seine Steigbügellänge korrigierte, da Faramir dies vom Sattel aus nicht zuließ.

Nun versuchte er, wieder aufzusteigen. Er hob das Bein, um den Fuß in den Steigbügel von Faramir zu setzen. Der junge Wallach jedoch erschrak und drehte elegant die Hinterhand zur Seite. Ricky hüpfte hinterher.

"Soll ich dir helfen und Faramir halten?", fragte Cheyenne, doch Ricky schüttelte stur den Kopf.

"Ich kann das auch alleine", murmelte er und schaffte es, einen Fuß in den Steigbügel zu setzen.

Faramir schnaubte und drehte sich weg. Auch diesmal gelang es Ricky nicht, den Wallach ruhig zu halten, um aufsteigen zu können.

"Moment, du behinderst Legolas und Shane", bemerkte Cheyenne und lief mit Freya am Zügel zu Ricky.

Sie packte die Trense des Wallachs und Faramir spitzte die Ohren. Blitzschnell glitt Ricky in den Sattel und nahm die Zügel auf.

Faramir beruhigte sich und ging im Arbeitstempo Schritt. Ricky lobte den Fjordwallach und lenkte ihn auf den zweiten Hufschlag.

Unterdessen begann Shane auf dem ersten Hufschlag zu traben. Legolas nahm den Kopf vorbildlich nach unten und kaute auf dem Gebiss. Nach einer Weile galoppierte Shane den Wallach an und ritt eine perfekte Runde.

Als er an Faramir vorbei kam, verstand dieser es offenbar als Aufforderung zu einem Rennen und schoss völlig unerwartet aus dem Stand davon. Ricky geriet einen Augenblick hinter die Bewegung, fand sein Gleichgewicht aber schnell wieder und versuchte, mit Volten und Zirkeln das Tempo zu drosseln.

Faramir interessierten Rickys Hilfen herzlich wenig und er nutzte jede Gelegenheit, um eifrig hinter Legolas her zu galoppieren.

Shane blickte sich kurz um, sah das Dilemma und parierte sein Pferd zum Schritt durch. Faramir hatte jedoch Gefallen am Galoppieren gefunden und zog weiter seine Runden. Erst nach ein paar Minuten wurde er langsamer und blieb schließlich stehen.

Ricky ließ Faramir viele Runden im Schritt gehen, bevor er verkündete, dass eine Quadrille vielleicht doch noch zu anspruchsvoll für den jungen Falben war und er gern King ausprobieren wollte. Allerdings konnte ich in seinen Worten hören, wie sehr er in seinem Stolz verletzt worden war.

Cheyenne ging zu ihm und nahm ihm Faramir ab, während sie Alice mit King zu sich winkte. King war gutmütig wie immer und sogar ein wenig faul. Vielleicht hatte Ricky ihn deshalb nicht reiten wollen.

Shanes Bruder schwang sich in den Sattel und wärmte den Fjordwallach auf, als Shane anhielt.

"Legolas ist nicht übel. Aber ich würde gern noch Freya ausprobieren, bevor ich eine Entscheidung treffe", sagte er.

Der Wallach kaute die Zügel aus der Hand und Shane rutschte aus dem Sattel. Cheyenne tauschte die Pferde und gab Legolas in Alices Hände, die ihn abwärmte und zurück in den Stall brachte.

Mit Freya lief es bei Shane genauso gut wie mit Legolas, doch ich konnte spüren, dass er trotzdem den Wallach wählen würde. Ricky dagegen schien sich weder über Faramir noch über King sehr freuen zu können.

Faramir war zu lebhaft und zu unerfahren, King zu gutmütig und faul. Irgendwie konnte ich ihn sogar ein wenig verstehen. Es passten beide Pferde einfach nicht zu Ricky.

Nach wenigen Minuten kehrte er zurück auf die Mittellinie. "Ist meine einzige Wahl wirklich die zwischen Faramir und King?", fragte er.

Ich musste mir ein Grinsen verkneifen. Noch vor wenigen Minuten wollte er um jeden Preis Faramir reiten.

"Nun, Ricky, du kannst auch ein anderes Pferd ausprobieren", meinte Cheyenne gelassen. "Wir haben mehr als nur diese beiden Pferde."

"Ich würde gern Freya nehmen. Sie scheint mehr mein Typ Pferd zu sein", sagte Ricky.

Cheyenne schien ein Stein vom Herzen zu fallen, mir auch. "Kluge Entscheidung", murmelte sie zustimmend.

Shane ritt zur Mittellinie in stieg ab. "Ich nehme Legolas", verkündete er. Dann drückte er Ricky Freyas Zügel in die Hand und verließ mit King die Reitbahn.

Ricky stieg auf und suchte mit den Füßen nach den Steigbügeln, während er die Zügel aufnahm. Freya schnaubte und schüttelte ihren Kopf.

Er trieb sie an und die Stute schnaubte erneut, bevor sie den Kopf nach unten nahm und vorschriftsmäßig den Hals wölbte.

Nach ein paar Runden und Bahnfiguren im Schritt trabte Ricky an und Freya war begeistert dabei. Er trabte leicht und fand den richtigen Rhythmus schon beim ersten Schritt.

Ricky ritt ein paar Schlangenlinien, Volten und Zirkel, bevor er Freya angaloppierte. Die Stute spitzte die Ohren und galoppierte versammelt an. Er ging mit der Bewegung mit, verschmolz mit dem Fjordpferd zu einem Wesen. Ich konnte genau sehen, wie fantastisch Ricky reiten konnte.

Nach zehn Minuten stieg er ab, klopfte Freya den Hals und verkündete, dass seine Entscheidung auf Freya gefallen war. Die Stute nickte wie zur Bestätigung und Ricky lachte.

"Du bist ein tolles Mädchen, Freya", rief er strahlend aus.

Die Stute senkte den Kopf und schnaubte, während sie auf dem Gebiss kaute und Speichel aus ihren Maulwinkeln tropfte.

"Steht der Ablauf eigentlich schon fest?", fragte Shane, der gerade wieder zurück kam.

"Cheyenne hat ihn bereits ausgearbeitet, aber Veränderung sind natürlich immer noch möglich", erklärte ich. "Wir beginnen morgen mit den Proben zu Pferd."

"Begleitet ihr uns am Wochenende auf das Turnier? Jennifer startet mit Karamell und Calista, Alice stellt Cookie vor und Nathalie wollte mit Moon Girl teilnehmen", warf Cheyenne ein. Sie hatte die Bestätigung der Nennung von Alice und Nathalie erst heute Morgen erhalten.

"Selbstverständlich", meinte Shane. "Hilfe wird doch immer gebraucht, oder? Ricky wollte nach seiner langen Turnierpause auch starten, aber nur in der Dressur."

"Ach, Jennifer, mir fällt noch etwas ein", wandte sich Cheyenne an mich. "Louise und Janina hatten gefragt, ob sie nicht doch noch am Tag der offenen Tür teilnehmen könnten. Janina wollte ohne Louise nicht beim Springturnier mitmachen..."

Louise und Janina waren befreundet, seit sie sich auf dem Gestüt kennen gelernt hatten. Sie waren ehrgeizig und talentiert, mit vierzehn Jahren ritten sie bereits sehr erfolgreiche Springen in der Klasse A. Bis ein schwerer Reitunfall alle Träume von Louise zerstörte. Sie war querschnittsgelähmt, doch ihr Wille war stark genug, um sich zuerst den Weg zurück auf die Beine, und dann den Weg zurück in den Sattel zu erkämpfen.

Janina half ihr dabei, wo sie nur konnte. Alexa hatte sogar spezielle Weiterbildungskurse besucht, um dem Mädchen besser zu helfen. Mit dieser Hilfe hatte Louise es bereits geschafft, wieder im Schritt und im Trab frei zu reiten. Nur den Galopp traute sie sich noch nicht zu.

Und nun wollten beide Mädchen zusammen am Tag der offenen Tür teilnehmen.

Nur wie?

Ich vermutete, dass es genau diese Frage sein würde, welche Cheyenne mir stellen wollte. Springen konnte Louise nicht und Voltigieren ging mit ihrer Teillähmung ebenfalls nicht. Hatte Louise nicht auch ein Pferdefußballspiel vorgeschlagen?

"Pferdefußball wurde abgelehnt und Springen ist für Louise noch viel zu gefährlich", las Cheyenne meine Gedanken. "Doch ich habe mir überlegt, dass sie mit Janina eine kleine Dressur reiten könnte. Nur zu zweit, mit viel Schritt und nur wenig Trab."

"Louise ist keine schlechte Reiterin", überlegte ich. "Wir sollten vielleicht Alexa um ihre Meinung fragen, sie kennt die Mädchen besser als ich."

"Ich habe bereits mit Alexa gesprochen. Sie hat mit den übrigen Reitschülern zu kämpfen und ich habe jede Menge andere Vorbereitungen zu treffen. Ich soll dich von Alexa aus fragen, ob du nicht mit ihnen eine Dressurübung einstudieren könntest."

 Ich zuckte zusammen. "Ich? Aber ich habe überhaupt nicht Alexas Ausbildung! Wenn etwas passiert!", rief ich. Cheyenne lachte.

"Was ist los? So ängstlich kenne ich dich ja gar nicht", meinte sie und klopfte mir auf die Schulter.

"Du schaffst das schon. Alexa wird dir auch über die Schulter schauen, doch die ganze Planung fällt in deine Hände." Sie wartete kein weiteres Wort von mir ab und ging.

Na wunderbar! Jetzt hatte ich nicht nur fünf Pferde zu versorgen, nebenbei Karamell und Calista auf das Turnier vorzubereiten, sondern durfte mir noch eine Dressuraufgabe für ein querschnittsgelähmtes Mädchen und ihre beste Freundin entwerfen und diese mit ihnen einstudieren.

Warum mussten Tage eigentlich immer so verdammt kurz sein?

 

*****

 

Es war Samstag. Die Sonne versuchte immer wieder, durch die dichte Wolkendecke zu schauen, um der Mittagszeit ein freundliches Licht zu leihen. Shane, Ricky, Alice, Nathalie und ich standen am Transporter und sattelten Karamell. In ein paar Minuten musste ich zum Warmreiten.

Ich ließ die Anderen allein und schlüpfte in den Transporter, wo ich mich aus meinem Overall schälte und das Reitjackett überzog. Ich schnappte meine Kappe und die Gerte, zog mir die Stiefel an und huschte wieder nach draußen. Dann übernahm ich Karamells Zügel von Alice.

Shane stemmte sich in den rechten Steigbügel, als ich aufstieg. "Viel Glück, Jenny!", rief Alice. "Du machst das schon!"

Ich nickte und lächelte, als Karamell antrat. Geschickt lenkte ich die Stute im Slalom um die anderen Transporter und einige Menschengruppen herum zum Vorbereitungsplatz. Karamell spitzte die Ohren und wippte mit dem Kopf von rechts nach links, um nichts zu verpassen.

Nathalie war mir gefolgt und öffnete nun das Tor, damit ich hindurch reiten konnte. Karamell beäugte es und trat ein paar Schritte rückwärts.

Ich schüttelte den Kopf. "Kara, das ist doch bloß ein Tor", murmelte ich. "Du bist schon tausendmal durch ein Tor gegangen."

Die Stute drehte eines ihrer hellen Ohren zu mir und legte den Kopf leicht schief, als ob sie überlegen würde, wo sie so ein Tor schon einmal gesehen haben könnte. Dann schnaubte sie und lief ohne zu zögern hindurch.

 Ich wärmte Karamell noch mit ein paar Runden im Schritt auf, bevor ich antrabte. Sofort erwischte ich beim Leichttraben die richtige Hand. Eine Reiterin vor mir auf einem Schimmelpony klatschte ihre Gerte auf dessen Hinterteil.

Als Karamell den Klatsch hörte, schraubte sie und zog den Kopf zwischen die Beine. Ich trieb sie kräftig an, während ich ihren Kopf wieder nach oben zog. Mit wenigen langen Schritten hatte ich das Pony überholt und Karamell wurde wieder das ruhigste Pferd auf der Welt.

Ich klopfte ihr den Hals und lenkte sie auf den Zirkel. Karamell benahm sich wie ein Dressurpferd. Sie bog den Hals, wölbte den Rücken auf und ich wagte es, eine Runde auszusitzen. Karamell tänzelte etwas nach innen und ich trabte wieder leicht.

Nach einer weiteren Runde wiederholte ich das Aussitzen und galoppierte an. Karamell zeigte sich von ihrer besten Seite, weshalb ich nach dem Übungshindernis Ausschau hielt. Als es frei war, lenkte ich meine Stute darauf zu. Karamell sprang sauber darüber und hängte einen kleinen Freudensprung hinten an. Ich lachte.

"Nächster Starter: Nummer Vierzehn, Jennifer Graf auf Karamell vom Gestüt Graf!", dröhnte es aus den Lautsprechern. Karamell legte die Ohren an und sprang zur Seite, als sie die laute, schrille Stimme des Sprechers hörte.

Beruhigend legte ich ihr eine Hand auf die Schulter und parierte zum Schritt durch.

"Sie sind Nummer Vierzehn?", fragte einer der Ordner mich und ich nickte. Der Mann wies mir den Weg zur Halle und ich war froh, dass ich vom Reitplatz weg kam.

Karamell schritt fleißig los und ging diesmal problemlos durch das Tor. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass Nathalie mir folgte.

Ich grüßte kurz zu den Richtern und trabte dann an. Der Gong ertönte und Karamell schoss auf das erste Hindernis, ein Kreuz, zu. Ich bremste sie mit einer halben Parade ab, denn gleich danach würde die erste Wendung kommen, die bei ihrem Tempo unmöglich zu schaffen sein würde.

Karamell reagierte augenblicklich und bremste noch vor dem Hindernis so stark ab, dass ich einen Moment lang glaubte, sie würde reißen.

Doch die Stute belehrte mich eines Besseren, sprang in hohem Bogen mit viel Luft zwischen ihr und dem Hindernis darüber.

Ich zupfte am linken Zügel und Karamell steuerte auf den Steilsprung zu. Eins, zwei, drei und wir folgen über das Hindernis.

"Sehr schön", murmelte ich und Karamell erblickte einen Oxer, unter dem aus Folie eine Art Wasser dargestellt sein sollte. Bevor ich etwas am Tempo oder dem Winkel zum Hindernis verändern könnte, waren wir schon auf der anderen Seite.

Noch in der folgenden Wendung bereitete ich Karamell auf die Kombination aus zwei Steilsprüngen mit Paraden vor und sie verlängerte ihre Galoppsprünge. Karamell hob den Kopf, als sie das erste der Hindernisse sah und sprang ab. Nach nur einem Galoppsprung erwartete uns dann der zweite Teil der Kombination, den Karamell mühelos überwand.

Zum Schluss des Parcours gab es noch eine Mauer, einen Steilsprung und dann noch einmal über das Kreuz vom Anfang. Karamell beäugte die Mauer aus weißen Pappsteinen und grünen Pflanzen, doch entschied sich schließlich für den Sprung.

 Das letzte Kreuz flog auf uns zu, wir waren fehlerfrei. In diesem Moment vernahm ich ein verräterisches Klong.

Ich wagte es nicht, mich umzudrehen. Nicht, bevor wir nicht die Ziellinie überquert hatten. Karamell legte noch einen wunderschönen Sprung hin, da verkündete der Sprecher schon: "Vier Punkte für Nummer Vierzehn, Jennifer Graf vom Gestüt Graf..."

Ich hörte nicht weiter zu. Mich ärgerten zwar die Fehlerpunkte, doch ich konnte auch nicht immer Glück haben. Karamell war gut gegangen und das genügte mir.

"Gut gemacht, Jennifer." Nathalie gesellte sich an meine Seite und streichelte Karamells Hals. Die Stute schnaubte und kaute auf dem Gebiss.

"Ihr habt gut gekämpft. Leider am Ende etwas Pech gehabt...", meinte sie.

Karamell riss den Kopf hoch und schüttelte ihn. Speichel flog durch die Luft und klatschte mir ins Gesicht.

"Offenbar ist Kara da ganz anderer Meinung", bemerkte ich und wischte mein Gesicht ab.

Nathalie bekam einen Lachanfall. "Es scheint, als ob unsere gute Kara doch etwas kritikunfähig ist."

Als ob sie antworten wollte, schüttelte die Stute erneut ihren Kopf und schnaubte protestierend. Ich strich ihr kichernd über die Mähne und stieg ab.

"Schade, dass es mit dem Stechen nicht geklappt hat", sagte Alice und kam auf mich zu. "Unter den Platzierten bist du diesmal wohl leider nicht."

"Das ist zwar schade, da Kara heute echt gut ging, aber ich kann es nicht ändern. Und für das Stechen habe ich nachher noch einen Versuch", erwiderte ich. "Kümmert ihr euch bitte um Karamell, damit ich Calista fertig machen kann?"

"Keine Bange, Karamell ist bei uns in den besten Händen", antwortete Shane. Ricky und Alice stimmten zu,

Nathalie war inzwischen zu Moon Girl gegangen, um sie für ihren Start vorzubereiten. Alice hatte ihren Start mit Cookie schon absolviert, war aber auch nicht platziert worden.

Meine Konkurrenten, die ich in kurzer Zeit mit Calista haben würde, konnte ich inzwischen gut einschätzen. Es war durchaus möglich, dass ich das Turnier für uns entscheiden konnte. Aber ein Spaziergang würde es trotzdem nicht werden.

Als die Besichtigung meines Parcours freigegeben wurde, begleitete mich Alice. Keines der Hindernisse würde Calista alleinstehend ernsthafte Schwierigkeiten bereiten. Erst durch die Abfolge dieser wurde der letzte Teil meiner heutigen Vielseitigkeitsprüfung anspruchsvoll.

Ich tauschte mein verschwitztes Jackett, welches mir an den Armen klebte, gegen ein anderes und übernahm dann wieder meine Stute. Diesmal folgten mir Ricky und Shane zum Vorbereitungsplatz.

Calista war in Bestform und die beste vierbeinige Freundin, die ich mir wünschen konnte. Die Vorfreude auf das Springen machte sich in uns breit.

Dennoch spürte ich einen Hauch von Nervosität bei meiner Stute. Ich streichelte ihren Hals, schluckte meine eigene Aufregung hinunter. Ich musste Calista Sicherheit geben, um sie zu beruhigen.

Sobald sie meine Hand auf ihrem Hals spürte, entspannte sie sich. Neugierig blickte sie umher, beobachtete die anderen Pferde und Reiter.

Auf dem Vorbereitungsplatz ließ ich sie am langen Zügel im Schritt gehen. Sie streckte sich, soweit es das Martingal zuließ. Ich klopfte ihren Hals, sie schnaubte.

Dann trabte ich an. Calista machte große Schritte, ließ sich ohne Probleme auf den Zirkel lenken. Ich ritt ein paar Bahnfiguren, bis sie sich perfekt stellen und biegen ließ.

Ich wechselte wieder in den Schritt. Ich wollte Calista nur erwärmen, nicht vorzeitig ermüden. Eine Schweißperle rann mir über die Stirn. Ich wischte sie weg.

Der Sprecher rief den fünften Starter auf und ich trabte wieder an. Bald darauf war das Übungshindernis frei und ich ritt Calista darauf zu.

Sie wechselte mühelos in den Galopp und flog darüber. Ich lobte sie, bevor ich das Hindernis erneut anritt, diesmal jedoch im Trab. Sie schwebte darauf zu, sprang ab und wechselte nach der Landung sofort in den Galopp.

"Nächster Starter: Jennifer Graf auf Calista vom Gestüt Graf!", tönte es aus dem Lautsprecher. Ich steuerte die Stute zum Ausgang und dann in die Halle.

Nach dem Richtergruß trabte ich an. Calista schien meine Gedanken zu lesen und wechselte in den Galopp, als das erste Hindernis auf uns zu kam. Mühelos überwanden wir die zwei Steilsprünge, einen Oxer, eine Mauer und eine dreifache Kombination.

Calista legte sich in die engen Wendungen, streckte sich auf den Geraden. Ich beugte mich über ihren Hals, um ihren Rücken zu entlasten. Ihre Sprünge fühlten sich an wie Fliegen. Wir flogen über einen angedeuteten Wassergraben.

Mit ihr zu springen war für mich wie ein Rausch, besser als alles andere auf der Welt. Wir waren ein Wesen, das zusammen dachte, zusammen kämpfte.

"Fehlerfreie Runde für Jennifer Graf auf Calista vom Gestüt Graf!", rief der Sprecher, als Calista hinter dem letzten Sprung landete. "Und damit sind drei Starter im Stechen."

Ich umarmte Calista und drückte mein Gesicht in ihre Mähne. Ricky und Shane tauchten beim Vorbereitungsplatz auf. Ich drückte Ricky die Zügel in die Hand und nahm Shane mit, um den Parcours für das Stechen zu besichtigen.

Der letzte Starter meiner Gruppe war ebenfalls fehlerfrei geblieben und lag dazu noch sehr gut in der Zeit. Das versprach ein spannendes Stechen zu werden.

Nach der Besichtigung blieb ich noch beim Parcours stehen. Die erste Reiterin ritt einen weißgestiefelten Fuchs. Ihre Runde war sauber und fehlerfrei, aber nicht besonders schnell.

Der zweite Starter war ein Junge mit einem Schecken, der wie der Blitz durch den Parcours fegte. Eine der Wendungen nahm er mit zu viel Schwung, ritt dadurch das Hindernis schräg an und prompt fiel eine Stange polternd herunter. Den Rest des Ritts verfolgte ich nicht mehr.

Ich übernahm Calista wieder, trabte noch eine Runde mit ihr, bevor mich der Sprecher aufrief. Ich ritt ein, grüßte und legte los.

Oder besser: Calista legte los. Pfeilschnell raste sie auf das erste Hindernis zu und flog darüber, als ob sie nichts lieber täte.

Dann kam auch schon die inzwischen zweifache Kombination aus Steilsprung und Oxer auf uns zu. Calista zögerte keine Sekunde. Es folgten eine rasiermesserscharfe Wendung, die Mauer, ein Steilsprung, der Wassergraben und dann ein langer Schlusssprint auf das letzte Hindernis, dem Oxer.

Noch während wir über die Ziellinie ritten, wusste ich, dass Calista gewonnen hatte und umarmte glücklich die Palominostute. Sie wechselte in den Schritt und stolzierte aus der Bahn.

Sofort kamen Shane, Ricky, Alice und Nathalie herbei geeilt, um mir zu gratulieren.

"Spitze, Jennifer!", rief Shane und nahm einen Zügel von Calista, als er mich umarmte.

"Ich wusste, dass du gewinnst", meine Ricky und umarmte mich ebenfalls. Seine Umarmung war anders als sonst. Nicht so fest, stürmisch und begeisternd wie früher, sondern sanft und weich.

Seltsamerweise lösten seine Fingerspitzen, die meine Haut berührten, dort ein eisiges Prickeln hervor, welches sich gleich darauf in glühende Lava verwandelte. Was war das?

Ich sah zu ihm und bedankte mich. Seine graublauen Augen sahen mich an mit einem Blick, den ich nicht deuten konnte. Ich bemerkte zum ersten Mal schwarze, unregelmäßig gesetzte Punkte in seiner Iris.

Rasch setzte ich ein Lächeln auf und riss mich von diesem fesselnden Blick los, als Nathalie und Alice mich umarmten.

Mit einem strahlenden Gesicht empfing ich schließlich meine Schleife und führte die Ehrenrunde an.

Innerlich war ich jedoch gar nicht bei der Sache, denn noch immer beschäftigte mich dieser Blick. Hatte Shane am Ende doch recht gehabt, was die Sache mit Rickys Tagebuch anging?

Ich war mir fast sicher, aber warum sah ich ihn plötzlich ... mit anderen Augen?

Ich kannte Ricky genauso lange wie Shane. Wir waren seit dem Kleinkindalter miteinander befreundet.

Shane war stets mein bester Kumpel gewesen, Ricky ein guter Freund. Sollte sich daran jetzt wirklich etwas ändern?

Vielleicht hatte ich mir auch alles nur eingebildet, weil Shane mir so etwas erzählt hatte.

Ich wollte Ricky nicht als Freund verlieren. Wenn sich Freunde ineinander verliebten, kannte ich kein einziges Beispiel für eine freundschaftliche Beziehung nach dem Aus der Liebesbeziehung.

Ich wollte Ricky nicht verlieren. Ich wollte keine Beziehung zu Ricky, die scheitern würde.

Ricky war ein Mädchenschwarm. Er passte doch überhaupt nicht zu Einer wie mir. Er musste sich ein anderes Mädchen suchen, das auf ihn stand, und die nicht die gute Freundin seit Kindertagen war. Das würde doch sonst niemals gut gehen...

Aber dieser verdammte Blick! Warum ausgerechnet dieser verdammte Blick!? Ich wollte ihm doch nicht das Herz brechen, schließlich war er mein Kumpel!

Kapitel 4: Zwischen den Stühlen

Ich warf Louise in Butterflys Sattel. Janina ritt bereits auf dem Hufschlag im Schritt am langen Zügel. Mick, ihr Reitpferd, trottete gemächlich entlang der Bande und blieb alle drei Meter beinahe stehen.

Es war die erste Trainingsstunde für die beiden Mädchen bei mir, doch als ich sie mir jetzt so ansah, verlor ich jede Art von Hoffnung, je eine Choreografie für sie zu finden. Louise konnte nur begrenzt Hilfen geben durch ihre Lähmung und Janina hatte einen Narren an Mick gefressen, der alles außer Weide und Futter nicht besonders mochte.

Ich seufzte und Louise trieb Butterfly an. Sie konnte die Schenkelhilfen nur andeuten, doch ihre Eltern - zu ihrem Glück recht wohlhabend - hatten ihr ein besonders sensibles Fjordpferd gekauft und speziell ausbilden lassen. Butterfly brauchte keine deutlichen Schenkelhilfen, solange er auf Zügel und Stimme nicht verzichten musste.

Louise und Janina ritten an der Bande um mich herum. Ich seufzte erneut. Das war definitiv nicht einfach, dieses Projekt. Zumal ich weder Louises noch Janinas Reitkünste genau beurteilen konnte. Dafür hatte ich die Mädchen zu lange nicht reiten sehen.

"Durch die ganze Bahn wechseln!", rief ich. Vielleicht konnte ich so etwas einbauen. Eine wechselt von M zu K, die andere von F zu H. Bei X würden sie aneinander vorbei reiten. Aber was dann? Vielleicht jede auf einen Zirkel? Immerhin konnte ich jetzt testen, ob sie das überhaupt konnten.

"Zügel aufnehmen!", ordnete ich an. "Und dann hält Janina bei E und Louise bei B."

Die Pferde trotteten im Uhrzeigersinn bis zu den jeweiligen Buchstaben, bevor die Reiterinnen versuchen, sie anzuhalten. Es gelang sogar und das überraschte mich.

"Okay. Louise, du wechselst von F zu H durch die ganze Bahn. Janina, du machst dasselbe von M zu K. Alles klar?"

Die beiden Mädchen nickten eifrig. "Dann legt mal los. Und denkt daran, dass ihr genau bei X aneinander vorbei reitet und deshalb immer auf der gleichen Höhe sein müsst."

Ich trat ein paar Schritte von X weg, um nicht umgeritten zu werden. Dann ließ ich mich auf einem Stapel aus Hindernisstangen, -ständern und Kegeln nieder, welcher nach dem Springtraining der anderen Reitschüler nicht weg geräumt worden war.

Gehorsam bogen Butterfly und Mick ab, bevor sie in einem genauso gemütlichen Tempo durch die Halle marschierten. Louise und Janina schafften es ohne große Probleme und trafen sich fast genau bei X.

Mick legte nur kurz die Ohren an, als Butterflys Schweif ihm ins Gesicht peitschte. Janina hatte ihn voll unter Kontrolle und ließ ihm keine Zeit für Dummheiten.

"Sehr schön", lobte ich. "Und jetzt die nächst höhere Stufe: Antraben!"

Janina ging sofort zum Leichttraben über, während sie prompt den falschen Fuß erwischte. Noch bevor ich etwas sagen konnte, saß sie um.

Louise dagegen konnte nicht leicht traben, hielt sich jedoch sehr gut im Aussitzen. Sie saß locker im Sattel und ging mit Butterflys Bewegungen mit.

Obwohl ihre Lähmung alles verändert hatte, war ihr Hang zum Perfektionismus geblieben.

Mir kam die kleine Louise in den Sinn, noch ohne Lähmung, die immer und immer wieder besser sein wollte als alle anderen. Und sie hatte so viel Talent gehabt.

Nun wirkte sie weitaus weniger professionell und perfekt im Sattel. Es musste schwer für sie sein, noch einmal bei Null anzufangen, obwohl sie einst so erfolgreich gewesen war.

Wieder entfuhr mir ein Seufzer. Ich bezweifelte, dass ich es geschafft hätte, wenn ich an ihrer Stelle den Unfall gehabt hätte. Ohne Schenkel zu reiten, nie mehr in den leichten Sitz wechseln zu können...

"Wie gerade eben noch einmal durch die ganze Bahn wechseln!", riss ich mich zurück in die Wirklichkeit und sah, wie die beiden Mädchen sich bemühten, auf einer Höhe zu bleiben. Etwas neben X ritten sie schließlich aneinander vorbei.

"Sieht ganz gut aus", stellte ich fest. "Durchparieren zum Schritt!"

Ich stand wieder auf und öffnete den Reißverschluss meiner Jacke. Mir wurde allein schon vom Zuschauen warm.

"Bereit für etwas Anderes?", fragte ich und sah Louise und Janina abwechselnd an. Sie nickten.

"Gut, dann gleich noch einmal durch die ganze Bahn wechseln, aber sobald ihr auf der anderen Seite angekommen seit, geht ihr bei A und bei C auf den Zirkel", erklärte ich. "Auf geht's!"

Mir fiel auf, dass Janina und Louise sich mit Kopfnicken verständigten, während sie ritten. Und sie schafften es, dass die Figur besser aussah als die zuvor.

Vielleicht hatte Janina doch mehr Talent im Umgang mit Micks Motivation als wir alle. Der Fjordwallach schritt munter voraus und glich überhaupt nicht mehr dem faulen Schulpferd, der er sonst war.

"Wieder ganze Bahn!", rief ich. "Glaubt ihr, dass ihr das auch im Trab schafft?"

Louise und Janina nickten eifrig. "Aber natürlich!", riefen sie im Chor.

"Dann zeigt es mir", meinte ich und setzte mich wieder auf die Stangen. Ich zappelte mit den Zehen, als ich die beiden Mädchen beobachtete, wie sie die Figur im Trab ritten. Es sah besser aus, als ich erwartet hatte. Vielleicht war das Ganze doch kein hoffnungsloses Unterfangen. Meine Vorurteile den Mädchen gegenüber schienen zu hart gewesen zu sein. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie in den letzten Monate so große Fortschritte gemacht hatten.

"Durchparieren zum Schritt!", rief ich. Es war an der Zeit, Louise und Janina heraus zu fordern und ihre Grenzen auszutesten.

"Der nächste Teil ist jetzt schon etwas komplizierter. Ihr reitet auf dem Zirkel und wechselt dann beide aus dem Zirkel."

Die Mädchen nickten und begannen gleich damit, die Figur zu versuchen. Wieder sah es besser aus, als ich erwartet hatte. Als hätten sie ihr gesamtes Leben nichts anderes gemacht, als zusammen Dressur zu reiten.

Auch im Trab klappte es reibungslos und ich beschloss spontan, noch einen Schritt weiter zu gehen. "Sehr schön. Nach dem Wechseln aus dem Zirkel noch einmal Durch den Zirkel wechseln."

Im Schritt sah es ganz gut aus, im Trab schafften beide es nicht, ordentliche Bögen zu rein. Dies war die erste Übung, die ihnen sichtlich schwer fiel. Erst nach vier Wiederholungen sah es in meinen Augen gut genug aus, um die Stunde zu beenden. Ich war vollkommen zufrieden mit den Mädchen. In Gedanken schon ich die Messlatte für die nächste Trainingsstunde ein Stück nach oben.

"Durchparieren zum Schritt, ganze Bahn, Zügel aus der Hand kauen lassen", sagte ich und stand auf. Ich schüttelte meine Beine aus und streckte mich kurz. "Ich hoffe, es hat euch wenigstens etwas Spaß gemacht."

"Das war total cool!", rief Janina und Louise stimmte ihr zu. "Bitte, Jennifer, denk' dir noch mehr Figuren aus!"

Nur am Rande hörte ich ein Klatschen. Ich drehte mich um. Am Halleneingang standen Cheyenne und Alexa. Rasch wandte ich den Kopf ab und fummelte eifrig am Reißverschluss meiner Jacke herum.

"Ich wusste, dass diese Aufgabe perfekt für dich ist, Jennifer!", rief Cheyenne freudig aus. "Du brauchst nur manchmal einen Tritt in den Allerwertesten, um das ebenfalls so zu sehen."

"Na, vielen Dank auch!", erwiderte ich trocken.

Alexa lachte. "Du warst mit großem Eifer dabei, Schwesterherz", lobte sie und ich runzelte die Stirn.

"Moment, seit wann schaut ihr schon zu?", fragte ich verwirrt und hielt mitten in der Bewegung inne.

Louise und Janina brachen hinter mir in einen Lachanfall aus, meine Schwestern stimmten mit ein.

Ich kam mir vor wie im falschen Film. Warum lachten denn alle?

Janina beugte sich zu mir herunter und flüsterte mir etwas ins Ohr: "Die stehen schon von Anfang an dort und haben alles beobachtet." Dann ritt sie wieder an.

Ich schüttelte den Kopf. War ich wirklich mit so viel Eifer bei der Sache gewesen, dass ich weder Cheyenne noch Alexa bemerkt hatte?

 

*****

 

"Aufstellung!", rief Cheyenne und ich bog bei A ab.

Dies war unsere erste große Probe der Quadrille mit Pferd. Neben mir tauchte Ricky auf, doch ich bemühte mich, ihm nicht in die Augen zu sehen.

Prinz schnaubte und schüttelte den Kopf, so dass ich einen Grund hatte, mich voll und ganz auf mein Pferd konzentrieren zu müssen.

Es war nicht gut, dass ausgerechnet Ricky mein Partner war. Eigentlich konnte es mir egal sein, doch seit dem Turnier hatte sich etwas in mir verändert. Ich sah ihn plötzlich in einem völlig anderen Licht.

Ich hielt Prinz an und wartete, bis Cheyenne mit dem Zählen begann. "Drei - zwei - eins - los!" Ich drückte meine Schenkel an den Bauch des Wallachs und er marschierte los. Bei C links abbiegen, dann von H zu K eine einfache Schlangenlinie, die bis X führte. Bei A dann antraben und durch die ganze Bahn wechseln.

Ich schielte immer wieder zu Ricky, um mit ihm auf einer Höhe zu bleiben, mied jedoch seinen direkten Blick. Auch, als ich zwischen Ricky und Shane hindurch reiten musste, starrte ich einfach nur gerade aus zwischen den Pferdeohren hindurch.

Ich wechselte hinter Alexa auf den zweiten Hufschlag, prüfte mein Tempo. Cheyenne traf Jonas bei X und ritt einen Zirkel.

Obwohl ich normalerweise Ricky hätte ansehen müssen, sah ich an ihm vorbei und ging ebenfalls auf den Zirkel.

Bei A ritt meine Gruppe wieder ganze Bahn und Cheyenne bremste stark ab, damit die Männergruppe genau neben uns ankam.

Es war schwer, Ricky auf Freya neben mir zu haben und seinen Blick vermeiden zu müssen. Ich hoffte, dass er meine kalte Seite ihm gegenüber nicht bemerkte.

Wieder bei A bogen wir ab und ritten auf die Mittellinie. Cheyenne pfiff und wir trennten uns, jeder ritt direkt auf die Bande zu. Dort reihten wir uns wieder in die Gruppen ein und ein weiterer Pfiff erklang, als wir auf der gegenüber liegenden langen Seite waren.

Ich bog zur Mitte ab und ritt bis zur anderen Seite. Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte ich, wie Ricky mich mit fragenden Blicken musterte.

Ich presste meinen Blick auf die vor mir liegende Bande, reihte mich wieder hinter Alexa ein und bremste Prinz etwas ab, da sich nun zwischen Alexa und mir noch Ricky einfädeln würde. Notgedrungen musste ich auf seinen Rücken starren. Er saß kerzengerade und stolz in Freyas Sattel.

Wieder ein Pfiff. Diesmal bogen wir alle gleichzeitig zur Tribüne ab und hielten nebeneinander an. Dann nur noch ein gemeinsamer Gruß und die Quadrille war zu Ende.

"Verbesserungsvorschläge?", fragte Cheyenne und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Ich zuckte mit den Schultern, als Marcs Hand nach oben schoss. "Es fehlt ein Einmarsch und ein Ausmarsch!"

"Wie stellst du dir das vor?", warf Tobias ein. Doch statt Marc gab Sven eine Antwort.

"Für den Abmarsch hätte ich folgende Idee: Wir wenden nach rechts ab, galoppieren eine Runde und reiten im Galopp aus der Bahn", schlug er vor. "Da kommt dann endlich mal ein wenig Action ins Spiel!"

"Gute Idee", stimmte Johanna ihm zu und auch Cheyenne nickte. "So etwas in der Art hatte ich auch schon überlegt", verkündete sie.

"Also schön, dann können wir das doch glatt mal versuchen." Sie ritt zum Tor, öffnete es vom Pferderücken aus und stellte sich wieder an ihren Platz.

"Drei - zwei - eins - los!" Ich gab Prinz eine winzige Galopphilfe. Sofort reagierte der Wallach und sprang nach rechts. Wir fegten hinter Ricky und Freya her und ich brauchte all meine Überzeugungskraft, um Prinz deutlich zu machen, dass er das vermeintliche Rennen nicht gewinnen sollte.

Erst als Cheyenne und alle anderen vor mir durchparierten, ließ sich Prinz zurücknehmen und schließlich konnte ich ihn sogar anhalten.

"Gut gemacht, mein Junge", murmelte ich und klopfte ihm den Hals. Bist ein gutes Pferdchen, Golden Prince."

Cheyenne nahm die Zügel in eine Hand und verkündete, dass wir die Quadrille noch ein letztes Mal reiten würden, bevor wir das Training für heute beenden würden.

"Ach ja, Alexa, wie weit bist du mit der Musik?", fragte Johanna und ritt neben meine Schwester.

"Nahezu fertig. Nur noch ein paar winzige Veränderungen und dann ist alles fertig geschnitten und reitbar."

Ich gab mir erneut große Mühe, ordentlich zu reiten und Ricky nicht anzusehen, solange es nicht zwingend sein musste.

Natürlich hoffte ich noch immer, dass Ricky nichts von meinem Verhalten bemerkte. Leider war ich keine besonders gute Schauspielerin und jeder Depp hatte vermutlich längst mitbekommen, dass da irgendetwas sein musste, weil ich einen guten Freund vollständig zu ignorieren versuchte.

Prinz zeigte sich allerdings nicht ganz von seiner besten Seite und verlangte einen großen Teil meiner Aufmerksamkeit. Ich war ihm ausnahmsweise einmal dankbar dafür.

Wir ritten die gesamte Quadrille erneut durch und ließen dann die Pferde noch ein paar Runden im Schritt gehen. Prinz hatte stark geschwitzt.

Ich fuhr mit den Füßen aus den Steigbügeln und streckte meine Beine. Prinz wendete automatisch auf die Mittellinie und blieb bei D stehen.

Ich ließ mich aus dem Sattel gleiten, lockerte den Sattelgurt, schob die Steigbügel hoch und klopfte meinem Pferd den Hals.

Prinz schnaubte und drängte zum Ausgang, sobald ich fertig war. Ich lachte auf und versuchte, mit ihm Schritt zu halten. Zielstrebig ging er auf seine Box zu, in der bereits sein Futter auf ihn wartete.

Ich zog ihm die Trense aus und hängte sie über meine Schulter, bevor ich ihn vom Sattel befreite. Beides brachte ich wie ein Roboter zurück in die Sattelkammer. Nichts sehen, nichts hören. Hoffentlich hielt das Ricky davon ab, mit mir sprechen zu wollen.

"Jennifer?" Ich zuckte zusammen und mein Herz raste, als ich die Stimme erkannte. "Jennifer, bist du hier drin?"

"Ja", antwortete ich rasch und drehte mich um. Er kam gerade hinter einer Wand voller Sättel hervor. Mein Versuch, ihn abzuschrecken, ging nicht auf.

"Hey, Ricky." Ich versuchte, lässig und wie sonst zu klingen, doch es gelang mir nicht ganz so, wie ich es wollte.

"Ich muss mit dir reden", fing Ricky an. "Jetzt sofort. Es ist dringend."

Mein Herz schlug noch schneller. Er hatte also doch meine Kälte ihm gegenüber bemerkt. Verdammt!

Ich ließ mich auf eine der Bänke gleiten und er setzte sich neben mich. "Jennifer, was ist los?", platze er heraus.

"Was soll denn sein?", fragte ich und versuchte, die Ahnungslose zu spielen. Ricky jedoch akzeptierte keine Ausweichmanöver und schüttelte nur den Kopf.

"Ich sehe ganz deutlich, dass du etwas auf dem Herzen hast. Wir sind Freunde, schon vergessen? Doch du siehst mich an, als würdest du mich nicht kennen. Als wäre ich ein Fremder...", sagte er wehmütig. "Was habe ich dir getan?"

Ich schluckte. Er hatte es bemerkt. Verdammt!

"Es ist nichts", versuchte ich es erneut, doch Ricky glaubte mir nicht.

"Hey, Jennifer, wir kennen uns schon so lange und du willst mir wirklich erklären, dass bei dir alles in Ordnung ist? Jeder Blinde sieht, dass dich etwas belastet. Ich will, dass wir wieder so wie vorher miteinander reden. So wie vor der Quadrille."

Ich schüttelte den Kopf. "Es ist nichts und selbst, wenn etwas wäre, könnte ich es dir nicht sagen. Es geht mir gut. Das hat doch nichts mit dir zu tun, ich bin einfach nur mies drauf heute..."

Verdammte Lügnerin! Warum musste ich meinen Kumpel jetzt belügen? Ich wollte das nicht. Dafür mochte ich ihn viel zu sehr.

Erst jetzt bemerkte ich, dass Ricky einen Arm um meine Hüften gelegt hatte. Das hatte er schon manchmal getan, doch es war mir noch nie so bewusst geworden. Seit wann stand er eigentlich auf mich? Und warum ausgerechnet auf mich?

"Ricky, könntest du...", fing ich an und seufzte. Wie schaffe ich es, ihn freundlich abblitzen zu lassen? Er muss sofort seinen Arm von mir nehmen.

"... könntest du mich jetzt bitte allein lassen?" Ich legte etwas Trauer in meine Stimme. Ricky nickte verständnisvoll, ließ mich los und ging. In dem Moment, als ich seinen Arm nicht mehr spürte, schmerzte mein Herz.

Ich schüttelte den Kopf und vergrub mein Gesicht in den Händen. Ich konnte Ricky nicht für immer etwas vorspielen, wollte unsere langjährige Freundschaft nicht gefährden und ihn nicht verletzen.

"Jennifer?" Ich zuckte erneut zusammen, doch diesmal war es nur Shane. "Jennifer, was ist los mit dir?"

Ich seufzte und blickte kurz auf. Mein Gesicht war mit Tränen überzogen.

Lautlos ließ sich Shane neben mir fallen. "Wer hat dir weh getan, Jenny?"

Nur Alice und Shane benutzten meinen Kosenamen. Und Shane nur dann, wenn es wirklich wichtig war. Wenn er bei mir sein wollte, um mir zu helfen. So wie jetzt.

"Ich mir selbst", gestand ich leise. "Und du hast das alles ausgelöst. Durch unser Gespräch letztens nach dem Geländetraining mit Calista."

"Was hat er getan?", fragte Shane überrascht. Ich zuckte mit den Schultern.

"Nichts. Das ist es ja. Er hat mich nur nach dem Turnier angesehen und jetzt habe ich Angst, dass unsere Freundschaft zerbricht, wenn..." Wieder kullerte einen Träne über mein Gesicht.

"Wahre Freundschaft vergeht niemals, hat mir einst ein guter Freund gesagt. Ich habe ihn schon lange nicht mehr gesehen, doch wir sind noch immer in Kontakt", erzählte Shane. "Ich glaube nicht, dass die Freundschaft zwischen Ricky und dir je zerbrechen wird. Ganz egal, wie du dich entscheidest."

"Das mag ja alles sein, aber ich will keine Beziehung. Wir passen doch gar nicht zusammen. Er ist ein Mädchenschwarm und ich bin nur eine mittelmäßige Reiterin, in deren Leben außer Pferden kein Platz ist", sagte ich. "Er passt nicht zu Einer wie mir."

"Willst du ihm etwa so ein Modepüppchen andrehen, oder was?", entgegnete Shane lachend, doch ich nickte langsam. "Zumindest eine, die etwas von Mode und Jungs versteht."

Shane lachte leise. "Ich glaube, gerade deshalb hat er dich gewählt. Du bist natürlich. Du stolzierst nicht herum, laberst nicht über deine hundert vergangenen Affären, kommst nicht in Minirock und Stöckelschuh in den Stall, versteckst dich nicht hinter einer dicken Maske aus Schminke..."

"Schon gut, Shane", unterbrach ich ihn. "Ich muss einfach nur etwas länger darüber nachdenken."

"Mach das", meinte er. "Ich muss dann langsam nach Hause reiten."

Er reichte mir ein Taschentuch und ich wischte meine Tränen damit weg. "Ich komme noch mit raus", murmelte ich.

Draußen wartete Ricky auf seinem Wallach Moonwalker. Das Warmblut war ein silbergrauer Apfelschimmel und trug eine lange schwarze Mähne, während sein Schweif fast weiß war.

Moonwalker sah ungewöhnlich aus, war jedoch eine absolute Schönheit. Der Wallach liebte das Springen, doch Ricky ging nur noch sehr selten auf Turniere mit ihm. In den letzten beiden Jahren war er nur als Helfer für Shane bei einem Turnier gewesen.

Eigentlich schade, denn so ein hübsches Pferde stellte man doch eigentlich gern in der Öffentlichkeit vor, fand ich. Und weder Ricky noch Moonwalker machten den Eindruck, dass sie krank waren. Aber es war nicht meine Sache, wann, warum und wo Ricky auf Turnieren startete.

"Auf Wiedersehen", rief ich, als Shane sich auf Vulcano schwang. "Bis morgen zum Training."

"Bis morgen, Jennifer", verabschiedete sich Shane. Ricky dagegen blieb stumm, nickte nur kurz und lenkte Moonwalker dann vom Hof.

Ich sah den Brüdern noch eine Weile nach. Warum ausgerechnet Ricky? Warum ausgerechnet mein Kumpel? Warum?

 

*****

 

"Ach, hier bist du!", rief Tobias mir zu und nahm seinen Wanderreitsattel vom Bock. Dann hängte er sich die gebisslose Zäumung über die Schulter.

"Hast du Lust, mir Sprite und mir auszureiten?", fragte er. "Sprite braucht dringend Bewegung und niemand hat Zeit, ihn zu begleiten."

Ich nickte. "Klar doch, Tobias", antwortete ich. "Ablenkung könnte ich jetzt wirklich gut gebrauchen. Wann willst du los? Sofort?"

"Je ehr, desto besser", meinte mein Bruder lachend. "Sprite tritt mir sonst noch die Box kaputt." Ich stimmte in sein Lachen ein. Es war einfach ansteckend und ließ mich für kurze Zeit das Problem mit Ricky vergessen.

"Sprite? Nee, der ist da doch viel zu sanft", erwiderte ich grinsend. "Frag doch mal den Herkules, wenn der gegen die Boxentür tritt. Da ist schon oft das Holz gesplittert."

Ich nahm Sattel und Trense vom Haken und ging zu meinem sanften Riesen. "Hey, Großer", murmelte ich leise und legte den Sattel auf die Boxentür, bevor ich die Trense ablegte und den Putzkasten holte.

"Wir reiten mit Tobias und deinem Kumpel Sprite aus. Na, was hältst du davon?", fragte ich das Kaltblut. Herkules schnaubte und nickte. Dann scharrte er aufgeregt mit dem Huf.

Ich bürstete schnell über sein Fell, kratzte die Hufe aus und entfernte ein paar Strohhalme aus dem Schweif. Dann legte ich den Sattel auf seinen Rücken und zog den Sattelgurt in das zweite Loch.

Schließlich trenste ich auf und schloss den Riemen meiner Reitkappe. "Tobias, bist du fertig?", fragte ich in den Stall hinein.

"Ja! Bin gleich fertig", erklang die Antwort und ich führte Herkules nach draußen.

Der Wallach zerrte mir fast die Zügel aus der Hand und nur mit ruhiger Stimme konnte ich ihn anhalten, nachgurten und die Steigbügel nach unten schieben.

Ich setzte meinen linken Fuß in den Steigbügel, fasste die Zügel nach und schwang mich in den Sattel. Noch bevor ich meinen anderen Steigbügel aufnehmen konnte, lief Herkules los.

Wir mussten nicht lange warten. Wenige Augenblicke später schwang sich Tobias in den bequemen Wanderreitsattel und nahm die Zügel in die Hand. Herkules begrüßte seinen Kumpel mit einem freudigen Wiehern und Sprite antwortete.

Die beiden Pferde waren so ziemlich die ungleichsten Freunde, die man sich vorstellen konnte. Herkules war groß, kräftig, graubraun und ein Kaltblut. Sprite dagegen war deutlich kleiner und hieß eigentlich Little Stripe, also Kleiner Streifen. Er war ein Maulesel. Die namensgebenden Streifen zierten Rücken und Beine.

Einst hatte der Name auch wirklich perfekt zu ihm gepasst, doch inzwischen war er nicht mehr ganz so klein wie zur Zeit seiner Taufe und die Streifen waren natürlich ebenfalls gewachsen.

Tobias kannte Sprite von Fohlen an. Die Mutter seiner damaligen Freundin Anne war Tierärztin und dabei, als im Zirkus, der in der Nähe sein Lager aufgeschlagen hatte, die Geburt eines Mauleselfohlens erwartet wurde. Tobias, Anne und ihre Mutter taten alles, um die schwere Geburt der Eselstute zu erleichtern, doch sie schaffte es nicht. Nach der Geburt starb sie an inneren Blutungen.

Der Zirkus bedauerte zunächst den Tod der Stute, musste dann jedoch erschreckend feststellen, dass er auch die Tierärztin nicht bezahlen konnte. Stattdessen boten sie ihr an, das Fohlen zu behalten. Annes Mutter nahm an, Tobias kaufte ihr das Fohlen ab und taufte den kleinen Hengst auf den Namen Little Stripe.

Er zog ihn mit der Flasche auf und als der Maulesel alt genug war, begann er, ihn einzureiten. Der Hengst erwies sich als eigenwillig und weigerte sich nach und nach, die anderen Menschen auf seinem Rücken zu akzeptierten.

"Störrisch wie ein Esel aus dem Bilderbuch!", hatte Tobias immer gesagt.

Sprite hatte nur zu ihm eine so enge Beziehung, um ihm das Reiten zu erlauben. Ein ganz normaler Ausritt war meist jedoch nur möglich, wenn sein bester Kumpel Herkules mit dabei war.

War Sprite alleine, bewegte er sich nicht von der Stelle. Waren andere Pferde dabei, begann er diese zu jagen oder zu beißen. Deshalb fand Tobias selten eine Begleitung zum Ausreiten.

Vor vielen Jahren bei einem Ausritt hatten Tobias und ich ein Picknick eingelegt. Herkules konnte ich frei laufen lassen, während wir Kekse futterten und Sprite, also die Zitronenlimonade, tranken. Tobias musste den Maulesel jedoch festhalten und als er gerade einen Keks in die Hand nahm, bohrte sich eine hellgraue Nase in Tobias' Plastikbecher. Seit dem hatten wir Little Stripe einfach auf Sprite umgetauft.

Ich trieb Herkules an und wir ritten vom Hof. Das Kaltblut machte riesige Schritte und Sprite musste schon fast nebenher traben. Ich lächelte und gab Herkules sanft ein paar Paraden. Sofort wurde er langsamer und passte sich dem Tempo des Maulesels an.

"Schade, dass du heute nicht mit Johanna ausreiten kannst, oder?", fragte ich meinen Begleiter. Tobias lachte.

"Nicht unbedingt", erwiderte er. "Es mag seltsam klingen, aber ich brauche meine Zeit alleine. Manchmal ist es gar nicht so schlecht, für ein paar Stunden von ihr getrennt zu sein. Sonst beginne ich irgendwann, an ihr zu kleben. Das wäre schlecht. Es macht die Beziehung kaputt."

Ich lächelte ein wenig. "Okay, wenn das so ist", sagte ich. "Aber sag mal, wie läuft es denn generell zwischen dir und Johanna?"

"Ach, ganz gut", blockte er etwas ab. Er sprach nicht besonders gern über seine Beziehungen, aber ich sprach ihn bei fast jedem Ausritt darauf an.

Da schoss mir jedoch wieder Rickys Blick nach dem Turnier in meine Gedanken. Tobias bemerkte die Veränderung. "Was ist, Jennifer?", fragte er besorgt.

"Was meinst du, was Ricky von mir hält?", platzte ich heraus.

Ich wusste, dass Tobias dicht halten wurde. Vor allen. Nur zu Johanna würde vielleicht etwas durchsickern, aber auch sie konnte etwas für sich behalten. Das gab mir Sicherheit und ich beschloss, Tobias mein Problem anzuvertrauen.

"Was ist mit ihm? Habt ihr euch gestritten?", fragte mein Bruder plötzlich und sah mich an. "Du warst vorhin auch so komisch beim Proben."

Ich schüttelte den Kopf. "Nein, es ist nur... Egal, ich sehe wahrscheinlich Gespenster." Ich brach ab.

Tobias mit seinem unglaublichen Charme würde vielleicht dicht halten, aber mich nicht verstehen können. Seine Beziehungen schienen nie so kompliziert gewesen zu  sein.

"Und ich weiß, dass etwas nicht stimmt. Was ist los?", hakte er nach. "Nun sag schon. Geteiltes Leid ist halbes Leid."

"Also schön. Shane hat mir da was erzählt...", begann ich zögernd und brach gleich darauf wieder ab.

Tobias schüttelte erneut den Kopf. "Nun lass dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen, Jennifer."

"Okay, Shane hat in Rickys Tagebuch gelesen. Er ist in mich verknallt", sagte ich schnell.

"Was? Shane ist in dich verknallt?", rief Tobias.

"Nein, nein! Nicht Shane. Ricky!", widersprach ich hektisch.

Mein Bruder sah mich ungläubig an. "Ricky? Echt?"

"Ja. Echt. Aber Ricky weiß nicht, dass ich davon weiß", warf ich ein. "Und das ist das Problem." Tobias schwieg eine Weile.

"Traben wir ein Stück?", fragte er mich plötzlich. Ich nickte und drückte dankbar für die willkommene Ablenkung die Schenkel an Herkules' Seiten. Der Wallach trabte sofort an und Sprite trippelte nebenher, um mit Herkules' großen Schritten mitzuhalten.

Das rhythmische Auf und Ab beim Leichttraben ließ mich verdrängen, worüber wir gesprochen hatten. Ich genoss den Wind, der über mein Gesicht strich.

Nach ein paar hundert Metern im raschen Trab wechselten wir wieder in den Schritt. Herkules bremste sich ein wenig, um seinem Kumpel nicht davon zu laufen. Wie gut sich das ungleiche Paar doch verstand.

"Ich habe über dein Problem nachgedacht", meinte Tobias. "Denn wenn jemand aus unserer Familie Ahnung von Beziehungen hat, dann ja wohl ich. Liebst du ihn?"

Ich zuckte zusammen. Die Frage war mir ein wenig zu direkt, zu offen.

"Ähm ... äh ... ja ... glaube schon ... ein bisschen ...", stotterte ich hervor.

Er lachte. "Hey, das ist doch super!"

"Super?", fragte ich verwirrt. "Was bitte ist daran super?"

Doch statt einer Antwort lachte Tobias einfach weiter. Sprite legte irritiert die Ohren an. Ich warf seinem Reiter einen bösen Blick zu.

"Okay, Spaß beiseite", erklärte er sich einverstanden und atmete tief durch, um sich zu beruhigen.

"Schreib' ihm einen hübschen Brief. Schenk' ihm eine Rose... Solche übersensiblen Männer wie Ricky mögen solche Aufmerksamkeiten, glaube ich. Vor allem, wenn sie so schüchtern sind, dass sie sogar Tagebuch schreiben. Allein wird er vermutlich nicht auf dich zugehen."

"Das geht nicht", unterbrach ich ihn.

"Was geht nicht? Der Gärtner ist nicht so weit weg, Briefpapier müsste auch noch irgendwo sein", meinte Tobias zuversichtlich. "Notfalls kannst du bestimmt auch eine Rose aus dem Garten nehmen."

Ich schüttelte den Kopf. "Ich kann ihm nicht meine Gefühle gestehen, Tobias. Er ist mein Kumpel und unsere Freundschaft bedeutet mir viel. Wenn ich ihm irgendwie das Herz breche..."

"... dann ist er ein Idiot!", vollendete Tobias meinen Satz. "Trübsinn blasen und dich abschotten bringt nichts. Das ruiniert sonst wirklich die Freundschaft."

Ich sah ihn zweifelnd an. "Hey, mir ist egal, was du machst. Lass dich drauf ein, wenn es dein Herz sagt oder schlag es dir aus dem Kopf und behandele ihn wieder wie früher. Das dürfte allerdings schwierig werden. Also sprich mit ihm darüber, schreibe ihm einen Brief - egal was. Aber mach' irgendwas!"

Kapitel 5: Geheime Verehrerin

Ich wusste nicht, wie ich Ricky von meinem Problem erzählen sollte. Ich hatte die entscheidende Information von Shane und der wusste nur davon, weil er das Tagebuch seines Bruders gelesen hatte.

Doch was war, wenn Shane gelogen hatte. Ich konnte es schließlich nicht überprüfen. Andererseits hatten Shane und ich keine Geheimnisse voreinander. Wir logen uns auch nicht an. Und ich hatte selbst den tiefen Blick von Ricky gesehen.

Doch so leicht, wie es aus Tobias' Mund klang, war die Sache leider auch nicht. Was konnte ich schon machen, ohne mich dabei zu verraten?

Die Proben für den Tag der offenen Tür nahmen eine Menge meiner Zeit ein. Louise und Janina trainierten eifrig ihre Choreografie - mit großem Erfolg. Sie wuchsen scheinbar mühelos über ihre Grenzen hinaus, verbesserten Fehler innerhalb weniger Übungsstunden. Ich war so stolz auf die Mädchen.

Die Familien-Quadrille lief ebenfalls besser, als ich es je erhofft hatte. Dank Alexa hatten wir jetzt auch die perfekte musikalische Untermalung, ein Zusammenschnitt aus ganz unterschiedlichen klassischen Stücken. Es schien, als ob auch die Pferde begeistert davon waren, denn seit der ersten Probe mit Musik lief alles glatt.

Selten dagegen waren die Momente, in denen ich weder mit der Quadrille, noch mit den Mädchen oder meinen Fjordpferden beschäftigt war. Diese wenige Zeit nutzte ich dann vor allem für Calistas Vorbereitung auf die Kreismeisterschaften. Ich hatte mich nun endlich dafür entschlossen, meine Palominostute anzumelden und mit ihr erstmalig in der Klasse L zu starten. Ein hohes Ziel, doch ich fühlte mich endlich dafür bereit und Calista war es schon lange.

Über all den Stress hätte ich eigentlich das Problem mit Ricky vergessen müssen. Wenn ich ihn bei den Proben sah, versuchte ich, mich wie immer zu geben, damit er nicht noch weiter Verdacht schöpfen würde. Obwohl mein gestelltes Verhalten mich nicht einmal selbst überzeugen konnte, war ich stolz auf all meine Ausreden, warum ich mit ihm gerade kein ausführliches Gespräch führen konnte.

Leider änderte es nichts an der Tatsache, dass Tobias recht hatte. Ich konnte mich den ganzen Tag über selbst belügen und behaupten, dass ich mich nicht für Ricky interessierte. Sobald ich abends dann im Bett lag, brach alles wieder über mich hinein. Ich sah Ricky vor mir, seinen Blick beim Turnier...

Nach ein paar Tagen, als mich am Abend wieder der Gedanke an Ricky quälte, stand ich wieder auf, zog mir Socken, eine Jogginghose und einen Pullover an und setzte mich an den Schreibtisch. In meiner allerschönsten Schrift begann ich zu schreiben.

Es war erleichternd, meine aufgestauten Gedanken und Gefühle einem Stück Papier zu offenbaren, geradezu befreiend. Ich versank in meinen Gedanken, die mühelos auf das Papier flossen. Der Brief wurde mehr als fünf Seiten lang.

Gerade hatte ich den letzten Satz beendet, als es an der Tür klopfte. Ich zuckte zusammen.

"Herein!", rief ich automatisch und unterschrieb eilig den Brief.

Die Tür quietschte. "Hey, Jenny." Alice. Was will sie denn jetzt mitten in der Nacht?

"Brauchst du Hilfe bei deiner Seminarfacharbeit?", vermutete ich ohne mich umzudrehen. Sie trat neben mich und versuche, einen Blick auf den Brief werfen zu können, der vor mir lag.

"Nein. Diesmal nicht", sagte sie. "Was schreibst du da?"

Ich schüttelte den Kopf und legte hastig ein Buch, das noch auf meinem Schreibtisch lag, auf den Brief. Das würde mir gerade noch fehlen, dass sie über mein Problem mit Ricky Bescheid wusste.

"Das geht dich nichts an." Ich erschrak vor meiner eigenen Stimme. Ich klang wie Cheyenne, wenn sie mich für irgendetwas tadelte.

"Entschuldigung", murmelte ich. "Ich wollte dich nicht so anfahren."

"Was ist denn los? Steht da etwas Gefährliches drin?", fragte sie und bevor ich reagieren konnte, hatte sie die Seiten unter dem Buch hervor geholt und las. Das hat ja prima geklappt mit dem Verstecken! Und nun? Musste ich jetzt mein Ass in Form von Shanes Gefühlen ausspielen, um ihr Schweigen zu garantieren?

"Du bist ja wirklich verliebt, Jenny. Aber so was von!", stellte Alice fest. "Woher willst du wissen, ob Ricky auch auf dich steht?"

"Das weiß ich einfach", erwiderte ich schnell. Hör auf, Alice! Das hier ist nicht für deine Augen bestimmt! "Jetzt gib bitte den Brief wieder her!"

"Wenn Ricky auf dich steht und du auf ihn... Oh, Mann! Du hast ja so ein Glück!", rief meine Schwester verzückt. Ich runzelte die Stirn. "Glück? Weil ich in meinen Kumpel verschossen bin?"

"Ja, Glück", wiederholte sie. "Deine Liebe wird erwidert, ganz im Gegensatz zu meiner."

Ich sah sie ungläubig an. "Du bist verliebt?" Sie nickte, lächelte und verzog dann den Mund. Meine Neugier war erwacht. Damit konnte ich das Thema wechseln und von Ricky ablenken. "In wen denn?"

"Du kennst ihn. Sehr sogar", meinte sie. "Shane."

Ich begann zu lachen. Konnte man mir das verübeln, wenn ich Shanes Sicht auf diese Sache längst kannte?

"Was soll das? Das ist doch nicht komisch!", rief Alice verärgert und drehte sich um. Ich versuchte, mein Lachen zu unterdrücken, es war fast allerdings unmöglich. Ich schnappte nach Luft, versuchte, die Beherrschung zurück zu gewinnen.

"Wie kommst du darauf, dass Shane nicht auf dich stehen würde?", fragte ich und erlangte endlich ein wenig Kontrolle über meinen Lachkrampf.

"Du musst ihn nur etwas beobachten. Er sucht deine Nähe, beobachtet dich. Er steht einfach nicht auf mich, sondern auf dich, Jenny", meinte Alice traurig. "Es ist so unfair, dass dir beide Brüder nachlaufen und ich allein bin."

Ich schüttelte den Kopf. Mein Ass im Ärmel konnte ich gar nicht besser ausspielen als in diesem Moment. "Shane und ich sind beste Freunde - ja. Aber verknallt ist er in mich definitiv nicht. Ich in ihn auch nicht. Erst letztens hat er erzählt, dass er ein Auge auf jemanden geworfen hat."

Ab und an genoss ich es, meine kleine Schwester aufzuziehen. "Oh Gott! Dann ist es ja noch schlimmer! Hat er eine Freundin?", rief sie panisch aus.

Ich schüttelte lachend erneut den Kopf. "Seine Flamme hat bisher noch nicht seine Gefühle erwidert und er scheint ein wenig scheu zu sein. So wie ich." Oder wie Ricky, fügte ich in Gedanken hinzu.

"Wer ist sie!?" Alice vergrub die Hände in ihrem Haar. Ich lächelte nur. Vielleicht sollte ich sie allmählich besänftigen. Oder doch noch etwas auf die Folter spannen?

"Nun ja, du kennst sie", fing ich an. Ich genoss meine Rache. Warum hatte sie auch den Brief lesen müssen? "Du müsstest sie sogar sehr gut kennen."

"Ich kenne sie? Aber wen kenne ich denn, auf den Shane stehen könnte? Ich werde ihr auf alle Fälle sofort die Freundschaft kündigen, falls sie zu meinen Freunden zählt!", fuhr Alice auf. "Bitte, Jenny, sag es. Es ist wichtig!"

Noch ein wenig länger und sie wäre auf Knien vor mir gerutscht, aber so weit wollte ich es dann doch nicht kommen lassen. Ich mochte meine Schwester dafür viel zu sehr.

"Sie heißt Graf mit Nachnamen", erklärte ich. Alice hielt in der Sekunde inne und sah mich an, als hätte ich ihr vom zehnten Weltwunder erzählt. "Graf? Aber ... aber ... aber dann muss sie ja ... zur Familie gehören ...", stammelte sie.

"Ganz genau. Und ihr Vorname beginnt mit dem ersten Buchstaben des Alphabets", fügte ich noch schmunzelnd hinzu. Doch als mein Satz vollendet war, fiel mir ein, dass...

"Alexa!", fauchte Alice. "Na warte! Die kann war erleben! Das darf ja wohl nicht wahr sein!" Halt, dass ging jetzt irgendwie nach hinten los.

Ihr kamen die Tränen und sie wäre aus dem Zimmer geflohen, hätte ich nicht "Stopp!" gerufen.

So sah sie mich nur noch ungläubiger an. "Aber wer soll es sonst sein, wenn nicht Alexa?", fragte sie. "Noch jemand beginnt noch nicht mit A, oder?"

"Oh, du hast da jemanden übersehen", sagte ich und verzog die Lippen zu einem Grinsen. "Ich glaube, er hat den Namen Alice Graf erwähnt."

"Ich? Nein, nicht ich! Niemals!"

Jetzt musste ich wieder lachen. "Doch, genau du", bestätigte ich und hielt mir den Bauch. "Oder hast du eine imaginäre Zwillingsschwester, die den gleichen Namen trägt?"

"Du, Jenny, er steht wirklich auf ... mich?", hakte sie nach, als sie sich beruhigt hatte. "Und du bist dir da wirklich sicher?"

Ich nickte. "Natürlich bin ich mir sicher. Von ihm weiß ich auch, dass Ricky angeblich auf mich steht", erklärte ich. "Es würde ja passen - jede von uns bekommt einen der Brüder ab."

"Na, dass Ricky ein Auge auf dich geworfen hat, ist ja auch nicht zu übersehen, Jenny", sagte sie. Ich zog die Augenbrauen hoch und sah sie zögernd an. "Sicher?"

Ein Kloß entstand in meinem Hals. Zeigte Ricky mir etwa schon die ganze Zeit seine Gefühle, doch ich wollte sie nicht deuten? Hatte ich Angst vor Rickys Gefühlen?

"Hundertprozentig", bestätigte Alice. "Seine Blicke, wenn er dich ansieht. Die sagen mehr, als in einen Gedichtband passen würden."

"Sicher?"

Alice nickte heftig. "Wenn du ihn nicht so sehr ignorieren würdest, hättest du seine Blicke längst bemerkt, Schwesterherz. Was ist nur los mit dir?"

Ich wusste nicht, ob ich gerade wirklich feuerrot anlief oder ob es sich einfach nur so anfühlte.

Shane hatte tatsächlich keine Lügen erzählt. Wozu sollte er auch? Er hatte so etwas nie getan und würde es nicht tun. Ricky stand also wirklich auf mich.

 Mir kam Tobias' Vorschlag wieder in den Sinn. Wenn ich nicht den ersten Schritt machen würde, würde niemals etwas passieren. Irgendwie wollte ich genau aus diesem Grund plötzlich all diesen Kitsch tatsächlich umsetzen und ihm einen Brief mit einer Rose unterschieben.

Zumindest anonym würde ich mich das sogar trauen. Alles auf Nummer sicher, denn sollten sich Alice und Shane geirrt haben, würde ich wenigstens nicht als Vollidiot dastehen.

Was hatte Alice eigentlich mitten in der Nacht von mir gewollt?

Ich sah auf, doch da war sie schon verschwunden. Merkwürdig.

 

*****

 

Gleich am nächsten Morgen setzte ich meinen Plan in die Tat um - bevor ich es mir wieder anders überlegen konnte. Ich wollte in aller Frühe mit Herkules in das nahe gelegene Dorf reiten. Dort war zwar die Ruhe selbst zu Hause, doch es gab einen Gärtner und ich hoffe, dass der noch eine rote Rose für mich übrig hatte.

Um halb fünf verließ ich den Hof. Das ist selbst für ein Leben auf dem Gestüt sehr früh, doch ich wollte nicht gesehen werden. Damit meine Familie nichts bemerkte, band ich Herkules ein paar alte Leinensäcke um die Hufe, die seine Schritte ein wenig dämpften. Jedes kleine Geräusch erschien mir so unglaublich laut.

Erst am Ende der Zufahrt traute ich mich, abzusteigen und die Säcke zu entfernen. Ich ließ sie achtlos an der Seite liegen und stieg wieder auf.

Mein Ritt zum Gärtner würde fast eineinhalb Stunden dauern, ebenso der Rückweg. Ich hätte natürlich mühelos auch das Auto nehmen können, dann wäre ich in einer halben Stunde zurück. Allerdings brauchte Herkules trotzdem Bewegung und der Motor hätte das ganze Haus aufgeweckt.

 Warum musste sich Ricky eigentlich ausgerechnet in mich verlieben? Eine Stadt-Tussi hätte ihm zumindest viel schneller eine Rose beschaffen können. Ich stattdessen war den halben Vormittag dafür unterwegs.

Herkules war von unserem Ausflug mehr als begeistert. Er spitzte die Ohren und trabte hin und wieder an. Zugegeben, in der Aufregung der letzten Tage war er ein wenig zu kurz gekommen.

Als die Glocke der Dorfkirche gerade sechs Mal schlug, hielt ich das Kaltblut vor der Gärtnerei an. Und Punkt genau in diesem Moment öffnete der Gärtner sein Geschäft.

Er war mir ein Rätsel, warum ein Gärtner so früh seine Türen öffnete. Außer mir hatte um diese Zeit bestimmt noch nie jemand das Geschäft betreten. Vielleicht litt die Besitzerin ja unter Schlafstörungen.

Ich saß ab und zog ein Halfter aus der Satteltasche, in welchem ein Führstrick eingehakt war. Mit geschickten Händen band ich ihn am Fahrradständer an, der im Ernstfall sowieso nichts gebracht hätte. Nicht, dass Herkules sich vom Acker machen würde, doch die Dorfbewohner sahen nur ungern ein frei laufendes Pferd, selbst wenn es einer Statue glich.

Ich stürmte in den winzigen Laden. Die Frau hinter dem Tresen sah mich verschlafen an.

"Guten Morgen. So früh schon Kundschaft? Gibt es etwas Besonderes an diesem Tag?"

"Guten Morgen." Ich beschloss, ihre Frage zu ignorieren. "Eine rote Rose, bitte."

Die Gärtnerin sah mich schief an. "Nur eine einzige Rose? Keinen Strauß?"

Ich schüttelte den Kopf. "Nein, nur eine einzige rote Rose."

Sie verschwand im Nebenraum und kehrte gleich darauf mit einer dunkelroten Rose zurück. "Verzeihung, so früh am Tage habe ich noch nicht alle Blumen im Geschäft stehen", sagte sie. "Bitte sehr, Ihre Rose."

Als die Gärtnerin Herkules vor dem Schaufenster sah, steckte sie die Rose in ein kleines Plastikröhrchen mit einem Verschluss aus Gummi.

"Damit wird die Blume Ihren Ritt hoffentlich überleben", kommentierte sie und nannte einen Preis. Ich legte ihr ein paar Münzen auf den Tresen und eilte nach draußen. So frühe Kundschaft und so wenig Umsatz. Die arme Frau, dachte ich mir im Stillen.

Herkules, die Seele von Pferd, hatte natürlich weder geäppelt, noch sich von der Stelle gerührt oder irgendwelchen Blödsinn veranstaltet. Ich lobte ihn dafür und befestigte die Rose am Sattel. Dann nahm ich dem Wallach das Halfter ab, entknotete den Führstrick und schob beides zurück in die Satteltaschen.

Mit einer geschickten Bewegung kletterte ich zurück in den Sattel und lenkte das Kaltblut zum Ortsausgang. Herkules schien zu wissen, dass er nicht galoppieren durfte und machte besonders lange Schritte. Ich hatte Angst um meine Rose, doch sie hielt am Lederriemen fest und das Plastikröhrchen schien tatsächlich dicht zu sein.

Ja, eine Stadt-Tussi hätte ihm echt einfacher eine Rose bringen können. Sogar ganz ohne Abenteuerreise und Aufwand.
Während ich erneut darüber nachdachte, musste ich über mich selbst lachen. Statt einfach zu Ricky zu gehen und mit ihm zu sprechen, ritt ich in aller Frühe ins Dorf. Ich war wohl doch ein wenig verrückt.

Ein anderer Gedanke schoss mir durch den Kopf: Cheyenne war bestimmt längst aufgestanden und würde sich schrecklich aufregen, wenn sie bemerkte, dass Herkules und ich verschwunden waren. Ich hatte schließlich keine Nachricht hinterlassen.

Ich strich Herkules über den Hals und ließ die Zügel los, um mein Handy aus der Satteltasche zu kramen. Dann tippte ich eine SMS an Cheyenne und berichtete ihr, dass ich nicht schlafen konnte und deshalb schon mal begonnen habe, Herkules zu bewegen. Ob sie mir allerdings diese seltsame Geschichte abkaufen würde, wusste ich nicht.

Wieder musste ich an Ricky denken. Ich konnte ihn vor mir sehen, mit allen Einzelheiten. Seine braunen Haare, seine graublauen Augen mit den schwarzen Punkten, sein geschwungenes Profil...

Ich stutzte, als mir bewusst wurde, wie genau ich ihn mir vorstellen konnte. Ich konnte mich an jedes Lederfleck und jede Bartstoppel erinnern. Verrückt!

Als ich aus meinen Gedanken aufwachte, bemerkte ich, dass ich nur wenige hundert Meter noch bis zum Gestüt vor mir hatte. Um die Rose vor den Anderen zu verstecken, nahm ich einen Umweg und ritt von der Rückseite auf den Hof zu. Keiner sollte vom Ziel meines Ausritts erfahren, da ich fürchtete, ausgelacht zu werden.

Fast lautlos sattelte ich Herkules ab, brachte ihn auf die Weide und verstaute das Sattelzeug in der Sattelkammer.

Zu spät fiel mir ein, dass die Leinensäcke noch auf der Zufahrt liegen mussten. Ich konnte jetzt nicht zurück, nicht mit der Rose. Hastig ging ich zum Wohnhaus und rannte in mein Zimmer.

Der Brief war bereits fertig und lag in einer der Schubladen des Schreibtischs. Ich legte die Rose dazu und hoffte, dass das Glück mir weiterhin so treu war.

 

*****

 

Mein restlicher Vormittag verlief ganz gewöhnlich. Niemand stellte Fragen. Nur Jonas erwähnte kurz, er habe Leinensäcke auf der Zufahrt gefunden. Als ich ihm erklärte, dass sie sich im Herkules' Hufe gebunden hatte, um niemanden aufzuwecken, nahm er dies einfach hin und räumte sie weg.

Gegen Mittag versammelten wir uns alle in der Küche. Alexa hatte gekocht und es duftete bis zu den Ställen nach Nudeln mit Tomatensoße.

"Wie ihr wisst, reiten wir ja die Quadrille", eröffnete Cheyenne, als wir alle am Tisch saßen. "Allerdings können wir uns ja selbst nicht ankündigen, deshalb habe ich mit Georg gesprochen. Er würde für diese kurze Zeit die Moderation übernehmen." Sie fragte nicht, ob wir einverstanden waren.

"Jennifer", wandte sie sich an mich. Ich hoffte, dass sie jetzt keinen Aufstand machte aufgrund meines morgendlichen Ausritts.

"Ich habe Musik für die Dressur-Kür von Louise und Janina."

Ich nickte wie beiläufig, doch innerlich fiel mir ein gigantischer Felsen vom Herzen. Kein Ärger mit Cheyenne, stattdessen Musik für die Mädchen.

"Jennifer, alles okay?", fragte Nathalie und sah mich besorgt an.

"Ja, schon. Ich meine, es ist toll, dass die Mädchen jetzt mit Musik üben können..."

Damit war das Thema für sie erledigt und Jonas ergriff das Wort. "Wer fährt dieses Jahr zu den Kreismeisterschaften außer Jennifer?"

Wie jedes Jahr schüttelten alle den Kopf. Ich würde wohl mit Calista wieder die einzige Repräsentantin unseres Gestüts sein. Die anderen waren eben einfach nicht so ehrgeizig im Reitsport.

Nach dem Mittagessen löste sich unsere Gruppe auf. Jeder kümmerte sich wieder um seine Pferde und bald würden die Reichmann-Brüder zum Training kommen.

Ich dagegen eilte zunächst in mein Zimmer, nahm eine schwarze Tüte aus der Speisekammer mit und packte Brief und Rose ein. Letztere sah noch immer einigermaßen frisch aus und das Wasser war auch nicht ausgelaufen.

Jeder von uns hatte ein Schließfach in der Sattelkammer, um verschiedene Ausrüstungsstücke für die Privatpferde wegschließen zu können, damit sich die Reitschüler nicht daran vergriffen. In meinen Spind legte ich die schwarze Tüte, in der Hoffnung, dass es mir heute irgendwie gelingen würde, sie unbemerkt Ricky zu geben.

Mein Herz klopfte immer noch panisch, als ich bei meinen Pferden angelangt war. Bis auf Herkules und Karamell, welche ich heute Morgen bereits geritten hatte, standen alle Pferde noch in den Boxen und warteten auf das Training.

Ich nahm mir zunächst Faramir vor und beschloss, ihn heute nur ein wenig zu longieren und etwas Bodenarbeit mit ihm zu machen. Als der Wallach gerade eine perfekte Runde um mich herum galoppierte, fuhr ein Auto auf den Hof. Faramir warf den Kopf hoch und buckelte.

"Faramir, ruhig", sang ich leise und zupfte an der Longe, um in zu bremsen. "Das ist nur ein Auto. Eines von den vielen, die du jeden Tag siehst."

Der Wallach schnaubte, fiel in den Trab und ich ließ ihn erneut angaloppieren, bevor ich das Training für ihn beendete. Immer mit etwas Gutem aufhören.

Unterdessen lief Janina in die Halle. "Wir machen Mick und Butterfly fertig, Jennifer", erklärte sie.

Ich nickte, ohne die Augen von Faramir zu lassen, der nun wieder ruhig um mich herum galoppierte.

"Alles klar. Wir starten in fünf Minuten", antwortete ich und parierte das Pferd durch. Ich lobte ihn und brachte ihn dann nach draußen, tauschte das Zaumzeug gegen ein grünes Halfter und führte ihn auf die Weide. Mit ein paar heftigen Bocksprüngen schoss er davon, sobald ich den Führstrick ausgehakt hatte.

 Als ich zurück zum Stall lief, sah ich, wie Janina ihrer Freundin gerade beim Aufsatteln half. Ich rief ihnen zu, dass sie heute erstmalig mit Musik reiten würden und holte den CD-Player aus der Sattelkammer. Cheyenne hatte die passende CD bereits eingelegt.

Ich stellte das Radio auf die Bande und setzte mich auf die Tribüne. Ein paar Minuten später führten Janina und Alexa die Pferde in die Halle, Louise rollte hinterher. Da das Reiten ihr immer viel Kraft abverlangte, kam sie zur Reitstunde mit dem Rollstuhl statt ihren Gehhilfen in den Stall.

Alexa warf Louise auf Butterfly, während Janina auf Micks Rücken stieg. Alexa wünschte uns noch viel Spaß, dann schob sie den Rollstuhl nach draußen.

Während Louise und Janina die Pferde warm ritten, stellte ich den CD-Player an.

"So, Mädels, das ist eure Musik für eure Dressur", erklärte ich und drückte auf Play.

Sofort erklang die Akustikversion eines Rocksongs, der vor einen halben Jahr aus keinem Radio wegzudenken war. Ich summte die Melodie leise mit und sah den Reiterinnen beim Aufwärmen an. Sowohl Butterfly als auch Mick begannen, sich dem Rhythmus der Musik anzupassen.

"Mick!", rief Janina erstaunt, als sie dies bemerkte. "Du kannst ja tanzen!"

Louise schien ebenfalls den veränderten Schritt von Butterfly zu fühlen und lächelte. Dann stellten sie sich an der Mittellinie auf, wie sie es geübt hatten. Ich stoppte die Musik.

"Heute wiederholen wir erst einmal die ganze Choreografie, allerdings mit Musik", erklärte ich. "Drei, zwei, eins."

Ich startete die Musik und die Mädchen ritten an. Die einzelnen Figuren passten perfekt zum Rhythmus der Musik und ich war stolz auf Louise und Janina. Selbst die letzten neuen Übungen konnten sie hervorragend umsetzten und ich war sichtlich zufrieden, als die Stunde vorbei war.

Wir hatten eine Choreografie, die Musik passte. Louise und Janina brauchten nur noch etwas mehr Selbstbewusstsein und ein einheitliches Outfit.

Trotz meiner hohen Konzentration bemerkte ich diesmal ich sogar, dass Cheyenne und Alexa immer wieder für ein paar Minuten zusahen. Einmal kam sogar Marc vorbei.

Dann kam die Zeit der Wahrheit. Ich machte Prinz fertig und wurde mit jedem Handgriff nervöser. In wenigen Minuten würden Shane und Ricky hier sein.

Als ich grade den Sattel holte, erklang das rhythmische Klappern von Vulcanos und Moonwalkers Hufen auf dem Pflaster. Shane führte den schwarzen Wallach an mir vorbei und stellte ihn in eine der leeren Boxen gegenüber von Prinz.

"Hey, Jennifer!", rief Shane. "Freust du dich schon auf das Training?"

Ich lachte, doch in meinen Ohren klang es falsch und gespielt. "Natürlich! Prinz und ich sind schon bereit."

"Das ist schön", kam die Antwort von Ricky.

"Nanu? Wo ist denn Freya? Sie ist nicht in ihrer Box." Freya stand normalerweise ein paar Boxen von Prinz entfernt, doch Rickys Stimme schallte durch den Stall.

"Ah, Ricky", machte ich und hoffte, dass ich nicht anders wirkte als sonst. "Sie steht auf der Weide."

"Oh. Na dann gehe ich sie doch gleich mal holen", erwiderte Ricky.

Ich musste zugeben, mein Plan war genial. Freya stand nicht ohne Grund auf der Weide, wenngleich sie dort Herkules und ein paar anderen Pferden Gesellschaft leistete. Das war alles in Wirklichkeit nur ein Teil meines Planes. Bevor Ricky die Stute nun eingefangen hatte, was ein paar Minuten dauern würde, konnte ich schnell und heimlich die Tüte an Moonwalkers Sattel hängen.

Ich kam mir ein wenig vor wie eine Spionin, als ich zur Sattelkammer schlich. Legolas stand weit entfernt von mir und so würde mich Shane nicht bemerken. Sonst war der Stall - bis auf die Pferde - gänzlich leer.

Niemand würde mich beobachten.

Niemand würde mich sehen.

Niemand würde je davon erfahren.

Hastig sperrte ich meinen Spind auf und zog die Tüte hervor. Dann huschte ich zu Moonwalkers Box und knotete sie an die Steigbügelhalterung des rechten Steigbügels. Der Wallach sah mir aufmerksam dabei zu. Ich strich ihm kurz über die Nase.

"Pass gut darauf auf, Moonwalker", flüsterte ich dem stattlichen Pferd zu.

Mit schnellen Schritten war ich wieder bei Prinz in der Box und tat so, als wären die letzten Minuten nicht geschehen. Prinz schien sich nicht daran zu stören und half mir sogar, die Trense über seine Ohren zu ziehen, indem er den Kopf senkte. Bereitwillig öffnete er das Maul und nahm das Gebiss auf.

"Bist du fertig, Jennifer?", rief Nathalie die Stallgasse entlang. Ich führte Prinz heraus und setzte die Reitkappe auf meinen Kopf.

"Bin bereit!", rief ich zurück. Der Falbe stand brav neben mir, als ich die Reithandschuhe über meine Hände streifte.

Ich schwang mich in den Sattel und schaffte es sogar, Ricky und die Tüte an Moonwalkers Sattel völlig zu vergessen. Heute würden wir mit Georg als Moderator den Einritt üben. Das Tor auf der kurzen Seite mit dem C darauf war weit geöffnet.

Ich wärmte Prinz mit Schritt und Trab auf. Der Wallach schaute immer wieder nach dem offenen Tor, ging jedoch ohne zu zögern daran vorbei. Dann gab Cheyenne ein Kommando und wir ritten nach draußen.

"Alles aufgepasst: Georg wird gleich die Namen der Reiter und Pferde nennen, angefangen bei Jonas. Jeder, der aufgerufen wird, galoppiert hinein und eine halbe Runde gegen den Uhrzeigersinn. Durchparieren in den Trab und abbiegen auf die Mittellinie. Dann hält jeder auf seinem Platz an. Wenn alle stehen, wird gegrüßt", erklärte sie kurz.

Plötzlich erschallte Rockmusik auf dem Lautsprecher und Georgs Stimme unterbrach das Instrumentalsolo.

"Und weiter geht es mit unserem kleinen Programm. Als Nächstes sehen Sie die Familie Graf und die Brüder Reichmann mit einer Quadrille, doch zuvor möchte ich Ihnen, liebe Gäste, die Reiter und ihre Pferde kurz vorstellen. Zuerst: Jonas Graf auf..."

Ich hörte nicht weiter zu und wartete nur auf meinen eigenen Namen. Mir war es egal, was Georg sonst noch erzählte, solang ich nur meinen Einsatz nicht verpasste.

"... Jennifer Graf auf Golden Prince..."

Ich galoppierte an und lenkte Prinz in die Halle. Dann ritt ich eine schöne halbe Runde, parierte durch und Prinz legte einen tollen Mitteltrab hin, nachdem ich abgebogen war. Er schaffte es sogar, genau den Punkt zu treffen, auf dem er halten sollte. Unauffällig lobte ich meinen Wallach dafür.

Als endlich alle in der Halle waren, schloss jemand das Tor und wir grüßten. Die Musik brach ab, dann fing unser eigentliches Quadrillenstück an. Prinz war begeistert bei der Sache, passte sich dem Rhythmus an und schritt fleißig los.

Zu meiner großen Überraschung klappte alles perfekt. Würde unser Auftritt ebenfalls so werden, hätte sich all unsere Mühe gelohnt. Wir hatten eine schöne Choreografie, tolle Musik und jede Menge Spaß. Ich glaubte, dass war das perfekte Rezept für einen glanzvollen Auftritt.

Die Tüte an Moonwalkers Sattel fiel mir erst dann wieder ein, als ich das Sattelzeug von Prinz nach dem Training in die Sattelkammer gebracht hatte und zu Calista ging, welche die Box neben Moonwalker bewohnte.

Ich würde mit ihr heute ebenfalls noch trainieren und überlegte gerade, ob ich die Geländestrecke oder den Springparcours nehmen wollte.

Calista spitze plötzlich die Ohren und gleich darauf kam Ricky in den Stall. Doch ich war zu sehr mit meiner Palominostute beschäftigt, als dass ich ihn hätte beobachten können. Außerdem wollte ich nicht, dass Ricky mich sah.

"Was ist das?", hörte ich seine Stimme und gleich darauf das Rascheln eines Plastikbeutels.

Das Rascheln eines schwarzen Plastikbeutels.

Meines Plastikbeutels.

Mich überkam das Gefühl, dass ich auf der Stelle weglaufen musste. Da das jedoch zu auffällig gewesen wäre, versteckte ich mich hinter Calista und tat so, als ob ich Ricky nie bemerkt hätte.

Ein paar Minuten später machte er Moonwalker fertig und ritt mit Shane vom Hof. Ich war niemals zuvor so erleichtert gewesen wie in diesem Moment.

Kapitel 6: Das Geständnis

Spät am Abend rief Shane an. Um genau zu sein, ich war gerade dabei gewesen, einzuschlafen, als mein Handy klingelte. Begeistert von dieser Störung war ich nicht sonderlich. "Hallo?", meldete ich mich verschlafen.

"Jennifer, ich bin's, Shane", antwortete er. "Kommst du morgen zu uns? Du musst unbedingt meinen neuen Springparcours sehen. Ach ja, und ich muss dir noch was total Tolles erzählen!"

Ich hörte nur mit halben Ohr und geschlossenen Augen zu, als er von seinen frisch gestrichenen Hindernissen sprach und murmelte ab und zu, was hoffentlich zustimmend klang.

"Du, Shane, ich komme morgen mit Calista vorbei, aber kann ich jetzt bitte schlafen? War ein anstrengender Tag heute", teilte ich ihm mit. Das war nicht einmal gelogen, wenn man an meinen Ritt ins Dorf dachte.

"Aber klar doch", meinte Shane gelassen. Wie konnte man nur so munter sein, vor allem um diese Uhrzeit?

"Bis morgen, Jennifer." Ich nickte verschlafen und konnte nicht einmal die Augen öffnen.

"Bis morgen, Shane." Blind drückte ich auf Auflegen und schlief schon ein, während ich das Handy noch in der Hand hielt.

 

*****

 

Ich hatte einen wirklich tiefen Schlaf. So tief, dass ich glatt meinen schreienden Wecker überhörte und erst durch eine Tasse mit eiskaltem Wasser, in dem Eiswürfel schwammen, aufwachte. Der Täter war Tobias.

"Guten Morgen, du Langschläferin. Es ist bereits um acht", sagte er, als ich mir das Wasser aus dem Gesicht strich und blinzelte.

"Musste das mit dem Wasser wirklich sein?", murmelte ich und er lachte.

"Du Murmeltier hättest noch locker drei Tage weiter geschlafen. Deinen Wecker hast du ignoriert, Cheyennes Rufe ebenfalls. Johanna hat schließlich ihre Trompete neben deinem Ohr ausgepackt und Oh, Tannenbaum gespielt, doch nicht einmal das hast du bemerkt!"

Oh, Tannenbaum? Im Oktober? Johanna?

Ich war mir ziemlich sicher, dass Tobias gelogen hatte, denn so eine schräge Nummer hätte ich doch bemerkten müssen. Ganz sicher war ich mir da jedoch nicht.

Johanna spielte gern Trompete. Leider nur mit mäßigem Talent und ihre Töne waren laut und schief, so dass jeder auf dem Hof das Weite suchte, sobald man das goldene Blechding sah.

Ich schüttelte verschlafen den Kopf. "Ernsthaft?"

Tobias nickte. "Dein Kaffee ist inzwischen kalt, allerdings habe ich ihn noch nicht weg gegossen, Schwesterchen. Bis später", sagte mein Bruder und verließ das Zimmer.

Ich zog mich um und kämmte rasch mein kurzes Haar. Obwohl meine Frisur nicht besonders weiblich aussah, fand ich sie praktisch. Keine Strohhalme, die sich darin verfangen konnten, keine ewigen Mühen mit Waschen und Fönen. Einfach schnell zu pflegen. Ich war schließlich gut zwei Stunden zu spät dran.

Ein paar meiner Geschwister, vor allem Alexa und Cheyenne, waren der Meinung, ich war eine Frau mit einem großen Teil männlicher Gene. Mein Äußeres war mir egal, solange es praktisch war. Meine Fingernägel hatten noch nie einen Lack gesehen und waren in der Regel so kurz geschnitten, dass man nicht einmal das Weiße sehen konnte. Trotzdem waren sie rund, nicht achteckig.

Ich wanderte die Treppe hinunter und wärmte meinen Kaffee auf, bevor ich mich mit einer Schale Müsli an den leeren Frühstückstisch setzte.

Gleich nach dem Frühstück eilte ich zu meinen Pferden, die allesamt gefüttert und geputzt in einer ausgemisteten Box standen. Verwundert blickte ich die Stallgasse entlang. Normalerweise waren das meine Aufgaben.

"Oh, Jenny, du bist ja wach!", rief Alice. "Ich hab mich um deine Pferde gekümmert, sonst hätte Faramir wohl die Box zerlegt. Ich habe dir sowieso noch einen Gefallen geschuldet." Ich nickte und murmelte ein "Danke".

Dann holte ich meine Reitkappe und legte die Chaps an. Ich ritt fast nur in Chaps, außer auf den Turnieren. Chaps und Stiefelletten waren für mich viel bequemer als derbe Reitstiefel. Außerdem konnte man sie nach Belieben an- und ausziehen.

Ich sattelte Calista und machte mich schließlich auf den Weg zum Hof der Reichmanns. Shanes Anruf hatte ich nicht vergessen, auch wenn ich nicht mehr genau wusste, warum ich seinen Springparcours anschauen sollte.

Der Ritt dauerte knapp zwanzig Minuten und ich nutzte ihn, um meine Stute aufzuwärmen. Obwohl ich gestern mit ihr Springen trainieren wollte, hatten wir eine Dressurstunde eingelegt. Ich vernachlässigte die Dressur sonst zu gern, doch Cheyenne hatte mir eine Reitstunde gegeben, die ich nicht abschlagen konnte.

"Jennifer, da bist du ja endlich!", rief Shane und ritt mir auf Vulcano entgegen. "Ich muss dir unbedingt was erzählen, aber vorher musst du meinen Springparcours anschauen und ausprobieren. Ich zeige dir mal, wie Vulcano den nimmt."

Voller Euphorie ritt er auf den Reitplatz und ließ den Friesen angaloppieren. Die Hindernisse waren recht niedrig, da Vulcano nicht der geborene Springer war, doch der Parcours mit vielen Wendungen war abwechslungsreich und keinesfalls langweilig.

Shane beendete seine Runde und trabte auf mich zu. "Und? Wie findest du den?", fragte er.

"Der Parcours wirkt interessant und Vulcano hat seine Sache wirklich gut gemacht", antwortete ich. "Darf ich ihn mal mit Calista testen?"

Er nickte und ich ritt an. Calista trabte eifrig und galoppierte auf die kleinste Hilfe an. Ich lenkte sie auf den ersten Sprung zu und sie sprang mit einem gigantischen Satz darüber.

Die Höhe war für sie eigentlich viel zu niedrig, doch hatte ich das Gefühl, dass die Stute statt den Hindernissen riesige Mauern sah.

Shane grinste über beide Ohren, als ich nach dem Ende des Parcours zu ihm ritt. "Die Hindernisse waren viel zu klein für euch!", sagte er. "Es sah aus, als ob Calista über nichts gesprungen wäre und trotzdem zufällig ein Hindernis unter euch stand."

Ich versuche, mir das bildlich vorzustellen und lachte. "Es hat sich angefühlt, als ob Calista mir beweisen wollte, dass das unter ihrem Niveau ist", meinte ich. "Stellst du sie mir etwas höher, damit sie sich auch ein wenig anstrengen muss?"

Shane stimmte zu und drückte mir die Zügel des Rappen in die Hand. "Hältst du derweil mal mein Pferdchen?"

Calista schnaubte den Friesen an. Dieser wieherte leise. "Na, ihr seid doch wirklich ein paar gute Freunde, oder?", murmelte ich und ließ Calista die Zügel länger, damit sie Vulcano ordentlich begrüßen konnte.

Nachdem Shane die Hindernisstangen höher gelegt hatte, drehte ich noch eine Runde mit Calista, welche begeistert über die Hindernisse sprang. Shane klatschte Beifall für meine fehlerlose Runde.

"Kommst du noch mit auf einen kleinen Ausritt, Jennifer?", fragte Shane. Ich stimmte zu.

Irgendwie wusste ich, dass dieser Ausritt einfach nur dazu da war, damit er mir etwas erzählen konnte. Ein Gespräch unter besten Freunden eben.

"Jennifer, es ist etwas ganz Lustiges geschehen!", platzte er heraus, sobald der Hof außer Sichtweite geriet.

"Ricky hatte einen Beutel am Sattel hängen, als wir gestern wieder nach Hause reiten wollten. Darin lagen ein Brief und eine rote Rose. Seinem Tagebuch..."

"Du schnüffelst immer noch in seinem Tagebuch herum?", unterbrach ich ihn.

Meine Stimme klang ein wenig nach einer strengen Lehrerin, die einen Schüler dabei erwischt hatte, dass dieser die Hausaufgaben vergessen hatte.

"Ja, schon. Egal!", erwiderte er und fuhr fort. "Seinem Tagebuch hat er anvertraut, dass der Brief ein Liebesbrief war. Der hat meinem Brüderchen sogar wirklich gut gefallen, aber er war anonym und nun will er unbedingt wissen, wer auf ihn steht und so wundervoll schreiben kann. Ist das nicht abgefahren?"

Ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, dass ich von dem Brief wusste und ihn selbst geschrieben hatte. "Hast du eine Vermutung, Tagebuchleser, wer die Schreiberin war?", fragte ich ihn, um die Stille zu überbrücken.

Shane zuckte mit den Schultern. "Ich habe keine Ahnung, aber diejenige muss ihn wirklich sehr mögen. Ricky wollte sogar eine Antwort schreiben, aber solange er die Schreiberin nicht kennt...", teilte er mir dann mit. "Hast du denn eine Vermutung?"

Ich zuckte mit den Schultern und wusste nicht, wie ich aus dieser Nummer zu meinem eigenen Vorteil wieder heraus kam.

"Du kannst ihm ja sagen, dass er beim nächsten Besuch auf dem Gestüt seine Antwort in die schwarze Tüte legen und diese wieder an seinen Sattel hängen kann. Vielleicht holt die Schreiberin sich den Brief", schlug ich lachend vor. Mein Fehler wurde durch Shane aufgedeckt.

"Woher weißt du, dass die Tüte schwarz war? Ich habe nur eine Tüte, aber keine Farbe genannt", warf Shane überrascht ein und ich biss mir auf die Zunge. Verplappert.

Wenn Shane jetzt eins und eins zusammen zählte, war ich aufgeflogen. Verdammt!

"Ich habe eine Tüte am Sattel von Moonwalker hängen gesehen, aber ich habe mir nicht erlaubt, einen Blick hinein zu werfen", sagte ich schnell. "Calista stand neben Moonwalker in der Box."

Shane zog eine Augenbraue hoch. "Du hast eine Tüte an seinem Sattel hängen sehen und warst trotzdem völlig überrascht, als ich vorhin die Tüte erwähnt habe?"

Ich nickte schnell. "Ja, ich habe die Tüte gesehen, aber ich dachte, dass sie Ricky gehört und nicht gleich gewusst, dass du diese Tüte meist", versuchte ich, mich herauszureden, doch ich spürte, wie Shane hinter meine Fassade blickte. Er war nicht dumm. Verdammt!

 

*****

 

"Ihr wisst, dass morgen unser Tag der offenen Tür stattfindet und dies unsere letzte gemeinsame Probe ist", fing Cheyenne an. "Ich möchte, dass ihr heute genauso gut reitet wie gestern und genauso gut auch morgen reiten werdet."

Wir nickten gehorsam und saßen auf. Prinz schlug ungeduldig mit dem Schweif und tänzelte auf der Stelle, während wir draußen vor dem Tor der Reithalle warten mussten.

"Wir schaffen das schon", meinte Alice und Equita, ihr Pferd, nickte zustimmend. "Los geht's!"

Die Musik setzte ein. "Und weiter geht es mit unserem kleinen Programm. Als Nächstes sehen Sie die Familie Graf und die Brüder Reichmann mit einer Quadrille, doch zuvor möchte ich Ihnen, liebe Gäste, die Reiter und ihre Pferde kurz vorstellen. Als erstes Jonas Graf auf Jaspar", erklang Georgs Stimme. Seinen Text las er entweder ab oder er hatte ihn auswendig gelernt.

Jonas galoppierte an und ritt ganz nach Cheyennes Vorschrift ein. "Als nächstes Cheyenne Graf auf Paesto." Der Wallach raste sofort los, als sie ihm eine klitzekleine Hilfe gab. Nur mit Mühe konnte sie das kleine Pferd neben Jonas halten.

"Und nun Marc Graf auf Juninacht...", hörte ich Georgs Stimme wieder und mein Bruder ritt ein. Er reihte sich ohne Probleme hinter Jonas ein. "Nathalie Schmidt auf Rosarino..."

"Begrüßen wir nun Tobias Graf auf Sinya..." Marcs Zwilling ritt ein und Johanna stand in den Startlöchern. "... und Johanna Kehrwald auf Athena."

"Sven Sander auf Java..." Alexa nickte ihm aufmunternd zu und bereitete sich auf ihren Einritt vor. "Und jetzt Alexa Graf auf Donar..." Mit jeder Minute, die verging, wurde ich nervöser und auch Prinz schien die Warterei nicht zu mögen.

"Riccardo Reichmann auf Freya..." Er trieb die Stute an und ritt hinaus, ohne mir einen Blick zu würdigen. Ich nahm Prinz' Zügel auf und schon rief Georg: "Jennifer Graf auf Golden Prince."

Prinz galoppierte gehorsam an und ich lenkte ihn an H vorbei bis zu K, bevor ich ihn dann bei A durchparierte und mich hinter Alexa und neben Ricky positionierte.

"... Shane Reichmann auf Legolas..." Der Wallach wieherte lauthals, als er in die Halle galoppierte und ich musste lächeln. Prinz antwortete mit einem Schnauben. "Und zum Schluss noch Alice Graf auf Equita!"

Die Musik setze aus, dann erklang unsere Quadrillen-Musik in der Halle - deutlich lauter und kraftvoller als am Tag zuvor, denn diesmal gab es insgesamt drei große Lautsprecher.

Wir ritten im Schritt an und wendeten bei C rechts und links ab, bevor wir jeweils als Gruppe eine übertrieben große Schlangenlinie ritten, so dass wir bei X kurz aufeinander trafen.

Bei C trabte jeder einzeln an und wechselte durch die ganze Bahn. Ich konzentrierte mich ganz auf Prinz, um diesen genau zwischen Sven und Ricky hindurchzutraben - natürlich alles im Aussitzen.

Ich bog auf den zweiten Hufschlag ab und ritt hinter Alexa durch die Breite der Bahn, wo mir punktgenau bei X Ricky entgegen kam.

Schnell glich ich mein Tempo mit seinem ab und nickte kurz. Dann ging Prinz auf den Zirkel und wir trabten gemütlich eineinhalb Runden, bevor wir Damen wieder ganze Bahn ritten.

Ich nahm Prinz ein wenig zurück, damit Ricky sich mit Freya genau neben mir einreihen konnte, während wir in den Schritt wechselten und anschließend nebeneinander durch die Länge der Bahn wechselten.

Ich lauschte der Musik. Gleich würden zwei Paukenschläge kommen und beim zweiten Schlag mussten wir nach rechts und links auf den Hufschlag abwenden, um anschließend weiter Richtung C zu reiten.

Sobald wir alle an der gegenüberliegenden Seite waren, ertönten erneut zwei Paukenschläge und wir wendeten zur gegenüberliegenden Seite ab. Ich verglich mein Tempo mit denen von Shane und Ricky, als ich zwischen ihnen hindurch ritt.

Prinz bog von ganz allein nach links ab, so dass ich wieder hinter Alexa ritt. Dann ging es bis A, bevor ich mich hinter Ricky einreihen musste. Wieder zwei Paukenschläge und als wir gerade so hintereinander auf der Mittellinie waren, bogen wir gemeinsam nach links zur Tribüne ab, hielten an und nickten kurz.

Die Musik setzte kurz aus, dann kam wieder die Rockmusik vom Einritt. Wir galoppierten nach rechts an und jagten hintereinander eine Runde durch die ganze Bahn, bevor wir durch das Tor die Halle wieder verließen. Nur mit Mühe ließ sich Prinz davon überzeugen, dass wir fertig waren und er halten musste.

"Fein, Prinz", lobte ich ihn und klopfte seinen Hals. Cheyenne stellte sich mit ihrem Pferd zu uns und nickte anerkennend. "Ich glaube, es gab keine Probleme, oder? Wir können für heute Schluss machen und den Pferden eine Pause geben."

Wenn es morgen genauso gut laufen würde wie heute, würden wir alle begeistern. Prinz schüttelte den Kopf und ich ließ ihm die Zügel lang, als ich über seine Mähne strich.

Ich ritt ihn noch ein paar Runden zum Abkühlen im Schritt, bevor ich ihn von Sattel und Trense befreit auf die Weide ließ.

"Jenny, ist das dein Halfter, das auf dem Boden in der Sattelkammer liegt?", fragte Alice mich. Ich war gerade in Gedanken versunken in den Stall zurück gekommen, als sie mir in die Arme lief.

Ich zuckte mit den Schultern. "Einen Augenblick, ich sehe nach", sagte ich und lief in die Sattelkammer.

Auf dem Boden lag Calistas teueres Turnierhalfter. Rasch hob ich es auf und knurrte ärgerlich über denjenigen, der es fallen gelassen hatte. Es hatte mich eine Stange Geld gekostet, da es eine Spezialanfertigung aus Leder war.

Als ich gehen wollte, wurde die Tür zugeschlagen. "He, was soll das denn jetzt?", fluchte ich.

"Das würde ich auch gern wissen!", rief Ricky, der neben mir die einzige Person in der Sattelkammer war und sich nun gegen die Tür lehnte. Sie wich keinen Zentimeter. Jemand hatte zugesperrt.

Ich knurrte erneut. "Das ist ja mal so was von unfair! Warum sperrt man uns hier ein?"

Ich ließ mich auf einen Hocker fallen. Ricky seufzte. "Ich bin auch nicht damit einverstanden. Ich hatte noch etwas zu erledigen, doch dass kann ich jetzt wohl vergessen...", maulte er.

"Was denn?", fragte ich neugierig. Ricky zuckte mit den Schultern.

"Ich wollte noch herausfinden, wer ... eigentlich ist es egal", blockte er ab.

"Nein, das ist es nicht", widersprach ich schnell. "Vielleicht kann ich dir ja helfen und außerdem sind wir hier eingesperrt."

Er nickte langsam. "Das Zweite ist nicht von der Hand zu weise, aber was das andere angeht..."

"Ich kann zumindest versuchen, dir zu helfen", meinte ich versöhnlich.

Seit ich den Brief und die Rose nicht mehr hatte, fiel es mir viel leichter, wieder so wie früher mit Ricky zu plaudern.

Er grübelte ein paar Minuten und setzte sich dann ebenfalls auf einen der Hocker. Schließlich nickte er.

"Ja, vielleicht kannst du das sogar wirklich...", murmelte er dann. "Hast du, als wir das letzte Mal geprobt haben, irgendjemanden nach der Probe bei Moonwalker gesehen?"

"Warum? Ist etwas mit ihm?", fragte ich, als es mir langsam dämmerte.

"Du warst doch bei Calista nach der Probe und somit nur wenige Meter von Moonwalker entfernt. Ich dachte, du könntest vielleicht gesehen haben, wer bei meinem Pferd war und einen schwarzen Plastikbeutel an meinen Sattel gehängt hat."

"Ein schwarzer Beutel?", versuchte ich, wieder einmal die Ahnungslose zu spielen. "Ja, ich habe gesehen, dass eine schwarze Tüte an Moonwalkers Sattel hing, doch ich hab mir gedacht, sie würde dir gehören."

"Naja, der Inhalt war wohl für mich bestimmt...", räumte Ricky ein. Ich zog eine Augenbraue hoch.

"Was war denn drin?", fragte ich und war stolz, dass er meine Fassade offenbar nicht so leicht wie Shane durchschauen würde.

"Das hier", sagte Ricky und zog einen gefalteten Zettel aus der Hosentasche, den er mir reichte. "Und eine dunkelrote Rose."

Natürlich kam mir der Brief sofort bekannt vor, doch ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Stattdessen faltete ich ihn auf und tat so, als ob ich ihn lesen würde. Das musste ich allerdings nicht. Ich wusste, was darin stand. Ich hatte es geschrieben.

"Hast du eine Ahnung, wer diesen Brief geschrieben hat, Jennifer?" Ich schüttelte den Kopf.

"Zumindest ist es eine Sie. Für einen Mann ist die Handschrift zu sauber und zu verschlungen", stellte ich stattdessen überflüssigerweise fest. Ich war froh, dass er meine Handschrift nicht erkannte.

Ricky sah mich skeptisch an. "Natürlich war es eine Frau. Warum sollte ausgerechnet ein Mann mir einen Liebesbrief und eine Rose schicken?" Ich nickte zögerlich.

"Dann bedeutet es wohl, dass jemand auf dich steht", stellte ich sachlich fest und fügte in Gedanken hinzu: Und das bin ich.

Mir fehlte jedoch der Mut, diesen Gedanken auch auszusprechen, obwohl ich es in meiner Fantasie mühelos tun konnte.

"Schade, dass du mir nicht sagen kannst, wer mir diesen Brief an den Sattel gehängt hat", sagte Ricky traurig. "Ich würde gern wissen, ob ich sie kenne." Oh ja, du kennst sie, dachte ich.

"Du hast keine Ahnung, wer den Brief geschrieben hat? Wirklich nicht? Auch keinen Verdacht?", fragte er mich erneut. "Ich meine, es kann ja nur eine von euch gewesen sein. Die Reitschüler waren ja alle schon gegangen, als wir kamen..."

Wieder zuckte ich mit den Schultern. "Aber wer soll das sein? Cheyenne hat Jonas, Johanna und Nathalie sind ebenfalls vergeben. Alexa hat Sven. Und Alice steht auf Shane..."

"Meinen Bruder?", hakte er nach.

Oh verdammt, nun hatte ich mich tatsächlich selbst verraten. Und Alice gleich mit, obwohl ich ihr doch versichert hatte, dass ich kein Wort über ihre Schwärmereien verlieren würde.

"Ja, deinen Bruder Shane", bestätigte ich. "Aber von mir weißt du das nicht, sonst macht mich Alice um einem Kopf kürzer!"

"Keine Sorge, Jennifer. Ich kann schweigen wie ein Grab", versprach Ricky mir und ich murmelte ein leises "Danke".

"Zum Zeitpunkt der Probe waren nur Shane und ich auf dem Gestüt, ebenso wie Georg und deine Familie. Und da du gesagt hast, dass alle Frauen auf dem Hof nicht an mir interessiert sind, habe ich einen neuen Verdacht...", erklärte Ricky plötzlich und mir schloss sich eine Faust um die Brust.

"Du bist die Schreiberin, Jennifer."

Mir lief es eiskalt dem Rücken hinunter. Und dann schien es, als würde ich ganz langsam verbrennen, so heiß wurde mir.

Er hatte mich am wundesten Punkt erwischt und genau ins Schwarze getroffen.

Scheiße.

Mein Herz begann zu rasen und ich war mir sicher, dass sich mein Gesicht sofort feuerrot färbte. Außerdem begannen meine Knie zu zittern und ich war heilfroh über den Hocker, auf welchem ich saß.

Verdammt, ich war ja doch in ihn verliebt! Verdammt, er war wirklich viel mehr für mich als nur ein guter Kumpel! Und er hatte den Brief und mich durchschaut, als ich mich verplappert hatte.

"Jennifer?", fragte er. "Jennifer, alles okay?"

Ich konnte die einzelnen Worte nicht unterscheiden. Seine Stimme war wundervolle Musik in meinen Ohren. Seine Hand lag auf meiner Schulter.

"Jennifer!"

Wie wunderschön es doch klang, wenn er meinen Namen aussprach.

"Jennifer!"

Ich spürte die Panik in seiner Stimme nicht.

"Du wolltest es mir nicht offenbaren, oder?", fragte er und ich rutschte wieder in die Realität zurück auf meinen Hocker.

Ich schüttelte den Kopf. "Shane hat es mir erzählt. Also dass du ... du weißt schon ...", fing ich stotternd an.

"Aber ich will dich als Freund nicht verlieren..." Ich spürte seine Hand unter meinem Kinn, die mich zwang, ihn anzusehen.

"Jennifer, ich wollte es dir auch nicht sagen. Gleiche Gründe", meinte er zögernd. "Aber woher weiß Shane davon?"

"Dein Tagebuch", flüsterte ich. "Er hat es mir erzählt."

Ricky schüttelte den Kopf. "Er hat was? In meinem Tagebuch gelesen? Oh mein Gott!", rief er und wollte aufspringen, doch ich hielt ihn zurück.

"Setz dich bitte wieder, Ricky. Die Tür ist verschlossen, wir können nicht raus. Aber sei bitte nicht böse auf Shane. Ich habe ihm schon genug Schuld an meinen plötzlichen, wirren Gefühlen gegeben..."

"Jen...", murmelte er. "Du hast wirklich ihn dafür schuldig gemacht, dass ich dich liebe?" Ich nickte. "Er war es, der es mir gesagt hat. Kurz vor den Proben..."

"Die Proben, in denen du mir keinen Blick gewürdigt hast?", hakte er nach. "Jetzt beginne ich zu verstehen..."

"Trotzdem bleibt die Frage, wer und warum man uns eingesperrt hat", sagte er nach einer kurzen Zeit des Schweigens und versuchte halbherzig, das Thema zu wechseln. Ich konnte keine Antwort darauf geben.

"Vielleicht wollte da jemand Kuppler spielen und uns zusammen bringen. Irgendwie klingt das ganz nach meiner Schwester Alice oder deinem Bruder Shane."

"Hey, dann sperren wir die beiden doch einfach auch mal ein, wenn wir wieder frei sind, okay?", schlug Ricky lächelnd vor und ich stimmte dem zu. "Gleiches Recht für alle!"

"Ach, Ricky...", fing ich an. Er sah mir in die Augen und ich spürte wieder seinen fesselnden, bezaubernden Blick. "Ja?"

"Willst du eine Beziehung?", fragte ich. Er zögerte und wir verfielen wieder in ein paar Minuten des Schweigens. Ich wusste nicht, ob ich lieber auf ein Ja oder auf ein Nein hoffen wollte.

"Jen, wie denkst du darüber? Ich wäre bereit dafür, einfach weil ich diese Gefühle schon lange für dich habe... Aber jetzt, wo du davon weißt... Es liegt an dir. Solange du weißt, dass ich dich wirklich liebe", sagte er schließlich.

"Warum? Warum ausgerechnet ich?", fragte ich langsam. "Ich musste eine Abenteuerreise mit Herkules unternehmen, nur um dir eine Rose zu schenken. Warum kein Mädchen aus der Stadt? Du weißt, du könntest jede haben, die du nur anlächeln würdest und..."

Er grinste. "So? Könnte ich das?", fragte er überrascht. "Aber ich will keine eingebildete Tussi aus der Stadt, die sich für etwas Besseren hält und mich wie ein Schmuckstück vorzeigen würde."

Ich runzelte die Stirn, doch er beachtete meine Reaktion nicht. "Du dagegen, Jen, versuchst nicht, dich für andere zu verbiegen und perfekt zu sein. So etwas mag ich."

"Wir können es ja versuchen. Auf Probe. Und wenn es schief geht, bleiben wir dann trotzdem Freunde?", schlug ich Ricky vor und er lächelte. "Wahre Freundschaft hält ein Leben lang, Jen."

"Wann hast du damit begonnen, mich Jen zu nennen?", fragte ich und wunderte mich über den neuen Spitznamen.

"In meiner Fantasie schon etwas mehr als ein halbes Jahr." Ricky schüttelte rasch den Kopf. "Wenn dir das unangenehm ist, dann unterlasse ich das, versprochen..."

"Nein, nein. Das ist völlig in Ordnung. Es ist kurz und einfach", meinte ich. "Praktisch eben, das gefällt mir. Allerdings gilt das nur für dich."

"Also sind wir jetzt quasi zusammen?", fragte Ricky. "Und können wir es vielleicht erst einmal geheim halten? Wenn es doch nicht klappt, sollten nicht alle davon erfahren..."

Ich erklärte mich einverstanden und kam mir so vor, als ob ich einen Vertrag abschließen würde. Sollte das nicht eigentlich etwas anders laufen?

Als hätte uns jemand beobachtet oder belauscht, öffnete sich genau in diesem Moment die verschlossene Tür und Shane trat hinein.

"Ach, hier bist du, Bruderherz", sagte er scheinheilig. "Ich habe schon die ganze Zeit nach dir gesucht."

Ricky war mir einen vielsagenden Blick zu. Shane hatte uns eingesperrt. Vielleicht auch Alice. Vielleicht beide. Plötzlich wusste ich genau, was wir tun würden.

Ich stand auf und eilte aus der Sattelkammer. Dabei stieß ich fast mit Alice zusammen. Irgendwie ahnte ich, dass sie nicht zufällig mir entgegen kam. "Jenny! Mensch, da bist du ja endlich!", rief sie. "Warum hast du so lange für das Halfter gebraucht?"

Ich versuchte, mein Grinsen zu unterdrücken, als ich sie durchschaute. "Alice, ich habe dich ebenfalls schon überall gesucht. Ich kann meine Gerte nicht mehr finden. Die schöne lange mit dem Griff aus Leder. Hast du sie gesehen?", fragte ich und meine Schwester schüttelte den Kopf.

"Nein, tut mir leid", meinte sie. "Aber ich helfe dir beim Suchen."

"Danke! Das wäre toll", rief ich. "Ich schau noch mal in der Stallgasse. Könntest du inzwischen in der Sattelkammer nachsehen?"

Alice nickte und ich eilte der Stallgasse entlang. Dann warf ich Ricky, welcher in der Tür der Sattelkammer stand, einen vielsagenden Blick zu.

Ich tat so, als ob ich in einer der Boxen nachsehen würde, während Ricky vorspielte, er würde den Stall verlassen. Shane dagegen war noch in der Sattelkammer.

Ich lächelte in mich hinein. Als beide, also Alice und Shane, allein in der Sattelkammer waren, lief ich aus der Box. Gemeinsam mit Ricky schlossen wir die Sattelkammer und schoben den Riegel davor.

"Yeah, Jen!", rief Ricky und hielt mir die Hand hin. Ich schlug ein.

"Wie war das? Gleiches Recht für alle!", antwortete ich und grinste, als ich das Klopfen und Rufen aus der Sattelkammer hörte.

"Vielleicht haben wir ja bald noch ein Paar", sagte ich und Ricky legte einen Arm um meine Schultern. "Aber dann lese ich Shanes Tagebuch", erwiderte Ricky.

"Er schreibt Tagebuch?" Das war mir neu. Bis vor kurzer Zeit hatte ich sowie geglaubt, dass nur Mädchen Tagebuch führten.

Ricky nickte. "Da wird er aber gar nicht glücklich sein, wenn jemand seine privaten Gedanken ausplaudert", meinte ich.

Er nickte langsam. "Glaubst du, ich bin darüber besonders erfreut?"

Wir warteten noch eine Weile vor der Tür, bis das Klopfen und die Rufe plötzlich verschwanden. "Jetzt plaudern sie bestimmt", murmelte Ricky. "So wie wir."

Ich lächelte. "Vielleicht endet es ebenfalls mit einem Geständnis", entgegnete ich. "Meinst du, in einer halben Stunde haben sie das geschafft und wir können die Tür wieder öffnen?"

Kapitel 7: Der Tag der offenen Tür

Ich wusste nicht, ob ich wirklich glücklich mit der geheimen Beziehung zu Ricky war. er und ich waren zusammen, spielten aber allen vor, dass wir weiterhin nur gute Freunde waren. Es war genauso kompliziert, wie es klang.

Zudem stand endlich der Tag der offenen Tür ins Haus und ich hoffte, dass keiner patzen würde. Nicht, dass das jemand absichtlich tun würde, doch es konnte immer so viel schief gehen. Wir arbeiteten schließlich mit Lebewesen, die ihren eigenen Kopf hatten.

Dazu plagte mich das Gefühl, dass ich Shane verraten hatte, indem wir ihn und Alice eingesperrt hatten.

Als Ricky die Tür geöffnet hatte, waren beide so wütend gewesen, dass sie uns keinen Blick würdigten. Vielleicht hatten wir nicht erreicht, was wir geplant hatten. Vielleicht hatten sie sich nur angeschwiegen.

Ich lag auf meinem Bett und starrte an die Decke. Ich konnte sie nicht genau erkennen, denn es war kurz vor Mitternacht, aber ich wusste, dass sie weiß war. Mein gesamtes Zimmer war weiß, fast wie im Krankenhaus. Die einzigen Farbtupfer bildeten gerahmte Fotos von Calista und Herkules sowie meine gewonnenen Schleifen. In einer Ecke stand eine Art Vitrine mit Pokalen und meiner ersten Reitkappe.

Meine anderen Zimmer wirkten dagegen leer und karg. Ich hatte ein kleines Bücherregal, welches stets unaufgeräumt war. Auch mein Kleiderschrank spuckte den Inhalt aus, wenn jemand die Türen öffnete. Doch ich fühlte mich wohl. In einer makellosen Wohnung würde ich es vermutlich kaum länger als einen Tag aushalten.

Ich genoss den Duft von Pferd, der in meinem Zimmer lag. Die Reithosen von gestern hingen über einem Stuhl, ebenso mein Pullover.

Mein Blick fiel auf die Uhr. Ich hätte längst schlafen müssen, doch ich konnte nicht. Zu viel schwirrte mir durch den Kopf.

Louise und Janina hatten hart an ihrem Auftritt gearbeitet und eine tolle Nummer daraus gemacht. Ich freute mich darauf, sie morgen reiten zu sehen, ohne dass ich in der Mitte der Bahn stand und ihnen Hinweise gab.

Die Voltigierkinder und die älteren Reitschüler hatten ebenfalls eifrig trainiert und ich war mir sicher, dass sie mindestens genauso aufgeregt wie ihre Trainerin Alexa waren, wenn sie morgen in den Sattel stiegen.

Und wieder fiel mir Ricky ein. Ich mochte ihn und vielleicht war die Beziehung auf Probe gut, doch ich kam nicht so ganz zurecht damit, dass ich seine Freundin war. Ich kannte ihn von klein auf, manchmal hatte ich ihn als großen Bruder angesehen. Konnte so eine Beziehung wirklich gut gehen? Mit dem zweitbesten Freund aus Kindertagen? Mit dem zweitbesten Kumpel seit neunzehn Jahren?

Wieder ein Blick auf die Uhr. Ich gähnte, doch der Schlaf wollte nicht kommen. Irgendetwas hielt mich wach, weigerte sich, mich dem Schlaf zu überlassen. Ich wusste nicht so recht, was es war. Irgendetwas stimmte nicht, obwohl mir nichts Ungewöhnliches auffiel.

Noch ein Blick auf die Uhr. Die grellen grünen Ziffern auf meinem Wecker stachen mir in die Augen. Ich blinzelte. Ich hätte nur noch drei Stunden schlafen können, bevor ich wieder aufstehen musste. Wann war die Zeit so schnell vergangen? Die gesamte Nacht hatte ich kaum ein Auge zugetan und ich war nicht einmal mehr müde.

Ich blieb noch fast eine Stunde liegen, doch der Schlaf wollte einfach nicht kommen.

Schließlich fasste ich einen Entschluss und stand auf. Ich zog mir eine alte Jeans an, die auf dem Boden lag und den Stallpullover von gestern. Eilig warf ich mir eine Steppjacke über. Vielleicht konnte ich bei Calista und Herkules die nötige Ruhe finden.

Es war schon über ein Jahr her, dass ich mich nachts zu meinen Pferden geschlichen hatte. Durch den Haupteingang konnte ich das Haus nachts nicht verlassen, ohne dass mich jemand es bemerken würde. Meine Geschwister wären nicht erfreut, wenn sie wüssten, dass ich im Dunkeln allein über den Hof spazieren würde.

Ich hatte als Alternative noch meinen heimlichen Notausgang über das Fenster, den ich in Kindertagen so häufig benutzt hatte. Niemand wusste, dass ich noch immer regelmäßig mithilfe des Baumes aus dem Fenster klettern konnte und das war auch gut so. Jonas hätte ihn sonst abgesägt.

Ich öffnete das Fenster. Kühler Morgenwind wehte mir entgegen, als ich meinen rechten Fuß in die Fensterbank stellte und nach dem dicken Ast des Baumes griff. Ich wohnte nur im zweiten Stock, doch ein Sturz würde mich schwer verletzen, wenn nicht gar umbringen. Das Klettern war jedes Mal ein Risiko für mich und mit einem Schlag war ich hellwach.

Geschickt zog ich mich auf den Ast des Baumes und angelte nach dem Fenster, um es anzulehnen. Dann rutschte ich dem Ast entlang Richtung Stamm, bevor ich auf den Boden sprang.

Leise schlich ich vom Haus weg zur Weide, auf welche ich am Abend Calista und Herkules gelassen hatte. Ich stieß einen leisen Pfiff aus und Herkules kam sofort zu mir herüber getrabt.

"Hallo, mein Freund", murmelte ich und streichelte seinen grauen Hals, auf dem sich allmählich das Winterfell bemerkbar machte. Seine Wärme zu spüren beruhigte mich. Ich schmiegte meinen Kopf an seine Stirn und fuhr mit den Fingern durch seine dicke Mähne.

Plötzlich fiel mir auf, dass Calista nicht zu mir getrabt kam. Vielleicht hatte sie mich nicht gehört. Ich rief nach ihr, doch sie kam nicht. Ich sah Herkules an und strich ihm über eines seiner grauen Ohren. "Wo hast du deine Freundin Calista gelassen?"

Ich wartete noch eine Weile, doch Calista kam nicht. Das war ungewöhnlich. Ich machte mir plötzlich Sorgen, dass sie verletzt sein könnte. Vielleicht war sie in ein Loch getreten und hatte sich das Sprunggelenk verstaucht.

Ich schwang mich auf das Gatter und griff in Herkules Mähne, so dass ich mich auf seinen Rücken ziehen konnte. Der Wallach wartete geduldig bis ich sich auf seinem Rücken saß.

Systematisch suchten wir jeden Quadratmeter der Weide ab. Viele Pferdeköpfe sahen mich an, doch keiner gehörte meiner geliebten Calista. Meine Sorge um sie wuchs.

"Calista?", rief ich leise in die dunkle Nacht. "Wo bist du, mein Mädchen?"

Normalerweise kam sie sofort, wenn sie meine Stimme hörte. Nur jetzt nicht. Es war, als wäre sie wie vom Erdboden verschluckt.

Noch einmal ritt ich die gesamte Weide ab, rief immer wieder nach ihr, aber die Palominostute blieb verschwunden.

Langsam ging die Sonne auf. An einer Stelle am Zaun sah ich Hufabdrücke, die von Calista stammen mussten. Sie trug spezielle Hufeisen, welche unter den Pferden, die diese Nacht auf dieser Weide stand, einzigartig waren.

Je länger ich die Spuren betrachtete, desto klarer wurde mir, dass sie perfekt zu einem Sprung über den Zaun passten. Calista hatte so etwas noch nie getan. Nicht freiwillig.

Calista war offensichtlich nicht länger auf dem Gestüt, sondern draußen im Wald. Sie konnte verletzt sein! Sie konnte sich irgendwo verfangen haben! Sie konnte vielleicht sogar auf eine Straße gelaufen sein! Wo war sie bloß?

Dennoch war etwas merkwürdig an den Hufspuren. Es gab keine von der Landung, obwohl der Boden jenseits des Zaunes genauso matschig war. Es war, als wäre Calista gesprungen, aber ihre Hufe hätten nie wieder den Boden berührt.

Ich trabte zurück zum Gatter und rutschte von Herkules Rücken. Meine Geschwister mussten davon erfahren. Wir mussten Calista suchen.

Hastig lief ich zurück zum Baum und kletterte so schnell ich konnte in mein Zimmer. Ich schloss das Fenster und eilte in die Küche. Einige meiner Geschwister saßen bereits am Tisch.

Ich war völlig außer Atem, als ich ins Zimmer kam, und keuchte. "Calista... Calista... ist... Sie ist... verschwunden... weg!", rief ich panisch. Meine Geschwister sahen mich höchst verwirrt an.

"Sie ist verschwunden? Hattest du einen Alptraum, Jennifer?", fragte Nathalie besorgt.

Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte schon lange keinen Alptraum mehr. Ich war ja kaum zum träumen gekommen.

"Ich habe das nicht geträumt!", rief ich. "Sie steht nicht mehr auf der Weide! Wir müssen sie suchen!"

"Nun mach' doch mal langsam", versuchte mich Cheyenne zu beruhigen. "Calista steht auf der Weide, du hattest nur einen Alptraum."

"Nein! Ich hab es doch mit eigenen Augen gesehen... oder besser: nicht gesehen! Sie ist weg! Glaubt mir doch bitte!", rief ich verstört. Als ob ich mir so etwas ausdenken würde! Wieso konnte man mich denn nicht ernst nehmen? "Ich war gerade auf der Weide bei Herkules und sie ist weg!"

"Ein Pferd kann nicht einfach weg sein", widersprach Marc, ganz der Theoretiker. "Vielleicht hast du sie auf der Weide nur übersehen. Unsere Weiden sind weitläufig, die kann man nicht sofort überblicken."

Ich schüttelte energisch den Kopf. So genau wie ich gesucht hatte, konnte ich sie nicht übersehen. Und auf mein Rufen kam sie auch nicht.

"Calista kommt immer, wenn ich nach ihr pfeife oder rufe, heute kam sie nicht. Ich bin auf Herkules die gesamte Weide Stück für Stück zweimal abgeritten. Sie ist definitiv nicht da!"

Cheyenne runzelte die Stirn. "Seltsam", murmelte sie nachdenklich. "Und du bist dir wirklich sicher, dass Calista nicht auf der Weide steht, Jennifer?"

"Wenn ich es euch doch sage!", rief ich empört, weil mir so wenig Glauben geschenkt wurde. Ich war doch kein kleines Kind mehr. "Calista ist spurlos verschwunden!"

 

 

*** Ende der Leseprobe ***

 

 

Dieses Buch ist auf Amazon als Taschenbuch (6,99€) und in vielen weiteren Shops als eBook (0,99€) erhältlich:

http://von-der-buecherfreundin-zur-autorin.blogspot.de/p/shop-liste_5.html

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 04.08.2015

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /