Wüstensand
Verrat der Wüste
Mia Monocerus
„Geh, Odin! Lauf, mein Freund!“, rief Aruna. „Du bist frei.“ Der Rapphengst schnaubte und warf den Kopf hoch.
Sie musste es tun. Dies war ihre letzte Chance, auf Rachefeldzug gehen zu können. Das Verbrechen hatte zu viele Wunden auf ihrer Seele hinterlassen.
Ein Jahr war bereits vergangen und endlich hatte sie den Mut gefasst, alles beenden zu wollen. Die Zeit ihres neuen Lebens war gekommen.
„Lauf!“, rief sie wieder und ließ ihre flache Hand auf die kräftige Hinterhand des Pferdes klatschen. Odin wieherte und schüttelte seinen edlen Kopf, so dass seine lange, dicht gewellte Mähne herumwirbelte. Er verstand nicht, warum er sich nun auch von dem Mädchen trennen sollte, nachdem er vor einem Jahr seinen Herrn verloren hatte.
Der Hengst stieg und Aruna wich zurück, um nicht von den kräftigen Hufen getroffen zu werden. Ein klagendes Wiehern, ein trauriges Schnauben und dann machte der Hengst kehrt und galoppierte davon.
Aruna sah ihm mit Tränen in den Augen nach. „Auf Wiedersehen, Odin…“, flüsterte sie und wischte eine Träne aus ihrem Gesicht. „Ich werde dafür sorgen, dass der Mörder deines Herrn die gerechte Strafe erhält. Das verspreche ich dir, mein Freund.“
Odins Herr hieß Philitis und war ihr Vater. Er hatte der Königsfamilie in der königlichen Leibgarde, dem Orden der Asfaloth, gedient. Die Asfaloth genossen den Ruf, die besten Krieger im Königreich Silaeta zu sein. Der König selbst wählte sie nur mit größter Sorgfalt aus. Ein Asfaloth werden zu dürfen war für viele der Männer in Silaeta das Größte, was ihnen passieren konnte.
Philitis war einer der besten Asfaloth gewesen und bekam nach wenigen Dienstjahren bereits das Amt des ersten Leibwächters der Gattin des Königs, Sylvia von Silaeta, zugesprochen. Neben dem ersten Leibwächter des Königs begleitete er die höchste Position, die ein Asfaloth überhaupt erreichen konnte.
An eine Mutter konnte sich Aruna nicht erinnern. Ihr ganzes Leben hatte sie auf dem Gutshof ihres Vaters verbracht und wurde von dessen Bediensteten versorgt und erzogen, während er im Dienst war. Sie erinnerte sich, dass er mehr als Leibwächter im Einsatz war, statt als Vater auf dem Gutshof, doch dies hatte das Mädchen nie gestört.
In den wenigen Wochen, die Philitis im Jahr auf dem Gutshof verbracht hatte, hatte er Aruna alles beigebracht, was sie heute konnte. Er hatte ihr die Kunst des Reitens gelehrt und ihr schließlich Odins Sohn, einen pechschwarzen Rappen namens Orlando, geschenkt. Sie hatte eine so enge Bindung zu dem Pferd, dass die Bediensteten ihres Vaters munkelten, sie könne mit dem Pferd sprechen und dessen Gedanken lesen.
Philitis war es auch, der ihr den Umgang mit dem Schwert lehrte und ihr versprach, dass sie sein Schwert erben würde, wenn er starb. Aruna hatte das Kämpfen zunächst gefallen, doch ihr Vater hatte stets betont, dass ein Kampf kein Vergnügen war und es nichts Schrecklicheres gab, als einen Menschen durch sein eigenes Schwert sterben zu sehen.
Im gleichen Atemzug erklärte er ihr auch, dass es manchmal unmöglich war, jemanden zu verschonen, ohne selbst das Leben zu verlieren.
Doch in Silaeta gab es ein Gesetz, welches Frauen sowohl das Reiten als auch das Tragen von Waffen und den Kampf verbot. Reiten und Kämpfen galten als ein Privileg der Männer und ein Verstoß gegen dieses Gesetz bedeutete den Tod. Nahezu alle Frauen in Silaeta schreckte dies ab und nur selten wurde eine Frau erwischt.
Aruna kannte das Gesetz und wusste, dass Frauen lediglich eine Karre mit einem Ackergaul als Transportmittel hatten, aber das hatte sie nie interessiert. Sie hatte mit den Söhnen der Stallburschen gespielt und eine Mutter, die sie zur Frau erziehen würde, wie es bei Mädchen üblich war, hatte sie nie gehabt. Ihr Umgang mit Männern überwog den Umgang mit Frauen und ihr fehlte es an Weiblichkeit, wie ein paar der weiblichen Bediensteten auf dem Hof stets zu sagen gepflegt hatten.
Sie war wie ein Junge aufgezogen wurden und benahm sich manchmal sogar wie einer. Und obwohl die Dienerinnen ihr immer Kleider genäht hatten, hatte sie enge, glatt-lederne Reithosen, hohe Stiefel aus Wildleder und ein Leinenhemd getragen. Ihr langes, leicht gewelltes, rotblondes Haar, welches in der Sonne golden schimmerte, band sie zu einem Zopf. Offenes Haar störte sie bei vielen Dingen, auch wenn es noch so schön war.
Odin war in einer Staubwolke verschwunden. Sie legte eine Hand auf den Hals Orlandos und strich ihm über die Mähne. Er war ein wunderschönes Pferd, genau wie sein Vater. Blauschwarz schimmernd stand er im Sonnenlicht, sein Fell glatt wie Seide. Er hatte einen kräftigen Körperbau und war gut trainiert durch die vielen langen Ausritte, die Aruna mit ihm unternahm.
Er war ein Nachfahre des Lieblingshengstes von König Asfalothos, dem Gründer des Ordens der Asfaloth. Der König hatte seine Pferde geliebt und einen solchen schwarzen Hengst nur den Besten seiner Leibgarde gegeben. Sie waren ein Zeichen für ihre Treue und sein Vertrauen.
Leider war nur ein Teil der Zuchtlinie erhalten geblieben. Als Odysseus, Odins Vater, als kränkliches, schwaches Fohlen im königlichen Stall von Juan, der Hauptstadt von Silaeta, geboren wurde, regierte noch der Vater des jetzigen Königs. Dieser wollte starke Pferde und jede Linie, der ein schwaches Fohlen entsprang, wurde aus seinem Stall verbannt. Er war der Meinung, dass ein starkes Pferd keine schwachen Verwandten haben konnte, denn die Schwäche würde vererbt werden.
Niemand in Juan schenkte dem kleinen Odysseus Hoffnung und seine Linie war verloren. Die Pferde wurden als Ackergaul verkauft und Schulden mit ihnen beglichen, obwohl sie allesamt exzellente Vorfahren hatten, welche einst Könige, Prinzen und Asfaloth durch Kriege trugen und mit ihrem Mut die Feinde bezwangen.
Arunas Großvater kaufte das schwache Fohlen sowie einen anderen Hengst und mehrere Stuten. Schließlich begann er seine kleine Privatzucht und übertrug diese auf seinen Sohn. Doch Philitis war zu beschäftigt, als dass er die Zucht so weiterführen konnte, wie sein Vater es sich erhofft hatte. So kam es, dass nur noch Odin und Orlando übrig waren.
Aruna kannte Orlando schon von Fohlen an. Sie war ungefähr zehn Jahre alt gewesen, als er geboren wurde und sie hatte ihrem Vater bei der komplizierten Geburt zur Seite gestanden. Als die Stute kurz nach seiner Geburt verstarb, übergab Philitis seiner Tochter die Pflege des Fohlens. Es sollte das letzte Fohlen sein, welches auf dem Gutshof das Licht der Welt erblickte.
Das Flaschenkind entwickelte sich rasch zu einem stolzen Junghengst und begann, ihr für ihre Hilfe zu danken, indem er sie beschütze, wenn er Gefahr spürte. Aruna wusste, dass sie sich immer auf den Hengst verlassen konnte und er sie nie allein lassen würde.
Das Mädchen blickte zurück. Hinter ihr loderte das Feuer noch immer, wenn auch in weiter Ferne. Das war es, was von ihrer Heimat, dem Gutshof von Philitis, noch übrig war – ein alles vernichtendes Feuer.
Sie brauchte das Gut nicht. All die Bediensteten waren fort und das letzte Jahr hatte sie mit den beiden Pferden dort allein gelebt, zerfressen von ihrer Trauer über den Tod ihres Vaters. Ein Jahr war es her, dass er im Schlaf erstochen wurde, als er auf dem Gutshof seine freie Zeit genoss.
Aruna wusste tief in ihrem Herzen, dass der Mörder nur neidisch auf Philitis' Posten war. Er war ein zu guter Mensch gewesen, als dass er ein solch grausames Ende verdient hatte. Für Aruna war er einer der verständnisvollsten Menschen gewesen, die sie je gekannt hatte.
Nach seinem Tod hatte sie sein Testament entdeckt, welches sie zur alleinigen Erbin erklärte. Doch nun war der Gutshof nur noch eine Last für sie. Die Erinnerungen daran weckten den Schmerz und niemand sollte je wieder diesen Hof betreten, ohne an Philitis' grausamen Tod zu denken.
Sie wollte wie ein Vagabund leben, frei und ohne Heimat, und dann den Mord an ihrem Vater rächen, sobald sie herausgefunden hatte, wer sein Mörder war. Neider hatte Philitis viele gehabt, doch Aruna fiel nicht einer ein, der auch fähig gewesen wäre, ihn zu ermorden.
Es hatte knapp eine Woche gedauert, bevor man ihn beerdigt hatte. Doch Aruna hatte nur vom Rand zusehen dürfen und ihm damit nur bedingt die letzte Ehre erweisen können. Sie empfand es als ungerecht, schließlich war sie seine letzte lebende Verwandte. Doch sie war eben auch nur eine Frau und ihre Rechte stark beschränkt.
Trotz seines Testaments durfte sie nichts erben. Ein Testament, welches eine Frau als Erben einsetzte, war in Silaeta nichtig. Das war auch mit einer der Gründe gewesen, warum sie fast alles den lodernden Flammen übergeben und Odin die Freiheit geschenkt hatte.
Das Wenige, was sie noch besaß, trug sie bei sich. Orlando hatte Odins Sattel bekommen. Es war ein sehr kostbarer Sattel, dessen Sitzfläche mit blauem Samt, auf dem silberweiße Runen gestickt waren, überzogen war. Das mit Metallbeschlägen verzierte Vorderzeug betonte die Brust des Rapphengstes.
Ebenso trug Orlando nun Odins mit gravierten Metallbeschlägen verzierte Trense mit den wundervollen Lederzügeln - weich und gepflegt und in hervorragender Qualität. Unter dem Sattel lag Odins Decke, ebenso aus besticktem blauen Samt.
Aruna hatte auch die Satteltaschen gerettet, die sie nun mit Lebensmitteln, Wasser und Futter für Orlando gefüllt hatte. Ein Handschuh aus braunem, derbem Leder lag ebenfalls darin. Er war eine persönliche Anfertigung für Aruna gewesen. Philitis hatte ihn ihr vor drei Jahren zum Geburtstag geschenkt.
Sie kannte den Wert des Sattelzeugs. Nur die reichsten Männer Silaetas konnten sich ein solches überhaupt leisten. Abgesehen vom König und dessen Familie waren das nur die Asfaloth, denn der König belohnte seine Leibwächter sehr großzügig.
Das Mädchen sah an sich herunter. „Nein, kein Mädchen“, dachte sie. „Ich bin längst eine Frau geworden.“ Sie trug Philitis' Kleidung: schwarze, glatt-lederne Reithosen, schwarze Lederstiefel, ein weißes mit silbernen und blauen Ornamenten besticktes Hemd sowie einen blauen Mantel mit kurzen Ärmeln, die oben aufgeschlitzt waren.
Ihr Körper hatte sich in den letzten Jahren entwickelt und aus ihr eine Frau gemacht, mit allen äußerlichen Anzeichen. Aruna wusste, dass es nahezu unmöglich war, sich weiterhin so einfach als Mann zu tarnen, wie es früher möglich war. Aus diesem Grund hatte sie Philitis alten Reitmantel aus graubraunem Stoff übergezogen. Die große Kapuze verdeckte ihr herrliches Haar und ihr Gesicht. Außerdem ließ er ihre weiblichen Kurven verschwinden. Ein Reiter in diesen Farben erregte kaum Aufsehen.
Das Wertvollste für Aruna war jedoch das Schwert ihres Vaters, welches an einem braunen, aus derbem Leder gefertigten Gürtel hing, der mit mehreren Dolchen bespickt war. Auf der Schwertklinge waren Muster eingraviert, die man erst auf dem zweiten Blick als Schriftzug erkannte. Es war der Eid der Asfaloth - sie konnte ihn auswendig.
Aruna nahm den Handschuh aus der Satteltasche, zog ihn über und pfiff. Nicht nur Orlando war ihr bester Freund, auch einen jungen Bussard zählte sie dazu. Er lebte wild, aber er mochte sie und kam, wann immer sie ihn rief.
Vor dreieinhalb Jahren hatte sie, auf einem Markt, den Vogel in einem Käfig entdeckt. Manche Menschen in Silaeta verdienten ihr Geld, indem sie auf Märkten gefangene Greifvögel anboten. Aruna jedoch hatte Mitleid mit dem schönen Tier, welches sie so traurig ansah. Als der Händler abgelenkt war, öffnete sie den Käfig. Nur mit viel Glück hatte sie verschwinden können. Nach wenigen Tagen fand der Greifvogel sie wieder und blieb seit diesem Tag in ihrer Nähe - dankbar für seine neu gewonnene Freiheit.
Aruna hatte ihn Altair genannt, denn seinen richtigen Namen, den sich die Vögel untereinander gaben, kannte sie nicht. Altair schien seinen neuen Namen zu mögen.
Sie suchte den Himmel nach dem Bussard ab und pfiff erneut. Dann streckte sie den Arm aus.
Als ihr Vater von ihrer Freundschaft zu dem Greifvogel gehört hatte, ließ er den Handschuh anfertigen, damit der Vogel stets bei ihr landen konnte, wenn er einen Ladeplatz suchte.
Aus der Ferne näherte sich ein dunkler Fleck am Himmel, welcher immer mehr Vogelgestalt annahm, je größer er wurde. Aruna lächelte. Obwohl Altair sie immer wieder anflog, konnte sie sich nicht daran gewöhnen, dass er für immer bei ihr bleiben würde.
„Komm zu mir, Altair!“, rief sie leise und der Vogel setzte zur Landung an. Sie spürte den Wind, den seine Flügel ihr ins Gesicht fächerten und spannte ihren Arm an, als sie das Gewicht des Bussards spürte.
„Hallo, Altair“, murmelte sie. „Wie geht es dir, mein Freund?“ Der Bussard schaute sie mit seinen wachsamen Augen an, als ob er ihre Gedanken bereits erraten hätte.
„Also gut, mein Freund“, sagte Aruna. „Ich werde nun als Vagabund ein neues Leben beginnen. Du bleibst doch bei mir, nicht wahr?“ Altair zwinkerte und sah sie neugierig an, bevor er einen kehligen Laut ausstieß, die Flügel streckte und empor stieg. Aruna sah ihm lächelnd nach.
Dann blickte sie umher und suchte mit ihren grünen Augen die Gegend ab. Keiner war zu sehen, aber trotzdem schob sie sicherheitshalber die Kapuze über ihren Kopf. Ein letzter Blick über die Schulter auf die Flammen. Lange würde das Feuer nicht mehr brennen, denn dafür hatte es nicht genug Nahrung.
„Vorwärts, Orlando!“, sagte sie stolz und der Hengst trat an. „Auf zum Rachefeldzug für Vater, und auf zum Kampf für die Armen!“
Lucan trat von einem Fuß auf den anderen. Ungeduldig wartete er neben seinen besten Freunden Arion und Roan auf dem großen Platz vor dem Königspalast in Juan. Der Palast der Königsfamilie bildete das Herzstück der mit Abstand ältesten Stadt Silaetas.
Alle Mitglieder der königlichen Leibgarde, die Asfaloth, waren zum Hof gerufen worden und warteten nun ebenso ungeduldig wie Lucan und seine Waffenbrüder auf das Auftreten des Königs. Niemand wusste, warum er eine solche Versammlung einberufen hatte, doch es musste einen besonderen Grund geben, denn so etwas kam bisher nur äußerst selten vor.
Lucan strich seinem Pferd, einem Dunkelfuchs mit vier weißen Socken und einer schmalen Blesse, über die Schulter. Der Hengst verstand diese Aufregung nicht ganz und war verwirrt von der seltsamen Stimmung auf dem Platz.
„Ruhig, Darius“, murmelte der Reiter ihm leise zu und sofort drehte er ein braunes Ohr nach hinten, um der vertrauten Stimme zu lauschen.
„Ich frage mich, welches Anliegen dem König so schwer auf dem Herzen liegt, dass er seine Wächter aus allen Ecken Silaetas zusammengerufen hat“, sagte Arion. „Das ist eigenartig, und mir will nicht ein einziger Grund einfallen...“
Roan zuckte mit den Schultern und Lucan legte die Stirn in Falten. „Genau genommen hat uns Rabanus zusammen-getrommelt“, entgegnete der Asfaloth. „Das hat der König doch noch nie befohlen. Irgendwas ist da faul dran...“
Rabanus war der Berater des Königs und somit die einzige Person, die über den Asfaloth stand und neben dem König und dessen Familie die meiste Macht über das Volk von Silaeta hatte.
„Ich verfüge durchaus über das Wissen, dass der Herr Berater uns hat rufen lassen, aber dies muss nicht zwingend bedeuten, dass es sich nicht um ein königliches Anliegen handelt, welchem nun mal eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden muss“, erklärte Arion in seiner ruhigen Tonlage. „Der Herr Berater ist ebenso dem König untertan wie wir, doch Ihr solltet ihn mehr respektieren, Lucan, denn Rabanus verfügt über einen höheren Rang als Ihr, mein Freund.“
„Er ist ein Schuft! Und nichts weiter als ein Schuft, Arion!“, rief Lucan empört aus. „Er wird Silaeta zerstören, wenn er König wird! Und er wird einen Weg finden, den König zu entfernen und an dessen Stelle zu treten, ich spüre es!“
Arion lächelte und sah sich um. „Das mag sein, mein lieber Lucan, doch seht Euch um: Der gesamte Platz ist bedeckt mit ehrwürdigen Asfaloth, die sich durch ihren Eid allesamt an den König gebunden haben“, sagte er stolz und unterstützte seine Worte mit einer Handbewegung. „Wenn der Herr Berater sich tatsächlich die Krone auf das Haupt setzen möchte, muss er zuerst an uns allen vorbei.“
Lucan erwiderte das Lächeln nicht. „Er findet einen Weg, um uns die Hände zu binden, Arion. Glaubt mir, ich spüre das ganz deutlich!“, knurrte er. „Er wird uns alle abschlachten lassen und den König entmachten, während wir auf dem Friedhof die Grabsteine zählen!“
„Nur die Ruhe, mein Freund“, sagte Arion und klopfte seinem Pferd, einem Fuchs mit breiter Blesse, den Hals. „Rabanus ist allein, wir dagegen sind fünfzig Asfaloth. Wir sind die besten Krieger in ganz Silaeta. Glaubt Ihr wirklich, er hätte auch nur den Hauch einer Chance, solange wir den König mit unserem Leben beschützen?“
Der Vorhang des Tores am Balkon wehte zur Seite und alle hielten den Atem an. Niemand jedoch trat heraus und fragende Blicke flogen über den Platz. Wer auch immer ein Anliegen vorzutragen hatte, heute ließ er sich damit Zeit.
Lucan seufzte. „Der König hat uns immer pünktlich empfangen. Warum lässt er heute so lange auf sich warten?“ Er sah zu Arion und Roan, doch sie zuckten nur mit den Schultern.
Der Vorhang wehte wieder zur Seite und diesmal trat Rabanus auf den Balkon. Die ersten Asfaloth knieten nieder, ihre Pferde am Zügel neben sich. Lucan und seine Freunde taten es ihnen gleich. Es war ein Zeichen des Respekts vor dem Ranghöheren, doch der Asfaloth empfand es nur als Demütigung, sich vor so einer hinterhältigen Person niederknien zu müssen.
„Steht auf, Asfaloth!“, schallte Rabanus' Stimme über den Platz. Alle erhoben sich langsam und blickten aufmerksam zum Berater des Königs. „Unser König ist leider verhindert und kann Euch allen seine Entscheidung nicht persönlich überbringen. Mir selbst fällt es ebenso schwer wie ihm, sie euch zu verkünden, meine Freunde“, fuhr er fort.
Lucan zuckte mit den Augenbrauen. „Freunde? Wir sind alle ganz bestimmt nicht mit ihm befreundet und das müsste er eigentlich wissen. Aber ich wette, er plant etwas Mieses und will sich vorher noch einmal ordentlich bei uns einschmeicheln!“, sagte er leise, jedoch war der Zorn in seiner Stimme nicht zu überhören. Arion zuckte erneut mit den Schultern. „Nur Geduld. Wir werden erfahren, was er zu sagen hat.“
„Nun, ich bedauere, Euch diese Entscheidung mitteilen zu müssen, aber der König hat sich entschlossen, den Orden der Asfaloth aufzulösen, da er mutige Männer für den bevorstehenden Krieg gegen das Nebelland braucht. Die Asfaloth dürfen nach dem Gesetz von Asfalothos nicht an der Front kämpfen, daher hielt der König es für erforderlich, den Orden aufzulösen“, teilte Rabanus mit kalter Stimme vom Balkon aus mit.
Dann tat er, als würde ihm die Auflösung zutiefst traurig stimmen. „Und Ihr, meine Freunde, seid nun einmal die besten Krieger in ganz Silaeta!“
Lucan schnaubte verächtlich. „Wie kann er es wagen, unseren Ordnen, der seit Generationen unverändert besteht, einfach aufzulösen!?“, fauchte er. Urplötzlich brach ein großes Gemurmel vor dem Palast aus, an dem sich fast alle Asfaloth beteiligten. Sie waren empört über Rabanus' Worte.
Nur Roan allein schwieg. Lucan und Arion hatten schon früh gelernt, dass die meisten Situationen für Roan nicht wichtig genug waren, als dass er Worte daran vergeuden würde. Er hatte eine traurige Vergangenheit, welche ihn wortkarg gemacht hatte, doch kaum einer kannte die ganze Geschichte und niemand war so töricht, dem Asfaloth Worte aus dem Mund locken zu wollen.
„Bitte Ruhe!“, rief Rabanus, doch niemanden interessierte es. Gemurmel, verachtende Rufe und Beschimpfungen schmetterten über den Platz.
„Ich bitte um Ruhe!“, schrie er erneut, aber nur wenige der Männer wurden tatsächlich still. „Ich muss noch etwas hinzufügen, damit diese Sätze nicht vollkommen sinnlos sind.“
Überrascht stellte sich das Gemurmel augenblicklich ein, jeder hoffte auf Worte, die seine vorherigen rückgängig machen würden. Aber sie kamen nicht.
„Nun, alle Asfaloth müssen ihre Uniform und ihre Schwerter abgeben. Das Sattelzeug für Eure Pferde dürft Ihr als Andenken behalten“, sagte er sachlich und ohne jede Art von Emotionen. „Alle, die sich weigern, werden verhaftet und zu Tode verurteilt.“
Lucan fauchte. „Habe ich es nicht gleich gesagt, Freunde? Rabanus findet einen Weg, um uns loszuwerden. Und das auch noch schneller, als wir gedacht haben!“, rief er. „Seine Majestät weiß bestimmt nichts von diesem Beschluss, aber Rabanus steht über uns und somit ist dieser Beschluss gültig. Eine Frechheit ist das!“
Hastig setzte er einen Fuß in den Steigbügel seines Pferdes und zog sich in den Sattel. Er nahm die Zügel auf und schob den anderen Fuß in den Steigbügel.
„Meine Freunde, meine Zeit mit Euch war wundervoll, aber ich werde meinen Stand nicht aufgeben. Ich habe geschworen, den König bis an mein Lebensende zu schützen und genau das werde ich tun, ganz egal, was Rabanus beschließt“, sagte er und ließ Darius antreten. „Auf Wiedersehen, Arion. Auf Wiedersehen, Roan. Es war mir eine Ehre, Euch gekannt haben zu dürfen.“
Lucan neigte kurz den Kopf, dann galoppierte er an und jagte durch die Menschenmassen vom Platz. Juans Straßen waren gut befestigt und sein Pferd beschlagen. Allerdings wusste er, dass Flucht die einzige Chance war und er die Stadt verlassen haben musste, bevor Rabanus seine Männer auf ihn hetzen würde. Wenn sie ihn fanden, war alles vorbei.
Plötzlich erklang lautes Hufgeklapper auf der Straße hinter ihm. Sie haben zu schnell bemerkt, dass ich verschwunden bin, schoss es ihm durch den Kopf. Aber ich werde trotzdem schneller sein als sie!
Lucan gab seinem Dunkelfuchs die Zügel hin und trieb ihn noch etwas an. „Los, Darius, hängen wir sie ab!“, feuerte er seinen Hengst an.
Der Dunkelfuchs streckte sich, seine Hufe donnerten über die Straße. Lucan wagte es nicht einmal, nach hinten zu sehen. Er hörte die rhythmisch trommelnden Hufe der anderen Reiter - es mussten zwei oder drei sein - und das war ihm genug Ansporn.
Lucan wusste, dass es kein Entkommen vor dem Tode mehr gab, hatten Rabanus' Männer ihn erst einmal eingeholt. Er war ein wirklich guter Kämpfer, aber gegen drei Krieger gleichzeitig konnte er nicht besonders lange standhalten. Auch ein Überraschungsangriff von seiner Seite aus würde ihm nicht viel helfen können.
Durch eine schmale, kurvenreiche Gasse lenkte er sein Pferd und dann ging der schnelle Ritt immer weiter in Richtung Hauptstadttor. Er hoffte, dass niemand dort sein würde, der ihn aufhalten konnte. Darius spitzte die braunen Ohren und lauschte. „Weiter, weiter!“, feuerte Lucan ihn an. „Wenn du jetzt stehen bleibst, sind wir beide tot!“
Der Hengst schnaubte und schüttelte den Kopf. Lucan gab ihm noch mehr Zügel und lehnte sich weit über den Pferdehals, um Darius' Rücken zu entlasten, damit dieser noch schneller laufen konnte.
Dann kam das Hauptstadttor in Sicht. Er atmete erleichtert auf, denn es war nur spärlich bewacht und geöffnet. Scheinbar hatte die Information, dass Lucan flüchtete, die Wächter noch nicht erreicht.
„Halt, mein Herr!“, rief einer der Wächter. „Wohin des Weges?“ Lucan lächelte nur und nickte, als er vorbei galoppierte. Darius legte an Tempo zu.
„Vielen Dank!“, rief Lucan den Stadttorwächtern zu, bevor er den Wüstensand unter den Hufen seines Pferdes sah.
Außerhalb von Juan und den anderen Städten gab es nur noch die weite Wüste. Bis zur nächsten Stadt würde es noch ein paar Stunden dauern, aber Lucan brannte bereits die Kehle vor Durst.
Auch Darius brauchte dringend Wasser. Er hatte seit Stunden nichts mehr trinken dürfen, da sie auf dem Platz vor dem Palast so lange hatten warten müssen. Es war strengstens untersagt, die Pferde zu tränken, wenn der König jeden Augenblick in Erscheinung treten würde.
Nur war nicht der König, sondern Rabanus erschienen und hatte den Orden der Asfaloth aufgelöst. Jetzt hatte er niemanden mehr, der ihm eine ernsthafte Gefahr war und er konnte mühelos die Krone von Silaeta an sich reißen. Niemand mehr, der zwischen ihm und der Macht über das Königreich stand. Nur noch ein alter König, der schon lange kein Schwert mehr geführt hatte.
„Lucan!“ Er zuckte zusammen, als er die Stimme hinter sich hörte, die seinen Namen rief. Er kannte diese Stimme, aber sie gehörte keinem von Rabanus' Männern, sondern...
„Arion?“, fragte er und parierte Darius durch. Hinter ihm kamen Arion auf seinem Fuchs und Roan auf seinem Blauschimmel galoppiert.
„Lucan!“, rief Arion erleichtert und hielt sein schnaufendes Pferd an. „Ich hatte schon geglaubt, Ihr würdet niemals mehr eine Rast machen, mein Freund.“
Erleichtert seufzte Lucan. „Und ich habe geglaubt, Ihr wäret Rabanus' Männer, die mich verhaften sollen“, erwiderte er lachend. „Meine Freunde! Ich hätte wissen müssen, dass auch Ihr nicht Eure Uniformen abgeben würdet, egal was auch geschehen würde!“
Arion lächelte. „Wir sollten uns zum Fluss begeben, Anatol und ich brauchen kühles Wasser, sonst findet man uns morgen bereits als Mumien.“ Lucan nickte. „Auch Darius und ich sind geschwächt. Und Euch, Roan, ergeht es sicher nicht anders, nicht wahr?“
Roan nickte nur. Wenn Lucan sich recht erinnerte, hatte der Asfaloth heute noch nicht ein einziges Wort gesprochen. Schweigend ritt er neben den anderen her, während sie Kurs auf die nächstgelegene Quelle hielten, die nur noch wenige hundert Meter entfernt lag.
Silaeta war keine ganz gewöhnliche Wüste, wie die Gesetzlosen, die Piraten, zu berichten pflegten. Die Piraten waren die einzigen Menschen, die Silaeta jemals verlassen hatten. Sobald sie das Versprechen, diese Insel geheim zu halten, brachen, würde das Meer ihr Schiff verschlingen – so erzählten es die Bewohner der schwarzen Stadt.
Die Piraten berichteten, dass alle anderen Wüsten der Erde am Tag heiß und staubig und in der Nacht kalt waren. Die große Silaetanische Wüste war zwar warm, jedoch nicht drückend heiß. Auch die Nächte waren mild genug, um unter freiem Himmelszelt schlafen zu können.
Allerdings gab es noch einen großen Unterschied zu den anderen Wüsten der Erde. In den anderen Wüsten regnete es angeblich sehr wenig und wenn es doch einmal regnete, dann dauerte der Regenguss mehrere Tage und Wassermassen überfluteten das gesamte Gebiet.
In der großen Silaetanischen Wüste dagegen regnete es manchmal mehrere Male in der Woche für kurze Zeit und dann wieder monatelang gar nicht, doch zu Überflutungen kam es nur höchst selten. Und in Silaeta gab es mehrere große Flüsse, die das Land feucht hielten, obwohl überall der feine Sand lag.
Als sie an der Quelle ankamen, hielt Lucan Darius an und stieg ab. „Trink, mein Junge“, murmelte er und ließ die Zügel los. Dann füllte er seine Wasserflasche mit dem kühlen Nass und trank sie in einem Zug aus, bevor er sie erneut füllte. Es war töricht, ohne Wasser in der Wüste unterwegs zu sein und Lucan hatte mehr als eine Wasserflasche dabei, die er auffüllte, als sein Durst gestillt war.
„Er hat was getan!?“, fragte Sylvia entsetzt. Leonardo senkte den Blick. „Er hat den Orden der Asfaloth aufgelöst und alle, die sich ihm widersetzen, will er verhaften und hängen lassen, Sylvia“, wiederholte er. „Ich kam zu spät, als dass ich ihn hätte aufhalten können.“
„Das ist eine Frechheit!“, rief die Königin. „Eine bodenlose Frechheit! Was bildet sich dieser Kerl denn ein!? Damit ist unser Schutz komplett erloschen!“
Der Prinz nickte langsam. Sylvia war zwar die Königin und Gemahlin des Königs, doch sie war nicht Leonardos leibliche Mutter. Sie hatte ihn lediglich aufgezogen und erzogen. Deshalb sprach er sie auch nie mit Mutter, sondern immer mit ihrem Namen an.
„Dieser Schuft!“, polterte die Königin weiter. „Jetzt ist unser Untergang schon so gut wie besiegelt.“ Leonardo nickte vorsichtig.
„Er hat Vater nicht beraten, sondern ihn verraten. Aber ich kam zu spät, als dass ich ihn hätte aufhalten können. Es tut mir unendlich leid...“, sagte er gedemütigt, als ob es nur seine Schuld wäre, dass die Königsfamilie ihre Leibwächter verloren hatte.
Sylvia schüttelte erbost den Kopf. „Ihr tragt keine Schuld daran, Leonardo“, unterbrach sie ihn. „Die Schuld trägt mein Gatte. Er hätte Rabanus niemals vertrauen dürfen!“
„Habt Ihr ihm denn nicht auch vertraut?“, fragte Leonardo schweren Herzens und ließ sich erschöpft auf einen Stuhl fallen. „Ohne die Asfaloth sind wir nun vollkommen schutzlos...“
Sylvia nickte langsam. „Ich weiß, wer er wirklich ist. Rabanus meine ich“, gestand sie. Der Prinz zuckte zusammen und starrte sie an. „Wer?“
„Ihr kennt ihn auch unter seinem richtigen Namen. Ich hatte schon lange den Verdacht und jetzt habe ich ein paar wenige Beweise gefunden, die meine Theorie bestätigen. Er war einst auch ein Asfaloth“, berichtete sie. „Der einzige Asfaloth, der jemals seinen Eid gebrochen hatte. Er ist Orka.“
Leonardo gefror das Blut in den Adern, als er den Namen hörte. Orka. „Der Mörder von Asfaloth Philitis?“, versicherte er sich. „Der Mörder eures Ersten Leibwächters?“
Sylvia nickte. „Ja, er hat Philitis ermordet. Und dann versteckte er sich eine Weile im Nebelland, änderte sein Aussehen, bevor er als Rabanus schließlich wieder zurückkehrte“, erzählte sie.
„Aber wurde Orka nicht verbannt?“, hakte er nach. „Er wurde von den Asfaloth verstoßen und aus dem Königreich verbannt, nicht wahr?“
„Ja, das wurde er. Aber mein Gatte war blind, hat ihn nicht durchschaut, weil er so völlig anders aussah und sich anders benahm, als er zurückkehrte“, sagte sie und schüttelte den Kopf, so dass das schimmernde Haar um ihren Kopf wirbelte.
„Er schien ein völlig anderer Mensch zu sein, nur sein Hass auf unsere Familie und sein böses Herz erinnern noch an den Orka von damals.“
Leonardo schoss ein Bild von Orka durch den Kopf und er verglich es vor seinem inneren Auge mit einem Bild von Rabanus. „Tatsächlich. Das Einzige, woran man ihn noch erkennt, sind seine schmalen graugrünen Augen“, stellte er fest. „Weiß Vater von Euren Nachforschungen?“
Sie schüttelte den Kopf. „Er würde mir nicht glauben, denn er schätzt Rabanus' vernünftige, aber – wie ich nun weiß – nur gestellte Seite sehr. Er hat von dessen wahrem Ich nicht die leiseste Ahnung und ist seit Rabanus' Auftauchen immer naiver geworden. Mein armer Gatte!“
Der Prinz sprang auf und trat heftig gegen den Stuhl, auf dem er gerade noch gesessen hatte. Krachend fiel er zur Seite. „Er ist ein Schuft!“, schrie er. „Ein Schuft! Ein Schuft! Ein Schuft!“
„Das ist er tatsächlich, Leonardo. Ein Betrüger und Verräter, den wir nicht stellen können - noch nicht“, erwiderte sie ruhig, stellte den Stuhl wieder auf und bat ihren Stiefsohn, sich wieder zu setzen.
„Genau genommen habe ich Euch nicht wegen Rabanus rufen lassen. Euer Vater, mein Gemahl, plant etwas Großes für Euch und bat mich, Euch die Nachricht davon zu überbringen“, fuhr sie fort, ohne die Betonung zu ändern. Leonardo zog die Augenbrauen hoch. „Etwas Großes?“, wiederholte er verwirrt.
Sylvia nickte. „Euer Vater plant einen großen Ball. Alle wohlhabenden Mädchen sind dazu eingeladen“, erklärte sie. „Ihr hättet schon längst Hochzeit halten müssen, sagt er.“
Leonardo sprang auf. „Heiraten!? Ihr wollt mich verheiraten!?“, rief er entsetzt aus. Sylvia lächelte. „Nein, nicht ich möchte Euch verheiraten, sondern Euer Vater“, widersprach sie. „Er hofft, dass Ihr auf dem Ball Eure zukünftige Gemahlin finden werdet. Das Volk von Silaeta erwartet schon sehnsüchtig seine Prinzessin.“
„Aber ich will nicht heiraten!“, rief der Prinz zornig. Sylvia legte den Kopf schief. „Warum denn nicht, Leonardo?“, fragte sie. „Das Volk wartet auf Eure Verlobung, Ihr würdet endlich mehr als der Erbe von Silaeta anerkannt werden mit einer Frau an Eurer Seite.“
Ich will aber gar kein Erbe sein, dachte er trotzig. Warum erwarten immer alle, dass ich mich darauf freue, eines Tages selbst die Krone zu tragen? Warum lässt mich niemand mein eigenes Leben so leben, wie ich es möchte?
„Aber warum wollt Ihr denn keine Frau an Eurer Seite haben?“, versuchte es Sylvia erneut. Er sah betrübt zu Boden. Mit Sicherheit würde sie ihn nicht verstehen können, ganz gleich, wie er es formulierte.
„Ich werde nur das Mädchen jemals heiraten, welches ich wirklich liebe“, flossen die Worte von seinen Lippen. „Ganz gleich, welchem Stand sie angehört. Und wenn sie eine Bettlerin ist, dann würde ich mich ihrem Stand anpassen und mit ihr ein neues Leben aufbauen, auch wenn das nicht Euer Wunsch ist.“ Dann hob er den Kopf und sah Sylvia selbstbewusst an.
Die Königin rührte sich nicht. Seine Worte schienen sie überrascht zu haben. „Habt Ihr denn schon dieses Mädchen gefunden, mein Prinz?“, hakte sie nach einer Weile des Schweigens nach. „Ist es das? Seid Ihr bereits verliebt und wollt deshalb nicht heiraten?“
Nein, verliebt war er nicht. Er blickte erneut auf den Boden und schüttelte dann den Kopf. „Nein. Nein, das ist es nicht“, sagte er rasch.
„Aber das spielt doch überhaupt keine Rolle! Ich möchte nur einfach keine von diesen reichen, hoffnungslos verwöhnten und eingebildeten Mädchen heiraten. Ich möchte eine Frau, die nicht jammert, weil sie sich hässlich fühlt oder nicht genug Komplimente über ihr Äußeres bekommt, sondern eine Frau, die sich selbst behauptet und ihren eigenen Weg geht. Eine Frau, die sich nicht abschrecken lässt von Banalitäten und die in mir nicht nur den Prinzen sieht und die Macht, sondern den Mann liebt, der ich wirklich bin. Ich möchte eine Frau, bei der ich mich nicht verstellen muss...“
Die Worte prasselten aus seinem Munde, bevor er sich wirklich klar darüber war. Was würde nun seine Stiefmutter dazu sagen? Was würde sein Vater sagen?
„Er wird nicht begeistert sein“, stellte Sylvia nüchtern fest, aber das wusste Leonardo bereits. „Doch ist es Eure Pflicht als Prinz von Silaeta, diesem Ball beizuwohnen.“
„Pflicht, Pflicht, Pflicht! Immer höre ich nur Pflicht!“ Er stand ruckartig auf. „Aber was wäre, wenn ich einfach nicht ... da wäre?“, überlegte er laut und begann im Saal auf und ab zu marschieren. Sylvia stand ebenfalls auf und hielt ihn an der Schulter fest, als er an ihr vorbei stolzierte. „Wollt Ihr Euren Vater entehren, mein Prinz?“
„Entehren? Nein, ich möchte nur nicht einem so sinnlosen Ball beiwohnen“, entgegnete er. „Könnt Ihr den Ball nicht absagen? Oder wenigstens Vater dazu bringen, dass er ihn erst ein paar Monate später stattfinden lässt?“ Es musste doch eine Möglichkeit geben, jetzt nicht heiraten zu müssen. Irgendeine.
„Ich könnte mit ihm reden, doch ich bezweifle, dass er sich umstimmen lässt“, erklärte Sylvia bestimmt. „Es tut mir leid, Leonardo, aber ich kann dir da nicht helfen.“
Er presste die Lippen zusammen und nickte. „Bis später, Sylvia“, sagte er kalt und wandte sich ab. „Persia muss noch bewegt werden.“ Dann verließ er den Saal und eilte zu den Stallungen.
Persia, ein mondheller Schimmelhengst, war eines der besten Pferde in ganz Silaeta. Sein Vater, der König, hatte ihn Leonardo vor sieben Jahren geschenkt. Er war der Sohn der besten königlichen Zuchtstute Kassiopeia.
Leonardo eilte die Stallgasse entlang. Persias Box lag ganz hinten und außer Leonardo oder seinem Vater durfte den Hengst niemand berühren. Sogar der Stallmeister hielt wie die anderen freiwillig größtmöglichen Abstand zu dem Pferd.
Er holte sich ein paar Bürsten aus der Sattelkammer und lief zu Persia. Es war wie ein Ritual für Leonardo, sein Pferd vor jedem Ritt auf Hochglanz zu bringen. Und Persia genoss die Pflege.
Dann holte der Prinz den kostbaren Sattel, eines der Familienerbstücke, aus der Sattelkammer und legte ihn vorsichtig auf den Rücken des Pferdes. Danach nahm er die ebenso kostbare Trense vom Haken und schob dem Schimmel das Gebiss ins Maul.
Der Hengst schnaubte, als Leonardo die Schnallen schloss, und schüttelte den Kopf. Er konnte es ebenso wie sein Reiter kaum erwarten, durch die Wüste zu galoppieren. Leonardo setzte einen Fuß in den Steigbügel und schwang sich in den Sattel.
Persia tänzelte zu Seite und er lächelte. „Auf geht's, mein Freund!“, rief er glücklich und ritt durch ein paar gewundene Straßen zum Stadttor und dann hinaus in die Wüste. Der Hengst wieherte laut, als er den feinen Sand unter den Hufen spürte und galoppierte an.
Warmer Wüstensand flog um die kräftigen Hufe des Schimmels, seine seidige Mähne wehte sanft im Wind.
Die warme Mittagssonne schien auf Aruna und Orlando. Die junge Frau hielt schließlich im Schatten eines Felsen an und stieg ab. Dann löste sie die Schnallen des Sattels und der Trense und legte beides neben den Felsen.
Sie zog ihre Kapuze über den Kopf. Der Stoff schützte vor Verbrennungen, denn die Sonne schien sehr aggressiv, auch wenn man das nicht sofort bemerkte.
Aruna setzte sich unter den einzigen Baum, der dort einsam und verlassen stand. Er war seit langer Zeit dürr und tot.
Orlando schnaubte leise. Er hatte kaum geschwitzt und die brennende Sonne machte ihm fast gar nicht zu schaffen. Er war daran gewöhnt und für das Leben in der Silaetanischen Wüste gezüchtet worden.
„Pause, mein Freund?“, fragte sie. Der Hengst nickte. „Dann machen wir hier Rast und ruhen uns ein wenig aus“, beschloss sie und schob den Sattel unter ihren Kopf.
Sie hatte nicht die geringsten Bedenken, wenn sie Orlando frei herumlaufen ließ. Der Hengst hasste es, angebunden zu sein und kam auch ohne Seil stets zu ihr zurück. Im Gegenteil, er würde sie ohne Seil viel besser beschützen können, wenn Gefahr drohte.
Sie öffnete eine der Satteltaschen und fischte etwas getrocknetes Brot und Kekse heraus. Orlando nahm mit seinen Lippen vorsichtig die Brotscheiben und zermalmte sie genüsslich, während sie von einem der Kekse abbiss.
Dann holte sie aus der anderen Satteltasche eine Flasche mit Wasser heraus. Aruna trank ein paar Schlucke und flößte anschließend Orlando etwas von der Flüssigkeit ein.
„Wir müssen heute noch einen Fluss erreichen, damit du mehr trinken kannst, mein Freund“, meinte sie. „Und vielleicht finden wir dann auch endlich wieder eine Oase zum Kraft tanken.“
Sie hatte dummerweise nicht daran gedacht, eine Karte mitzunehmen. Aruna wusste nur, dass mehrere Flüsse das Wüstenland durchkreuzten und an deren Rändern so genannte Oasen langen. Dies waren kleinere oder größere Flecken Erde, an denen es mehr oder weniger fruchtbares Land gab sowie einen Zugang zu Frischwasser. Die kleineren Oasen wurden meist von Bauern genutzt, während die größeren inzwischen schon zu prächtigen Städten ausgebaut worden waren.
Aruna lehnte sich zurück und klopfte mit der flachen Hand auf den Boden. „Leg dich hin, mein Freund, und döse ein wenig.“ Orlando schnaubte und knickte mit den Vorderbeinen ein. Dann ließ er sich langsam zu Boden gleiten und legte den Kopf auf Arunas Schoß.
Sie streichelte sein schwarzes, schimmerndes Fell und der Hengst schloss die Augen. „Schlaf, mein Junge, schlaf“, murmelte sie. „In zwei Stunden reiten wir weiter.“
Dann streckte sie sich nach dem Handschuh, zog ihn über und pfiff. Am Himmel tauchte ein kleiner, dunkler Punkt auf und sie wiederholte den Laut. „Altair!“, rief sie. Der Punkt wurde größer und nahm die Form des Greifvogels an, der zu ihr flog.
Der Bussard setzte sich auf ihre Faust. „Ruh auch du dich aus, mein Freund“, sagte sie und strich dem Vogel über die Flügel. „Ich werde über euch beide wachen, versprochen.“
Altair sah sie mit leuchtenden Augen an und flog dann auf den niedrigsten Ast des dürren Baumes, an dem Aruna lehnte. Sie lächelte, als sie ihre beiden Freunde betrachtete. Sie konnte sich glücklich schätzen, Orlando und Altair zu haben.
Die Ohren ihres Pferdes zuckten. Er träumte, wusste Aruna. Er vertraute ihr und genehmigte sich nur deshalb diesen Schlaf, denn er wusste, dass sie ihn warnen würde, wenn Gefahr drohte.
Sie schätzte dieses Vertrauen sehr. Es beruhte auf Gegenseitigkeit, jeder beschützte jeden. Orlando passte auf sie auf und sie gab auf den Hengst Acht.
Aruna atmete tief durch. Grenzenloses Vertrauen zu seinem Pferd zu haben - konnte jeder Krieger, jeder Asfaloth dies von sich behaupten? Nein, denn sie fand, dass zu viele ihr Pferd nur als Fortbewegungsmittel und Kriegsmaschine sahen anstatt als treuen, ebenbürtigen Freund. Leider.
Die Sonne wanderte weiter und die Schatten der Felsen veränderten sich im Laufe der nächsten zwei Stunden. „Orlando?“, fragte sie und berührte sanft eines der pechschwarzen Ohren des Hengstes. Das Ohr zuckte, dann flatterten seine Augenlider. „Orlando“, wiederholte sie seinen Namen.
Der Rappe hob den Kopf und öffnete die Augen. „Mein Freund, die Zeit des Aufbruchs ist gekommen. Wir müssen weiter, um vor Einbruch der Nacht noch ein Nachtlager finden zu können.“ Aruna hatte keine Angst, nachts unter freiem Himmel schlafen zu müssen, doch sie wusste, dass das leichtsinnig war. Die unberechenbaren Sandstürme konnten in wenigen Minuten Menschen im Schlaf begraben und ersticken lassen.
Orlando spitzte die Ohren und Aruna stand auf. „Altair“, murmelte sie. Der Bussard riss die Augen auf und spreizte die Flügel. „Wir brechen auf, Altair.“ Der Vogel blickte umher und streckte sich.
Unterdessen war der Rapphengst aufgestanden und Aruna begann, ihn zu satteln und zu trensen. Dann kontrollierte sie noch einmal die Satteltaschen und den Gurt, bevor sie aufstieg.
Aruna schob den Handschuh in eine der Satteltaschen und sah zu, wie Altair sich in die Luft schwang. Sie nahm die Zügel auf und bereute erneut, dass sie so wichtige Dinge wie Karte und Kompass nicht mitgenommen hatte.
Sie hätte wirklich ein bisschen Orientierungshilfe gebrauchen können. Wo sollte sie bloß hin? Zu sagen, dass man von nun an ohne Heimat in der Welt herum streifen würde, war eine Sache, aber plötzlich ohne Ziel in der Wüste zu sein, eine ganz andere.
Vor ihr türmte sich ein kleiner Hügel auf. Aruna strich dem Hengst über die Schulter. „Wir werden schon Wasser finden, mein Freund“, murmelte sie beruhigend, doch sie wusste nicht, ob die Beruhigung dem Hengst oder ihr selbst galt. „Wir schaffen das schon, nicht wahr? Wir haben doch immer alles gemeinsam schaffen können...“
Plötzlich blieb Orlando stehen und spitze die Ohren. „Was hörst du, mein...“, fing sie an und brach abrupt ab. Ein Schrei hallte durch die Wüste. Dann metallische Klänge.
Aruna trieb den Hengst an und griff dann nach dem Schwert. Mit der anderen Hand zog sie rasch ihre Kapuze so tief wie möglich ins Gesicht, um von niemanden erkannt zu werden.
Hinter dem Hügel sah sie schließlich das, was sie vermutet hatte: Ein Bauer hieb mit seiner Mistgabel auf einen schwarz gekleideten Krieger ein, der ein sonderbares Zeichen auf seinem Mantel trug. Es zeigte eine Rune in blutigem Rot. Eine Rune, die eindeutig nicht zu den heiligen, königlichen Runen gehörte.
„Aber Euer Pferd gehört meinem Herrn. Mein Meister hat es verlangt!“, schrie der schwarze Krieger lauthals und hieb mit seinem Schwert weiter auf den armen Bauern ein, welcher versuchte, hinter seiner Mistgabel in Deckung zu gehen.
„Banjo ist der Sohn meiner Pferde! Er ist bei mir geboren und gehört mir schon sein gesamtes Leben lang!“, entgegnete der Bauer wütend. „Verschwindet sofort von meinem Land!“ Der schwarzgekleidete Krieger lachte jedoch nur.
„Orlando, wir greifen ein“, flüsterte Aruna, nachdem sie noch ein paar Sekunden dem Streit zugesehen hatte. Es war ihre Aufgabe als Vagabund, für Gerechtigkeit zu sorgen. Den Bauern zu verteidigen, sah die junge Frau als Ehre.
Sie hob ihr Schwert und der schwarze Hengst galoppierte augenblicklich an. „Lasst den Bauern in Ruhe, Fremder!“, schrie sie mit tiefer gestellter Stimme. Sie konnte es sich nicht leisten, an ihrer Stimme als Frau enttarnt zu werden.
„Er hat Euch nichts getan!“, rief sie wieder und schwang drohend ihr Schwert. Beide hielten mitten in der Bewegung inne und sahen sie überrascht an. Dann ließen sie die Waffen sinken.
Der Krieger fand zuerst seine Sprache wieder. „Wer wagt es, die Verhandlung zu stören?“, fauchte er böse und sein messerscharfer Blick peitschte ihr mitten ins Gesicht. Sie war unendlich froh, dass die Kapuze ihre Augen verdeckt hielt.
„Ich wage es“, sagte Aruna laut und hielt Orlando an. Sie legte so viel Selbstbewusstsein, Stolz und Kampfgeist in ihre Worte, dass es sie selbst schon erstaunte. Orlando hob stolz seinen Kopf und seine wellige, lange Mähne wehte im Wind.
Der Krieger funkelte sie böse an. Sie konnte seinen Blick sehen, wenn sie schielte. „Euer Name“, verlangte er. Stolz hob sie den Kopf und reckte das Kinn vor. Ihre Augen hätten ihn direkt angesehen, wenn sie nicht hinter der Kapuze versteckt gewesen wären.
„Verzeiht, Fremder, aber ich habe keinen Namen“, antwortete sie kalt. Der Bauer atmete hörbar aus. „Ein Vagabund!“, rief er erfreut und der Krieger schwieg für einen Augenblick.
„Vagabund, so hört mich an“, flehte der Bauer. „Er will meinen Banjo, mein letztes Pferd, nachdem meine beiden anderen mit hohem Alter verstorben sind. Aber er behauptet ständig, Banjo würde seinem Herrn gehören.“
„Wer ist Euer Herr, Fremder?“, fragte Aruna ebenso kalt wie zuvor und richtete das Schwert ihres Vaters auf den Krieger. „Nennt mir seinen Namen! Sofort!“
„Der Name meines Herrn ist geheim“, entgegnete der Krieger mit der blutroten Rune. „Aber glaubt mir, Vagabund, das Pferd gehört meinem Herrn. Der Bauer hat es gestohlen!“
„Ich habe überhaupt nichts gestohlen!“, widersprach der Bauer heftig. „Vagabund, der dort ist ein Lügner!“ Aruna fühlte sich wie ein Richter zwischen zwei Parteien. Sie wusste nicht, welcher Partei sie glauben sollte, doch als Vagabund musste sie das Recht sprechen.
„Der Bauer lügt!“, schrie der Krieger und hob das Schwert auf. Dann schwang er es drohend durch die Luft.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Maria Unbehaun alias Mia Monocerus
Bildmaterialien: Wüste: Siegbert Heinecke_pixelio.de http://www.pixelio.de/media/321111 --- Greifvogel: bagal_pixelio.de http://www.pixelio.de/media/595565 --- Pferd: Angelika Koch-Schmid_pixelio.de http://www.pixelio.de/media/616346 ----- Schnitt: Mia Monocerus
Cover: Mia Monocerus
Lektorat: Karsten Burkhardt
Tag der Veröffentlichung: 27.01.2014
ISBN: 978-3-7368-4404-9
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
für Sandra Birner