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Vorwort

Vier Wochen lang war Klaus Adam in Südtirol und hat in sieben verschiedenen Bibliotheken Podcast-Workshops veranstaltet. Zusammen mit Kindern hat er sich in den Bibliotheken in Seis, Völs, Kastelruth, Gais, Olang, Welsberg und Toblach Geschichten ausgedacht und eine ganze Reihe Audio- und Videopodcasts* produziert. Ausgangspunkt war das Märchen vom kleinen Däumling. Dabei ist aus dem alten Märchen der Brüder Grimm eine moderne Sciencefiction-Geschichte geworden, die im Weltraum spielt.

Alle, die an der Leseaktion und den Workshops von Klaus Adam teilgenommen haben, haben eine ganze Menge über Sprache und Literatur erfahren, und auch darüber, wie kleine Internet-Hörspiele und Webvideos entstehen und wie das dann im Internet veröffentlicht wird. Und natürlich haben auch alle Teilnehmer beim Podcasten nicht nur eine ordentliche Portion Medienkompetenz erworben, sondern auch jede Menge Spaß gehabt.

Die Zeichnungen und Fotocollagen der Kinder sind im Original farbig. Auf einfachen Lesegeräten mit einem schwarzweißen Bildschirm kann man sie "nur" schwarzweiß sehen.

*Die Audio- und Videopodcasts kann man sich auf der Internetseite www.kidspods.de oder bei iTunes anhören und anschauen.

Happy Birthday

Kenny Polanze schwebte wie ein riesiger Vogel durch die Luft. Sie hatte die Arme ausgebreitet und flog waagerecht ein paar Meter über einer Straße. Komischerweise wunderte sie sich kein bisschen, dass sie sich einfach mal eben so in die Luft erhoben hatte und nun diese Straße entlang segelte. »Was ist das für eine Straße«, dachte Kenny, »wo bin ich überhaupt?« Die Häuser, an denen sie vorbeiglitt, sahen äußerst merkwürdig aus, die quietschbunten Fassaden waren schief und krumm, die Fenster alle verschieden groß, manche eckig, manche rund und auf den flachen Dächern der Häuser wuchsen Gräser und Büsche und jede Menge bunt blühender Blumen. Kenny drehte eine elegante Rechtskurve über einem der Grasdächer und landete stolpernd neben einem schokoladebraunen Schornstein. Aus dem Schornstein kräuselten sich dünne, graublaue Rauchschwaden, die quirlig tänzelnd in den blassblauen Himmel stiegen und sich in nichts auflösten.
»Was war das?« Kenny Polanze schaute sich um und lauschte. Von irgendwo her hörte sie in vielstimmiges, feines Wimmern. Nein, es war nicht nur ein Wimmern, es war ein Wort, unzählige, piepsige Stimmchen riefen unablässig: »Mama! Mama! Mama!«. Kenny Polanze stockte der Atem.

»Kinder!«, schoss es ihr durch den Kopf, »das sind Kinder, die nach ihrer Mama rufen!« Ohne lange zu überlegen öffnete Kenny eine klapprige Dachluke und schlüpfte in das Haus. Sie landete auf einem stickigen Dachboden. Überall lag jede Menge staubiges Gerümpel herum, Teile von Stratoskopen, Bildschirme von Kommunikatoren, verrostete Trikorder, Platinen voller Mikroprozessoren, zersplitterte Dioden, ein von Marsmotten zerfressener Dehydrax-Anzug, zerbeulte leere Ghoholaladosen, eine große Kiste voll von vertrockneten Inkvitrinen und geschrumpften Hufupreben, ein meterhoher Stapel Prallboxen und schließlich, neben einer Metalltür, ein Dispensrelais.

»Genau so ein Ding hat doch Reggy gerade vor ein paar Tagen in seinem Bauminator installiert, damit er in Zukunft beim Aufheben der Schwerkraft möglichst wenig Energie zu verbraucht!« dachte Kenny verwundert, als sie das Dispensrelais entdeckte. Reggy war ihr Ehemann und seit einigen Wochen der stolze Besitzer eines nigelnagelneuen Bauminators (was ein Bauminator ist, erfährst du im nächsten Kapitel).

Vorsichtig setzte Kenny einen Fuß vor den anderen und ging zwischen dem verstaubten Gerümpel in Richtung Tür. Als sie die kleine Metalltür erreicht hatte, lauschte sie erneut. Wieder hörte sie die vielen hellen Stimmchen, die »Mama! Mama! Mama!« riefen. Kenny legte die Hand auf die Klinke und drückte sie herunter. Dann lehnte sie sich mit ihrer rechten Schulter gegen die Tür. Sie musste sich schon ein bisschen anstrengen, um die Tür mit einem kreischigen Quietschen einen Spalt breit zu öffnen. Die piepsigen Stimmen verstummten. Kenny steckte den Kopf durch den Spalt. Vor ihren Augen breitete sich ein riesiger Saal aus. In der Mitte des Saales stand ein Tisch. Und auf dem Tisch ein großer Topf. Kenny schob sich durch den Türspalt und breitete ihre Arme aus. Sofort hob sie ab und flog durch den Saal. Sie kurvte ein paarmal um den Tisch und fragte sich, was in dem Topf sein könnte. Vorsichtig landete sie neben dem Tisch. Sie fasste den Griff des Topfdeckels und hob ihn an. Vor Schreck ließ sie den Topfdeckel fallen und erstarrte. In dem Topf waren lauter Kinder, kleine nackte Kinder, alle waren so groß wie Kellys Daumen und hockten und standen und lagen auf- und nebeneinander in dem Topf und glotzten Kenny an, ohne sich zu bewegen. Doch dann wuselten sie mit einem Mal los. Sie krabbelten flink wie Mäuse aus dem Topf. Sie flitzen über die Tischplatte und sprangen hinüber zu Kenny und kletterten an ihr hoch. Dabei piepsten sie jammernd »Mama! Mama! Mama!«. Ein paar Sekunden lang stand Kenny ratlos da und wusste nicht, was sie machen sollte. Dann versuchte sie, die kleinen Kinder von sich abzuschütteln. Aber das gelang nicht. Die Klitzelinge klammerten sich an Kennys Klamotten und an ihre Haare und ließen nicht los. Der riesige Saal hatte sich inzwischen verwandelt, er war nur noch ein enges Zimmer mit schiefen Wänden, dafür hatte sich der Topf, aus dem immer mehr Winzlinge heraus krabbelten, um das Zehnfache vergrößert und war nun randvoll gefüllt mit rosarotem Bubbletee, aus dem die kleinen Kinder hervortauchten, aus dem Topf kletterten und mit ihren piepsigen Stimmchen »Mama! Mama! Mama!« schrien.
»Das gibt's ja wohl nicht«, wunderte sich Kenny, »die Kinder, die sehen ja alle gleich aus.« Alle hatten das gleiche Gesicht, ein Gesicht, das Kenny sehr gut kannte. Es war das Gesicht von Reggy, von ihrem Ehemann, mit dem sie seit mehr als zehn Jahren glücklich verheiratet war.

»Kenny, mein Schatz! Ich wünsch' dir alles Gute zum Geburtstag!«
»Das ist doch Reggys Stimme«, dachte Kenny und wunderte sich, wo seine Stimme auf einmal herkam. Außerdem klang die Stimme ganz merkwürdig, wie von ganz weit weg, wie aus einer anderen Welt...
Kenny schreckte auf und öffnete die Augen.
»Was..., wie..., eh... wo sind die vielen Kinder...«

Es dauerte ein paar Sekunden, bis ihr klar wurde, dass sie gerade aufgewacht war. Und dass das mit den klitzeligen Kindern ein Traum gewesen war, den sie gerade eben noch kurz vor dem Aufwachen geträumt hatte. Reggy, ihr Ehemann saß auf der Bettkannte und hielt ihr eine Tasse mit frisch gekochtem Bubbletee hin.

»Hier, mein Schatz! Vorsichtig, ist noch ein bisschen heiß.«
Reggy drückte seiner Frau, die sich inzwischen in dem Bett aufgerichtet hatte, die Teetasse in die Hand und beugte sich zu ihr hinüber. Schmatzend verpasste er ihr einen gutgelaunten, superfeuchten Geburtstagskuss auf die Wange.

Kenny seufzte, stellte den Becher mit dem Bubbletee neben dem Bett ab und legte sich wieder hin.

Während Reggy ihr begeistert aufzählte, was er zu Ehren des Geburtstagskindes organisiert hatte, angefangen von einem romantischen Spezial-Geburtstagsfrühstücks-Büfett in Frankies Spacebar, dem eine zweistündige DeLuxe-Wellness-Antifaltengesichtsbehandlung inklusive Haarwurzelrepairmassage, gefolgt von einem Intensivpeeling-Verwöhnpaket zur Vorbeugung von zellulitischer Apfelsinenhaut in Kennys Lieblingskosmetikstudio, bis hin zum Höhepunkt des Tages, einer superhyperextraklasse Action-Geburtstagsparty, zu der Reggy ein paar Verwandte und gute Freunde eingeladen hatte, versuchte Kenny sich an ihren Traum zu erinnern. Aber das Einzige, was davon in den Windungen ihres Gehirns hängen geblieben war, waren die kleinen Kinder in dem riesigen Topf. Kenny versuchte angestrengt, sich an weitere Einzelheiten von ihrem Traum zu erinnern. Als ihr Reggy allerdings begeistert von der Party vorschwärmte, ließ sie den Traum Traum sein und stöhnte seufzend. Eine Geburtstagsparty mit lauter supergut gelaunten Menschen zu feiern, war so ziemlich das Letzte, worauf sie Bock hatte. Allein schon mit der Tatsache, überhaupt Geburtstag zu haben, konnte Kenny eigentlich rein gar nichts anfangen. Und dann auch noch eine Party? Kenny schauderte. Geburtstag zu haben bedeutete, dass sie wieder ein Jahr älter geworden war. Und das fand sie einfach nur grausam.

Zugegeben, Kindern mag das etwas seltsam erscheinen, für Kinder ist das anders. Ein normales Kind kann es gar nicht abwarten, älter zu werden. Aber für große Menschen wie Kenny, die schon mehr als dreißig Jahre auf dem Buckel haben, ist "schon wieder ein Jahr älter werden" alles andere als ein erfreuliches Ereignis. Besonders an Geburtstagen haben solche großen, über dreißig Jahre alte Menschen nämlich häufig das Gefühl – übrigens sind es meistens Frauen –, dass ihnen die Zeit wegläuft. So drücken das jedenfalls große, über dreißigjährige Menschen aus, um damit zu sagen, dass die Zeit viel schneller als früher vergeht. Obwohl das natürlich nur ein Gefühl ist. In Wirklichkeit vergeht die Zeit immer gleichschnell. Eine Sekunde ist immer eine Sekunde lang, eine Minute immer eine Minute, eine Stunde immer eine Stunde und so weiter und so weiter. Dabei kann es schon mal passieren, dass es einem so vorkommt, als würde eine Minute eine Ewigkeit dauern, genauso wie anders herum eine Stunde manchmal wie im Flug vergeht. Und genau so ein Gefühl hatte Kenny Polanze seit ein paar Jahren besonders an ihren Geburtstagen. Das Gefühl, dass ihr die Zeit wie Sand zwischen den Fingern verrinnt und es schon bald zu spät sein würde. Zu spät für das, was sich Kenny Polanze wie nichts auf

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Klaus Adam
Bildmaterialien: Klaus Adam
Tag der Veröffentlichung: 06.04.2013
ISBN: 978-3-7309-1993-4

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