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Prolog

Eine einzelne Schneeflocke fällt sanft auf ihre Nasenspitze. Es ist die erste von vielen, die nun aus dem grauen Himmel schweben.
Umaha seufzt als sie sich ein letztes mal umdreht und auf ihre alte Heimat schaut. Die Stadt Imalda liegt zum größten Teil in Trümmern, riesige Rauchsäulen türmen sich über ihr auf. Anaxagoras Heer hat die Stadt nach wochenlanger Belagerung vollständig eingenommen.
Nur wenige konnten vor seinen Schergen flüchten. Sie war die einzige, die aus dem Schloss der Königsfamilie von Marna entkommen konnte. Man hatte sie nicht großartig beachtet, sie, eine einfache Dienstmagd, und doch würde sie den letzten Thronfolger ins Leben setzen.

Die kleine Gruppe von Flüchtlingen setzt sich weiter zum Wald in Bewegung. Ihr Bruder, der in Imalda eine kleine Bäckerei hatte, hilft ihr auf seinen Esel, obwohl sie es auch trotz ihres runden Bauches allein bis in die Hügel hinter Imalda geschafft hatte. „Finn! Hör auf mich so zu bevormunden. Ich kann immer noch einen Esel reiten, auch wenn ich wie ein Ball aussehe.“ Betreten schaut Finn auf den Boden. Bei dieser Bewegung fallen dem hageren Becker die blonden Locken ins Gesicht und er streicht sie verärgert zurück. Kaum zu glauben, dass ich zwei Jahre jünger als er bin , denkt sie und nimmt die Zügel auf.


*


Es ist der fünfte Tag ihrer ziellosen Flucht, die bisher ohne Zwischenfälle abgelaufen ist. Der Schneesturm, der die Flüchtlinge seit Beginn ihrer Flucht unsägliche Qualen bereitet hat, hat sich gelegt und zum ersten Mal spürt Umaha wieder Hoffnung in sich aufkommen. Sie sieht sich um und erkennt rechts und links des schmalen Pfades die dicken Stämme der Elaobäume, die typisch für diesen Teil des Raunenwaldes. Sie lächelt Finn an, der zaghaft zurücklächelt. Da gellt der Todesschrei eines Mannes durch den Wald. Es ist die Stimme von Thorwald, dem stämmigen Holzfäller, der der kleinen Truppe als Führer dient und kurz darauf hört Umaha seinen Sohn schreien: „ Sie haben uns gefunden! Katzenwölfe! Lauft um euer ...“
Da bricht sein Warnruf abrupt ab und gleichzeitig hört man das heulen der Katzenwölfe. Es bricht ein Chaos im Zug der Flüchtlinge aus und alle rennen vom Pfad in den Wald. „Los lauf!“ schreit Finn Umaha an und schlägt dem Esel auf sein Hinterteil und das ohnehin schon durch das Geheul unruhige Tier rennt in den Wald, mit Umaha auf dem Rücken.

Nur noch gedämpft hört sie jetzt das verzweifelte Schreien der letzten Überlebenden von Imalda.
Anaxagoras muss sich vor irgendjemanden in Imalda sehr gefürchtet haben wenn er einen solchen Aufwand betreibt um die wenigen Flüchtlinge zu töten, denkt sie als sie auf dem Esel durch den verschneiten Wald reitet.
Ganz in ihre Gedanken versunken bemerkt sie nicht den tiefhängenden Ast, auf den der Esel zuhält.
Auf einmal verspürt sie einen harten Schlag gegen die Brust, der ihr den Atem raubt. Oh Finn, es tut mir leid! Verfluchter Ast denkt sie und dann wird es schwarz um sie.


Mit schmerzender Brust und dröhnendem Kopf erwacht sie aus ihrer Ohnmacht. Langsam öffnet sie ihre Augen, schließt sie aber sofort wieder.
Vor ihr kauert ein Katzenwolf. Er scheint aus ihrer Hölle der Ängste entsprungen zu sein.
Seine wölfische Schnauze mit den hochgezogenen Leftzen geben den Blick auf seine mörderisch aussehenden, spitzen und wie zum töten geschaffenen Zähne frei. Die Schnauze geht in die dunkellila Augen einer Katze über, mit denen der Katzenwolf auch in schwärzester Nacht seine Beute ausmachen kann. Körper und Krallen wirken wie die einer großen Katze, selbst die Pfoten. Auch der Kopf hat bis auf die Schnauze und die Ohren, mit denen das Tier jedes noch so kleine Geräusch bemerkt, die typische Katzenform. Der Schwanz ähnelt der verlängerten Rute eines Wolfes, mit dem die grausame Bestie auch auf Bäumen das Gleichgewicht nicht verliert. Und doch kann er sehr schnell und so ausdauernd rennen wie es ein Wolf mit der Größe eines Tigers eben kann. Sein Fell hat die Farbe von schwarzem Samt unter dem sich die enormen Muskelstränge abheben, nur unterbrochen von Flecken in der Farbe mondbeschienenen Steines.
Dieser nahezu perfekte Jäger der Nacht steht nun vor ihr, ihr Herz setzt einen Moment aus, was ein Zucken seines linken Ohres verursacht, um dann schneller zu schlagen als die Flügel eines Kolibris.
Ohne jede Hoffnung im Herzen und in Erwartung des sicheren Todes sieht sie, wie sich die Muskeln des Katzenwolfs zum Sprung anspannen. In diesem Moment spürt sie voller Entsetzen, wie ihre Fruchtblase platzt. Da springt die Bestie mit weit aufgerissenem Maul auf Umaha zu, doch sie hat nur einen Gedanken: Mein Kind!


Volleyballturnier


„Neil? ... Hey Neil wach auf!“
Langsam öffnete er die Augen. Über ihm stand sein Zimmergenosse und bester Freund hier im Internat Keltensteig. „Mensch Marco, was issn’ los?“
„Wir kommen zu spät zum Volleyballturnier und dann bringt uns Herr Jakobsen um.“
Anders Jakobsen, ihr dänischer Volleyballtrainer im Internat Keltensteig und als sehr cholerisch bekannt, hatte ein Sonntagsvolleyballturnier organisiert, an dem das ganze Internat teilnehmen sollte.
Der 17-jährige Neil Ingatan, dessen Eltern bei einer Geißelnahme in einer Bank umgebracht wurden, hatte bei seinem politisch sehr aktiven Großonkel gewohnt, seinem einzigem noch lebenden Verwandten, der aber aufgrund seiner Tätigkeiten keine Zeit für ihn hatte. Sein Großonkel, Manfred Hage-Beil, war um seine Erziehung besorgt und hatte Neil in dem renommierten Jungeninternat namens Keltensteig angemeldet.
Dort hatte sich Neil schnell eingelebt und sich mit seinem Zimmergenossen Marco Ohlemacher angefreundet. Er war etwa 1,90 m groß und hatte schwarzes, volles Haar und dunkelgrüne Augen, die manchmal einen merkwürdigen Blick an sich hatten, der es den Menschen unmöglich machte ihn länger anzusehen. Trotz seiner Größe wirkte er nicht schlaksig, war aber auch nicht dick.

Inzwischen hatte Neil seine Sportklamotten angezogen, die Zähne geputzt und war in seine Sportschuhe geschlüpft. Er war seltsam still heute morgen.
Dumpf erinnerte er sich an einen Traum, in dem eine schwangere Frau vorgekommen war. Aber es kam ihm nicht wie ein Traum vor, denn er konnte alles genau von oben betrachten und war sich sogar bewusst, dass es eine Art von Traum war, was ihm in seinen bisherigen Träumen nie passiert war.
Geistesabwesend fasste er unter sein altes T-Shirt an den Stein, den ihm sein Großvater nach dessen Tod vermacht hatte. Es war ein seltsamer Stein, er fühlte sich immer so warm an wie sein eigener Körper und es schien immer ein schwaches, bläuliches Leuchten von ihm auszugehen.

Gerade noch rechtzeitig kamen sie in der Sporthalle an. „Wo wart ihr denn?!“ rief Gabriel, einer ihrer beiden Volleyballteampartner.
Gabriel war manchmal etwas seltsam, um nicht zu sagen zimperlich und mädchenhaft, obwohl er körperlich den anderen viel voraus zu haben schien aufgrund seines starken Bartwuchses. Die meisten nannten ihn spöttisch Gabby. Der vierte und letzte in unserem Team war Waldemar. Er kam aus einer neureichen Familie wie man so sagt, die kürzlich in der Lotterie gewonnen hatte. Er glaubte er wäre der „Größte“ und war richtig großkotzig, aber im Grunde ganz in Ordnung.
„Neil hat mal wieder verschlafen“, rief Marco. „Na und, ich schnarche ja auch nicht die ganze Nacht durch und halte meine Zimmergenossen vom schlafen ab.“
„Los, hört auf zu tratschen und geht auf euer Spielfeld!“ tönte es von Herrn Jakobsen herüber. Der hellblonde Marco, etwa so groß wie Neil, der etwas kleinere Waldemar, der oft einfach nur Mar genannt wurde, mit seinen flachsfarbenen Haaren und der noch kleinere, braunhaarige Gabriel liefen mit Neil auf das Spielfeld und stellten sich auf ihre Positionen.
Herr Jakobsen blies in die Pfeife und das Spiel begann. Die Gegner waren alle ein Jahr älter als Neils Gruppe und alles in allem war es eine schreckliche Niederlage. Doch es gab einen Triumphmoment als Marco einen Ball über das Netz schoss, obwohl es aussichtslos erschien und der Ball dann auf der gegnerischen Seite auf dem Boden landete, da sich die Anderen ihres Punktes zu sicher gewesen waren. Doch von da an wurde das gegnerische Team richtig fies. Der Aufschlag war immer auf Gabriel gezielt, der sich immer ängstlich wegduckte. Als dann ein einziges Mal der Ball auf Neil zugeflogen kam, rannte Mar auf ihn zu, schubste ihn weg und schlug den Ball auch noch ins Aus.
Am Abend gingen alle vier zerknirscht ins Bett, nach der ersten Niederlage waren weitere gefolgt und am Ende waren sie das einzige Team ohne einen Sieg.


Am nächsten Morgen beim Frühstück war die schlechte Laune von gestern zum Glück wieder vergessen und Neil machte sich schon vorzeitig zum Unterrichtszimmer im Westflügel des alten Gebäudes auf, um dem Spott seiner Mitschüler zu entgehen. Der Unterricht war in 8 Blocks aufgeteilt, ein Block entsprach 90 Minuten. Montags fand im ersten Block Geschichte statt, dann Deutsch, Spanisch und zum Schluss Religion. Bis auf die Geschichtsstunde waren die Montage Neils liebste Wochentage, da er sich mit Sprachen ausgesprochen leicht tat. Sein Großonkel sprach immer von einer besonderen Begabung.
Er verbrachte den Geschichtsunterricht wie immer mit Tagträumen, in denen er sich oft vorstellte wie sein Leben verlaufen würde, wenn seine Eltern nicht gestorben wären. Nach solchen Stunden war Neil immer ausgesprochen schlecht gelaunt und wollte einfach nur noch in Ruhe gelassen werden.
Im Laufe der Deutschstunde besserte sich seine Laune wieder und nach dem Spanischunterricht war er wieder in bester Stimmung. Zum Mittagessen gab es sein Lieblingsessen Lasagne, auf die sich der gut gebaute Marco mit Genuss stürzte.
In Religion bekamen die Klasse die Arbeit zurück, in der alle gute Noten bekamen. Als die Schulglocke läutete, atmete Neil auf. Endlich konnte er tun, wozu er Lust hatte.
Er hatte 3 Hobbys, denen er 1mal in der Woche nachgehen konnte. Montags hatte er Fechten, wo er gar nicht schlecht war, dienstags Aikido, da er sich für Kampfkunst interessierte und am Freitag hatte er immer Bogenschießen, worauf er sich besonders freute.
Nach dem Fechtunterricht ging er auf sein Zimmer und lernte für die Mathematikarbeit am Mittwoch.


Kapitel 2


Der nächste Tag begann mit zwei Blöcken Englisch und einem Block Naturwissenschaften. Naturwissenschaften war Neils schlechtestes Fach, er verstand einfach nicht, was ihm der Lehrer, Manfred Mere-Ond, mit den ganzen Formeln zu sagen versuchte.
Nachdem die Klasse 180 Minuten lang englische Geschäftsbriefe geschrieben hatte, begab man sich gemächlich in den Keller, in dem das Fach Naturwissenschaften unterrichtet wurde.

Herr Mere-Ond schrieb gerade eine seiner Formeln an die Tafel und Neil schrieb sie gewissenhaft ab, da er in der nächsten Klassenarbeit nicht schon wieder die schlechteste Note haben wollte, als eine Papierkugel an den Hinterkopf des Lehrers geworfen wurde. Dieser drehte sich mit einem so verdutzten Gesichtsausdruck um, dass Neil sich nicht mehr beherrschen konnte und lachte lauthals los. „Neil Ingatan! Du bleibst nach der Stunde hier!“
„Aber Herr Mere-Ond, er war das nicht.“, sagte Marco, bevor Neil es verhindern konnte. „So, so, dann bleibst du auch hier.“, sagte der Lehrer für Naturwissenschaften und schrieb den Rest der Formel an die Tafel.

Nach dem Läuten blieben Neil und Marco im Klassenzimmer zurück. „Ihr denkt wohl, einen Lehrer kann man einfach so auf den Arm nehmen! Wir sind auch Menschen und haben auch Gefühle!“ Die letzten drei Wörter schrie Herr Mere-Ond heraus. Da sahen sich die beiden Freunde an und prusteten los. Der Lehrer schrie sie an aber sie konnten nur noch lachen.

Auf einmal war der Lehrer still und lächelte sie unheilvoll an: „Ihr werdet schon noch sehen was ihr davon habt. In den nächsten zwei Wochen dürft ihr bei mir Zimmermädchen spielen. „Aber Herr Mere-Ond das können sie doch nicht machen“, begehrte Marco auf.
„Oh, drei Wochen.“
„Sei still Marco, sonst müssen wir bald das ganze Schuljahr seinen Raum putzen,“ flüsterte Neil.

Am nächsten Tag fanden sich Neil und Marco kurz nach dem Abendessen am Lehrerzimmer ein um von dort aus mit Herrn Mere-Ond zu dessen Zimmer zu gehen. Die beiden machten einen sehr bedrückten und geknickten Eindruck, was den grausamen, dicklichen Lehrer mit Halbglatze zu freuen schien.
„Na dann kommt mal mit, Jungs.“
Wiederwillig folgten die beiden Freunde dem Lehrer, der sich mit vergnügbeschwingten Gang aufmachte.
„Ihr habt da einen Fleck auf dem Boden vergessen! Neil! Mach ihn weg.“
Mürrisch machte Neil sich zu dem Fleck auf. Seit geschlagenen zwei Stunden putzten sie nun schon in dem dunklen, geräumigen Raum, der aussah als hätte er seit mehreren Dekaden keinen Staubwedel mehr gesehen. Auf seinem Weg streifte Neil einen seltsam anmutenden Apparat, der daraufhin um ein Haar umgefallen wäre.
„Pass doch auf meinen Laser auf, Dummkopf! Du hast ja keine Ahnung wie lange ich daran schon arbeite!“
„’Tschuldigung, war keine Absicht“, nuschelte Neil und kniete sich vor dem Laser nieder um einen Fleck zu entfernen, der wie eine Mischung aus Erbrochenem und anderen unsäglichen Dingen roch.
Dann ein Klappern, gefolgt von dem Geräusch von überschwappendem Putzwasser.
Da gellte ein zweiter Schrei durch das Zimmer. Doch diesmal war er nicht empört, sondern überrascht und ängstlich. Plötzlich erfüllte ein seltsames Leuchten den finsteren Raum, gefolgt von einem unheilvollen Summen. Erschrocken drehte sich Neil um und blickte in die angsterfüllten Augen von Herrn Mere-Ond und Marco, kurz darauf in die Mündung des Lasers, der sich aktiviert hatte, als das Wasser aus Marcos Eimer, welchen dieser versehentlich umgestoßen hatte, ein defektes Kabel erreichte.
Neil atmete entsetzt aus, als der todbringende Strahl sich von der Maschine löste und auf ihn zuflog. Alles lief wie in Zeitlupe vor seinen Augen ab. Kurz bevor der Strahl ihn treffen konnte, blitzte der Stein seines Großvaters auf.

Dann grelles Licht! Hitze! Schmerzen!
Ist das das Ende? Ist das Alles?! denkt Neil, dann umfängt ihn Dunkelheit.


Kapitel 3


Keuchend schlägt sie die Augen auf. Was für ein seltsamer Ort ist das gewesen? fragt sie sich. Noch immer schnell atmend steht sie auf.
„Oh Gaëlle! Du nutzloses Menschenkind, weck mich noch einmal auf und ich schlage dir eigenhändig den Kopf ab!“
Sie duckt sich verschreckt, als sie die raue Stimme ihres Vaters vernimmt. In ihrem Traum erschien ihr erst eine schwangere Frau in einem verschneiten Wald, dann wechselte das Bild zu einem finsteren Ort mit einem Mann und zwei Jünglingen, die, gekleidet in wundersame Hosen und Hemden, um ein bizarres Gebilde herumstanden und es entsetzt anschauten.

Sie öffnet den Eingang ihres Zeltes, der aus einer, auf einen Rahmen gespannten, Wildschweinhaut besteht. Fröstelnd klopft sie ihre Klamotten aus, in denen sie geschlafen hat und auch so immer trägt. Hier oben in den nördlichen Wäldern hält sich der Winter lange, so dass auch im Spätfrühling noch nachts Frost die Tannen und Birken überzieht.
Langsam geht sie zum Bach, an dessen Rändern Eis zeigt, dass man davon besser die Finger lässt, doch ihr bleibt keine Wahl, da sie nicht durch Prügel oder Hunger sterben will. Sie muss als einzige Tochter der Rotwildfamilie für ihr Essen arbeiten, und das, obwohl ihr Vater das Oberhaupt dieses Zweiges des Clans der Cervida ist. So fängt sie mit zitternden Fingern an, die Klamotten der gesamten Familie zu waschen.
Ihr Clan gehört den Chimren an, Mischwesen, die aus verschiedenen Spezies zu einer verschmolzen sind. Der hierarchische Clan der Cervida ist ein grausamer Teil der Landchimren und besteht aus mit Hirschen verschmolzenen Wesen die von der Jagd leben. Sie kommen so gut wie nie aus ihren Wäldern, wo sie in ihren Schreinen den Blutgott Cervidan anbeten.
Dieser Clan ist sehr Stolz auf seine Verbindung mit dem Hirsch, in dessen Gestalt auch Cervidan auftritt, genauer gesagt er trägt ein Geweih auf seinem Haupt und hat den Unterkörper eines Hirsches.
So kommt es, dass die gesamte Hierarchie auf der anatomischen Ähnlichkeit mit dem Hirsch aufgebaut ist.
Darin liegt auch der Grund, weshalb Gaëlle so hart um ihr Leben kämpfen muss. Sie weist körperlich keine Ähnlichkeit mit einem Hirsch auf, sondern sieht wie ein Mensch aus, auch wenn sie eben so schnell laufen und hoch springen, hören und riechen kann wie die anderen Söhne und Töchter des schrecklichen Hirschgottes.

„Verdammt kalt, das Wasser, was?“ Gaëlle zuckt zusammen. Xerike, ihre Großmutter und mächtige Schamanin des Rotwildstammes hatte sich ihr unbemerkt von hinten genähert. Die alte Frau mit dem Kopf einer Hirschkuh war immer nett zu ihr gewesen.
„Xerike! Wie schaffst du es, dich immer so anzuschleichen? Und das in deinem Alter.“
„Was heißt hier Alter?“, empört sich die Schamanin und ihre Augen, die so anders sind als die der normalen Cerviden, welche ausnahmslos braune Augen haben, blitzen auf.
Sie wurde mit Augen in der Farbe von Gletschereis geboren, und diese beunruhigenden, hellblaugrauen Augen blicken Gaëlle nun vorwurfsvoll an.
„Ich bin gerade erst 107 geworden! Calathea die Fromme hatte mindestens 100 Jahre mehr auf ihrem krummen Buckel als ich, als sie sich für den endlosen Wald entschloss!“, belehrt die Schamanin ihre junge Enkelin energisch, die bisher kein sehr schönes Leben hatte.
„Und doch bin ich mir nicht sicher, wie lange ich noch verweilen werde. Diese Welt ist im Wandel, zum Guten oder zum Schlechten, das vermag ich nicht zu sagen. Und doch hatte ich eine Vision. Ich soll eine Schülerin suchen, die dem Schicksal Einhalt gebieten wird, schön wie der Untergang der Sonne wird sie genannt werden, ihre Liebe wird wie das Leben des Phönixes vorangehen. Groß und Traurig wird ihr Schicksal sein.“ Bei ihren letzten Worten bekam ihre Stimme einen seltsam düsteren Klang und die gesamte Umgebung schien auf einmal merkwürdig still und dunkel. Gaëlle fröstelt es schon wieder, aber dieses mal nicht vor Kälte.
Da hellt sich Xerikes Gesicht schlagartig wieder auf und sie sagt: „Gaëlle, Schätzchen, es tut mir leid. Ich wollte dich nicht erschrecken. Versprich mir nur eins. Wenn in nächster Zeit eine Versammlung der Stämme stattfindet, dann lass nichts unversucht, um dorthin zu gelangen, hast du gehört?“
Mit diesen Worten entfernt sie sich und lässt das frierende und nun auch nachdenkliche Mädchen am Bach zurück.


*


Es ist eine Woche später. Ein Stammestreffen wurde einberufen und alle waren mit den Vorbereitungen beschäftigt gewesen, so sehr, dass nicht mal ihr Vater die Zeit gefunden hatte, sie zu drangsalieren. Die Männer gingen auf die Jagd, die Frauen webten neue Teppiche, gerbten Tierfelle und hatten auch die alten Sitzgelegenheiten gesäubert. Nach und nach waren immer mehr Familienoberhäupter mit ihren Töchtern angekommen, denn jeder wollte einen Lehrling der großen Xerike in der Familie haben.
Gaëlle kann die arroganten Töchter der anderen Oberhäupter nicht leiden. Sie behandeln sie wie eine Sklavin, eine niedere Dienstmagd, nicht mehr als Schmutz an ihren Füßen.
Die Tochter der Elchfamilie, eine sehr kräftig gebaute Dame mit dem Körper und Kopf einer Elchkuh kombiniert mit dem Oberkörper einer sehr männlichen Frau, ist am grausamsten zu ihr. Sie versetzt ihr immer wieder Tritte mit ihren großen Hufen, wenn Gaëlle sie nicht schnell genug bedienen kann.

Nun ist der große Tag endlich gekommen. Heute wird bei Einbruch der Nacht die Schülerin der großen Xerike bestimmt werden.
Es wird langsam dunkel und die Anwesenden begeben sich langsam in das gewaltige Versammlungszelt, das in der Mitte des Lagers aufgebaut ist und normalerweise als Aufenthaltsraum der Frauen genutzt wird.
Gaëlle will auch eintreten, doch ihr Vater tritt ihr in den Weg.
„Wo willst den du hin? Geh das Essen vorbereiten! Los, beeil dich!“
„Aber Vater, Großmutter hat gesagt ich muss dort hinein!“, begehrt sie verzweifelt auf.
„Du wagst es mir zu wiedersprechen?! Du schmutziges Menschlein! Ich werde dir Gehorsam einbläuen!“, und mit diesen Worten ohrfeigt Ephalu, Stammesführer des Rotwildstammes, seine Tochter, dass diese stürzt, packt sie und schleift sie zu einem Pfahl, an dem sonst die Hunde angekettet sind und legt ihr eine Kette um den Hals. Dann entfernt er sich und lässt das weinende Häufchen Elend am Boden liegend zurück.
Wut, Ohnmacht und Zorn auf ihren Vater, sich selbst, das Schicksal, schütteln Gaëlle und treiben ihr die Tränen in die Augen.
Nie wieder will ich so schwach sein und mich nicht selbst wehren können, schwört sie sich im rasenden Zorn und ritzt sich mit ihren Fingernägeln eine Ader an ihrem Arm auf, um ihrem Gott mit ihrem eigenen Blut zu zeigen, dass sie es ernst mit diesem Schwur meint.
„Schätzchen, was machst du denn da?“
Xerikes Stimme. Fantasiert sie schon vor Zorn? Nein. Jetzt hört sie Schritte.
„Oh Kleines was ist denn los, warum weinst du?“
„Vater hat mich hier angekettet und nun kann ich nicht am Wettbewerb teilnehmen und deine Schülerin werden.“, schluchzt sie unter Tränen.
„Aber was hält dich denn? Ich sehe keine Ketten. Gib die Hoffnung und den Glauben nie auf, denn sie sind deine höchsten Güter, doch bewahre auch den Zorn und den Hass, denn, besonnen eingesetzt, können sie starke Waffen sein.“, sagt die alte Frau, die nun einen Zeremonienumhang aus Blättern und Tierhäuten trägt, mütterlich zu ihr.
Verwundert schaut Gaëlle sich um. Die eisernen Ketten sind verschwunden, statt dessen hängt eine Blumenkette an ihrem Körper herab.
„Hier nimm diesen Kapuzenmantel und misch dich unauffällig unter die anderen Bewerberinnen. Wenn die Magie in dir schlummert, wirst du erwählt werden.“

In einen grauen und viel zu großen Kapuzenumhang gehüllt und mit neuem Mut geht Gaëlle zu der Gruppe der anderen Mädchen und stellt sich zu zweien, die sie nicht kennen. Auf diesem Weg gelangt sie unerkannt ins Innere des Zeltes, das bis auf den Letzten Platz gefüllt ist.

Sie rümpft die Nase. Hier treffen Ausdünstungen von verschiedener Herkunft aufeinander. Schwitzende Tierleiber drängen sich aneinander, Kleinkinder schreien. In der Mitte ist ein freier Kreis, in dessen Zentrum ein großes Feuer brennt und die beinahe unerträgliche Hitze noch weiter steigert.
Die Bewerberinnen stellen sich um das Feuer herum auf. Als der Kreis geschlossen ist, erschallt ein ohrenbetäubender Donner und aus den nun blauen Flammen erhebt sich, in dichten Rauch gehüllt, Xerike.

Auf einen Schlag ist das gesamte Zelt verstummt, nicht einmal die Kleinsten machen noch Geräusche.
„Ihr Stämme der Cervida, hört und schaut, denn heute wird eine neue Seele der Welt der Geister geweiht. Diese Mädchen werden heute auf ihre magischen Begabungen getestet werden.“, die Stimme der Schamanin ist auf unheimliche Art verzerrt, sie hört sich an als sprächen zwei Personen gleichzeitig. Gaëlle schaudert es einen Moment, sie spürt die Macht, welche die Schamanin ausstrahlt wie ein elektrisches Feld, das ihr die Haare zu Berge stehen lässt.
„Bewerberinnen, reckt die Arme empor!“, sagt Xerike mit gebieterischer Stimme.
Sie stößt kraftvoll eine Silbe aus und im selben Augenblick geht eine Druckwelle von der Feuerstelle aus, in der sich die alte Frau immer noch befindet. Dabei rutscht Gaëlle die Kapuze vom Kopf und der zornige Aufschrei ihres Vaters schallt durch das Zelt.
Doch sie schenkt ihm kein Gehör, ist ganz und gar gefesselt von dem Geschehnis das gerade vor ihren Augen abläuft.
„Geister, sucht die Begabten, WÄHLT!“
Das letzte Wort schreit sie und wirft gleichzeitig ein Kraut ins Feuer, worauf sich sogleich Schlangen aus blauem Rauch bilden, sich elegant und voll Grazie durch die Luft schlängeln und um die Bewerberinnen herumgleiten.

Auf einmal werden die Schlangen, die Gaëlle als Kobras beschrieben hätte, schneller und schneller, bis sie nur noch als ein blauer Ring um den Kreis der Mädchen zu erkennen sind. Gleichzeitig schwillt ein seltsames Rauschen an. Plötzlich bricht eine der beiden Rauchschlangen aus dem Reigen aus, kurz gefolgt von der zweiten. Sie bäumen sich in der Mitte des Versammlungszeltes auf und stürzen sich hinab auf die Anwärterrinnen. Einige der Mädchen aus den Stämmen des Cervidenclans kreischen ängstlich, doch Gaëlle ist ganz ruhig.
Dann wird sie von einer der Schlangen verschlungen.
Das Letzte, das sie sieht, ist das Gesicht Xerikes, welches zwischen dem Ausdruck von Freude und Trauer hin und her schwenkt. Dann wird es Dunkel und sie spürt nichts mehr.


Kapitel 4

Schmerzen.
Er fühlte sich als ob sein Körper in Flammen stand.
Was war passiert?
Er konnte sich nicht erinnern.
Die Qualen beherrschten sein Denken. Wäre er in der Lage gewesen zu schreien, hätte er geschrieen. Doch der Körper wollte den Befehlen, die er ihm gab, nicht gehorchen.
Oder konnte er nicht?
Es war, als ob er in seinem Kopf eingesperrt war, unfähig, etwas anderes wahrzunehmen als seine Schmerzen.
Verzweifelt versuchte er, aus seinem Gefängnis zu entkommen, aber die Qualen waren zu groß.
Doch da, was war das?
Etwas neues, das er nicht kannte. Ein neuer Teil des Körpers, seines Körpers, den er noch nicht entdeckt hatte, aber schon immer da gewesen war. Er fühlte, dass er ihm Befehle erteilen konnte, so wie seiner Hand, etwas zu greifen.

Sein erster Befehl war: Lass die Schmerzen aufhören!
Und die Schmerzen ließen nach, langsam, immer mehr, bis er klar denken konnte. Er spürte die Verbrennungen immer noch am ganzen Körper, denn Verbrennungen waren es, wie er jetzt fühlte, aber die Qualen, welche sie ihm bereiteten verhinderten nicht mehr sein Denken.
Dann befahl er: Heil mich!
Und die Heilung begann.


*


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 20.11.2009

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