Mira
Im Burghof waren die Temperaturen noch halbwegs erträglich. Dennoch flimmerte die Luft. Statt Kühlung brachte der ständige Südwestwind nur immer neuen Sand und feinen Staub aus den ausgedörrten Böden der Umgebung. Der Regen fehlte. Viel zu lange hielt die Trockenzeit schon an.
Fruchtbare Äcker verwandelten sich in steinharte spröde und rissige Wüsteneien. Menschen mussten hilflos zusehen, wie das angebaute Getreide vertrocknete und das Vieh auf den Weiden hungerte. Der Fluss, sonst wild und gefährlich, verwandelte sich zu einer träge dahin kriechenden Brühe, gelbbraun und brackig wie der kleine Tümpel am Rand des Dorfes.
In den Ödlanden waren heiße und trockene Sommer nicht ungewöhnlich, doch dieses Jahr war besonders schlimm.
Mira fegte sorgfältig über den Steinboden des Innenhofes. Der allgegenwärtige Staub kämpfte beharrlich um die Vorherrschaft. Ihr Gesicht, ihre Haare und ihre Kleidung trugen bereits sein Zeichen. Der Wasserkrug war schon lange leer. Sehnsüchtig schaute sie zum Brunnen. Sie waren hier die Einzigen, die dank des tiefen Brunnens noch über klares, kühles Wasser verfügten.
Missmutig betrachtete sie die bereits erledigte Arbeit. Ständig wehte neuer Sand heran.Der Meister würde sie heute besonders akribisch kontrollieren. Er tat es immer, doch in den letzen Tagen war er gereizt und ständig bemüht Fehler zu finden. Nichts konnte sie ihm recht machen.
Sie sehnte sich zurück, nach Hause. In ihrer Heimat am Meer waren die Sommer erträglich und die Winter mild. Hier war es entweder zu heiß oder zu kalt.
Vor drei Jahren, kurz nach ihrem neunten Geburtstag, kamen die Ödländer.
Zehn Kinder wurden damals verschleppt. Sie erinnerte sich mit Grauen an die Entführung, die endlose unbequeme Fahrt in den verdreckten Karren, die rauen kehligen Schreie der Entführer, die Marktplätze und dass sie immer weniger wurden. Sie war die Letzte, zu klein um eine ordentliche Arbeiterin abzugeben.
Das Schrecklichste, was sich ihr damals ins Gedächtnis brannte, waren jedoch nicht die grobe Behandlung, die Schläge, die Angst, sondern die Worte eines Leidensgenossen. Er gab nicht den Ödländern die Schuld an ihrem Schicksal, sondern den Eltern. Den Eltern und den Dorfältesten.
Sie waren nicht willkürlich entführt worden. Alle zehn Jahre holten die Ödländer Kinder. Früher mit Gewalt, es gab Tote, Hütten brannten, Menschen starben. Doch dann schloss der Rat der Fischer ein geheimes Bündnis. Zehn gesunde Kinder von neun bis vierzehn, Zehn Pferde, zehn Schweine, abholbereit auf einem Feld. Die anderen glaubten ihm nicht. Wollten es nicht glauben.
Mira jedoch kam ins Grübeln.
Darum sollte sie damals zum Grasschneiden. Warum hatten die Eltern nichts gesagt? Sie versuchte seitdem ständig die letzten Tage in ihr Gedächtnis zu rufen. Das gemeinsame Essen am Abend. Ihre kleinen Geschwister und ihr älterer Bruder, der als einziger nichts essen wollte. Der am nächsten Morgen verschwunden war. Die Aufregung und Suche der Mutter und dann kam schon ihr Onkel, um Hilfe für die Grasernte auf dem Ried zu holen. Der letzte Blick auf ihr Zuhause.
Als die Männer mit den Stricken kamen, gegen Mittag, waren die Kinder allein.
Die stickige Enge auf dem Karren, die Hoffnung auf Befreiung. Die Enttäuschung, als ihnen bewusst wurde, dass niemand kommen würde.
Für ein paar Flaschen Wein, wenige Münzen und einige Beutel Kräuter wechselte sie damals in Gerons Besitz.
Die erste Zeit war unerträglich gewesen, sie verstand die kehlige Sprache nicht und wusste nicht was man von ihr erwartete. Später wurde es etwas besser, sie lernte schnell und sie wusste, wie sie sich am besten unsichtbar machte. Doch auch wenn sie geschickt war, reichte es nie, ihn zufriedenzustellen. Er fand oft genug Gründe sie zu quälen.
Traurig schaute sie in den Himmel. Wie gut hatten es die Vögel, sie waren frei, konnten fliegen wohin sie wollten. Plötzlich sah sie etwas am Brunnen. Der Staub schien Gestalt anzunehmen. Fast schien es, als würde die Erde Gestalt annehmen. Sie glaubte nicht an die Staubdämonen der Ödländer, doch was wenn an diesen Geschichten etwas Wahres wäre? Beunruhigt schlich sie sich näher und entdeckte eine kleine Schlange am unteren Brunnenrand. Es gab einige hier auf der Burg, doch die meisten waren harmlos.
Die gelb braune Musterung verriet diese jedoch als Sandnatter. Die Haushälterin hatte sie vor deren Gift gewarnt. Mira hielt ihr die Hand hin. Die Schlange beobachtete sie und schnellte auf einmal blitzschnell auf sie zu. Mit einem geschickten Griff packte sie das Tier erst hinter dem Kopf und nahm dann den sich windenden Körper auf. Behutsam setzte sie die Natter an der Mauer ab. Eine kleine Schlange, die nur frei und ungestört sein wollte. Traurig beobachte sie das Tier, das sich eilig wegschlängelte.
Als sie den Besen in die Hand nahm um ihre Arbeit fortzusetzen, hörte sie wieder ein seltsames Geräusch. Sie hielt inne um zu lauschen. Nichts. Als sie weiterfegen wollte, hörte sie es wieder. Ein Wimmern, wie von einem Baby. Vielleicht eine Katze? Geron hasste Katzen. Es hatte ihr einige Striemen seiner Lederpeitsche eingebracht, als sie im vergangenen Jahr einem streunenden Kater heimlich etwas zu fressen gab.
Wieder ertönte dieser leise klagende Laut.
Suchend schaute sie umher. Da fiel ihr ein winziger Lichtschimmer auf. Direkt an der dunklen Nordmauer, wo sich der verbotene Eingang befand. Sie legte den Besen beiseite und schlich sich an die verwitterte Holztür, die einen Spalt offen stand. Geräuschlos öffnete sie die Tür weiter und schaute neugierig hinein. Auf einem Holztisch flackerte das Licht einer Kerze. Diese Kammer war in den drei Jahren, die sie hier nun schon lebte, immer verschlossen gewesen. Sie führte in einen Keller, in dem ihr Meister besonders gefährliche Experimente durchführte. Oft hatte sie schon die unheimlichsten Geräusche von dort gehört. Normalerweise sollte sie die Tür schließen und den Hof fertig kehren. Doch sie war so neugierig, dass ihr die Konsequenzen gleichgültig waren.
Sie ging zurück und holte ihren Besen. Langsam schlich sie sich, den Stil wie eine Waffe in der Hand, zurück zur Tür. Vorsichtig überblickte sie den Hof und als sie sich unbeobachtet fühlte, öffnete sie die Tür und schlich in den Kellervorraum. Kurz überlegte sie, was sie sagen sollte, wenn der Alte sie hier erwischen würde. Doch wie es aussah, war sie allein. Die Kerze auf dem kleinen Tisch brannte zwar, aber das aufgeschlagene Buch und der umgeworfene Hocker liesen darauf schließen, dass er den Raum in Eile verlassen hatte.
Die Tür, die zur Kellertreppe führte, war nur angelehnt. Mira öffnete sie vorsichtig. Unten war es kühl und dunkel. Also war er nicht dort. Noch konnte sie den düsteren Raum verlassen. Keiner würde bemerken, dass sie hier gewesen war, doch sie konnte nicht gehen. Es war, als ob eine fremde Macht sie nach unten ziehen würde. Vorsichtig ging sie zurück, schloss die Außentür und nahm einen Kienspan aus dem Weidenkorb neben der Tür. Den an der Kerze entzündeten Span in der Hand, machte sie sich auf den Weg in die Dunkelheit des Abgrunds. Die endlos lange Treppe mündete in einem mittelgroßen Gewölbe. Neben dem Eingang befestigte Pechfackeln warfen gespenstig flackernde Muster an die Wände, sobald sie diese entzündete. Sie tauschte den fast herunter geklommenen Span gegen eine Fackel und inspizierte den Raum. An der Wand standen Regale mit Büchern, Krüge, die mit fremdländischen Zeichen beschriftet waren und die Schädel seltsamer Tiere. Ihr fröstelte. Von dem Raum ging ein weiterer ab. Aus diesem kamen auch die Geräusche. Klagend, unheimlich traurig, dann wieder das Wimmern.
Der Raum war verschlossen. Die massive, eisenverstärkte Tür hatte mehrere ziemlich große Schlösser.
Wen oder was hielt Er da gefangen?
Miras Blick fiel auf die Tonkrüge im Regal neben den Büchern. Sie hatte Glück. Im zweiten Krug fand sie einen Bund mit mehreren Schlüsseln. Sie probierte einige aus, bevor sie die Richtigen fand .Mit Mühe schaffte sie es, die Tür zu öffnen, doch dann wich sie erst einmal erschrocken zurück. Der Raum war hell erleuchtet und in den Regalen, die von einer Wand zur anderen reichten, standen unzählige Glasflaschen und Weckgläser. In jedem von ihnen waren kleine schillernde Insekten, die wild umherflatterten und vergeblich versuchten, sich zu befreien. Das Licht kam von einem großen Kristall in der Mitte des Raumes, in dem sich etwas leicht hin und her wiegte. Da nichts weiter passierte, fasste Mira Mut und betrat den Raum.
Es roch frisch und angenehm. Wieder begann das Geräusch, das sie hier her gelockt hatte. Es kam von dem Kristall und jetzt erkannte Mira in ihm eine schimmernde weiße Frau. Erst als Mira ganz nah bei dem Kristall stand, konnte sie die Worte verstehen. „Lass mich frei“, flehte die Frau und hielt ihre zarten Hände an ihr durchscheinendes Gefängnis.
Ja, dachte Mira. Ich werde sie alle freilassen. Wenn ER sie gefangen hält, dann ist es genug Grund für mich, sie zu befreien. Die Insekten in den Gläsern hatten, wie sie jetzt sah, Gesichter. Gesichter, Arme, Beine und große schwarze Augen. Sie sahen fast so aus wie kleine Menschen. Nur dass sie Flügel besaßen. Manche wie Schmetterlinge, andere wie Libellen. Der Boden der Gläser war mit Staub bedeckt. Jetzt ergab alles einen Sinn. Der Hexenmeister und seine Zaubertränke. Seine Tränke die Krankheiten heilten und Verlangen schürten.
Von wegen alles Kräuter. Er benutze Feenstaub. Was würden sie tun, die Unsterblichen, die so lange gefangen waren? Wie würde ihre Rache aussehen, wen würde sie treffen?
Sie musste sich wegen dem Kristall etwas einfallen lassen. Die Befreiung der Kleinen war hingegen einfach. Sie begann am ersten Regal, gleich neben der Tür und öffnete Flasche um Flasche unter den wachsamen Augen der hellen Frau, die sie aus ihrem durchsichtigen Gefängnis heraus gespannt beobachtete.
Sie arbeitete so schnell sie konnte, doch plötzlich hörte sie, schwere Schritte auf der Treppe. Sie rannte zur Tür und schloss sie von innen ab. Panisch schaute sie sich um, ob sie irgendetwas vor den Eingang stellen könnte, als es von außen schon an der Klinke rüttelte. Ein paar der kleinen Feen, es waren die mit den Libellenflügeln, flogen zur Tür, die daraufhin zu leuchten begann. Mira hörte dumpfe Schmerzschreie von außen. Sie beeilte sich die übrigen Gläser und Flaschen zu öffnen. Meister Gerons Stimme ertönte, er fing an, ihr von außen zu drohen.
Er würde sie diesmal nicht nur schlagen, er würde sie töten, daran hatte sie keine Zweifel. Doch wenn sie schon sterben musste, sollte ihr Tod nicht umsonst sein.
Noch 2 Regalreihen. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Hände zitterten, doch sie zwang sich weiterzumachen. Inzwischen änderte der Hexer seine Taktik. „Lass mich rein, du weißt nicht was du tust. Die Biester sind gefährlich. Sie werden dich töten. Mach auf. Ich verspreche dir, dass ich dich diesmal nicht strafe!“ Seine Stimme die inzwischen immer schmeichelnder klang, wurde leiser. Der Kristall glühte. Es war inzwischen unerträglich hell. Mira schaute sich um. Außer den Holzregalen und all den jetzt leeren Gläsern und Flaschen war nichts zu sehen, womit sie dieses Gefängnis öffnen könnte. Sie zerschlug eine Flasche und versuchte es mit der Scherbe. Die Gefangene schaute ihr geduldig zu. In dem Kristall erschien nicht einmal ein Kratzer. Verzweifelt legte das Mädchen ihre von den Scherben zerschnittenen Hände auf die Fläche des Kristalls. Tränen verschmierten ihr verstaubtes Gesicht. Verzweifelt sah sie auf die Eingeschlossene. Das Blut an ihren Händen lief über den Kristall und da, wo es entlanglief, entstanden plötzlich Risse. Erschreckt wich Mira zurück, während die Risse sich immer weiter verzweigten. Als der Kristall gänzlich zerbrach, stieg die Befreite leichtfüßig über die Splitter und wandte sich der Tür zu, die in diesem Moment aufsprang. Meister Geron stand, mit einer Eisenstange bewaffnet, vor ihnen. Von seiner hochroten Stirn tropften Schweißtropfen. Seine dunklen Augen schienen vor Entsetzen fast aus ihren Höhlen zu treten, als sein Blick auf den zerstörten Kristall fiel. „Was hast du getan, Unselige?“, stammelte er, während er langsam auf die Knie sank. Die ehemalige Bewohnerin schwebte auf ihn zu. Während sie ihn leicht am Kopf berührte, fiel die Waffe aus seinen Händen. Entsetzt sah Mira wie sich Meister Geron im Sekundentakt veränderte und letztendlich zu einem schwarzen Drachen wurde. Die helle Frau lächelte Mira beruhigend an und verwandelte sich jetzt ebenfalls, vor den fassungslosen Blicken des Mädchens, in einen schimmernden weißen Drachen. Der Schwarze lag auf dem Boden, unfähig sich zu bewegen, während der Weiße ihn umrundete. Mit jeder Runde veränderte sich der dunkle Drache, wurde immer kleiner und kleiner. Am Ende befand sich nur noch ein schwarz glänzendes Ei auf dem Boden. Nicht größer als das Ei einer Gans.
„Nimm dir den Feenstaub, der noch in den Flaschen ist und wenn du willst, auch dieses Ei. In ihm ist ein junger Drache, wenn du ihn möchtest ist er dein. Es braucht vierzig Tage Wärme um ihn schlüpfen zu lassen. Wir sind unvergänglich, er hat eine Chance auf ein neues Leben. Ob und wann er es bekommt, liegt jedoch jetzt in deiner Hand. Keine Sorge, wir erinnern uns nicht an das Vergangene bei einem Neubeginn.“ Der weiße Drache gab Mira ein kleines silbernes Gefäß, bevor er verschwand. Mit dem weißen Drachen entschwanden auch all die kleinen Feen. Auf dem Tisch des Vorraums brannten zwar noch Kerzen und doch war es plötzlich dunkel und kalt. Licht und Wärme hatten die Wesen mit sich genommen. Während Mira vorsichtig den restlichen Staub aus den Flaschen und Gläsern in das Gefäß füllte, überlegte sie, wohin die befreite Drachin und ihre Feen jetzt wohl gegangen waren. Würde sie sie noch einmal sehen können?
Ihr Blick viel auf das Ei. Vielleicht sollte sie es vergraben oder in den Brunnen werfen. Wer könnte es schon von dort wieder heraufholen?
Vorsichtig nahm sie das schwarze Ei in die Hand. Es war warm und sie fühlte, wie etwas darin pochte. 40 Tage müsste sie es am Körper tragen, dann würde der kleine Drache schlüpfen.
Wenn sie es wollte…
Tag der Veröffentlichung: 01.06.2012
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