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Dr. Werner Bohnkemper


Die Trauerfeier war endlich beendet. Die Gäste defilierten zur Tochter der Verstorbenen, die groß und wuchtig in ihrem Pelzmantel in der Trauerhalle stand und die Beileidsbekundungen emotionslos entgegennahm. Der verkniffene Ausdruck in ihrem Gesicht veränderte sich nur einmal und nahm einen fast warmen Ton an, als ein kleiner, leicht gebeugter, unscheinbarer Mann, in einem etwas altmodischen Wollmantel auf sie zutrat. „ Dr. Bohnkemper, wie lieb von Ihnen, das Sie doch noch kommen konnten“. „Ihre Mutter war lange Jahre meine Patientin, sie war eine liebenswürdige Frau,“ erwiderte der Mann mit einer angenehmen, sanften Stimme. Er war jünger, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte. „Ich möchte ihnen noch einmal danken“, meinte die Frau, “ ich glaube kaum, dass es sonst noch einen Hausarzt gibt, der sich so viel Zeit und Mühe für seine Patienten nimmt. Sie haben uns sehr geholfen!“ Bohnkemper lächelte verhalten. „Ihre Mutter ist jetzt erlöst, sie hat ihr Leid hinter sich. Ich bin froh, dass wir ihr zumindest Schmerzen ersparen konnten. Sie ist ruhig und friedlich im Kreise ihrer Lieben eingeschlafen. Sie haben sie lange gepflegt, Frau Berger. Nicht jeder meiner Patienten hat das Glück eine so liebe und aufopferungsvolle Tochter zu haben. Sie können stolz auf sich sein.“ Er lächelte bösartig, doch das fiel der Frau nicht auf. Sie strahlte verhalten ob des Lobes.
Es war fast zu einfach gewesen. Er hatte bis zuletzt Angst gehabt, sie könnte ihm noch auf die Schliche kommen. Woher hätte er wissen sollen, dass der zukünftige Schwiegersohn dieses Drachen Pharmazie studierte. Die alte Dame, die sonst immer alles, was wer in ihrer Familie war, voller Stolz verbreitete, schien es jedenfalls nicht gewusst zu haben. Sonst hätte sie sicher auch damit herum geprahlt.
„Kommen sie mit zur Trauerfeier, Herr Doktor?“, fragte die Frau jetzt. „Nein, tut mir leid, aber ich habe noch einige Hausbesuche.“ Er nickte ihr freundlich zu. Mit schnellen Schritten lief er dann durch den Friedhof zurück zu seinem Auto. Unterwegs kam er an den Gräbern des letzten Jahres vorbei. Der größte Teil ehemalige Patienten. Nur zwei waren ohne seine Hilfe verstorben. Natürlich war es fraglich, ob die anderen ohne ihn noch leben würden. Wahrscheinlich schon. Vielleicht aber auch nicht. Der Gedankengang war müßig. Irgendwie war es fast zu einfach. Beim ersten Mal hatten ihn noch furchtbare Gewissensbisse geplagt. Er war fast krank geworden und hatte täglich erwartet, dass irgendeinem etwas auffiel. Es war nichts passiert. Das Leben lief seinen gewohnten Gang und alle bewunderten ihn. Er hatte viele Patienten, sein Ruf war ausgezeichnet. Die Sprechstundenhilfen vergötterten ihn regelrecht und für die ansässigen Pflegedienste war er der beste Arzt im ganzen Umkreis. Er war immer nett, freundlich, hatte für jeden ein offenes Ohr. Er vergaß nichts, auch keine Kleinigkeiten, war fachlich herausragend, ohne deshalb überheblich zu wirken, einfach der perfekte Hausarzt. Kein Mensch im ganzen Umkreis würde ihm auch nur die kleinste Unkorrektheit zutrauen.
An einem Grab stand ein älterer Mann. Er grüßte den Vorbeieilenden und beugte sich dann wieder über das Grab seiner vor 5 Monaten verstorbenen Frau, um weiter Unkraut zu jäten. Seine Frau war nach ihrem Schlaganfall ziemlich schnell verstorben. Der Doktor hatte sich aufopfernd um sie bemüht. Sogar am Wochenende war er persönlich vorbeigekommen. Andere Ärzte hätten auf den Notarzt verwiesen. Bohnkemper nicht. Er war da, immer wenn er gebraucht wurde. Wie traurig, für ihn, dass er selbst ganz allein war. Aber welche Frau würde das aushalten. Anrufe nachts und am Wochenende. Der einzige Arzt in weitem Umkreis, ein Mensch der nur für seine Patienten zu leben schien. Der alte Mann richtete sich ächzend auf und schaute dem Dahineilenden mitleidig hinterher.
Dieser hatte inzwischen den Parkplatz erreicht. Er schloss seinen alten Toyota auf und setzte sich hinter das Lenkrad. Seine Hände zitterten. Er konnte jetzt noch nicht losfahren. Der Blick, den Hr. Fischer ihm hinterher geworfen hatte. Schweiß bedeckte seine Stirn. Ob der etwas ahnte? Unmöglich, aber er würde ihn vorsichtshalber nächste Woche einmal anrufen müssen. Schließlich war wieder ein Gesundheitscheck angebracht. Wenn ihn nicht alles täuschte, hatte der alte Mann ein Leberleiden. Sobald er in der Praxis war, würde er gleich im Computer nachschauen. Eine segensreiche Erfindung. Er war einer der Ersten, der die neue Technik in seiner Praxis eingeführt hatte. Die umfangreichen Notizen, die er sich bei jedem Patienten anfertigte, waren überaus hilfreich. Bevor der Nächste das Behandlungszimmer betrat, informierte ihn ein Tastendruck über jede Kleinigkeit des letzten Besuches. Auch so Individuelles wie die Namen und Schulprobleme der Kinder, Geburtstage, Jubiläen, und Interessen waren notiert. Jedem, der zu ihm kam, gab er so das Gefühl, sich intensiv für ihn ganz persönlich zu interessieren. Er wusste nicht nur die Diagnosen und welche Medikamente er seinen Patienten verschrieben hatte. Er wusste alles was bei den letzten Besuchen besprochen wurde.
Die persönlichen Notizen waren für die Sprechstundenhilfen natürlich nicht einsehbar. Auf ihren Monitoren erschienen nur Daten, Medikamentenverordnungen und Diagnoseschlüssel. Er beschäftigte zwei Helferinnen und drei Aushilfen. Die Aushilfen waren junge Frauen,Mütter, die nebenbei ein paar Stunden arbeiten wollten. Frau Reimer, seine langjährigste Kraft, hatte er noch von seinem Vater übernommen. Eine ältere qualifizierte Frau, dabei jedoch selbstgefällig und ausgesprochen anmaßend. Sie war, im Gegensatz zu ihrem Chef, ziemlich unbeliebt bei den Patienten. Er lächelte dankbar, wenn er an sie dachte, sie hielt ihm viel Unangenehmes vom Hals. Seine zweite Kraft, eine verhärmte Witwe mit einem verzogenen Sohn, der ihr unzähligen Sorgen bereitete arbeitete seit 2 Jahren bei ihm. Beide Frauen verehrten ihn. Selbst beim größten Stress strahlte er Ruhe aus und blieb freundlich. Das Gehalt war angemessen und Überstunden verlangte er niemals, auch dann nicht, wenn viel zu tun war. Meist übernahm er dann die restliche Sprechstunde allein. Beide hatten niemals auch nur den leisesten Verdacht geschöpft. Im Gegenteil. Er tat ihnen Leid. Er arbeitete einfach viel zu viel und verausgabte sich für seine undankbaren Patienten.
Bohnkemper startete seinen Wagen und fuhr in die Praxis. Es war niemand da. Die Räume machten einen gepflegten und sauberen Eindruck. Der Boden war mit Terrakotta gefliest. Im Empfangsbereich gab es einen Tresen aus hellem Holz, hinter dem während der Sprechstunde die Sprechstundenhilfe saß, vor sich einen Flachbildschirm. Nach der linken Seite gingen insgesamt sechs Räume ab, zwei Sprechzimmer, ein Verbandsraum, ein Anwendungsraum für Infusionen und EKG , ein Bestrahlungsraum mit Rotlicht und Reizstrom, sowie eine kleine Kaffeeküche. Rechts war ein geräumiges Wartezimmer, gemütlich eingerichtet mit bequemen Stühlen und Sesseln. Auf zwei Tischen lagen die neuesten Zeitschriften und in einer abgetrennten Ecke standen kleine Kinderstühle mit dem dazugehörigen Tisch, daneben eine große Kiste mit Duplobausteinen. Für ältere Kinder gab es Bilderbücher, Malstifte und Blöcke. Überall waren gepflegte große Pflanzen und für die wartenden Patienten gab es Tee oder Wasser in Wegwerfbechern. Gratis natürlich, soviel sie trinken wollten.
Er schaute sich stolz um. Seine Praxis war ein Musterbeispiel an Funktionalität und Design. An den Wänden Drucke von seinem Lieblingsmaler. Die Räume waren hell, modern und freundlich. Er hatte nach dem Tod seines Vaters einen guten Innenarchitekten engagiert und alles total umbauen lassen. Seine Geräte, waren die Neuesten und Besten auf dem Markt. Nur leider noch nicht bezahlt. Er hatte einen Traum. Alles sollte einfach perfekt sein. Aber würde er es schaffen? Trotz Budget, trotz Spargesetzen und Gesundheitsreform. Seine Kollegen fuhren Mercedes oder BMW, hatten Häuser, hatten Familie...er hatte die schönste Praxis und eine Menge Schulden. Seine kleine Wohnung lag über der Praxis. Die Praxis gehörte ihm, so wie sie vorher seinem Vater gehörte. Die Wohnung darüber hatte er erst gemietet, nachdem er sein Elternhaus verkauft hatte. Die Mutter hatte er verloren, als er gerade sieben Jahre alt war. Er konnte sich nur noch dunkel an sie erinnern. Der Vater war seit dem Zeitpunkt ein verbitterter Mensch gewesen. Ein exzellenter Arzt, aber unbeliebt. Er war da ganz anders. Schon kurz nachdem er, nach dem Tod des Vaters, die Praxis übernommen hatte, verdreifachten sich die Patientenzahlen. Damit hatte er sich bei seinen Kollegen nicht gerade Freunde gemacht. Mit der Zeit hat sich das allerdings geändert. Manchmal überfiel ihn der Verdacht, dass einige Patienten nur auf Grund der Ermunterung durch ihre früheren Hausärzte zu ihm wechselten. Natürlich konnte er es nicht beweisen. Aber irgendwie war es doch seltsam, dass seit den neuesten Gesundheitsreformen gerade besonders kostenintensive, ältere und chronisch kranke Menschen den Wunsch verspürten, nur noch durch ihn behandelt zu werden. Von Einigen wurde er 2-3-mal die Woche zum Hausbesuch bestellt. Zum Glück war das nicht die Regel.
Er setzte sich vor seinen Computer und rief die Daten von Herrn Fischer auf.
Zwei Monate lag der letzte Besuch in der Praxis zurück. Eine Angina. Ansonsten waren die letzten Blutwerte hervorragend. Die Leber war auch wieder völlig in Ordnung. Ein vitaler Mann von 78, keine Medikamente. Viel frische Luft und eine gesunde Lebensweise. Das würde schwierig. Er mochte den alten Mann. Das war auch etwas, was ihm die notwendigen Schritte erschwerte. Aber vielleicht hatte er sich ja auch getäuscht? Warum sollte Herr Fischer plötzlich Verdacht geschöpft haben. Abgesehen davon, würde man ihm nichts mehr nachweisen können. Vorsichtshalber konnte er ihn für eine Grippeimpfung in die Praxis bestellen und mit ihm sprechen. Falls der alte Mann wirklich etwas ahnte, könnte er dann immer noch handeln. Er hatte Zeit.
Die Praxistür wurde aufgeschlossen. Frau Süssemilch kam herein. Sie putzte seit drei Jahren die Räume und wenn Dr. Bohnkemper für einen Menschen Zuneigung empfand, so war sie es. Sie war Mitte 50, eine mollige, kleine, sanfte Frau, die wenig redete, dafür aber ungemein tüchtig war. Sie kam jeden Tag nach Praxisschluss und reinigte die Räume. Auf Jeden würde er verzichten können, jede seiner Hilfen war austauschbar, sie nicht. Einmal war sie vier Wochen zur Kur gewesen. Selbstverständlich hatte er Ersatz gehabt. Aber wie sah die Praxis da aus? Oberflächlich sauber, gewiss, aber er hatte überall noch Dreck und Staub in den Ecken entdeckt. Sie war zurück gekommen und hatte zwei Stunden länger als sonst geputzt. Als sie die Praxis dann verlassen hatte, war er ganz langsam durch alle Räume gegangen und war seit langem wieder so richtig glücklich gewesen. Er liebte seine Praxis.
Er liebte auch seinen Beruf. Doch es war schwer. Die Patienten wurden immer anspruchsvoller. Manche waren direkt unverschämt. Kamen herein, mit dreckigen Schuhen, fläzten sich in die Sessel, schimpften, wenn sie länger als eine halbe Stunde warten mussten, hielten sich und das war das Schlimmste, nicht an seine Anweisungen. Manche bemängelten sogar seine Diagnosen. Hielten ihm Ausdrucke aus dem Internet unter die Nase….
Dazu die neuen Sparverordnungen, der ständige Ärger mit den Krankenkassen. Wie sollte er die Leute anständig versorgen, wenn ihm ständig die Budgetüberschreitung im Nacken saß. Die Krankenkassen machten es sich natürlich leicht. Sie sagten den aufmüpfigen Patienten, ihr Arzt kann ihnen alles verschreiben, was sie brauchen und den Ärger hatte er dann. Nach einem Monat, war meist schon sein Budget für das ganze Quartal überschritten. Er war Mediziner, Wissenschaftler, kein Krämer. Wie er sie hasste, diese Politiker, Krankenkassen, Pharmaindustrie, die reinste Mafia.
Frau Süssemilch nahm jeden Tag Kittel und Tücher aus der Praxis mit nach Hause und brachte sie zwei Tage später, sauber gewaschen und gebügelt, zurück. Er stellte seinen Hilfen die Kittel. Jeden Tag zogen sie einen frischen, perfekt gebügelten Kittel an, so wie er auch. Darauf legte er sehr großen Wert. Der Stil war gleich, klassisch und funktionell. Er hatte sie selbst ausgesucht. Ein makelloses Weiß.
Frau Süssemilch grüßte freundlich, nachdem sie ihn bemerkt hatte und fragte fürsorglich, ob sie ihm einen Tee bereiten solle. Er lehnte dankend ab, fragte, ob sie mit seiner Wohnung schon fertig war und mit einem freundlichen Nicken verabschiedete er sich dann, um nach oben zu gehen.
Seine Wohnung war klein und die Wände waren zugestellt mit Bücherregalen. Der Boden war gefliest und in keinem Zimmer gab es einen Teppich. Im Wohnzimmer stand ein Computer, der mit denen in der Praxis verbunden war, aber es gab weder Radio noch Fernseher. Das Sofa und die zwei Sessel waren noch von seinen Eltern. Der alte Tisch und die Stehlampe stammten von einem Onkel. Das Schlafzimmer wirkte steril, wie aus einem Katalog von vor 30 Jahren. Alles war penibel sauber. Das Einzige was ein bisschen persönlich wirkte, war ein Foto auf seinem Nachttisch, das ihn mit seiner Mutter zeigte. Er war darauf genau 7 Jahre alt und es war das letzte Foto, das er von ihr besaß. Nur kurz nach dieser Aufnahme war sie gestorben. Schuld hatte sein Vater. Er war zwar ein hervorragender Arzt gewesen, aber bei seiner Frau hatte er versagt. An einer simplen Blinddarmentzündung musste sie sterben. Ihr Mann hatte es nicht erkannt und bis er es endlich bemerkte und sie ins Krankenhaus brachte, war sie an einer Perforation mit nachfolgender Sepsis verstorben. Werner war daraufhin ein sehr, sehr einsames Kind gewesen.
Er schaltete seinen Computer ein. Dieses Quartal war das bislang Schlimmste. Wie schafften es seine Kollegen bloß, ihr Budget einzuhalten. Dr. Friedrich zum Beispiel schloss 1-2 Wochen vor Quartalsende immer seine Praxis. Er durfte dann auch noch dessen Patienten mit fehlenden Medikamenten versorgen.
Ein Glück, dass er jetzt wenigstens ein paar seiner ganz besonders schwierigen Fälle abschließen konnte. Die Leute waren alle selbst schuld. Eine Patientin, Frau Bittner, er hatte sie medikamentös perfekt eingestellt. Sie hätte sich nur strikt an seine Anweisungen halten müssen und ein relativ beschwerdefreies Leben führen können. Er hatte sich sogar extra für sie über die neuesten Forschungen im Internet und in der Fachpresse informiert und viel Zeit in Telefonate investiert. Ohne Rücksicht auf die Kosten, hatte er ihr die besten und neuesten Medikamente verschrieben, ihr eine Diät ausgearbeitet, er hatte alles getan was ein Arzt nur tun konnte. Aber anstatt mit ihm gemeinsam die Krankheit zu bekämpfen, machte sie alles falsch. Die Diät, die er so sorgsam ausgearbeitet hatte, befolgte sie überhaupt nicht. Die Medikamente und Vitamine nahm sie unregelmäßig. Die neuen Schübe, die dann kamen, konnte sie sich selbst zuzuschreiben. Jetzt war sie tot. Ihre Schuld. Er hätte sie natürlich retten können, sicher. Dann würde sein Budget jetzt noch schlechter aussehen und wofür? Sie war fett, ungepflegt, uneinsichtig und undiszipliniert gewesen. Ihre Familie konnte ihm dankbar sein. Natürlich wussten die von nichts. Sie glaubten an ein tragisches Schicksal.
Der größte Teil seiner Patienten, so überlegte er verärgert, war an seinen Krankheiten sowieso selbst schuld. Doch lernten sie daraus? Nein! Herr Mayer zum Beispiel hatte Asthma. Würde er sich an seine Anweisungen halten, er wäre fast gesund. Was tat er? Er rauchte und lebte ansonsten so, wie es ihm gerade passte. Die widerliche Katze hatte er auch nicht abgeschafft, obwohl er es ihm schon des Öfteren dringend angeraten hatte. Dafür brauchte er Medikamente und Cortisonspray ohne Ende. Wütend schaute Dr. Bohnkemper in seinen Computer. Morgen würde Mayer wieder zur Sprechstunde kommen.
Frau Weber war auch für morgen bestellt. Blutzuckertagesprofil. Ein durchaus vermeidbarer Diabetes. Er hatte sie sogar zur Diätberatung geschickt. Kein Kollege nahm sich soviel Zeit für Vorsorge wie er. Was machte die alte Frau? Kaufte sich dicke Sahnetorten beim Bäcker und statt wie angeraten Sport zu treiben, saß sie lieber faul in den Cafés herum und tratschte über ihre Nachbarn.. Sie kam oft in die Praxis. Viel zu oft. Es schien ein Hobby von ihr zu sein. Beim letzten Mal hatte sie sogar die Frechheit gehabt zu fragen, warum er nur Tee und keinen Kaffee für seine Patienten hatte.
Er war ein Meister der Selbstbeherrschung, doch diese Person brachte ihn an seine Grenze. Ab morgen würde er sie auf Insulin einstellen. Sie hatte es provoziert. Seine Kollegen würden mit Tabletten beginnen. Aber eine zweite Meinung einzuholen, dazu wäre Frau Weber viel zu träge. Er war sich da ziemlich sicher. Außerdem war sie ein Grenzfall. Am besten gleich zweimal täglich. Mit einer einfachen Diät und Sport oder wenigstens einem kleinen Maß an Bewegung wäre es getan gewesen, doch wie heißt es so schön, wer nicht hören kann......Sie hatte ihre Chance gehabt.
Inzwischen war es 22 Uhr. Das ihn noch jemand einen Hausbesuch rief, war momentan nicht zu erwarten. Er schaltete den Computer ab und ging zu Bett.
Die ganze Nacht träumte er von neuen Patienten, die nach Alkohol, Schweiß oder Knoblauch stanken, die in seine schöne Praxis kamen, mit Schuhen voller Hundekot und Schlamm, alles verdreckten, frech an seinen Diagnosen herummeckerten und von bösartigen Krankenkassenvertretern, die sorgsam ausgearbeitete Therapiepläne von ihm zerrissen und ihn mit ihren ungeheueren Regressforderungen in den finanziellen Ruin trieben.
Als der Wecker klingelte war er unendlich erleichtert. Der Traum war so real gewesen. Er war, wie immer der Erste in der Praxis. Bevor seine Helferinnen kamen, hatte er schon einiges vorbereitet.
Frau Weber kam pünktlich 8 Uhr zur ersten Blutentnahme. Blutzucker 160. Er konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. „Frau Weber, heute punkt 12 Uhr sehe ich sie wieder und dann noch einmal 17 Uhr“. Morgen würde er ihr dann ganz genau erklären, wieso sie jetzt leider anfangen müsse zu spritzen. Mit ein bisschen Glück würde sie ihn nächstes Jahr nicht mehr nerven. Bissig schaute er an die Decke. Der Nächste bitte....

Frau Berger
Endlich hatte sie alles hinter sich. Die Trauerfeier war ohne große Probleme gemeistert. Keiner in der Familie hatte etwas gegen eine Einäscherung gehabt. Sie hatte ja im Vorfeld mit allen ausgiebig die Kosten durchgerechnet. Für ein paar tausend Euro weniger hat dann jeder gern vergessen, dass Omi auf gar keinen Fall verbrannt werden wollte. Es war ihr nicht leicht gefallen die alte Frau zu pflegen und auch noch so zu tun, als hätte sie es gern getan. Die Alte war nörglig, besserwisserisch und ausgesprochen wehleidig gewesen. Ihr ganzes Leben hatte sie unter dieser Frau leiden müssen und als sie dann alt und schwach wurde, benutzte sie ihre Krankheit als Druckmittel. Sie als Tochter hatte funktioniert. Mutti hier, Mutti da...Keiner hätte ihr auch nur das Geringste nachsagen können. Sogar dieser lästige Hausarzt ihrer Mutter, Doktor Bohnkemper war ja voll des Lobes über ihre Pflege. Wenn der wüsste.
Sie hatte zeitweise große Angst gehabt, er könnte die Mutter doch noch einweisen. In einer Klinik hätte man den alten Drachen schnell wieder auf die Beine gebracht, vor allem dann, wenn sie keine Möglichkeit gehabt hätte, ihr die Psychopharmaka einzuflößen und die alte Dame, aus ihrem Dämmerzustand etwas länger erwacht, sich vielleicht noch die Besuche der Tochter verbeten hätte. Die Alte hatte es ja geahnt. Zum Schluss hatte sie es sogar gewusst. Sie wollte einen Notar, wollte in ein Heim, weg von ihr. Das Erbe wäre dahin gewesen. Sie hatte es sehr, sehr schlau anstellen müssen und ihr Schwiegersohn war dabei ihr einzig Verbündeter gewesen. Er hatte ihr natürlich nicht aus reiner Uneigennützigkeit geholfen. Das war klar. Er würde, wenn er mit seinem Studium fertig wäre, eine eigene Apotheke einrichten können. Geld war jetzt genug da.

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Tag der Veröffentlichung: 08.07.2011

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