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Unruhig wälzte ich mich hin und her, Bauch, Rücken, Bauch, Seitenlage ... 'bescheuertes Weib', dachte ich, 'musst dir ja jeden Film reinziehen, auch wenn er noch so abartig ist.'

"Saw", so hieß das Ekel erregende Grauen, welches mir zu Recht Schlaflosigkeit bescherte. Zwei Typen, eingesperrt in einen Raum, angekettet und beobachtet von einem Psychopathen. Dieser schien die Grenzen ausloten zu wollen, die ein Mensch, im Angesicht des Todes, bereit war zu überschreiten.
Und sie überschritten, so sehr, dass mir im Bett noch kotz elend war. Säbelte sich doch einer den Fuß ab ... mühselig, denn er hatte nur ein Messer. Gott im Himmel, was dachten sich manche nur aus, um von sich reden zu machen?!
Nur ein Film nur ein Film ein Film ein Film ein ... ich schlief ein.

Schmerz Schmerz Schmerz ... kroch es mir durch die Gehirnwindungen, noch ehe ich ihn lokalisieren konnte. Hände und Füße waren es, die hämmernd Signale sendeten und ich versuchte die Augen zu öffnen, doch blendendes Licht zwang sie wieder hinter die Lider. "Was ist mit mir", fragte ich undeutlich und wollte es im selben Moment nicht mehr wissen, denn ich erkannte, dass ich bewegungsunfähig war. Daher der Schmerz, mein Körper war merkwürdig gestreckt. Nun riss ich sie doch auf, die Augen, die nicht sehen wollten jetzt jedoch mussten ... zu schnell kamen die Bilder von gebundenen und gespreizt an die Bettpfosten gefesselten Füßen. Mein Kopf schoss zur Seite, das gleiche war mit den Händen geschehen. Panik zog mir die Eingeweide zusammen und ich schrie: "Ein Traum ein Traum ein verdammter Alptraum!"
"Mitnichten, meine Schöne", sagte eine heisere Stimme, "sehr munter will ich dich, damit du mir den Spaß nicht verdirbst."
Ein Gesicht beugte sich über mich, so fremd, so normal, bis auf ... die Augen. Da lauerte ansteckender Wahnsinn, denn ich verfiel augenblicklich demselben. Der Fremde machte eine schnelle Bewegung und hielt mir ein Skalpell vors Gesicht. "Was wollen sie, wer sind sie", heulte ich auf und begriff, ich war in einem Traum gefangen, denn diese Fragen stellten die Opfer in all den grausigen Filmen, die ich mir angesehen hatte. Ich atmete tief durch, also doch nur ein Traum. Ich schloss die Augen wieder und gab mir Befehl, umgehend aufzuwachen. "Sieh mich an!" Er schrie es so echt, dass mir die Ohren dröhnten. Ich dachte nicht daran, seiner Aufforderung nachzukommen, presste sie zu, so fest ich nur konnte. Doch mein Alptraumpeiniger war nicht gewillt, mich in die Realität entkommen zu lassen. Ich spürte Finger an meinem Auge, einen üblen Druck, einen scharfen Schmerz ... es war wieder hell, ein wenig rötlich, aber hell und ich sah etwas in seinen Fingern, was mich schreien ließ. Es war Haut, meine Haut, mit Wimpern, an denen noch die Reste von Mascara klebten. Und in mein Schreien rief er tadelnd:
"Wie willst du SEHEN, wenn du die Augen VERSCHLIEßT!? Wie willst du ERKENNEN, wenn du nicht SIEHST!? Wie willst du BEGREIFEN, wenn du nichts ERKENNST?! Wie willst du etwas VERÄNDERN, wenn du nichts BEGREIFST!?"
Doch ich erkannte. Nach dem zweiten scharfen Schmerz. Auch das andere Auge konnte sich nicht mehr hinter einem Lid verbergen.
Er zwang mich zu sehen.
Und ich sah das Skalpell.
Sah, wie es sich blitzend hob.
Sah, wie es sich senkte.
Spürte wieder einen Schmerz.
Tief in meinem Leib.
Dann wurde es Nacht.
Trotz der offenen Augen.

Es war eine merkwürdig Reise.
Leicht war ich und so beweglich, als hätte man mich entbeint.
'So servierten gute Köche Spanferkel', schoss es mir durch einen Kopf, der sich nicht fühlen ließ. Nichts fühlte ich. Da waren nur Gedanken.
Die Dunkelheit wich einem Farbspektakel. Eins, das mich einsog und rotierend wieder ausspie.
"Was bin ich?", dachte ich und weiter, "bin ich noch Mensch?"
"Nein, du bist Seele einer, die einst menschlich war."
Mit dieser Antwort kam das Licht zurück.
Und auch das Sehen.
Ich sah sie all die Schemen, sie wogten um mich her, wie Nebelgespinste.
'Dann bin ich tot', kam die Erkenntnis und obwohl ich es nur dachte, kam wieder eine Antwort:
"Hast du denn je gelebt?"
Auch in den Nebelwesen sah ich keine Münder und dennoch hörte ich.
"Wer seid ihr?"
"Wir sind wie du, sind die Seelen all derer, die starben, weil die Menschheit nicht sehen will." Es war wie ein Raunen, dass aus dem Nebel drang.
"Wir sind die Seelen der Ermordeten. Wir sind so viele, dass der Himmel nicht gereicht hat." Wisperte eine andere Stimme.
"Hier gibt es Millionen Seelen, doch kein Heil." Eine dritte Stimme kroch in diesen Kopf, den ich nicht spüren konnte.
"So viele Opfer? So viele Morde? So viele Mörder gibt es auf der Welt?" Ich waberte ungläubig ein wenig hin und her.

Da teilte sich der Dunst und eine Seele, erkennbarer als alles um mich herum, kam auf mich zu.
"Lerne sehen, wenn du verstehen willst.
Ich bin eine der ältesten Seelen, war einer von denen, die als Vorfahren der heutigen Menschen galten. Wir aßen Tiere und Pflanzen. Doch wenn die Nahrung knapp wurde, dann fingen wir einen aus fremder Sippe, trennten ihm Arme und Beine nach und nach ab, damit er nicht gleich verstarb und das restliche Fleisch verdarb. So traf es eines Tages auch mich. Ich wurde Mahlzeit. Wir hatten zwar gesehen, es gab da andere Sippen, die das Leben höher achteten und Wege fanden, ihresgleichen nicht zu essen, aber wir verstanden es nicht. Und ich tat, was alle taten. Und als ich verstand, war ich schon Opfer."

Ein anderer trat hervor. "Ich war einer, der viele Götter hatte. Dann kamen welche, die nannten sich Christen. Es waren viele Tausend. Einer schrie, man solle sie ans Kreuz nageln. Und wir nagelten sie ans Kreuz. Viele Tausend. Es war ein Befehl und wir befolgten ihn. Als es kein Ende nahm, machte ich mir Gedanken und dann den Mund auf. So wurde auch ich ans Kreuz genagelt. Ich wurde ein Opfer, als ich sehend wurde, weil die Menschheit noch nicht zum Sehen bereit war."

Und wieder wogte der Nebel und eine weitere Stimme meldete sich zu Wort:
Ich war ein Jude. Und eines Tages kam einer, der schrie, dass Juden Untermenschen seien und dass man sie ausrotten müsse. Zu dieser Zeit gab es schon Recht und Gesetze, Bildung und großes Wissen. Ich schüttelte Anfangs lächelnd den Kopf, denn so dumm war kein Volk, solch einem Aufruf zu folgen. Ich wurde eines Besseren belehrt. Mein eigener Nachbar erschlug mich, weil alle, die hätten sehen und eingreifen können, wegsahen und nichts taten. Da, wo ich Menschlichkeit erwartet hatte, sah ich sterbenden Auges, wie stumpfsinnig riesige Herden einem kranken Leittier folgten. Und mein letzter Gedanke war: 'Die Menschen sind noch nicht so weit, den Individualismus zu erstreben.'

Eine weibliche Stimme erzählte leise:
Ich war eine Tutsi, aus Ruanda. In Kigali lebte ich, mit meinen drei kleinen Kindern und meinem Mann. Inmitten von Hutus, aber sie waren gute Nachbarn und einfache Menschen, wie wir auch. Auf politischer Ebene spielten sich Machtkämpfe ab, von denen wir hörten, die wir jedoch nicht verstanden. Wir wollten doch einfach unser schlichtes Leben bestreiten und Frieden untereinander. Aber dann wurden Lügen laut, wir Tutsi wollten die Hutu verdrängen, würden Verbrechen an den Hutu begehen und sie auslöschen wollen. Hätten die Menschen nachgedacht, wären die Lügen als solche entlarvt worden ... wir waren eine Minderheit. Aber sie wollten nicht nachdenken, als sie aufgefordert wurden, uns zu töten. Und so standen sie eines Tages vor der Tür. Mit Äxten, Keulen und Macheten. Sie lachten schmutzig, als sie meinen Mann zwingen wollten, unseren 3-jährigen Sohn zu töten.
Er weigerte sich und sie schlugen ihm mit der Machete die Hände ab.
Dann wollten sie ihn zwingen, mit unserer 6-jährigen Tochter einen Inzest zu begehen.
Er weigerte sich und sie schnitten ihm mit der Machete den Penis ab.
Anschließend pfählten sie ihn vor meinen und den Augen unserer Kinder.
Die Kinder erschlugen sie vor meinen Augen mit ihren Keulen.
Mich schleppten sie an den Rand des Dorfes, zu einem Schacht, in welchen sie die Leichen warfen.
Sie vergewaltigten mich, einer nach dem anderen. Der 17-jährige Sohn meiner Nachbarin, lag weinend auf mir. Er machte mit, weil es alle taten.
Dann schlitzten sie mir mit der Machete den Bauch auf, ehe sie mich sterbend in die Grube warfen.
Das Letzte, was ich sah, war ein Militärfahrzeug voller Blauhelme. Die Friedenstruppen fuhren still, mit gesenkten Köpfen, an uns vorbei.
Es war eine Zeit, da hätte man sehen müssen, aber ganze Nationen schauten weg.

Wieder war es eine Frau, die erzählte:
Ich bin eine Ägypterin. Als ich 12 Jahre alt war, bekam ich ein weißes Kleid und wurde zu einem Barbier gebracht. Ich wusste nicht, weshalb, freute mich nur über das neue Kleid. Dann wurde ich von den Frauen meiner Familie festgehalten. Der alte Mann zog mich nackt aus und verstümmelte mit einem Rasiermesser meine Klitoris. Ich schrie vor Schmerzen, bis ich ohnmächtig wurde. Als ich aufwachte und weinte, standen meine Mutter und die Großmutter da und schimpften, ich solle mich nicht so haben. Ihnen war das Gleiche widerfahren. Ich konnte schon als Kind nicht verstehen, weshalb diese Frauen wegsahen, obwohl sie die Pein und deren lebenslange Folgen kannten. Ich wollte hinsehen, zeigen, dass ich begriffen habe. Als meine eigene Tochter verstümmelt werden sollte, habe ich sie versteckt. Sie haben mich gesteinigt. Das ganze Dorf hat zugesehen. Das letzte, was ich sah, waren die mitleidigen Blicke einiger junger Mütter. aber auch sie hielten Steine in den Händen. Es wurde offiziell verboten, weil einige bereit waren, hinzuschauen. Aber auch dieses Land ist noch nicht bereit für Veränderungen, denn Millionen Menschen schweigen, wenn nach wie vor kleine Mädchen verstümmelt werden.

Die Stimme einen jungen Mannes, er klang fast, als sei er noch ein Kind, wurde hörbar:
Ich bin ein Russe, kam gestern hier an. Sie erschlugen mich auf der Straße, weil ich gegen die Diskriminierung der Schwulen und Lesben protestiert hatte.
Eine ganze Welt las diese Meldungen und wir rechneten mit großer Unterstützung. Aber die Nationen schweigen ... sehen zu, wie ein Land, welches in der heutigen Weltpolitik gerne vorn stehen würde, zurück ins tiefste Mittelalter fällt. Die Menschen sehen nun seit Jahrtausenden. Aber sie sind lernresistent. Denn sie sehen seit Jahrtausenden schweigend zu, wie wieder und wieder die gleichen Fehler gemacht werden. Sie werden sich nicht ändern. Jedenfalls nicht die Masse. Und so lange sich die Masse nicht ändert, wird sich NICHTS ändern.

Plötzlich verstand ich nichts mehr. Da waren so viele und jede dieser armen Seelen, wollte vom eigenen Schicksal berichten. Ich versuchte auch gar nicht mehr, etwas zu verstehen, denn keiner von ihnen hatte mir etwas Neues, Unbekanntes berichtet. Vom Kannibalismus in der Frühzeit der Menschheitsgeschichte, bis über Christenverfolgung, die Greueltaten während der Nazi-Zeit, bis hin zum Genozid von Ruanda, über die muslimischen Frauenhasser zum endgültigen geistigen Verfall einer russischen Gesetzgebung ... was davon konnte meine Frage beantworten? Warum war ICH in dieser Zwischenwelt der gepeinigten Seelen. ICH war das Opfer eines Psychopathen. Sicher, davon gab es viele, aber einen Vergleich konnte man nun wirklich nicht ziehen.
Da teilte sich der Nebel ein weiteres Mal und mein Mörder stand vor mir. Diese Augen, sie waren unverkennbar und er war auch nicht schemenhaft, wie all die anderen.
"Ich kann dich krank machen und ich könnte dich umbringen", sagte er mit einem Blick, der mich vermuten ließ, dass er im nächsten Moment das Skalpell aus der Tasche ziehen würde, "denn ich plage dich, so lange du lebst. Ich plage dich immer dann, wenn du sehen könntest und nicht siehst, immer dann wenn du handeln könntest und nichts tust und natürlich auch dann, wenn du dich damit belügst, es sind die ANDEREN, die Schuld am Elend dieser Welt haben. Und da die anderen nichts tun, tust du auch nichts. Und wieder bist du Schaf einer riesigen Herde. Schau dir grausame Filme an, so oft du möchtest. Nicht SIE sind es, die dich nicht schlafen lassen, sondern die tiefe Gewissheit, dass kein Film dieser Welt, die wahren Grausamkeiten dieser Welt wiedergeben kann. Du weißt es, du spürst es. Ganz besonders dann, wenn es dich so graust, dass du dir sagen musst: 'Es ist ja nur ein Film ein Film ein Film."
"Wer bist du?" Sehr fest kam meine Frage nicht.
"Deine innere Stimme, das Überbleibsel eines Instinktes, dein Gewissen, der Rest positiver Menschlichkeit in dir ... nenne mich, wie du willst, aber höre auf, dir Filme anzusehen, wenn du Lust auf Gänsehaut hast. Sieh in die Welt, sieh RICHTIG hin ... denn dann hast du allen Grund, dich zitternd unter deiner Bettdecke zu verkriechen!"
Er sprang auf mich zu, gab mir einen derben Stoß und ich fiel und fiel und fiel ... 

Ich schaue keine Horrorfilme mehr.
     Verfolge dafür die Schreckensmeldungen in allen Medien.
           Möchte etwas tun. 

          Diskutiere mit Menschen.

               Fühle mich gelähmt.

                    Denn was ich finde, ist noch mehr Krieg.

                         In viel zu vielen Köpfen.




Impressum

Texte: Fabiana Fabulus
Tag der Veröffentlichung: 02.02.2013

Alle Rechte vorbehalten

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