Das erste und einzige Mal sah ich sie am See, als wir mit den Hunden unterwegs waren. Am Ufer hockten sie, jeder für sich allein, und wirkten verloren. Zwischen ihnen tollten vier verfilzte Fellbündel. Die Haare der Frau standen dem Fell ihrer Hunde in nichts nach, ich fragte mich, wer sich bei wem die Flöhe holte. Unsere Vierbeiner verhinderten den großen Bogen, den ich gerne gemacht hätte, kläffend und knurrend klärten sie schon die Rangordnung. Mein Mann blieb gelassen, ihr Mann lächelnd desinteressiert. Wir Frauen brüllten um die Wette unsere Lieblinge zur Ordnung, jede bereit, sich schützend dazwischen zu werfen. Lächerlich.
Als sie sich aufrichtete, geriet sie ins Wanken, wankte mir gefährlich nahe und zeitgleich mit ihrem Hallo erreichte mich eine Alkoholfahne.
Ihr Blick war eine Mischung aus Misstrauen und Neugier. Wir wechselten ein paar belanglose Worte, wer wo und wie lange schon auf der Insel lebt. Ihr Mann nahm plötzlich meine Hand, nannte mich liebevoll Maria, dann drehte er sich um und ging zum Wasser. In ihrem aufgedunsenen Gesicht machte sich Sorge breit, sie wankte zu ihm, zog ihn zurück auf die Wiese und nötigte ihn, sich zu setzen. Es dauerte, er war wohl störrisch, und wir nicht böse drum. Gute Gelegenheit sich zu verkrümeln.
Komisches Paar, murmelte mein Mann, kommen mir irgendwie bekannt vor. Weil du sie kennst, grinste ich ihn an, du warst bei ihnen.
Ein Jahr zuvor waren wir zu Besuch bei einem Freund, auf der anderen Seite der Insel. Beim Abschied bat er meinen Mann, eine CD bei jemandem in unserem Nachbarort abzugeben. Das tat er und lachend erzählte er mir danach, dass ihn eine stark angetrunkene Frau euphorisch begrüßt und ins Haus gezerrt hatte. Dort wollte sie unbedingt, dass er mit ihr ein Gläschen trinke, oder auch zwei. Die Schnapsflasche war nur noch zu einem Drittel gefüllt, so dass sie ihm die Ablehnung wenig übel nahm. Auch zu Essen bot sie an, berichtete mein Angetrauter, aber der Zustand des Hauses ließ ihn abermals dankend ablehnen. Ich bin ja hart im Nehmen, sagte er, aber so hart nun auch wieder nicht. Wie alt ist diese Frau, fragte ich wie nebenbei, weiß nicht, sagte mein Mann, durch den Suff schlecht zu schätzen, aber bestimmt über 60. Ihr Mann war auch da, saß im Sessel lächelte manchmal, aber stierte die meiste Zeit wortlos vor sich hin. Ist wohl nicht ganz klar im Kopf oder noch besoffener als sie. Irgendwie arme Schweine, wie sie da hausen.
Ja, so war das und als ich die Frau beobachtete, wie sie ihren Mann vom Wasser wegzerrte, fiel mir die Geschichte ein und ich zog Parallelen. Ich half meinem Schatz auf die Sprünge und er schlug sich an die Stirn, Recht hast du, das sind die Beiden, nur sah sie heute noch schlimmer aus und gesehen habe ich sie ja auch nur ein Mal.
Am Rand der Wiese stand ein schrottreifer Kleinwagen, die Hundedecken verrieten die Eigentümer. Wie wollen die denn nachhause kommen, fragte mein Mann, sie betrunken, er auch nicht beieinander. Ich glaube, er hat Alzheimer, gab ich zur Antwort, sie wird wohl fahren, lass uns gar nicht erst darüber nachdenken.
Ein letztes Mal drehte ich mich nach den zwei Alten um, sie hockten wie vorher, die Filzbündel tollten zwischen ihnen herum. Ich dachte noch, sehen aus wie zwei alte Penner, denen man die Brücke geklaut hat.
Sie liebt ihre Rosen. Wenn der Alte versorgt ist, nimmt sie manchmal ihre Flasche und geht in den Garten. Schlimm mit dem Alten, er erkennt sie nicht mal mehr, aber sie tut, was sie kann. Hatten ja auch schöne Zeiten, denkt sie und trinkt noch einen Schluck. Ihre Tochter hat gesagt, Mama, nimm dir eine Hilfe, ich kann nicht weg aus Deutschland. Oder kommt zurück, mir wäre wohler dabei. Was die sich denkt, grinst die Frau und setzt die Flasche an. Ihre Tochter mag nicht, wenn sie trinkt, das gäbe nur sinnlos Streit und streiten will sie im Alter nicht. Sie liebt doch die Tochter. Am Telefon gibt sie sich besonders Mühe, muss ja nicht merken, das Kind, dass sie mal ein Gläschen trinkt. Im Haus klingelt das Telefon, jaja, Mädchen, musst nicht ständig kontrollieren, ich rufe dich später zurück. Zwei kleine Schlückchen, und ein verliebter Blick ruht auf der Rosenpracht. Da, jetzt werde ich auch noch zimperlich. Diese elende Übelkeit in den letzten Wochen. Wenn der Druck im Kopf nur nicht so schlimm wäre. Na schau her, wie lange ist es denn schon dunkel? Sollte zurück ins Haus.
Der alte Mann wimmert. Liegt im Bett, weiß nicht, dass es sein Bett ist und wimmert. Er hat sich eingemacht, wieder und wieder, weiß es nicht, aber das sein Hintern und der Rücken brennen, spürt er. Der Schmerz ist ihm bewusst, hilft ihm, sich seiner Selbst ein kleines Stück bewusst zu werden. Klick - mein Bauch tut weh - Klick - Hunger, Essen - Klick - Trinken ist wichtig - Klick - ich muss aufstehen - Klick - warum? - Klick - manchmal ist eine Frau da - Klick - sie gibt ihm Essen und Trinken - Klick Klick - … Dunkelheit.
Es geht ihr schlecht. Sie schleppt sich ins Haus, will den Alten nicht stören. Helfen kann er eh nicht, denkt sie, da lege ich mich besser kurz ins Gästezimmer. Ächzend schiebt sie mit beiden Armen das Gerümpel vom Bett. Das Bettzeug riecht vermodert, wechsle ich morgen, murmelt sie und kriecht unter die Decke. Sie hätte die Tür besser schließen sollen, einer der Hunde springt zu ihr, die anderen winseln und laufen hin und her. Ja, ja, flüstert sie, gleich gibt's was zu fressen, muss eh noch mal raus, der Alte braucht doch auch was zwischen die Zähne. Im Rücken drückt was, sie stemmt sich hoch und Blut tropft aufs Kissen. Ach ja, die Flasche, verflixter Blutdruck, murmelt sie und trinkt einen Schluck. Nebenan wimmert der Alte und das Telefon klingelt.
Es brennt so sehr -Klick - mühsam langt der Alte unter die Decke, fasst in etwas, was da nicht sein sollte und weint, als er die kotverschmierten Finger sieht - Klick - Würde, Sterben - Klick Klick - Maria, sein kleiner sommersprossiger Engel steht am Bett, steh auf Papa, du willst mir doch heute den Holzroller reparieren! Die Vorfreude hat ihr rote Backen gemalt und in der Küche klappert das Geschirr, der Kaffeeduft lockt aus dem Bett -Klick - Trinken ist wichtig - Klick - Maria kommt ins Zimmer, wedelt stolz mit dem Facharbeiter-Zeugnis, seine Mutter bringt ihm einen Kakao ans Bett, trink, Junge, so lange er heiß ist - Klick - Ein Telefon klingelt, soll doch sein Engel abnehmen
-Klick Klick - Dunkelheit.
Sie will die Flasche hochheben, der Arm gehorcht nicht, sie will den Alten rufen, doch die Zunge liegt wie ein lebloser Fremdkörper im Mund. Mir geht es wirklich schlecht, denkt sie, ich sollte einen Arzt kommen lassen. Sie kann sich nicht rühren und dann denkt sie noch, nein, kein Arzt, ich muss erst aufräumen. Jetzt denkt sie nichts mehr und die Hunde verhalten sich merkwürdig. Einer springt vom Bett, gegen die Tür … sie schlägt zu. Das Telefon klingelt.
Er irrt durch die dunklen Räume, nicht wissend warum und dennoch treibt es ihn vorwärts. Etwas gefällt ihm nicht, etwas, das in seine Nasenschleimhäute dringt, beißend höher kriecht und - Klick - Klick - ein Gänseblümchen - er lächelt, weil er Gänseblümchen liebt. Da steht er und freut sich, wundert sich ein wenig, dass sein Gänseblümchen zur Hälfte rot ist -Klick - Gänseblümchen sind nicht rot - Klick - ein Arm, nur ein Arm - Klick - Hans, sein Freund Hans - Klick - Schreie, um ihn herum Schreie, Angst … Beißen in der Nase, die Knie geben nach, aufraffen - Klick - warum? - Klick - Lichtschalter … wo ist nur der … - Klick - ahhh, Essen! - Klick - mein Bett finden, warten, sie wird gleich kommen, die Frau … wie war noch mal ihr Name - Klick - Beißen in der Nase … Hunde knurren irgendwo in der Ferne, ein Telefon klingelt, geh ran, Maria - Klick Klick - Dunkelheit.
Der junge Feuerwehrmann ist aufgeregt, freut sich auf seinen ersten Einsatz. Nichts Wichtiges, eine in Deutschland macht sich Sorgen um ihre Eltern. Für so was muss man nicht die Polizei aus der Stadt holen, also hat man ihn geschickt. Stolz zupft er die neue Uniform zurecht, ehe er an die Türe klopft. Drinnen kläffen Hunde, es klingt aggressiv. Typisch für diese Deutschen, leben mit ihren Tieren zusammen im Haus. Er schüttelt sich und klopft erneut. Nichts außer dem wütenden Gekläff. Vielleicht hören sie ihn nicht, wegen der Köter, sie sind nicht hinter der Tür, also drückt er die Klinke, ruft ola und noch einmal lauter … nichts. Er geht einen Schritt ins Haus, seine Sinne reagieren mit Verzögerung, erst beim dritten Schritt nimmt ihm der Gestank den Atem. Er stürzt raus in den Garten und übergibt sich. Was ist da los, denkt er und geht erneut auf die Tür zu. Er greift zum Handy, schüttelt den Kopf, nein, ich bin jetzt ein richtiger Feuerwehrmann, so einer ruft nicht gleich nach Hilfe. Der schlimmste Gestank ist durch die offene Tür gewichen, der Rest ist noch immer bestialisch. Er steht in einem Flur, die Tür vor ihm, zum Hauptteil des Hauses, ist geschlossen. Links und rechts je eine weitere Tür, er vermutet WC und Abstellkammer hinter ihnen. Noch einmal raus, tief Luft geholt, dann presst er einen Arm vor die Nase und steht zögernd vor der linken Tür. Dort sind die Hunde. Sie kläffen, winseln und kratzen am Holz. Später wird er nicht sagen können, warum er sie trotzdem geöffnet hat. Nur einen Spalt, wegen der Hunde und überhaupt der Angst. Was er sieht, kann er nicht gleich erfassen, also bleibt er stehen, starrt durch den Spalt, der schützende Arm rutscht ihm von der Nase … dann atmet er den bestialischen Gestank tief ein, denn zum Schreien braucht es Luft.
Als seine Kollegen ankommen, sitzt der Junge immer noch auf der oktoberfeuchten Erde, schluchzt und würgt abwechselnd.
Keiner lacht ihn aus, der aus dem Haus kommende Geruch macht auch sie nervös. Was sie im Haus finden, wird einige von ihnen nie wieder loslassen.
Unsere Insel ist klein, jeder kennt jeden, zumindest hat jeder von jedem schon gehört. Nachbarschaftshilfe wird unter den Einheimischen groß geschrieben, aber wir Deutschen wollen meist keine Nachbarn. Wir wandern aus, um unsere "Ruhe" zu haben. Einen alten, schwer an Alzheimer erkrankten Azorianer würde man nicht erst nach drei Wochen halb verhungert und völlig dehydriert finden. Und schon gar nicht eine alte Azorianerin, welche an einem Schlaganfall gestorben ist und fast zur Hälfte von ihren Hunden aufgefressen wurde.
Tag der Veröffentlichung: 26.06.2011
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Widmung:
Den Vergessenen dieser Welt