Aufrecht sitzt sie vor der Spiegelkommode. Sehr aufrecht, während sie mit der linken Hand die Bürste durch das widerspenstige Haar zerrt. Wieder und wieder.
Etwas an ihrem Gesicht gefällt ihr nicht.
Etwas IN ihrem Gesicht gefällt ihr nicht.
Ihr Mund.
Der starre Blick saugt das Rot der Lippen ins Gehirn, setzt dort etwas in Gang.
Sie löst sich auf, trennt sich von ihrer Körperlichkeit, schwebt über dem eigenen Haupt, sieht ihr Spiegelbild. Das ist sie, und auch wieder nicht, ihr Haar, ihr Mund, und doch anders, ein Rot, so grell, so scheußlich, so hurenrot.
'Schon mal gewesen, schon mal gesehen', schießt es ihr durch den Kopf, dann ist er vorbei, dieser Moment. Das Flackern der Pupillen weicht erneut einsetzender Starre.
Und weiter zieht die Bürste ihre Bahnen, gräbt sich in die Kopfhaut, löste wohlige Wärme aus, die in den Nacken rinnt, wird heißer und heißer. Das Brennen klopft zaghaft an der Pforte, tief im Gehirn, da wo das Schmerzzentrum wohnt ... sie lässt es nicht ein.
Nichts lässt sie ein, außer dem Rot.
So verschmiert, so schlampig, so hurenrot.
Ein krankes Rot, dass alles übermalt, sie peinigt, erschreckt, weil ...
Doch noch sperrt sich das Denken dem WEIL, da ist nichts außer diesem Gesicht, so vertraut und doch anders.
'Wisch es weg!', schreit eine Stimme, "hilf mir, WISCH ES WEG!!"
Und die rechte Hand hebt sich, um dem Hilfeschrei nachzukommen, hebt sich und wischt und wischt, und je mehr sie wischt, desto gieriger grapscht das quälend brennende Rot nach ihr, legt sich wie ein Schleier über die Augen.
Wieder glimmt ein Flackern in nun verschleierten Augen auf, hält ein Déjà-vu die Zeit an.
Und in das peinigende, 'Schon mal gewesen, schon mal gesehen', brechen Bilder einer Frau im Spiegel, deren Kleid sich vollsaugt mit diesem Tod bringenden Rot.
Beobachtet durch Schlitze nicht sehen wollender Kinderaugen, und einem zum Schrei geöffneten Kindermund, den das Entsetzen zum Schweigen verurteilt.
Und weiter hebt sich der Schleier, verlogen gefärbt in
"il colore dell'amore". Und sie erkennt die Frau im liebesroten Kleid, diese heißblütige Italienerin, befallen von einem Wahnsinn, welcher die Familie über Generationen hin in seinen Klauen hält. Hier und da eine auslassend, um nach trügerischem Pausieren noch grausamer zuzuschlagen.
Im Gehirn öffnet sich eine Pforte, lässt ihn zögerlich eintreten, den Schmerz, der mit geschliffenem Spaten tiefer nach Bildern gräbt, so tief, dass kraftlos die Hand mit der Bürste in den Schoß sinkt und sie sehen kann ...
... den Vater, erstickend am eigenen Blut, den kleinen Bruder, der nichts mehr sah, obwohl die dunklen Augen so erstaunt in ihr Versteck unterm Bett blickten. Und endlich auch, durch nichts mehr getrübt, das Gesicht der Mutter im Spiegel, den vom Wahnsinn entstellten Blick, der das kleine Mädchen unter dem Bett erfasst, sie eisern umklammert und zwingt zuzusehen, wie die Hand mit dem Messer flüchtig über den nackten Hals streift. Und das kleine Mädchen sieht den Hals der Mutter sich öffnen, öffnen zu einem satanischen Grinsen und sieht des Teufels Geifer das Kleid der Mutter färben. Und endlich, da erst, kann das Kind die Hände schützend über die Augen legen. Doch keine Hand ist mehr frei, um das Hören zu verwehren . Und so fährt er tief in ihr Innerstes, der röchelnde, gurgelnde Schrei:
'Wisch es weg, hilf mir, WISCH ES WEG!!"
Und sie wischte und wischte ihn tief und tiefer in ihren Kopf, wo sie ihn unter einem wuchtigen Berg von Vergessen begraben glaubte.
Welle um Welle siedend heißen Schmerzes überrollt die Frau, rüttelt triumphierend die Starre aus vom Grauen verkrampften Gliedern. Wie erlöst sinkt das Haupt auf eine Brust, die vom alten Geifer ihrer Kindheit bedeckt, als letzte Stütze dient zu sehen, was man aus Augenwinkeln eben sehen kann.
Nichts an diesem zerfetzten Körper neben ihrem Stuhl, erinnert noch an die einst so große Liebe.
Sterbend sieht sie rote Tränen auf die Hände im Schoß fallen, erkennt erstaunt den abgebrochenen Flaschenhals in ihrer linken, das altes Brotmesser in der rechten Hand.
Und mit der letzten Träne, die aus brechendem Augen fällt, verschwimmt auch ein letzter klarer Gedanke:
"Ich konnte so wenig fliehen wie Du, liebe kranke, vergessene Mutter."
Tag der Veröffentlichung: 08.11.2010
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Gewidmet meinen Lesern,
weil sie meine Motivation sind.