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Ich rannte in die Küche und wäre um ein Haar mit ihm kollidiert. Er stand seitlich am Spülbecken und gab komische kleine Laute von sich.
"Is was?", fragte ich und versuchte über seine Schulter zu spähen.
Ging aber nicht, er war größer.
"Hilf mir, mach was, ... schnell!"
Es klang ängstlich. Nein, irgendwie jämmerlich. Ja, verdammt jämmerlich sogar.
Dann drehte er seinen massigen Körper ein wenig aus der Spülnische, nur so weit, dass ich es sehen konnte.
Das Blut.
Er hatte sich in den Handballen geschnitten. So tief, dass ich glaubte seine Knochen sehen zu können. Das klebrige Rot schwappte nur so raus.
Ich liebte Blut. Seins besonders. Am liebsten so fünf bis sechs Liter.
Er interpretierte mein Starren nicht ganz richtig und wurde etwas lauter. "Jetzt kipp' mir hier nicht um, sondern hol mir 'ne Mullbinde oder was, damit ich die Blutung stoppen kann. Mir dreht sich schon alles!"
Das war 'ne gute Nachricht. Vielleicht fiel er bald um, am besten mit dem Kopf gegen die Spültischkante. Blass genug war er.
Dummerweise aber auch verdammt zäh.
Also blieb er stehen. Ich auch. Der Anblick war zu schön, um jetzt einfach aus der Küche zu gehen.
"Hol mir jetzt endlich die verdammte Mullbinde!!!"
Er brüllte so unverhofft los, dass ich heftig zusammenzuckte und mich besser in Bewegung setzte.
Mit einer gehörigen Portion Fantasie hätte man meinen können, in seinem Blick würde so was wie Dankbarkeit aufflammen.
Ich grinste ihn an, ehe ich ging und sagte freundlich:
"Tu dir und mir einen Gefallen ... verblute doch einfach."

Ich war 15 Jahre alt, und er der bescheuerte Freund meiner Mutter.

Warum ich Ihnen dass erzähle? Sie sitzen doch hier, weil Sie was wissen wollen, Herr Kommissar.
Ich dachte, es könnte Sie interessieren, warum ich geworden bin, wie ich bin.
Vielleicht erzähle ich es aber auch, weil es mich selbst interessiert. Ich konnte noch nie mit jemandem darüber reden.

Mit 15 Jahren sollte man sich vor Blut fürchten oder wenigstens ekeln.
Denke ich mal so.
Ich sah es gerne. Das Blut der anderen natürlich lieber, als mein eigenes.
Gedulden Sie sich, warum das so war, werden Sie bald verstehen.

Wenn jemand in der Familie schrie, flitzte ich sofort hin, immer in der Hoffnung, es wäre mächtig was passiert.
Nicht dass ich meine Familie nicht mochte, aber es gibt eben Dinge, die sind, wie sie sind.

Manchmal liest man in der Zeitung über Mörder. In deren Leben wird dann gewühlt und gegrast, und verdammt viel längst Vergangenes ans Licht und in die Öffentlichkeit gezerrt. "Schwere Kindheit", heißt es dann und "Mutter drogenabhängig", oder "als Kind missbraucht".
Dann muss ich grinsen.
Klar, manche macht so ein Scheiß vielleicht wirklich weich in der Birne. Aber mich hat keiner missbraucht. Meine Mutter ist langweilig, rührt nicht mal Alkohol an. Und mein Vater? Herrgott noch mal, auf dem Dorf haben doch damals alle mal einen gehoben.
Und geschlagen?
Die machen alle einen Aufstand wegen jeder kleinen Tracht Prügel. Ist doch lächerlich. Ich würde auch nachhelfen, wenn mein Balg nicht funktionieren würde. Habe ja zum Glück keinen.

Na ja, das eine Mal war nicht so prickelnd. Da hat mir mein Vater 'ne Zaunslatte über den Schädel gezogen. Seine Zuchtsau rannte durchs Dorf und er brüllend hinterher. Ich hatte mal wieder vergessen das Tor zu schließen.
Das war eine lustige Hatz.
Als er fluchend, die Sau hinter sich her schleifend, zurück kam, konnte ich mir das Lachen nicht verkneifen.
Selbst Schuld. Also ich jetzt.
Aber meine Mutter war damals taff. Hat ihn ganz schön angefaucht, als sie das viele Blut auf meinen Klamotten sah. "Nicht auf den Kopf!", hat sie gefaucht und gleich selbst eine kassiert. Männer reden eben nicht so gerne.

Als ich dreizehn war, machte ich mir das erste Mal Gedanken.
Damals hingen die Leute noch am Fenster rum. Man beobachtete die Nachbarn ganz offiziell. Heute ist das ja anders. Man beobachtet immer noch. Nur eben hinter verschlossenen Gardinen. Die Menschen stehen irgendwie zu nichts mehr so richtig.
Na ja, jedenfalls hing ich so am Fenster rum, als der Krause von gegenüber, auf die Straße latschte. Der war so ein richtiges Arschloch. Und angesoffen war er auch. War er eigentlich immer. Ich sehe also, wie der auf die Straße latscht und das Auto nicht sieht. Wie auch, wenn er doch den Kopf hängen ließ und seinen dreckigen Schuhspitzen was lallte. Also der Krause lallt und das Auto kommt immer näher.
Man, war das ein Adrenalinschub. Schluss mit rumhängen, ich stand plötzlich gewaltig unter Strom. Hatte wohl auch die Hände vor der Brust gefaltet. Nee, nicht um zu beten. Hab wohl in Richtung Auto so was gestammelt wie: "Ja, ja, ja , mach endlich!"
Ich sah schon Blut, ne ganze Menge Blut und dem Krause sein Gehirn, über die Straße verteilt.
Dann kreischten Bremsen, ich begriff, dass der Fahrer es nicht schaffen würde, und Krause ja sowieso nicht. Und dann dieses dumpfe Geräusch. Die Knöchel meiner Finger müssen ganz weiß gewesen sein vom Pressen, so aufgeregt war ich. Ganz kurz konnte ich Krauses Gesicht sehen. Sah irgendwie erstaunt aus, als ihn der Kühlergrill von der Straße abhob und wie einen nassen Sack ein Sück weit schleuderte. Die Karre rutschte Krause hinterher, aber dummerweise blieben die Räder genau vor ihm stehen.
So richtig drüber rollen, dass wäre verdammt gut gekommen.
Ich wollte gerade runter rennen, mir den toten Krause aus der Nähe geben, da vermasselte das Arschloch mir alles. Der bewegte sich nämlich.
Kroch laut stöhnend unter dem Auto vor und rappelte sich tatsächlich auf die Füße. Der leichenblasse Fahrer half ihm dabei. Auf den wurde ich stinksauer.
"Du Idiot", murmelte ich enttäuscht vor mich hin, "so eine Gelegenheit kriegst du nicht wieder."
Ich wohl auch nicht so schnell.
Krause klang nicht nur sehr lebendig, sondern auch ziemlich nüchtern, als er jammerte, "mein Arm, mein Arm."
Da begriff ich, warum mein Vater so gerne soff. Besoffene hatten einfach mehr Schwein.

Als mein Adrenalin sich wieder auf dem Nullpunkt eingepegelt hatte, begann ich nachzudenken. Wieso hatte ich mich so darauf gefreut, den Typ zermatscht zu sehen. Ok, Krause war ein dämlicher Hund. Aber wirklich was getan hatte er mir noch nie. Also da war kein Hass, oder so was. Und dann stellte ich mir vor, es wäre jemand anderes gewesen. Jemand, den ich nicht so bescheuert fand. Das war gar nicht so einfach, weil alle irgendwie bescheuert waren. Also nahm ich meinen Vater, dann Mutter und meine beiden älteren Brüder. Ich stellte sie der Reihe nach auf die Straße und ließ das Auto angebraust kommen. Einer nach dem anderen wurde zermatscht. Bei jedem grinste ich ganz verträumt. Ok, bei meinem Vater ein bisschen breiter. Wie ich schon sagte, ich hatte nichts gegen meine Familie, aber ohne konnte ich mir das Leben auch vorstellen.

Ich kam zu der Erkenntnis, dass ich nicht ganz so war, wie der Rest der Welt. Ich war kein Weichei, konnte was aushalten und ich hatte keine Angst vorm Sterben. Jedenfalls nicht vorm Sterben der Anderen. Im Gegenteil. In mir wuchs eine unbändige Neugier zu sehen, wie das Leben einen Menschen verlässt.
Dieser Gedanke kam dann immer häufiger und kurze Zeit später war er das Erste, wenn ich am Morgen die Augen aufschlug und das Letzte, bevor ich abends einschlief.
Noch ein wenig später träumte ich dann auch davon. Ich sah Menschen sterben, sah ihnen dabei in die Augen und wurde wütend, weil ich alles wie durch einen Schleier sah. Träume sind selten so richtig klar. Ich wachte also immer häufiger mit einer unbändigen Wut im Bauch auf. Hatte immer öfter das Gefühl, gleich zu explodieren. Das war eine grässliche Zeit.
Irgend etwas musste ich tun. Habe ich dann auch.

Haben Sie eine Zigarette für mich? Wenn ich rauche, kann ich mich einfach besser konzentrieren. Wo? Ahhh, Danke, das tut gut. Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, ich musste was tun.

Ich begann draußen herumzulaufen. Einfach so in der Gegend herumzurennen. Drin hielt mich nichts, ich wurde fast verrückt, wenn ich im Haus war. Sah die Familie und ging mal lieber. So 'ne Wut ist manchmal unberechenbar.

Eines schönen Tages fand ich mich im Nachbardorf wieder. Wusste gar nicht so richtig, wie ich da hin gekommen war.
Sagte ich schon, dass ich was Besonderes war?
Ich konnte die Realität manchmal ausblenden. War dann auf einer anderen Ebene. Eine Ebene, auf der ich mich nicht verstellen musste. Dort konnte ich hemmungslos tun, was immer ich tun wollte. Tat es auch. Dort fühlte ich mich verdammt gut. War ruhig und nie wütend.
Dummerweise spuckte mich meine Ebene immer wieder aus. Oder eigentlich zum Glück. Stellen Sie sich doch mal vor, sie hätte es nicht getan. Dann würde ich ja jetzt in einer Gummizelle sitzen. Lustiger Gedanke, finden Sie nicht auch?
Nein? Nun seien Sie doch nicht so humorlos.
Na ja.

Also die Ebene hatte mich ausgespuckt und ich stand im Nachbardorf. Da war auch gleich wieder diese Unruhe. Das war nicht so eine Unruhe, wie Sie sie kennen, nein, das war etwas, was einen von Innen heraus auffrisst. Das machte krank. Das machte wahnsinnig! Sie verstehen doch, dass ich dagegen etwas tun MUSSTE?

Ich war wohl quer über die Äcker gerannt und stand an der Rückseite eines Bauerngehöfts. Ziemlich runtergekommen, fast so wie das meines Vaters. Ich glaube, das war im August, mächtig heiß war es an dem Tag.
Ich sah eine rostige Wassertonne an der Rückwand des Hauses. Der Inhalt war nicht mehr ganz frisch, aber gut genug um mein verschwitztes Gesicht zu kühlen. Ich hing noch über der Tonne, als ich sie hörte. Das Geräusch kam aus dem wackligen Geräteschuppen rechts von mir. In einem alten Waschkorb krabbelten und kabbelten quietschvergnügt fünf Welpen. Die Hundemutter war nirgends zu sehen.
Glauben Sie mir, dass ich keinen einzigen Moment zögerte? Verstehen Sie das? Ich meine, dass war ein instinktives Handeln, so in etwa, als würde man sich an der Nase kratzen, wenn es juckt. Da überlegt man auch nicht, weil es einfach so passiert. Also das Kratzen.
Ich griff mir wahllos einen und sah prüfend in seine Augen. So lebendig, so neugierig und ... so voller Vertrauen. Der schmiegte sich doch tatsächlich an mich.
Ganz zart, weich und warm war er. Richtig kuschelig. Nur ... mir war nicht nach Kuscheln. Ich hatte diese böse Unruhe.
Sagte ich schon, dass ich was tun MUSSTE?

Ich streichelte den kleinen Kerl noch mal ganz lieb, man ist ja kein Unmensch und drückte ihn dann blitzschnell unter Wasser. In der rostigen Regentonne. Dabei sah ich ihm in die Augen. Ich wollte sehen, wie das Vertrauen daraus wich, die Neugier, das Leben. Ich glaube, ich wollte damals erstmals auch diese wunderbare Angst sehen. Die Panik. Das Erkennen. Und endlich das Sterben.
Aber, verdammt noch mal, ich war so jung und unerfahren. Der Hund war so klein, aber er wehrte sich und das Wasser spritzte und ich sah NICHTS! Verstehen Sie, dass ich da erst so richtig wütend wurde? Na gut, tobte ich innerlich, dann stirbst du eben, weil du mir alles versaust. Es war schnell vorbei.
Beim Zweiten würde ich klüger sein. Und ich war klüger. Ich griff noch mal in den Korb. Dieses Mal wollte ich ihm in die Augen sehen können.
Ich erwürgte ihn und sah, was ich sehen wollte.
Und während ich zusah, wie der Tod die Panik bannte, wie alles Leben aus den gerade noch quicklebendigen Äuglein wich, durchraste mich eine heiße Welle. Ein Gefühl, wie ich es nicht einmal nachts unter meiner Bettdecke erlebt hatte nahm mir erst die Luft und dann, endlich, diese elende, peinigende Unruhe.
Ja, da staunen Sie, nicht wahr?
Ich war ein verdammt frühreifes Kerlchen.
Erschöpft fiel ich ins Gras und fühlte mich so gut, wie ein fast 14-jähriger sich nach seinem ersten Hammer-Orgasmus nur fühlen kann.

An diesem Abend erzählte ich sogar einen Witz beim Abendbrot. Keiner lachte. Meine Brüder schauten mich blöde an. Die begriffen eh nie was. Der Blick meiner Mutter und vor allem ihr Ton klangen misstrauisch, als sie mich fragte: "Hast Du was angestellt?"
Ich musste künftig vorsichtiger sein.

Beunruhigt Sie mein Geständnis? Soll ich aufhören? Nein?
Hahaha, was für eine Frage. Manchmal bin ich richtig humorvoll, finden Sie nicht auch? Sie müssen es sich ja anhören.
Sonst erfahren sie nichts über Marie. Die süße kleine Marie. Aber immer schön der Reihe nach.

In dieser Nacht habe ich verdammt gut geschlafen. Keine Träume, aus denen man wütend aufwacht. Eine kurze Zeit lang dachte ich sogar, jetzt ist alles gut. Eine sehr kurze Zeit. Damals machte es mir Angst, als die Unruhe wieder anfing.
Sagte ich schon, dass ich noch ziemlich dumm war?
Heute weiß ich natürlich, dass es so kommen musste. Sehen Sie, es ist wie mit dem Hunger. Man schlägt sich am Abend den Bauch voll und am nächsten Tag knurrt der Magen wieder. Und was machen Sie dann? Richtig. Sie essen.

Dummerweise konnte ich meinen Appetit nicht stillen indem ich an den Kühlschrank ging. Weil mein Appetit nicht nach Salami und Schnitzel verlangte.
Er brüllte nach Fleisch. Lebendigem Fleisch.
Nach pulsierenden Arterien unter meinen Händen. Oh ja, ich hatte es nicht vergessen, dieses Pulsieren, während ich dem Hund den Hals zudrückte.
Dann fingen seine Augen an, mich zu verfolgen. Nein, nicht böse. Wann immer ich sie vor mir sah, hatte ich dieses angenehme Ziehen in der Lendengegend.
Aber dieses Ziehen machte mich nicht glücklich.
Im Gegenteil.
Dem Ziehen hätte das große Beben folgen müssen. Dieses Beben, das die Wut in wohliges Stöhnen verwandelt. Das so erlösend ruhig und frei machte.
Und wieder wurde es Zeit, etwas zu tun.

Haben Sie sich nicht gewundert, dass ich am Anfang vom Freund meiner Mutter sprach? Doch? Warum fragen Sie mich dann nicht? Kleiner Scherz, ich lasse Sie ja gar nicht zu Wort kommen.

Im Oktober des gleichen Jahres wurde ich 14.
Die Herbstferien hatte begonnen.

Was gucken Sie denn so erstaunt? Ich ging natürlich auch in die Schule.
Wie jeder 14-jährige. Saß meine Zeit so unauffällig wie nur möglich ab. Das stand dann auch immer in den Zeugnissen:
* ... unauffälliges Verhalten*, bla, bla, bla.
Ich war ein wahrer Meister im unauffällig sein. Konnte den größten Scheiß bauen, keiner kam jemals auf mich. Nicht der leiseste Verdacht. Ich war so unauffällig, dass keinem auffiel, dass ich keine Freunde hatte, nie zu Geburtstagen einlud und nie eingeladen wurde. Ich erledigte meine Hausaufgaben, fehlte nie, hatte immer alles dabei, meldete mich kaum, gab jedoch Antworten, wenn ich dennoch dran kam.
Wenn Sie heute einen meiner alten Lehrer nach mir fragen würden, würde der sie sicher ganz erstaunt fragen, von wem Sie sprechen. Und so war es überall.
Mein Vater konnte sich sicher nicht mal zu Lebzeiten an mich erinnern. Der hatte sich alle seine Erinnerungen längst weggesoffen. Meiner Mutter fiel ich nur auf, wenn ich was brauchte, also brauchte ich selten etwas, und für meine älteren Brüder schien ich gar nicht erst existent zu sein.
Es war, als gäbe es mich nur in meiner Fantasie.
Und wenn es mich nur in meiner Fantasie gab, warum sollte ich ihr dann nicht freien Lauf lassen?

Müssen nicht selbst Sie mir da Recht geben? Nein, Sie brauchen nichts zu sagen, nicken Sie einfach. Sehen Sie, ich wusste, dass wir gut miteinander auskommen werden.

Verstehen Sie das, mein Freund? Jetzt gucken Sie doch nicht so wütend. Lassen Sie mich für eine kurze Zeit einen Freund in Ihnen sehen. Dann plaudert es sich doch viel angenehmer.

Ich spreche hier auch von Wertigkeiten. Wertigkeiten sind eine zweiseitige Sache.
Ich hatte keinen Wert für die, die hatten keinen für mich.
Außer in diesen besonderen Momenten.
Da wurden einige Auserwählte wertvoll.
Für mich, das Beben und dieses Wahnsinnsgefühl der Macht.

Habe ich Wahnsinn gesagt?
Erwähnte ich schon, dass ich ein humorvoller Mensch bin?
Hahaha.
Herrjeh, Sie verstehen ja gar keinen Spaß.

Was wollte ich denn nun eigentlich sagen? Sehen Sie, was Sie anrichten? Lassen Sie doch diesen grimmigen Blick, sonst breche ich unsere kleine Unterhaltung ab. Ahhh, geht doch.

Meine Mutter hatte also diesen Freund. Nein, nicht, was Sie denken. Sie war eine anständige Frau. Natürlich starb vorher mein Vater. Alles hatte seine Richtigkeit. Sein Tod war ein einschneidender Moment in meinem jungen Leben.
Ich tötete viele Tiere, hatte viele schöne Momente. Aber irgendwann war es nicht mehr, wie es sein sollte. Die Unruhe kam schneller und stärker zurück, als je zuvor. Ich rannte mir fast die verfluchte Lunge aus dem Hals, am Anfang half es ein wenig, aber dann klappte auch das nicht mehr. Ich glaubte, mein Kopf wollte explodieren und meine Träume erschreckten mich selbst.

Bis zu jenem Tag.
Eigentlich müsste ich es nicht mehr erwähnen, aber er kam nicht gerade nüchtern nachhause. Mein Zimmer hatte keine Heizung und draußen war es verdammt kalt für Oktober. Also saß ich in der Wohnküche. Na ja, nicht so wirklich. Mehr so in der Wohnküche auf meiner zweiten Ebene. Dort sollte man aber nicht sein, wenn der Vater besoffen nachhause kommt.
Er muss wohl irgendwas zu mir gesagt haben. Ist aber nicht auf meiner Ebene angekommen.
Der Schlag, der kam an. Ich flog mit so einer Wucht gegen den Spülschrank, dass mir schwarz vor Augen wurde. Vielleicht, weil ich so benommen war, vielleicht auch, weil ich eh nicht in der besten Verfassung war ... ich vergaß mich für einen Moment. Langsam kam ich wieder auf die Beine, sah ihm ins Gesicht und sagte ganz ruhig: "Fass mich noch einmal an und ich steche Dich ab wie ein Schwein." Sein Gesicht hätten Sie sehen müssen. Die Augen sind ihm fast aus dem Kopf gesprungen, so starrte er mich an. Ich glaube, das war das erste Mal, dass er mich wirklich sah. Leider hielt die Starre nur sehr kurz an und ich begriff, dass ich mich mit meinem Versprechen übernommen hatte. Also drehte ich mich um und rannte aus dem Haus, in die Scheune. Auf die Tenne würde er in diesem Zustand kaum kommen, dachte ich und dachte verkehrt. Er kam und brachte sogar den alten Ochsenziemer mit.
Sie können sicher verstehen, dass ich nach einem Fluchtweg suchte. Aber es gab keinen.

Das hätten sie mir fast geglaubt, nicht wahr? Nein? Gut so. Wenn man BESONDERS ist, gibt es immer einen Ausweg.

Ich hatte ihn auch schon entdeckt. Vier Meter unter uns. Oder besser unter ihm. Großvaters alter Pflug, umgedreht und aufgebockt. Sollte wohl mal was gemacht werden dran. Selbst Schuld, sage ich mir immer. War doch wie 'ne Aufforderung. Ich musste den Schlägen nur geschickt ausweichen und ihn an die richtige Stelle lenken. Wissen Sie, dass Besoffenen wie Berserker rasen können? Und dann hatte ich ihn dort, wo ich ihn haben wollte. Während er zum nächsten Schlag ausholte, sprang ich vor und gab ihm einen leichten Stoß. Mehr brauchte es nicht. Als er nach hinten ins Leere flog, guckte er wie Krause das Jahr zuvor. Er kam nicht mal zum Schreien. Dieses Geschrei mag ich überhaupt nicht. Wie soll man denn da genießen können. Weil er nicht schrie, konnte ich das Brechen seiner Wirbelsäule hören. Ganz deutlich. Ein kurzes Knack ... nicht wirklich spektakulär, aber ein interessantes Geräusch. Und da spürte ich es. Das Beben begann in meinen Fingerspitzen. Beinahe wäre ich auch noch gestürzt, so schnell kletterte ich die Leiter runter. Ich musste zu ihm, bei ihm sein.
Er lebte noch. Genug, um begreifen zu können. Mit dem Begreifen flackerte eine gigantische Panik in seinen Augen auf. Das Beben lief durch meine Arme, in den Brustkorb, nahm mir die Luft. Irgend was musste in ihm kaputt gegangen sein. Sein Mund öffnete sich, und gerade als ich dachte jetzt sagt er was, kam ein Schwall Blut raus. Einfach so. Mund auf und schwapp.
Oh mein Gott, in diesem Moment spürte ich so viel Liebe für ihn. Das Beben lief durch meine Knie und ich musste mich festhalten, weil sie ganz weich wurden. Er war wunderbar, schaute mir direkt in die Augen. Da war so unendlich viel, so ganz anders als bei dem Hund. Die Panik verwandelte sich in ungläubiges Staunen, ich lächelte ihn aufmunternd an. Dann sah ich das Verstehen, und endlich ... die nackte Angst. Seine Lider begannen zu flattern wie aufgeregte kleine Spatzenflügel und hinter ihnen, endlich, erlosch das Leben. Das Beben ließ meine Knie endgültig nachgeben, raste hoch in meinen Bauch, den Kopf, schleuderte mich wimmernd zu Boden, raste in meinen Unterleib um dort zu explodieren.

Geben Sie mir einen Moment, Herr Kommissar. die Erinnerung nimmt mich gerade sehr mit.

Wissen Sie, dass es Orgasmen gibt, bei denen man Angst hat, dass der Schwanz platzt? Aus mir ist alles rausgespritzt, was sich in den letzten beiden Jahren angesammelt hatte. All die Wut, die Verachtung, das nicht verstehen, das sich klein fühlen ... alles.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort lag und Welle um Welle mich überrollte. Ich weiß nur, dass in diesem Augenblick mein neues Ich geboren wurde. Als ich mich erhob, war ICH ein Anderer.
ICH fühlte mich unendlich stark und vollkommen.
ICH WAR DIE MACHT!

Es ist wichtig, dass Sie das wissen, Herr Kommissar, weil Sie sonst nicht verstehen können. Am Ende hätten sie noch geglaubt, ich sei einer von diesen billigen kleinen Halunken.
Na sehen Sie, jetzt kann ich Ihnen auch endlich von Marie erzählen. Jetzt, wo wir doch Freunde sind.

Mein Vater hatte mir zu Lebzeiten nichts gegeben, aber in seinem Sterben ALLES.
Es war so überwältigend, dass eine lange Zeit der Zufriedenheit anbrach. Ich war endlich existent.

Sie schauen so ungläubig. Verstehe schon. Sie wundern sich, dass ich damit durchgekommen bin. Damals war alles anders. Da hat man keine Kriminaltechniker und Pathologen auf den Plan gerufen, wenn ein ortsbekannter Säufer von der Tenne fiel.
Eine Zigarette wäre jetzt gut. Darf ich noch ein letztes Mal? Danke, Sie sind sehr freundlich.

Die nächsten drei Jahre führte ich so was wie ein "normales" Leben. Meine Mutter schleppte ein Jahr später diesen Freund ins Haus. Auch ein Arschloch, aber der ließ mich in Ruhe. Ich glaube, dem war ich nicht ganz geheuer. Warum, weiß ich bis heute nicht, ist auch nicht wichtig.

Manchmal wollte diese Unruhe wieder hochkommen, dann musste ich nur die Augen schließen und die Macht dieser wunderbaren Bilder auf mich wirken lassen. Seine Augen, dieser Blutschwall ... meine Macht.

Leider ist kaum was für die Ewigkeit, oder sollte ich sagen zum Glück, Herr Kommissar?
Ich war 18, als die Unruhe stärker wurde und die Bilder anfingen zu verblassen. Die Zeit des tun müssens brach erneut an. Sehen Sie, es war doch richtig, Ihnen alles zu erzählen. Jetzt muss ich nichts mehr erklären. Sie wissen, was ich tun musste. Wenn man in einem Dorf lebt, sind einem die Hände ganz schön gebunden. Ich hätte Aufsehen erregen können, also schnürte ich mein Bündel und zog in eine große Stadt. Welche? Egal, wichtig ist nur, sie war sehr groß.
Ich fand einen Job als Müllfahrer. Jetzt denken Sie sicher, das war unter meiner Würde. Nicht doch, man muss Kompromisse eingehen. Ich kam rum. Unauffällig. Wer schenkt schon einem Müllfahrer Beachtung. So lernte ich dann die Rotlichtviertel kennen. Und die Huren. Es war eine gute Zeit.

Die Viertel lagen weit auseinander und ich konnte viele wunderbare Bilder speichern, ehe in den Zeitungen Wind gemacht wurde. Sie waren doch schon im Dienst, können sich sicher erinnern. Aber ich war clever. Da nie eine Leiche auftauchte, vermutete man Frauenhandel hinter dem Verschwinden. Durch Zufall hatte ich diesen alten Stollen entdeckt. Ich lief nach wie vor gerne herum. Der Eingang war total zugewuchert und sah aus, als wäre dort seit vielen Jahren keiner mehr gewesen. Aber Sie kennen ihn ja nun selbst, haben mich erwischt, Sie Schlingel. Seien Sie stolz auf sich.

Vorsichtshalber wechselte ich dennoch in den folgenden Jahren die Städte. Wieder und wieder. Sagte ich schon, dass nichts für die Ewigkeit ist? Huren. Ich sage Ihnen was. Ob beim Blasen oder beim Sterben ... Huren können auf Dauer nicht befriedigen.
Finden Sie nicht auch, dass Huren unter meiner Würde waren?

Sie wissen, was jetzt kommt, nicht wahr, Herr Kommisar? Ich kann Ihnen die Ungeduld ansehen. Gleich, gleich. Nur noch einen winzigen Moment Geduld. Sie müssen das verstehen, Herr Kommissar, hätte ich Ihnen gleich von Marie erzählt ... Hand aufs Herz ... hätten Sie mir so lange zugehört? Sehen Sie, ich mache nichts, ohne mir was dabei zu denken.

In der nächsten Stadt stieß ich erstmals auf ein Problemchen. Die Müllabfuhr hatte keine Stelle frei. Einen kurzen Moment dachte ich an Briefträger, verwarf es jedoch. Da hat man zu persönliche Kontakte, wird zu schnell be- und erkannt.
Warum eigentlich gleich wieder arbeiten, dachte ich schließlich,
meine Ersparnisse reichten durchaus für einen verlängerten Urlaub. Mein Auto kennen Sie ja, Herr Kommissar, damit fiel ich auch nicht auf, wenn ich mehrmals durch die gleichen Straßen fuhr. Und ich hatte bedeutend mehr Zeit für die Auswahl.

Die Erste war eine Blondine aus so einem Nobelviertel. Üppiges Weib, würden Sie sicherlich sagen, aber darauf kam es mir nicht an. Sie hatte so was stolzes, fast majestätisches, wenn sie aus dem Haus kam. Aber an sie ran kommen hat ein verdammtes Stück Zeit gekostet. Und Zeitverschwendung ist nicht gut. Nicht in meinem Fall, da wird die Unruhe zu groß und dann konnte ich schon mal die Beherrschung verlieren. Spät abends in einem Parkhaus erwischte ich sie endlich. Ohne das gute alte Äther hätte ich die Kratzbürste nicht in meinen Kofferraum gekriegt. Da waren die Huren viel kooperativer.
Und ein paar Stunden später, in diesem Stollen, gerade als das Beben so richtig schön losgehen wollte, bekam sie den Hals zum Schreien frei. Verdammt noch mal, die hat sich aufgeführt wie eine Irre! Als ich sie endlich still hatte, war nichts mehr mit diesem wunderbaren Gefühl. Die reiche Schlampe hatte mir alles versaut. Die ganze Arbeit umsonst!

Herr Kommissar, lernen Sie was daraus. Nie eine von diesen reichen Schlampen. Das bringt nichts. Was sage ich da. Nein, Sie doch nicht, Sie haben einen guten Geschmack. Sie hatten ja Marie.

Tja, Herr Kommissar, dass ist wirklich ungünstig gelaufen, aber wer kann schon seinem Schicksal entgehen. Wir beide wissen das. Und Marie wusste das auch. Zumindest in ihren letzten Minuten.
Woher sollte ich denn auch wissen, dass ein Kommissar in so einem netten Vorstadthäuschen wohnt. Stand ja nicht dran, "Hier wohnt ein Kommissar".
Was für eine köstliche Idee, ha ha ha, aber für Sie kommt sie nun leider zu spät. Man muss sich den Humor erhalten, der ist wichtig, das verstehen Sie doch?

Sehe ich da etwa Hass in Ihren Augen? Man könnte glatt meinen, dass Sie mich schlagen möchten. Aber das können Sie nicht, nicht wahr? Wie ist das eigentlich, wenn einem die Hände gebunden sind? Naja, lassen wir die Späße, dass viele Reden macht mich langsam müde.

Als ich sie das erste Mal sah, glaubte ich auch das erst Mal daran, dass es so etwas wie Liebe gibt. Dieses Lächeln, dieser Gang. Sie war eine kleine Elfe. So zierlich und zerbrechlich wie sie wirkte, weckte Marie meinen Beschützerinstinkt. Wirklich, ich wollte sie beschützen. Vor dieser ganzen kranken Welt da draußen. Sehen Sie, ich bin gar nicht so schlecht, wie Sie glauben.
Sie war wunderbar. Noch wunderbarer als mein Vater. Mit keiner anderen Frau habe ich diese Zeremonie so genossen, wie mit Ihrer, oder sollte ich sagen unserer? Marie.
Sie war so anders. Kein Strampeln, kein Kratzen, kein Schreien. Nein, nicht Marie. Sie redete mit mir. So viel Optimismus in so einer kleinen Person. Sie können stolz auf sie sein, Herr Kommissar, selbst als dieser Optimismus aus ihren Augen verschwand, versuchte sie nicht zu schreien.
Sie hatte so eine zarte Haut, wie Alabaster. Sagt man nicht so?
So weich, so verführerisch, aber ich ließ mich auch davon nicht verführen. Ich bin schließlich kein Schwein.

Sehen Sie sich mein Armband an, es ist eine Erinnerung an Marie. Diese samtweiche Haut, ich konnte einfach nicht widerstehen. Wollen Sie mal auf die Innenseite gucken? Sehen Sie hier, ich habe sogar ihren Namen reingeschrieben.

Jetzt werden Sie doch nicht gleich wütend, ich habe ihr nicht weh getan! Ich habe mir diesen kleinen Streifen Haut erst stibitzt, als alles vorbei war. Was denken Sie denn von mir!
Langsam machen Sie mich wirklich sauer.

Haben Sie ihre kleine süße Marie schon mal wütend erlebt? Nein, ich denke nicht. Sie war ein Engel. Was für eine sanfte Stimme.
Ich hätte ihr stundenlang zuhören können und glauben Sie mir, ich habe gut zugehört. Sie wurde kurz vor dem gigantischen Beben noch mal so richtig redselig. Das arme Ding glaubte tatsächlich, es würde ihr helfen, wenn sie mir verrät, dass die Polizei mich schon längst im Visier hat. Das ihr Mann der Kommissar, und mir auch schon auf den Fersen ist.

Sie konnten ja nicht wissen, dass ich DER BESONDERE bin. Aber jetzt, jetzt wissen Sie es.
Ich habe ihr versprochen, dass Sie bald wieder vereint sein werden. Und ich halte meine Versprechen. Sie ist hier, aber das haben Sie sich sicher schon denken können. Sie sind alle hier.

Ja, staunen Sie nur, ich habe Sie erwartet.
Sie hätten nicht so neugierig sein dürfen, mir nicht in meinen Stollen folgen sollen.
Und vor allem hätten Sie nicht so hinterhältig mein ganzes Leben aus mir herausquetschen dürfen. Obwohl es gut getan hat, mal zu reden. Ihnen ist doch klar, dass ich Sie nicht mehr gehen lassen kann?
Meine Hände kribbeln.

Ich werde ihnen jetzt den Klebestreifen vom Mund abreißen.

Versprechen Sie mir ... nicht zu schreien?

Impressum

Texte: Fabiana
Tag der Veröffentlichung: 28.10.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Gewidmet allen Lesern der Schreibarena

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