"Frag jemanden nach der Uhrzeit, damit du pünktlich bist. Und mach dich nicht wieder so schmutzig."
Die kleine Lela schlüpfte aus der Wohnung, die mahnenden Worte im Ohr. Ganz fest nahm sie sich vor, die Mutter heute nicht zu enttäuschen.
Auf den Spielplatz in der Siedlung sollte sie gehen, aber den mochte sie so gar nicht. Lela stand vor dem Haus und schaute sehnsüchtig über die Straße. Dort drüben führte ein breiter Sandweg an einigen Gärten vorbei ... in eine Welt voller Abenteuer. Gleich nach den Gärten musste man über Eisenbahnschienen klettern und das hatte die Mutter bei strenger Strafe verboten.
Lela seufzte. Hinter den Schienen begannen die Wiesen und riesige Getreidefelder. Ein staubiger Weg, von knorrigen Apfelbäumen gesäumt, führte zu einem Bauernhof. Er war düster und halb verfallen. Nur eines der Gebäude war bewohnt und die Erwachsenen munkelten über diese Leute.
Vielleicht weil sie so arm waren, dachte das Kind.
Aber hinter diesem Hof gab es eine riesige Scheune, bis unter das Dach gefüllt mit Heu, in welchem es sich herrlich spielen und toben ließ. Auch das durfte die Mutter nie erfahren, denn sie machte sich so schreckliche Sorgen, weil ja Kinder im Heu ersticken können. Wenn die Mutter wüsste.
Es fiel so schwer, das folgsam sein, dennoch drehte sich das Kind um und schlenderte Richtung Spielplatz.
Bald war der Kummer vergessen, nicht in die verbotene Welt gehen zu dürfen, denn Lela besaß die Gabe, selbst in kleinen Dingen etwas Großes zu sehen.
Dort drüben, das alte Haus mit dem Schieferdach. Die Leute hatten ein Auto. Ganz schwarz war es und für Lela stand fest, es mussten sehr reiche Leute sein. Das einzige Auto in der ganzen Straße. Sicher waren es hohe Herrschaften und im Haus liefen viele Diener herum.
Das kleine Mädchen entschied sich für einen Abstecher durch die Bogenstraße. Sie verlief im Halbkreis und mündete wieder auf ihrem Weg.
Dort sahen die Häuser ganz anders aus. Mutter nannte sie Villen und die Kinder, die in den Gärten spielten, waren immer ganz schick angezogen. Die Buben hatten saubere Scheitel und die Mädels hatten Schleifen in ihren Zöpfen. Ein Haus liebte sie ganz besonders. Es war, als hätte man viele kleine Häuschen neben-und übereinander gesetzt. Keine Seite sah aus, wie die andere und es hatte lustige halbrunde Balkone, die mit Blumentöpfen voll gestellt waren.
Lela lugte neugierig durch alle Hecken und Zäune. Manchmal schlüpfte die Kinderhand durch eine Lücke und pflückte eine besonders schöne Blume. Die musste sie dann hinter dem Rücken verstecken, wenn jemand kam. Stehlen war etwas sehr Schlimmes.
Es war heiß und die Hitze ließ die Luft über dem Asphalt flirren. Bald ließen die Blumen die Köpfe hängen und das Kind begrub sie traurig auf einem ausgedörrten Rasenstreifen.
In Lelas Wohnviertel gab es keine langen Wege, aber für dieses sechsjährige Mädchen schien es eine Wanderung in die weite Welt zu sein. Eigentlich sollte sie schon längst mit den anderen Kindern auf dem Spielplatz spielen, doch nichts zog sie dorthin. Die Kinder waren laut und balgten sich um den Platz auf der Schaukel, oder der Wippe. Aber ein Mädchen balgt sich nicht herum, Mutter fand das ungehörig und so zog Lela fast immer den Kürzeren.
Sie liebte es, die Welt für sich ganz alleine zu entdecken.
Ihr war heiß und durstig war sie auch. Wenn sie jetzt über die Straße und in die Siedlung gehen würde, wäre sie ganz schnell da. Es gab auch einen Wasserhahn, außen am Spielzeughaus, und wenn der strenge Aufseher gute Laune hatte, durften sie sogar herumspritzen.
Lela stand an der Wegkreuzung und schaute verträumt nach rechts. Dort war die Straße viel breiter, die Häuser wunderschön und jedes hatte einen kleinen Garten drumherum.
Sie hatte aufgehört über Verbotenes nachzudenken, ließ sich locken von dem, was es zu entdecken galt. Sie war schon oft durch diese Straße gegangen, mit ihrer Mutter und dem Bruder, bei all den sonntäglichen Spaziergängen. Längst hatte sie begriffen, dass die anderen nicht immer sahen, was sie sah und wenn sie es doch sahen, dann ganz anders als sie. Sie sah Prinzessinnen, Könige, Hexen, Räuber und verzauberte Welten. Und sie behielt für sich, was sie sah. Nun ja, nicht ganz, denn einen gab es, mit dem sie alles teilte. Peter. Ihr bester Freund, ihr einziger Vertrauter, Peter, der all das für sie war, was sie wollte, dass er es war. Nur heute war ihr nicht nach reden zumute. Heute schloss sie ihren Freund ganz tief in ihrem Kopf ein, denn er hatte manchmal die hässliche Angewohnheit, ihr ein schlechtes Gewissen einzureden.
Sie war schon an einigen der hübsch gestrichenen Häuser vorbei gegangen. An einem war sie lange stehen geblieben. Ein blauer Luftroller hatte an der Hauswand gelehnt und daneben ein Herrenrad. Lela stellte sich eine glückliche Familie in diesem Haus vor. Lachende Kinder. Nein. Am besten nur EIN Kind. Und einen Vater, der mit diesem Kind spielte. Deshalb sah Lela dieses Kind auch lachen. Ein Vater. Wie sehr wünschte sie sich auch einen. Sie strich sich das verschwitzte Haar aus der Stirn und wischte flink die schmutzigen Finger am Rock ab. Ganz brav stand sie da und versuchte ein sehr vernünftiges Gesicht zu machen. Vielleicht schaute dieser nette Vati ja aus dem Fenster und sah sie. Dann würde er vielleicht auch ihr Vati sein wollen. Tapfer machte sie minutenlang einen besonders netten Eindruck, aber kein freundlicher Mann ließ sich blicken.
Irgendwo rief eine Frau dass das Essen fertig sei und Lela bekam Hunger. Außerdem war es noch heißer geworden und ihr Mund war ganz trocken. Traurig ging sie weiter, träumte sich in jedes Haus eine besondere Familie und bestaunte die hübschen Gärten.
Plötzlich blieb das Kind stehen. Ein schneeweißer Eisenzaun, mit Rosen und Blättern verziert, stach Lela ins Auge. Und als wäre der Zaun selbst nicht schon prächtig genug, rankten sich weiße und rosa Rosen um die Stäbe. Margeritenbüsche und Blumen in leuchtenden Farben, die das Kind nicht kannte standen links und rechts am schmalen Weg, welcher zur Treppe des Hauses führte. Das Haus hatte die Farbe von Mutters leckerem Vanillepudding, ein rotes Dach und auf allen Fensterbrettern standen bunte Blumentöpfe. 'Hier wohnt Großmütterchen Immergrün', dachte Lela ganz erstaunt. In der Christenlehre hatte der Vikar das Märchen vorgelesen und das hier der Wald fehlte, störte die Kleine nicht im Geringsten. Sie stand, staunte, träumte und war ganz verzückt. Noch nie war ihr dieses Haus aufgefallen und so ein Haus musste doch jeder gleich sehen. Dann erst entdeckte das Mädchen, dass der Treppenaufgang zur Haustür ebenfalls von Rosen umrankt war. Ein anderes Märchen fiel ihr ein. "Schneeweißchen und Rosenrot". Oh, sie kannte schon viele Märchen und bald würde sie in die Schule kommen und dann alle Märchen dieser Welt lesen.
"Was ist denn das für ein kleiner Zaungast?"
Eine helle Frauenstimme weckte Lela aus ihren Träumen. Sie hatte nicht gehört, dass die Haustüre geöffnet wurde, aber da stand eine Frauengestalt in einem weißen Kleid. Goldene Haare flossen über die Schultern und Lela schien es, als gehe ein Leuchten von der Frau aus. Sie war wunderschön. 'Eine Fee', dachte das Kind und brachte kein Wort heraus.
Die Gestalt kam die Stufen herunter, nein, sie schwebte und öffnete das Gartentor. "Darf ich dich auf eine Limonade einladen?" Lächelnd hielt sie Lela die Hand hin. Wie im Traum griff das verzauberte Mädchen nach der Hand und schämte sich für die schmutzigen Finger. Lächelnd zog die Fee das Kind mit sich und als sie die Tür öffnete, rief sie fröhlich: "Mama, wir haben einen durstigen Gast!" Lela wurde durch einen hellen Flur in ein Zimmer geschoben, wie sie noch nie eins gesehen hatte. Sonnenstrahlen tanzten auf weißen, mit Gold verzierten Möbeln, ein flauschiger Teppich dämpfte jeden Schritt. Durch die geöffnete Terrassentür wehte ein Luftzug und ließ mit Blumen bedruckte Gardinen tanzen, als seien sie der Hochzeitsschleier einer Königin. Eine Frau betrat den Raum und Lela hielt die Luft an. Schlohweißes Haar war zu einem Dutt aufgesteckt und die frisch gestärkte Schürze ließ das Kind sich noch schmutziger fühlen. Gütig war ihr Blick und auch der Ton: "Nun, Kind, wenn du meinen Kuchen probieren möchtest, dann ab in die Küche und gründlich die Hände gewaschen." Sanft schob die Feenmutter Lela zum Spültisch und legte ihr eine rosa Seife in die Hände. Oh, wie sie duftete.
Schnell wusch sie sich auch noch das verschwitzte Gesicht. Jetzt waren nur noch die Knie schmutzig und der Rock zu kurz, um sie zu verdecken. Die alte Fee nahm das Mädchen bei der Hand und führte es zum Tisch. Ein großes Glas mit roter Brauselimonade stand neben einer Platte mit frischem Plaumenkuchen. Dicke Streusel mit ordentlich Zucker waren oben drauf und Lela lief das Wasser im Mund zusammen. Die Limonade roch nach Himbeeren und Sommer. "Greif nur kräftig zu, mein Kind", sprach die ältere der Feen und nickte ihr aufmunternd zu. Lela wusste, was sich gehörte und nahm bescheiden ein kleineres Stück. Die guten Feen schienen sich über ihren Anstand zu freuen, denn sie lächelten einander zu. Keine sprach ein Wort, nur das Vogelgezwitscher im Garten war zu hören und manierlich aß das Kind den leckeren Kuchen. Dann wischte sich Lela Mund und Finger mit der Serviette ab und sagte artig Danke. Die junge Fee erhob sich, um dem Kind ein zweites Stück auf den Teller zu legen.
Lela hätte am liebsten die ganze Platte leergefuttert, aber sie wusste, man darf nicht gierig sein wenn eingeladen wird, und so stand sie auf und log. "Danke, liebe Fee, aber ich bin nun satt." Die Schöne lachte glockenhell und strich ihr sanft über das Haar.
"Hör' nur Mutter, was für ein kleiner Schatz", rief sie fröhlich und die Mutter nickte lächelnd.
Lela stand ganz still, wagte kaum zu atmen, wollte unsichtbar sein. Damit sie keiner bemerkt, keiner weg schickt. Alles in diesem Haus war hell und freundlich. Selbst das Lachen klang sonniger als anderswo.
"Es wird Zeit, nach Hause zu gehen."
Voller Wärme war die Stimme der alten Fee, aber auch von einer Bestimmtheit, dass der kleinen Träumerin der Wunsch in der Kehle stecken blieb, noch bleiben zu dürfen. Lela liebte ihre Mutti, aber wie gerne wäre sie noch ein wenig im Reich der Feen geblieben.
Die Fee mit den goldenen Haaren nahm die Kleine an die Hand und führte sie zur Tür.
Einen Moment später stand das Kind wieder vor dem Tor ... die Schöne warf ihre eine Kusshand zu und verschwand.
In der folgenden Nacht träumte ein kleines Mädchen von einem goldenen Königreich. Sie tanzte mit Blumenkindern und flog mit einer Feenprinzessin über Pflaumenkuchenberge.
Am nächsten Morgen hatte Lela hohes Fieber und musste viele Tage das Bett hüten.
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Der Altweibersommer hatte sich verabschiedet und graue Regentage hielten die Menschen in den Häusern. Dann endlich besann sich der Herbst auf seine goldenen Tage und bat wohl Frau Sonne, seine bunte Pracht zu beleuchten.
An diesem Tag durfte Lela endlich wieder auf den Spielplatz.
Diesmal ging sie keinen Umweg durch die Bogenstraße, hielt nicht nach einem lieben Vati Ausschau, sondern lief in die große Straße mit den hübschen Häusern.
Gleich da vorne musste es sein.
Ein kleines Mädchen ging in einer großen Straße von Haus zu Haus ... fand den Roller, das Herrenrad und anderes, was ihr vertraut war ...
Ihr Feenhaus fand Lela nie wieder.
Tag der Veröffentlichung: 02.07.2010
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