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Der Regen prasselt, dämpft das Schluchzen der Umstehenden.
Ihr Heuchler.
Saukalt ist es. Ein pickliger Knabe wischt sich, mangels freier Hände, den Rotz mit dem Ärmel des Messgewandes ab. Die halten den Schirm über den Priester. Der wirkt wenig gütig im Moment . Seine gehetzt gemurmelten Worte strafen sein frommes Getue Lügen.
Du würdest jetzt auflachen, laut und respektlos, stündest du neben mir. Würdest sagen, geh nach Hause, Alter, dein Gebrabbel nützt der da unten nichts.
Aber du stehst nicht neben mir. Bist die, die da unten liegt und der das Gebrabbel nichts nützt.
Ich hätte dir gerne deinen Wunsch erfüllt. Weißt du noch? Wir haben geraucht und gesponnen. Du sagtest, wenn ich abtrete, will ich verbrannt werden und du musst meine Asche in die Ostsee streuen. Hoch oben, auf den weißen Kreidefelsen sollst du stehen und warten, dass der Wind mich nach draußen trägt. Dann lauf runter und wirf weiße Rosen in die Spur meiner Asche. Ich versprach es. Ahnungslos und leichtsinnig.
Meine Nase läuft, aber ich werde sie nicht putzen. Für dich. Wir sahen gemeinsam diesen Film, mit der Minelli, sie hatte sein Kind abtreiben lassen und litt wie ein Tier. Verquollen war ihr Gesicht und der Rotz lief. Wie authentisch, sagtest du anschließend, wer aufrichtig leidet, dem ist scheißegal wie er aussieht. Ehrenwort, ich habe nur ganz kurz an mein Taschentuch gedacht.
Jetzt spüre ich deinen Ellenbogen in meinen Rippen und höre wieder dein Lachen. Du bist unmöglich. Immer noch. Ich habe dich beneidet. Jetzt kann ich es sagen, kannst mich ja nicht mehr böse angucken. Ist eine Last, das Anderssein, hast du mir oft erklärt, bleib wie du bist, ein Idiot reicht. Du warst so ziemlich alles, aber kein Idiot. Ehrlich warst du. So sehr, dass es mir manchmal peinlich war. Du spürtest es, nahmst mich dann in den Arm und sagtest, nur Trottel schämen sich fremd. Ich wollte manches Mal so gerne sein, wie du.
Dann wieder war ich froh, es nicht zu sein. Der Chef hat dir noch immer nicht verziehen, dass du den Beschiss mit den Überstunden-Abrechnungen an die große Glocke gehängt hast. Ich habe meinen Job noch.

Als deine Mutter deinen Vater anschrie, weil du ihr unverblümt erzähltest, dass er sie betrügt, hast du gesagt, komm endlich runter Mama, du vögelst dafür seinen besten Freund. Ohne Wimpernzucken nahmst du den Rausschmiss hin. Zogst hoch erhobenen Hauptes in den stillgelegten U-Bahn-Schacht. Die Penner guckten misstrauisch, wenn ich dich besuchte. Du sagtest, mach dir nichts draus, es sind auch nur Menschen. Dann brachte sich einer von den Tunnelbewohnern um. Schmiss sich von der Autobahnbrücke. Fiel auf ein fahrendes Auto. Drei Menschen riss er mit in den Tod. Arschloch, brülltest du anstatt zu trauern, warum die anderen?
Mit Menschen hattest du ständig Probleme. Hast behauptet, da sei was schief gelaufen in der Evolution. Kann nicht so gewollt gewesen sein, hast du mir erklärt, das größte Gehirn im Schädel und dennoch kein Platz für das Wesentliche.

Irgendwann wurdest du krank. Ich wollte dich zu mir nehmen, wie so oft. Du lehntest ab. Wie so oft. Ich habe es nicht anders gewollt, muss mein Leben selbst ausbaden, sagtest du, ich schwimme in der Scheiße, aber mit geradem Rücken.
Das Gehen fiel dir immer schwerer, überhaupt jede Bewegung. Als es mir zu heftig wurde, schleppte ich dich zu einem Arzt. Mit meiner Krankenkarte. Deine Schwäche begrüßte ich regelrecht. Die Gegenwehr war gering. Dafür die Diagnose um so heftiger. Den Namen habe ich nie behalten, irgend so eine schleichende Nervenlähmung. Unheilbar.
Danach fand ich dich nicht im Schacht.
Drei lange Wochen drehte ich fast durch.
Weihnachten war eine Sorgenhölle.
Dann klopftest du an mein Fenster. Eine Nacht vor Silvester. Komm mit, riefst du leise, ich will dir was zeigen. Ich folgte dir über die Mauer in den Zoo und litt, als ich sah, wie viel Anstrengung es dich kostete.
Im alten Affenhaus habe ich mich am Tag versteckt, verrietest du stolz. Komm her und sei ganz still, hast du geflüstert, als wir am neuen Gehege ankamen. Stundenlang saßen wir und beobachteten die Tiere. Da ist so viel Liebe, sagtest du, und wenn mal nicht, dann in aller Offenheit. Ich sehe dich noch immer dort sitzen. Bei den Affen. Entspannt und zufrieden. Es war der einzige Moment, in dem die Welt für dich war, wie sie für dich sein sollte.

In der Silvesternacht wollte ich mit dir anstoßen. Ging in den Tunnel. Alle waren da. Nur du nicht. Sie ist weg, sagte ein alter Penner, mit ihrem Bündel. Am ersten Januar schwelte die Gerüchteküche, am zweiten kochte sie, am dritten kam die Polizei, übergab mir deine Sachen, einen Zettel und eine knappe Erklärung. "Am Abend des 31.12. ist ihre Bekannte in die Klinik gegangen. In die sechste Etage. Dort sprang sie aus dem Fenster. Ein Zettel lag bei ihren Sachen. Da standen ihre Adresse und ihr Name drauf und die Anweisung, es nur an sie auszuhändigen. Es war einwandfrei Selbstmord."
Ja, das warst DU.
Ich war so wütend auf dich. Wieder und wieder suchte ich in deinen abgewetzten Klamotten nach einem Brief, einer Erklärung, nach irgend etwas. Aber da war nichts. Dann begriff ich. Ganz langsam. Du wolltest nicht, dass da mehr ist. Wenn ein Mensch geht, dann geht er. Ist weg. Einfach so. Für immer. Was bleibt, ist nicht von Bedeutung, spielt keine Rolle. Außer ... ja, die Erinnerungen.
Und die habe ich.
Im Übermaß.

Es regnet noch immer.
Alle sind ins Trockene geflüchtet.
Das werde ich jetzt auch tun.
Werde in mein Auto steigen und an die Ostsee fahren.
Unterwegs weiße Rosen kaufen.
Nur die Asche ... die fehlt.


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Tag der Veröffentlichung: 22.02.2010

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