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Sie hatte die mürrische Nachtschwester gebeten, ihr in den Sessel am Fenster zu helfen. Nun saß sie dort, die alte Frau, ganz still, ganz klein.

Vor dem Fenster trieben die Schneeflocken, im Zimmer die Erinnerungen.
Bilder bauten sich auf. Einzeln und verschwommen erst, dann schärfer und eines reihte sich an das andere, bis ein Film vor ihren Augen ablief.

Sie sah sich durch hohen Schnee stapfen, nach vorne gebeugt und mit roten Backen den Schlitten ziehend. Lang war er, so lang, wie es sonst keinen gab.

Ja, ihr Theo war ein guter Mann gewesen, Gott sei seiner Seele gnädig. Fünf Mäuler galt es satt zu bekommen und jedes war ihnen gleich lieb. Deshalb baute er einen Schlitten, auf welchem die ganze Horde Platz hatte.

Geld war Mangelware, aber wo innige Liebe in den Herzen wohnt, da finden sich Mittel und Wege, Kinderaugen zum Leuchten zu bringen. Also schufen fleißige Hände so manchen Ersatz. Viele Kannen heißen Tee trug sie in die Scheune, damit ihm die Finger nicht steif froren, während er in eisiger Kälte ein Puppenhaus für die Jüngste zimmerte. Im nächsten Jahr war es ein Bollerwägelchen für den ältesten Sohn und wieder eins später saß er und schnitzte Soldaten. Für die schönen aus Zinn reichte das Geld nie.

Während die Alte träumte, starrte die mürrische Schwester in ihrem Büro auf einen Zettel mit fünf Telefonnummern und griff zum Hörer. Es war die Nacht vor Heiligabend.

Die Flocken tanzten fröhliche Reigen und weitere Bilder wurden lebendig.
Jetzt stapfte sie müde und vor Kälte zitternd durch hohen Schnee. Von Gehöft zu Gehöft ging sie, bittend um Arbeit und/oder bescheidene Gaben. Wieder war es Adventszeit, doch diesmal war es still in der alten Scheune. Sie war so müde von all den Absagen, aber ihr Theo lag mit hohem Fieber und Schüttelfrost nieder und so hielt sie durch. Manche Nacht kam sie mit leeren Händen heim, doch hin und wieder wanderten auch kleine Schätze in die Speisekammer. Ein Pfund Kartoffeln, fleckige Äpfel, ein Streifen Speck, ein Säckchen klumpiges Mehl. Dann stand sie stolz davor, sah im Geiste leuchtende Kinderaugen und vergaß die Schmach des Bettelns.

Die mürrische Schwester wählte die zweite Nummer.

Die Kinder wurden größer, das Leben allmählich leichter. Theo kränkelte nun zwar oft, die harten Jahre hatten ihren Tribut gefordert, aber er tat noch immer sein Bestes. Für die Kinder. Sie sollten es einmal besser haben. Nun wurde gerackert für gute Schulen, später dann für das Studium.
Die Alte seufzte leise. Sein Stolz war von kurzer Dauer. Eines Abends legte er sich ins Bett und starb einfach. Ein Sohn stützte sie am Grab, die anderen Kinder steckten fest in ihren Klausuren, oder waren zu weit weg. Ihr Theo hätte sicher Verständnis gehabt. Sie selbst gab sich redlichste Mühe darum.

Die mürrische Schwester wählte, um einiges mürrischer, die dritte Nummer.

Sie glaubte bis heute, der Totengräber hatte seine Arbeit noch nicht vollendet, als ihr Ältester abreiste. "Du bist so stark Mutter, wirst ohne mich auskommen. Ich habe dir doch von dem Mädel erzählt. Ihr Vater ist Chefarzt an unserer Klinik. Bin heute Abend zum Essen eingeladen." Sie nickte nur, Verständnis war wohl die Pflicht aller Mütter.
Einige Wochen später wurde ihr die bescheidene Versicherungssumme ihres Theos ausbezahlt. Muss ein günstiger Zeitpunkt gewesen sein ... die Kinder konnten sich alle frei machen, um nach der Mutter zu sehen.
Die Bilder verschwammen, verschwanden, was blieb war die Kälte. Sie wurde noch kleiner in ihrem Sessel.

Die mürrische Schwester wählte die vierte Nummer. Auch dieses Gespräch machte nicht fröhlicher. Sie stand auf, um nach der Alten zu sehen.

Die Schneeflocken tanzten nicht mehr, fielen sacht in Reih und Glied, wie aufgereiht an unsichtbaren Schnüren. 'Sind wohl müde, wie ich', dachte die Frau.
Riesig schienen sie ihr und erstmals bemerkte sie die Schönheit jeder Einzelnen, die sich an ihrer Fensterscheibe niederließ. Eine Schönheit, welche ihr in jungen Jahren verborgen geblieben war.
Im Licht der Straßenlaterne ging ein glitzerndes Leuchten von ihnen aus, und unwillkürlich dachte sie an das Schönste in ihrem Leben. Die Augen ihrer Kinder, wenn unterm Weihnachtsbaum ein kleines Kunstwerk vom Vater lag und Mutter nach der Bescherung die Teller üppig füllte. Die Schneeflocken schienen ihr wie ein Gruß aus von ihren Kindern vergessenen Zeiten. Der verwelkte Mund öffnete sich und Herzlichkeit durchbrach die Stille des Raumes:

"Ich wünsche euch allen eine frohe Weihnacht."

Dann schloss die kleine alte Frau unendlich müde, aber lächelnd die Augen.


Die mürrische Schwester strich der Toten sanft über das spärliche Haar und wischte sich eine dumme Träne aus dem Augenwinkel.

Dann ging sie mit energischen Schritten zurück in ihr Büro und wählte die fünfte Telefonnummer.


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Tag der Veröffentlichung: 09.12.2009

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