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Nüchterner Rückblick

Der Titel klingt nicht gerade reißerisch, aber zu reißen gibt's hier auch nichts.
Tod den Drogen? Zu abgedroschen, zu aussichtslos, da nützt auch das gute Ansinnen nichts.
Ich weiß wovon ich rede, bin reingerutscht in einem Alter, in dem andere schon wieder clean sind, oder längst begraben und manchmal noch beweint.
Das sind dann die Glücklicheren, vom Rest hat sich die Familie zu Lebzeiten verabschiedet.
Manche bekommen auch Mitleid, dass können sich alle sparen, keiner hat so viel Mitleid mit dem Abhängigen, wie der Abhängige selbst.
Alles ist Scheiße, alles und alle sind schuld, nur der Junkie sieht sich durch den Nebel mit einer weißen Weste hocken. Die hat er auch dann noch an, wenn er klaut, belügt, betrügt und jeden der clean ist und sich ihm nähert, für den nächsten Schuss missbraucht.

Und zum Missbrauchen gibt's eine ganze Menge, nämlich die, die verhindern wollen, dass es dir noch beschissener geht und die nicht wissen, dass jede Zuwendung materieller Art die Fahrkarte für den nächsten Schuss ist. Also gibt's weitere Reisen durchs Nebelland und der Blick aus dem Zugfenster lässt dich Dinge sehen, die kein Heimweh zulassen. Wenn man Glück hat. Im anderen Fall springt man aus dem fahrenden Zug und verliert sich im Nebel, dass sind jene, welche die Rückfahrt verpassen.
Wenn man sie findet, liegen sie auf dem Bahnhofsklo, unter Brücken, oder in Hauseingängen. Nebelland hat sie ausgespuckt, oft steckt der Fahrschein noch im Arm.

Die Statistik wird aktualisiert und weiter geht's. Die meisten zucken mit den Achseln, die wenigen die mehr tun sind die, die ich heute bewundere und vorher als Sacktreter bezeichnet habe. Nichts anderes tun sie dem Junkie an, als auf den Sack und in die Eier treten. Dabei erzählen sie ihm Sachen, die er nur selten noch einordnen kann. Nur vage, aus einem anderen Leben, oder dem Leben eines Anderen? Im Nebelland spielt das Früher keine Rolle, da gibt es das Jetzt und Hier und sonst nichts. Von dem ganzen Gelaber derer, die nicht mit den Achseln zucken, dringt hin und wieder ein Wort durch die milchigen Schwaden. Familie. Das weckt dann ganz kurz aufrichtige Dankbarkeit, denn während nun jeder einen Bogen um den Junkie macht, wird der Fahrkartenschalter häufig bis Feierband von Müttern, Schwestern und Brüdern bedient. Sie ertragen das Elend nicht tatenlos, sind (aus Sicht des Junkies) zur Hilfe verpflichtet, schließlich gehören sie zu denen, die ja irgendwie mit an allem Schuld sind. Manchmal weckt die Erinnerung auch eine Mordswut im Bauch, weil statt der erhofften Kohle nur was zu Essen raus springt, oder ein heißes Bad, oder ne warme Jacke, weil jeder sehen kann, dass du nicht jede Nacht in einem Bett liegst. Dann brüllt und tobt der Junkie gerne mal, er hat den Weg nur gefunden weil der Nebel sich ungewollt lichtet und sie ihn in ihrer Ignoranz zwingen, sich das Elend der Welt anzusehen und das eigene obendrauf. Im Nebelland geht's ihm nicht annähernd so scheiße, dort stinkt man nicht und ernährt sich intravenös.

Irgendwann bist du so weit drin, dass du fast nur noch auf dem Trittbrett durch deine Wahlheimat reist, und schwankst zwischen springen wollen und der Panik den Halt auf dem schmalen Tritt zu verlieren. Die wenigsten haben dann das Glück, für Sekundenbruchteile eine klare Sicht zu haben, so wie ich, und da stand er, der nette Herr, mit der Sense ganz lässig über der Schulter und lockte mit knöchernem Finger. Ich glaube noch heute, der Wichser hat gegrinst. Und dann, aber erst DANN beginnt sich der Junkie glücklich zu preisen, so er das Glück hat, einen dieser penetrant hartnäckigen Sacktreter im Genick zu haben, der ihn zurück ins Abteil zieht, ihn bis zum Bahnhof begleitet und nach Hause bringt.
Für kurze Zeit umgibt ihn eine helle Aura, man bewundert seine schneeweißen Flügel, ehe man beginnt ihn vollends zu hassen, weil er dich dem grinsenden Wichser entrissen hat, nur um dich anschließend persönlich durch die Hölle zu treiben. Eine Hölle, die du erahnen konntest, wenn die Kohle nicht für eine Fahrt ins Nebelland gereicht hat. Ansatzweise. Was dich wirklich erwartet ist so krass, dass du dir mehr als einmal wünschst, du wärst dem Sensenmann gefolgt.

Es soll wohl Leute geben, die es alleine schaffen, dass sind für mich die Größten. Ich habe keinen von denen persönlich kennen gelernt. Vielleicht ist es Junkiegarn, gesponnen zwischen Mülltonnen. An irgendwas glaubt schließlich jeder, das hält am Leben und Junkies glauben alle, einfach aufhören zu können, wenn sie nur wollten. Der Scheiß mit dem Größenwahn hört erst auf besagtem Trittbrett auf. Keine Kreuzung vor dir, kein Links und Rechts, nur diese eine Straße, vor oder zurück.

Vor dir geht's bergab ... das schafft der letzte Penner ... Nebelland heißt ihn euphorisch willkommen ... ein letzter Sieg, zwar fragwürdig, dennoch im Rückblick sein größter.

Hinter dir der Weg ins Leben ... geh DU doch mal rückwärts, steil bergauf, während jede Faser deines Körpers hysterisch kreischend zerfetzen will. Keine Kraft mehr da, zwar der Wille, aber nicht wissend, wie soll ich das schaffen. Zu verschwommen das Früher, um Halt darin zu finden. Und dann siehst du ein Spiegelbild. Eine dreckige Pfütze in der Gosse zeigt dir mit viel Fantasie den Schatten dessen, der du einst warst. Bete, zu wem auch immer, dass dir genau in diesem Moment noch ein Funke des Begreifens ins vernebelte Hirn springt, sonst war es das. Bei mir sprang er nicht nur, sondern zündete auch ... ich wollte nicht sterben. Noch nicht und vor allem nicht so.

Ich danke allen Sacktretern dieser Welt ... danke, dass es euch gibt.

ICH werde LEBEN!

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Tag der Veröffentlichung: 10.11.2009

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