Einhörnchen
Es war einmal vor sehr langer Zeit, als die Menschen sich noch vor dem Dunkel des tiefen Waldes fürchteten, da hatten die Tiere darin ihr eigenes Reich.
Keine Gefahr drohte von Außen und im Wald selbst gab es nur wenige Feinde. Kam doch mal einer daher, spielten die Vögel Waldpolizei und krähten, zwitscherten und tschilpten so aufgeregt, dass sich alle ganz schnell in Sicherheit brachten. Nur die Schwachen und die Kranken konnten so zu Opfern werden. Das muss euch nicht erschrecken, liebe Kinder, denn so hat es die Natur eingerichtet.
Das Beste in diesem Reich war jedoch, dass die Tiere sprechen konnten und einer die Sprache des anderen verstand. Herr Igel plauderte mit Frau Nachtigall, der pfiffige Herr Fuchs gab den Elstern gute Ratschläge, die Hasenkinder neckten Gevatter Brummbär. So lebten sie miteinander glücklich und zufrieden.
Gar oft hockten alle am Abend auf der großen Lichtung und erzählten sich uralte Geschichten. Die schönste wusste der alte Eber zu erzählen und alle saßen mit offenen Mündern und staunenden Augen, wenn er die Legende von den Einhörnern zum Besten gab. Sie waren edel und gütig, sanft und hilfreich. Mit ihren Abenteuern zog Großvater Eber die Zuhörer in seinen Bann.
Ganz besonders Frau Ziege. Ach, wie liebte sie es, den sagenumwobenen Geschichten zu lauschen. Sie war weiß, wie die Einhörner und sie war eine brave Ziege. Deshalb schloss sie so manches Mal die Augen und stellte sich vor, selbst so ein Zauberwesen zu sein. In Gedanken flog sie durch den Wald und tat Gutes, wo sie nur konnte. Ihr Mann, der Herr Bock, stupste sie dann in die Seite und flüsterte: "Wach auf Schatz, du hast zwei Hörner. Und so einen reizenden Bart wie du einen hast, haben Einhörner auch nicht." Dabei schmunzelte er und betrachtete vergnüglich den kugelrunden Bauch seiner Gemahlin. Bald würden sie nämlich Zicklein bekommen und darauf freuten sich beide riesig.
Eines Abends, der alte Eber hatte wieder einmal sein Märchengarn gesponnen und alle erhoben sich um nach Hause zu gehen, brüllte Frau Ziege. "Ach, du saure Ziegenmilch, die Zicklein kommen." Gerade noch erreichte sie ihr Strohlager und da kamen sie auch schon. Zwei kleine ... nein, keine Zicklein, sondern Böcklein. Für Herrn Bock und seine Frau waren es die prächtigsten und hübschesten Kinder im ganzen Reich.
Einige Wochen gingen ins Land und beim ersten Böcklein sah man schon zwei dicke Beulen zwischen den Ohren. Herr Bock rief stolz: "Ach, was wird das für einen prächtigen Burschen abgeben!" Beim zweiten Kind tat sich nichts. Nach einiger Zeit fing Frau Ziege an sich mächtig zu sorgen, denn ein Bock ohne Hörner, das hatte es im ganzen Wald noch nicht gegeben. Tag für Tag beäugte und betastete sie den Kopf vom Böckchen und eines Tages wollte ihr schier das Herz stehen bleiben. Ihr Huf fühlte eine Beule. Nein, Kinder, nicht zwei, sondern EINE und die auch noch mitten auf dem Kopf. Vor Schreck plumpste Frau Ziege mit dem Hintern auf den Boden. Da saß sie nun und verstand die Welt nicht mehr.
So fand sie Herr Bock, als er nach Hause kam. "Ich habe ein Einhorn auf die Welt gebracht", flüsterte seine Frau ganz ergriffen. "Ach, du dumme Ziege", meckerte ihr Mann, "das ist kein Einhorn, sondern eine Laune der Natur. Nun müssen wir eben das Beste daraus machen und ich weiß auch schon, was. Wir haben doch noch immer keine Namen für die Kinder. Nun nennen wir sie Einhörnchen und Zweihörnchen."
Bald saßen auch sie am Abend in der Runde und lauschten den alten Geschichten. Wann immer Gevatter Eber von den Einhörnern erzählte, sahen alle Zuhörer verstohlen zu Einhörnchen und tuschelten. Unserem Einhörnchen war das schnurz piep egal, denn es träumte davon, eines Tages ein richtiges Einhorn zu sein. Nach und nach wurde es immer eingebildeter, denn es hielt sich für etwas Besonderes. Es war garstig zu den anderen Tierkindern, gab den Erwachsenen Widerworte und wollte keine Arbeit erledigen. Frau Ziege machte sich große Sorgen und versuchte den kleinen Bock zur Vernunft zu bringen. Doch Einhörnchen sagte nur ganz bockig: "Ach Papperlapapp, Zweihörnchen soll gefälligst helfen. Ich bin zu gut für schmutzige Arbeit. Ich muss mich pflegen und schonen, damit mir richtige Flügel wachsen. Dann fliege ich in die weite Welt und vollbringe große Taten!"
Die Zeit verging und bald wollte kein Tierkind mehr mit dem garstigen Einhörnchen spielen. Nicht einmal sein Bruder hielt es mit ihm aus. Frau Ziege und Herr Bock bekamen vor Kummer graue Bärte und die erwachsenen Tiere schüttelten fassungslos die Köpfe.
Das eingebildete Einhörnchen wurde nach und nach ein einsames Einhörnchen. Und Einsamkeit macht sehr sehr traurig. So saß es eines Tages unter einer großen alten Eiche und jammerte und klagte, weil es keiner verstand. Da ertönte ein feines Läuten über ihm und als es den Kopf hob, blieb dem Böcklein vor Staunen der Mund offen stehen. Genau über ihm, saß ein kleines lustiges Wesen auf einem Ast und schwenkte eine gläserne Glockenblume. Als Hut trug es ein vierblättriges Kleeblatt und die Füße steckten in ausgehöhlten Eicheln.
"Wer bist du denn und warum störst du mich, wenn ich traurig sein möchte?"
Fragte Einhörnchen nicht sehr freundlich.
"Ich bin Griseldis, die Waldfee und du hast mit deinem Gejammer meinen Schlaf gestört."
"Du bist eine Fee? Kannst du denn auch Wünsche erfüllen?"
Die kleine Fee nickte ernst.
"Dann mach gefälligst, dass ich nicht mehr traurig bin!"
Ein Rauschen drang durch die Bäume und statt dem kleinen lustigen Wesen, stand eine schwarz gekleidete Frau vor dem Böcklein, welchem nun vor Angst die Knie schlotterten.
Die Stimme der erbosten Fee dröhnte durch den Wald: "Nicht den kleinsten Wunsch werde ich dir erfüllen, ehe du nicht gelernt hast, freundlich zu sein und artig zu bitten! Geh zu deiner Familie und lass dich erst wieder hier blicken, wenn du ein Besserer geworden bist!"
Kaum hatte sie die Worte gesprochen, war Griseldis verschwunden und Einhörnchen lief wie der Wind nach Hause. An diesem Abend wunderten sich die Eltern und auch Bruder Zweihörnchen sehr, denn so freundlich hatten sie den kleinen Bock schon lange nicht erlebt. Er bat höflich um das, was er wollte und bedankte sich artig, wenn er es bekam.
Bald merkten auch die anderen Waldbewohner, dass Einhörnchen immer höflicher und freundlicher wurde. Die Alten lobten ihn und die Tierkinder hatten wieder Freude daran, mit ihm zu spielen.
Zwei Jahre vergingen und so sehr sich das Einhörnchen auch bemühte, artig und freundlich zu sein, das kleine Horn auf seinem Kopf wurde nicht größer und prächtiger und Flügel wuchsen ihm auch keine. Da erinnerte es sich an Griseldis und lief tief in den Wald. An der großen alten Eiche rief Einhörnchen laut nach der Fee und siehe da, ein feines Läuten erklang und auf dem Ast saß das lustige Wesen. Artig grüßte der junge Bock, scharrte verlegen mit dem Huf und bat: "Ach, liebe Fee, ich bin so gut geworden, wie es mir möglich war und noch immer bin ich kein richtiges Einhorn. Ich bitte dich von Herzen, schenke mir prächtige weiße Flügel."
Ein Rauschen drang durch die Bäume und wieder stand eine Frau vor dem Bittenden. Diesmal jedoch erstrahlte sie ganz in Weiß und war wunderschön.
"So einfach geht das nicht Einhörnchen. Ich kann dir viele Wünsche erfüllen, aber Flügel? Nein. Flügel darf ich dir keine schenken. Erst, wenn dir das Wohl anderer über dein eigenes geht, hast du die Chance Flügel zu bekommen. Und vergiss nie meine Worte: Auch mit Flügeln wirst du nie ein Einhorn werden und du wirst einen sehr hohen Preis für sie bezahlen."
Dem jungen Bock war jeder Preis recht und so bedankte er sich artig für den Rat und sprang davon. Traurig schaute die Fee ihm hinterher, seufzte und verschwand.
Von nun an war Einhörchen noch emsiger darum bemüht, allen etwas Gutes zu tun. Es sammelte kleine Zweige, damit die Vögel noch schneller ihre Nester bauen konnten, schleppte für den alten Eber Säcke voller Eicheln für den Wintervorrat heran und half immer und überall, ohne zu murren.
So ging die Zeit ins Land. Der Wald legte sein Herbstkleid ab und bald darauf hüllte er sich in seinen prächtig glitzernden Wintermantel. Stille kehrte ein. Die meisten Tiere schliefen und träumten vom Frühling. Nur wenige sah man ab und an durch den Wald huschen, um unter der dicken Schneedecke nach Essbarem zu suchen, oder auch ein wenig Holz für die eisigen Nächte zu sammeln.
Einhörnchen war im letzten Jahr recht still geworden. Häufig sah man ihn alleine durch den Wald streifen. Er träumte noch immer davon ein Einhorn mit weißen Flügeln zu sein, hatte jedoch allmählich verstanden, dass dieser Wunsch für immer ein Traum bleiben würde. Schon lange half er nicht mehr, weil er auf das große Wunder hoffte, sondern weil ihm das Helfen in Fleisch und Blut übergegangen war. Nur auf seinen einsamen Streifzügen durch den Wald, gestattete er sich noch den einen oder anderen sehnsuchtsvollen Traum. So auch an jenem Tag.
Vater Ziegenbock war nun schon alt und manche Arbeit wurde ihm beschwerlich. Es war kalt im Ziegenbau und nur Bruder Zweihörnchen war da. Die Eltern baten darum, dass er ein wenig Holz suchen gehe. Brav machte sich der junge Ziegenbock auf den Weg um den lieben Eltern ein wenig Behaglichkeit zu schaffen. Es war ein langer und bitterkalter Winter. Weit musste Zweihörnchen gehen, um den alten Korb zu füllen, denn in der Nähe der Hütte war schon alles Brennholz aufgesammelt. So landete der brave Bursche am Flußufer.
Es war ein wildes Gewässer und nur in einem besonders kalten Winter geschah es, dass er zufror. Frierend und müde schaute Zweihörnchen über die Eisfläche und erblickte am anderen Ufer einen großen Ast, den wohl der letzte Sturm vom Baum gerissen hatte. Vorsichtig setzte Zweihörnchen einen Huf vor den anderen, denn das Eis war tückisch und nicht an allen Stellen dick genug, um darüber zu laufen. Das Böcklein dachte an die frierenden Eltern und beherzt fing es an, zügiger zu gehen. Da geschah, was geschehen musste. Das Eis brach und Zweihörnchen stürzte ins eisige Wasser. Verzweifelt krallte er sich fest, doch Stück für Stück brach die Decke mehr ein und das Wasser wollte ihn unter das Eis ziehen. Jämmerlich schrie der Ziegenbock um Hilfe. Er schrie so laut und kläglich, dass selbst die Winterschläfer zum Fluss eilten und auch Einhörnchen aus seinen Träumen gerissen wurde.
In langen Bocksprüngen hastete er zu der Unglücksstelle und das Herz wollte ihm stehen bleiben, als er den eigenen Bruder in Not sah. Ohne sich zu besinnen, lief er auf das Eis. Die anderen Tiere wollten ihn zur Vernunft bringen, doch Einhörnchen hörte nur Zweihörnchens Stimme und lief weiter. Noch immer brach Stück für Stück der Rand, so dass kein Halt zu finden war. Einhörnchen sah, dass dem Bruder die Kraft ausging, legte sich flink auf den Bauch und reichte ihm einen Huf. Den bekam der Bruder auch zu fassen, doch das eisige Wasser zog von der anderen Seite und plötzlich knirschte es auch unter dem Retter verdächtig. Zweihörnchen entging es nicht und er rief mit letzter Kraft: "Rette dich Bruder, lass mich hier, es gibt keine Hilfe für mich. Das Wasser will mich unters Eis ziehen und für uns beide ist die Decke zu schwach."
"Niemals!" Brüllte Einhörnchen. "Wie kannst du nur annehmen, dass ich dich im Stich lasse!" Und plötzlich fasste er einen Entschluss. Die Tiere des Waldes glaubten ihren Augen nicht zu trauen, denn unversehens sprang Einhörnchen in das Loch, in welchem der Bruder gefangen war. Mit einem Huf hielt er sich am Eis, mit dem anderen schob und drückte er das halb erfrorene Zweihörnchen hinauf auf die Decke. Mit letzter Kraft gab er ihm einen Schubs, dass er von der brüchigen Stelle weg schlitterte. Das letzte, was unser Einhörnchen sah war, dass der Bruder ans rettende Ufer gezogen wurde. Dann waren auch seine Kräfte aufgebraucht, der Sog riss ihn in die Tiefe und das Wasser trug ihn davon. Das Wehklagen der Tiere drang bis tief in den Wald.
Da ging ein heftiges Rauschen durch die Baumwipfel, dass der Schnee nur so von den Ästen stob. Griseldis erschien. Hoch richtete sie sich am Ufer auf, ihr eisblaues Gewand wallte und wogte und mit ihrem Zauberstab malte sie einen sternefunkelnden Kreis in die Luft. Das Wasser stand still, das Eis brach entzwei und Griseldis malte einen weiteren Kreis. Zwei kleine Gestalten, mit schillernden Flügeln, schlüpften aus den Ärmeln ihres Gewandes und flogen wie der Wind über den Fluss. Da, wo das Wasser still stand, lag Einhörnchen und die kleinen Zauberwesen nahmen ihn an den Hufen und trugen ihn behutsam an Land.
Da lag er nun und kein Leben war in ihm. Die Tiere klagten und weinten und baten die gute Fee, ihrem Freund und Bruder doch Leben einzuhauchen, doch Griseldis schüttelte traurig den Kopf. Sie durfte Einhörnchen nicht zum Leben erwecken. Zumindest nicht zu seinem bisherigen Leben. Mutter Ziege und Vater Bock waren hinzu gekommen und vergossen mit Bruder Zweihörnchen die bittersten Tränen. "Du gütige Fee", bat die Mutter, "hilf meinem Sohn, er hat allen nur Gutes getan und schon lange war kein Eigennutz mehr in seinem Sinn. Wenn er auch kein Einhorn wurde, so wurde er doch der hilfreichsten und fleißigsten einer. Bitte ... hilf meinem Sohn."
Die Fee besann sich auf den größten Wunsch, des einst so eingebildeten Böcklein. Sehr wohl hatte sie seine Entwicklung verfolgt und ihr gefiel, was sie gesehen hatte.
Sie schwang den Zauberstab über dem Ertrunkenen und rief: "Ihr Winde, hört meine Bitte und haucht dem vor mir Liegenden euren Atem ein. Ihr Feen, spendet von eurem feinen Lichtgespinnst und schenkt dem Erweckten Flügel. Ihr Waldgeister, erbarmt euch dem Retter und nehmt ihn auf, in unsere Mitte."
Kaum hatte Griseldis gesprochen, erhob sich ein Windstoß und fuhr Einhörnchen in Nase und Mund. Er schlug die Augen auf und erhob sich, wie im Traum. Feen kamen herbei und tanzten einen Reigen um ihn. Als der Kreis sich auflöste, hatte Einhörnchen schneeweiße kleine Flügel. Und noch ehe einer ein Wort sagen konnte, kamen unzählige kleine Waldgeister, nahmen ihn in die Mitte und flogen mit ihm davon. Nur das glückliche Meckmeckmeck eines kleinen Ziegenbockes, welcher ein richtiges Einhorn sein wollte, klang durch die Bäume.
Nie wieder wurde Einhörnchen gesehen. Aber alle Bewohner des Waldes wurden Zeuge, wie ein kleiner Ziegenbock für seine gute Tat Flügel bekam. Und Gevatter Eber hatte eine neue wundersame Geschichte zu erzählen.
Und wenn unser Einhörnchen nicht gestorben ist, dann lebt es noch heute, glücklich im Reich der Waldelfen.
Tag der Veröffentlichung: 31.07.2009
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