Es war hart. Verdammt hart. Wann immer sie die Augen schloss bauten sich Bilder auf, die ihr die Luft nahmen.
Sie sah ein Auto über den Abgrund schießen, glaubte seine Schreie zu hören, den Aufprall in der Tiefe, die Detonation und sah, wie er verletzt und in Todesangst kreischend versuchte den Flammen zu entkommen.
Das war natürlich Blödsinn.
Die Beamten hatten gesagt, dass ihr Vater unmöglich den Aufprall überlebt haben konnte. Also war er bereits tot, ehe die Flammen ihn in einen unförmigen schwarzen Klumpen verwandelt hatten.
Die Polizei trug einige Fakten zusammen und bestätigte einen Unfalltod.
Die Bilder blieben dennoch.
Sie wirkte verloren und zerbrechlich, wie sie in Vaters altem Schreibtischsessel saß und starrte auf das Bild ihrer Eltern. Die Aufnahme stammte von ihrer Silberhochzeit und zeigte ein glückliches Paar.
Und das waren sie auch. Bis zum Schluss. Ihre Mutter war Zoologin und Dank des Geldregens aus Vaters Firma in der Lage, ihrer Leidenschaft rund um den Globus zu frönen. Gleich nach der Beerdigung war sie
nach Südamerika geflogen. Sie teilte ihrer Tochter mit, dass sie sich in den nächsten Monaten nur sporadisch melden werde, da sie sich zum Ziel gesetzt hatte das Leben der Berglöwen zu dokumentieren.
Vaters Nachlass war im Großen und Ganzen geregelt, dennoch fand sie die überstürzte Abreise ihrer Mutter sonderbar. Es waren unendlich viele Unterlagen zu sortieren und an Vaters Prokurist zu übergeben. Er würde die Firma, ein Transportunternehmen für Gefahr- und Gefriergut, treuhänderisch weiterführen. Mutter war also auf lange Sicht finanziell abgesichert.
Sie seufzte und begann den Inhalt der Schubladen auf dem Schreibtisch zu stapeln. Das Möbelstück war uralt und überdimensional. Beim Ausräumen der untersten Schublade musste sie knien, um in die hinteren Ecken zu gelangen. Mit einem leisen Aufschrei zog sie die Hand zurück. Sie war gegen etwas gestoßen und einer ihrer manikürten Nägel war so unglücklich gebrochen, dass es blutete. Die Lade war weniger tief als die anderen und als sie sich noch weiter hinunterbeugte, sah sie eine Klappe mit einem Schloss. Sie probierte einige kleinere Schlüssel vom Bund ihres Vaters und hatte Glück. Die Klappe ging auf.
Erstaunt nahm sie fünf dicke Bündel Hunderter heraus und einen wattierten Umschlag. "Für Murkelchen". Ihr schossen Tränen in die Augen. So hatte Papa sie genannt, seit sie denken konnte. Als sie den Brief etwas zu hastig aufriss, fiel eine CD heraus und ein Blatt Papier segelte auf den Boden.
Der Datenträger steckte in einer dieser billigen Klarsichthüllen. Weder diese noch die CD waren beschriftet. Sie hob den Brief auf und las:
"Mein geliebte Judith,
manchmal scheinen die Dinge anders, als sie sind. Manchmal sind geliebte Menschen anders, als sie scheinen. Und manchmal tun Menschen Dinge, die verkehrt sind. Sie tun sie dennoch ... weil sie einfach nur Menschen sind. Ich habe einen Fehler begangen. Etwas so schlimmes, dass ich zu feige war, mit dem Menschen, welchen im am meisten liebe, darüber zu reden. Ich wollte weder Deine Achtung, Deinen Respekt, noch Deine Liebe verlieren. Nicht einmal jetzt, in diesem Brief schaffe ich es, die Dinge zu erklären. Auf der CD wirst Du einige Links finden. Folge ihnen. Ich weiß, dass Du begreifen wirst. Wenn Du begriffen hast (aber erst DANN!), setze Dich mit Deiner Mutter in Verbindung. Das wichtigste jedoch ist:
Ganz gleich was Du auch findest, halte Dich von Georg fern!
In der Hoffnung Deine Liebe nicht zu verlieren,
Dein Vater"
PS: Bitte sorge dafür, dass das Geld ohne Aufsehen an folgende Adresse kommt: Anita Kleve, Berlin, Grabower Straße 16.
Ich weiß, dass ich mich auf Dich verlassen kann.
Wieder und wieder las sie die Zeilen und verstand nichts. Sie griff nach ihrem Handy und wählte die Nummer der Mutter.
"Erst DANN!"
Noch ehe die Verbindung zustande kam, klappte sie es wieder zu.
"Halte Dich von Georg fern!"
Georg war nicht nur der beste Freund ihres Vaters, sondern auch sein Lebensretter gewesen. Ein angeborenes Herzproblem hatte sich vor drei Jahren so zugespitzt, dass nur eine Transplantation sein Leben retten konnte. Georg war eine Koryphäe auf diesem Gebiet, setzte alles daran einen geeigneten Spender zu finden. Dann, als alle glaubten es gäbe keine Hoffnung mehr, überbrachte er die erlösende Nachricht. Ein passendes Spenderherz war gefunden. Warum also sollte sie sich nun von Georg fern halten?
Verwirrt fuhr sie den PC hoch und legte die CD ein. Das Inhaltsverzeichnis enthielt eine einzige Datei. Sie zögerte und hatte plötzlich den Wunsch zu gehen. Zu gehen und die unterste Schublade samt Inhalt einfach aus ihrem Gedächtnis zu streichen.
Judith holte tief Luft und klickte die Datei an. Drei Links. Nichts auf diesem großen weißen Bildschirm als ... drei Links.
http://www.lugner.de/organ-spenden.html
Nach dem Lesen dieser Seite war sie noch verwirrter als zuvor. Da hatte sich irgendein ihr fremder Mensch um das Thema Hirntod und Organspenden Gedanken gemacht. Worauf wollte ihr Verstorbener Vater hinweisen? Was sollte sie dem Artikel entnehmen? Was hatte er mit ihrem Vater zu tun?
Sie starrte auf den zweiten Link und klickte ihn widerwillig an.
Es war ein Artikel über kriminellen Organhandel im Ausland. Menschen wurden entführt und ausgeschlachtet, Unfallopfer für Hirntod erklärt, um die Organe entnehmen zu können. Das Geschäft mit den Organen brachte Millionen. Geldgierige Mediziner wurden zu Handlangern der Organmafia.
Judith las und fühlte Übelkeit in sich aufsteigen.
Sie klickte den dritten Link an und landete in einem Forum, mitten in einer Diskussion zum Thema Organhandel in Deutschland. Im dritten Posting äußerste ein User, dass für ihn fest stehe, dass auch deutsche Ärzte ihr Hände im Spiel haben. Geldgier kenne keine Ländergrenzen. Was dann folgte, war das üblich Foren-Palaver. Sie schaltete den PC aus, die CD ließ sie im Laufwerk.
Wie in Trance griff sie nach Jacke, Handy und Tasche, verließ das Haus, setzte sich in ihren Nissan X-Trail, steckte den Zündschlüssel ins Schloss und verharrte einige Minuten reglos.
Es hatte zu regnen begonnen und fasziniert beobachtete sie die kleinen Rinnsale auf ihrer Frontscheibe.
"Leis weint der Himmel in der Nacht
der Tränen viele rieseln sanft an Fensterscheiben ... "
Die ersten Zeilen eines schnulzigen Gedichtes, dass sie vor langer Zeit von einer Jugendliebe bekam, schossen ihr unvermittelt in den Sinn. Sie setzte sich mit einem Ruck auf, startete Motor und Scheibenwischer, warf einen Blick auf die Uhr und fuhr Richtung Autobahn.
Seit einer Ewigkeit beobachtete sie das schmucklose Reihenhaus. Obwohl sie in den Morgenstunden auf einem Rastplatz etwas geschlafen hatte, fühlte sie sich übernächtigt. Die wenigen Passanten nahmen keine Notiz von ihr. Auf dem Schoß hatte sie die Tasche, in ihr fünf Bündel a' 10.000,00 Euro. Sie wusste noch immer nicht, was das Ganze zu bedeuten hatte. Das es nichts Gutes war, sagte ihr der Instinkt. Sie wollte gerade nach der Wasserflasche greifen, da sah sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Eine noch recht junge Frau, an jeder Hand ein Kind, steuerte auf die beobachtete Haustür zu. Judith klemmte die Tasche fest unter den Arm und stieg hastig aus. Wenn die Frau erst einmal in ihrer Wohnung war, würde sie klingeln müssen und sie wusste nicht, ob ihr Mut dafür noch reichte. Was für eine bescheuerte Situation.
"Frau Kleve?" Die unvermittelt angesprochene fuhr ein wenig erschrocken herum und sah Judith fragend an. "Ja?"
" Mein Name ist Judith Bräuning. Bitte, kann ich sie einen Moment sprechen? Es ist wirklich wichtig."
"Worum geht es? Ich habe im Moment wenig Zeit. Die Kinder ... sie verstehen sicher."
"Natürlich, dass verstehe ich sehr gut, aber ich bin weit gefahren, weil ich ihnen etwas übergeben soll. Bitte geben Sie mir ein paar Minuten."
Die Frau schien einen Moment unschlüssig, dann gewann die Neugier und sie sagte: " In Ordnung. Warten sie da drüben im Park auf mich, ich mache den Kindern nur schnell Abendbrot."
Während der ganzen Fahrt hatte Judith sich den Kopf zerbrochen, was ihr Vater mit dieser Anita Kleve zu tun gehabt haben könnte. Eine Affaire? Nein, das hielt sie für unmöglich.
'Naja, vielleicht ein Ausrutscher mit Folgen?' Die beiden Söhne der Kleve schätze sie auf 5 und 9 Jahre.
"Entschuldigen sie, es hat etwas länger gedauert." Judith zuckte zusammen, als die Frau so unvermittelt vor ihr stand. Sie rutschte ein Stück und Anita setzte sich auf die Kante der Bank. Einen Moment herrschte verlegenes Schweigen zwischen den beiden Frauen, dann atmete Judith tief durch und fragte: "Frau Kleve, kennen sie einen Jacob Bräuning aus Darmstadt?"
Sie konnte sehen, dass die Gefragte einen Augenblick angestrengt nachdachte, dann kam ein überzeugendes: "Nein, nicht das ich wüsste. Ist das ihr Mann?"
"Mein kürzlich verstorbener Vater."
"Oh, das tut mir sehr leid. Und was wollen sie nun mit mir besprechen?"
Judith sah der Frau fest in die Augen, als sie antwortete: "Frau Kleve, mein Vater hat mir einen Brief hinterlassen, mit der Bitte, Ihnen eine größere Summe Geld zu überbringen. Ich ging davon aus, dass sie mir sagen können, was es damit auf sich hat."
Die Verblüffung im Gesicht der Frau schien echt. "Das muss eine Verwechslung sein, ich habe den Namen ihres Vaters nie zuvor gehört und mir schuldet auch niemand Geld."
Judith überlegte kurz: "Vielleicht weiß ja ihr Mann etwas?"
"Ich glaube kaum, mein Mann starb vor drei Jahren durch einen Motorradunfall." Auf das verlegene, "Oh", von Judith sprach sie weiter: "Ja, so ist das. Gerade ist die Welt noch in Ordnung und im nächsten Moment bricht sie aus allen Fugen. Als ich im Krankenhaus ankam, traf ich noch die Rettungsärztin. Sie sagte, dass er zwar schlimme Kopfverletzungen und Knochenbrüche hätte, aber es bestünde keine Lebensgefahr mehr. Sie hatten ihn ins künstliche Koma versetzt und zwei Tage später bekam ich einen Anruf, dass ich bitte sofort in die Klinik kommen soll. Der Chefarzt, Dr. Merten hieß er glaube ich, teilte mir mit, dass durch eine nicht zu stillende Blutung im Schädel der Hirntod eingetreten sei. Er ließ mir nicht all zu viel Zeit, diese Nachricht zu verdauen. Mein Mann hatte einen Organspendeausweis und sie brauchten sein Herz, um einem anderen Menschen das Leben zu retten."
Judith blieb fast die Luft weg. "Frau Kleve, war das im April 2006?"
"Ja, aber woher wissen sie ..."
"Mein Vater bekam im April 2006 ein Spenderherz."
Judith nahm alle Kraft zusammen, um das Zittern ihrer Hände zu verbergen, als sie den prall gefüllten Umschlag aus der Tasche nahm und der jungen Frau auf den Schoß legte. Sie wollte nur noch weg. "Nehmen sie das. Es ist ein Danke von meinem Vater und es war sein letzter Wille. Ich wünsche ihnen alles Liebe. Bitte entschuldigen sie, ich muss los."
Sie erhob sich und lief hastig zu ihrem Auto. Sah nicht mehr die freudige Fassungslosigkeit der verwitweten Mutter zweier Kinder.
Wollte sie auch nicht sehen.
Hörte nicht mehr den stammelnden Einspruch.
Wollte ihn auch nicht hören.
Alles was Judith wollte, war die Uhr zurück zu drehen und niemals in die Schublade ihres Vaters geschaut zu haben.
Eine Stunde später hielt sie vor einem modernen Klinikkomplex am Stadtrand von Berlin. Hier war Herzchirurg Prof. Dr. Georg Merten der unangefochtene Star. Chirurgen aus aller Welt zogen ihn zu Rate. Seine Patienten vergötterten ihn.
"Halte Dich von Georg fern!"
Die Links ihres Vaters, deren Inhalte, diese eindringliche Warnung im Brief des Verstorbenen und ein Motorradfahrer, der nach Aussicht auf Genesung ganz plötzlich einen Hirntod erlitt. Einen Hirntod, der ihrem Vater zwar das Leben gerettet hatte, an den sie jedoch nicht mehr glauben konnte. Irgend etwas stank hier ganz gewaltig zum Himmel und sie wollte wissen, was.
Entschlossen betrat sie die Klinik und bat an der Rezeption um Anmeldung bei Prof. Dr. Merten. Ehe die Dame hinter dem Schalter fragen konnte, erklärte sie ihr, dass es ein ganz privater Besuch sei. Nach einem Anruf und der Frage nach ihrem Namen wurde Judith dienstbeflissen in Georgs Büro geleitet und gebeten, sich einen Augenblick zu gedulden.
Lückenlos bedeckten Auszeichnungen, Dankschreiben und unzählige Fotos die Wände. Sie erzählten das Leben und den Werdegang eines erfolgreichen Menschen. Eines Menschen, dem Unzählige ihr Leben verdankten. Wie ihr Vater.
"Halte Dich von Georg fern!"
Sie drehte sich um und ging zur Tür, als diese sich öffnete und ein strahlender Georg eintrat. "Ja, so eine Überraschung! Hätte ich gewusst, dass du in Berlin bist, dann hätte ich versucht, mich ein paar Stunden frei zu machen." Steif ließ sie sich in die Arme nehmen, trat dann schnell einen Schritt zurück und sagte: "Ich muss mit Dir reden."
"Nanu? Das Murkelchen heute so ernst?"
"Lass das, für dich bin ich Judith."
Ihr Ton war scharf und er schien zu begreifen, dass ihr unverhofftes Auftauchen keine nette Überraschung sein sollte. Sein Lächeln wich einem Stirnrunzeln, er nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und deutete höflich auf den Stuhl davor. Sie hatte nicht die Absicht sich zu setzen, wollte alles vermeiden, was an die ehemalige Vertrautheit erinnerte.
"Georg, wer war der Spender von Vaters Herz?"
Ihr Ton ließ ihn aufhorchen und für einen Sekundenbruchteil glaubte sie, etwas lauerndes, gefährliches in seinem Blick zu sehen. Ihre Knie wurden ein wenig weich und sie bereute, sich nicht gesetzt zu haben. Der Doktor lehnte sich mit verschränkten Armen zurück und setzte eine berufliche Mine auf. "Tut mir leid Judith, das unterliegt der Schweigepflicht. Könntest Du mir bitte erklären, was dieser Auftritt zu bedeuten hat?"
Sie stützte beide Hände auf den Tisch, beugte sich zu ihm rüber und sagte leise, aber sehr bestimmt:
"Das erkläre ich dir gerne. Ich komme gerade von Frau Kleve. Der Name sagt dir doch sicher etwas?" Als er sie nur schweigend ansah, sprach sie weiter:
"Sie ist die Witwe des Mannes, dessen Herz du meinem Vater transplantiert hast. Das Herz des Mannes, der ganz zufällig dann einem Hirntod erlag, als mein Vater ganz dringend einen Spender brauchte, ich will ..."
"Stop Mädchen, es reicht!" Er war so heftig aufgestanden und seine Stimme so schneidend, dass sie erschrocken inne hielt. "Judith, der junge Mann hatte Pech, dein Vater hatte Glück. Nicht mehr und nicht weniger. Das erlebe ich in meinem Beruf tagtäglich und ich begreife immer noch nicht, worauf du hinaus willst. Also?"
Er wirkte in diesem Augenblick so ehrlich verärgert, dass sie kurz ins Zweifeln geriet. Sie dachte an die Links und deren Inhalt. Alle hatten das gleiche Thema. Organhandel. Der Abschiedsbrief ihres Vaters. Er wollte ihr etwas sagen, etwas wichtiges und vor allem etwas verdammt unangenehmes. Nicht sie war die Verrückte. Judith gewann ihre Sicherheit zurück. "Na gut Georg, dann verrate mir, weshalb mein Vater mich mit 50.000 Euro zu der Witwe geschickt hat. Verrate mir, was meinen Vater dazu bewogen haben könnte, mir Hinweise auf kriminellen Organhandel zu hinterlassen und verrate mir, verdammt noch mal, wofür er sich so geschämt hat, dass er mir nach seinem Tod Rätsel aufgibt, statt mit mir zu reden, als er noch lebte!" Die letzten Worte schrie sie ihm ins Gesicht.
"Reiß dich zusammen, sonst muss ich dich bitten mein Büro zu verlassen."
"So? Rausschmeißen willst du mich? Tu das und ich gehe geradewegs zur Polizei." Triumphierend sah sie ihm in die Augen. Da war kein Erschrecken, keine Unsicherheit, keine Angst ... nichts. Im Gegenteil, er lächelte und in seinen Worten schwang leiser Hohn mit: "Zur Polizei willst du gehen? Was willst du denen denn sagen? Das der bekannte und geachtete Herzchirurg Merten einen Patient getötet hat, um seinem besten Freund ein Herz transplantieren zu können? Oder noch dümmer. Geh hin und behaupte doch gleich, ich würde zur Organ-Mafia gehören. Du machst dich lächerlich. Kein Mensch würde dich für voll nehmen. Das ist dir doch klar?"
Nein, das war ihr bis zu diesem Moment nicht klar gewesen. Sie hatte bis eben geglaubt, genau so würde es funktionieren. Er hatte Recht. Man würde sie höchstens für verrückt erklären. Aber sie konnte auch nicht einfach aufgeben. Er hatte Dreck am Stecken, dass stand fest. Sie musste noch einen letzten Versuch wagen:
"Du irrst Georg. Ich werde mit Vaters Brief und der CD zur Polizei gehen. Ich werde die Rettungsärztin des jungen Mannes ausfindig machen. Vater hat mir genug Geld hinterlassen, dass ich einen guten Detektiv engagieren kann. Den werde ich auf dich und dein gesamtes Personal ansetzen. Ich werde so lange deinen guten Ruf untergraben, bis er Risse bekommt und ich werde Frau Kleve dafür gewinnen, dass sie die Exhumierung der Leiche ihres Mannes beantragt. Vielleicht lande ich in der Zwangsjacke, aber bis dahin werde ich genügend Misstrauen gesät haben, dass künftig auf alles geachtet werden wird, was ein Herr Professor Doktor Merten tut. Und nun wünsche ich dir einen angenehmen Tag."
Sie drehte sich um und ging zur Tür.
"Warte bitte, Judith." Seine Stimme klang müde. Sie blieb, die Hand an der Klinke, stehen. "Was hast Du davon und warum diese Feindschaft? Weil ich deinen Vater, meinen Freund, gerettet habe? Geht dir dein Rechtsempfinden über die Liebe zu ihm und über die Jahre, die ich ihm geschenkt habe?"
Zögernd drehte sich die junge Frau zu ihm um.
"Nein, ich habe mir seit Vaters Hinweisen den Kopf zerbrochen, habe stundenlang darüber nachgedacht. Ich bin sogar so ehrlich, einzugestehen, dass ich mich in diesen Gedanken selbst dann für das Leben meines Vaters entschieden hätte, wenn ich gewusst hätte, dass ein anderer Mensch dafür sterben muss. Aber das sind nur Gedanken Georg, Wünsche, keine Taten.
Und da ist noch etwas anderes. Es wiegt viel schwerer. Vater muss es geahnt haben. Oder vielleicht hat er es ja sogar gewusst. Du bist der Einzige, der weiß was wirklich gelaufen ist. Was hat ihn so belastet, dass er mit keinem darüber reden konnte? Glaubst du wirklich ich gebe Ruhe, ehe ich weiß, was er mir sagen wollte? Hilf mir, oder ich finde es alleine heraus."
Erwartungsvoll sah sie ihn an. Georg war Ende Fünfzig, schlank, groß, dynamisch, braun gebrannt. Der Typ Mann, auf den die Frauen flogen. Seit ihrer Begrüßung schien er um zehn Jahre gealtert zu sein.
Seine Gelassenheit war dahin. Er wirkte eingefallen und fast ein wenig ängstlich. Aber er schwieg.
"Ok, wenn nicht so, dann eben anders."
Energisch öffnete sie die Tür und trat auf den Gang. Sie hörte seine Worte und erstarrte. Er hatte nicht laut gesprochen, aber das was er sagte fuhr ihr bis ins Gedärm. Wie in Zeitlupe drehte sie sich zu ihm um und unfähig auch nur einen Ton von sich zu geben, wankte sie zurück ins Zimmer. Um sie herum drehte sich alles. Georg schloss die Tür , schob ihr einen Stuhl unter den Hintern und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. Er telefonierte. Wie durch eine Wand hörte sie seine Anweisung, dass er auf keinen Fall gestört werden wollte.
Dann sah er sie an und zuckte hilflos mit den Schultern.
"So sollte es nicht sein."
Leise, aber bestimmt klang Judiths Stimme: "Ich höre Dir zu."
Seit der Schulzeit waren sie Freunde. Während Jacobs Lehre und Georgs Medizinstudium trennten sich erstmals ihre Wege. Der ehrgeizige Student vergrub sich in seinen Büchern, während Jacob seine Lehre schmiss und sich mit verschiedenen Jobs recht gut über Wasser hielt. Ganz aus den Augen verloren sie sich jedoch auch in dieser Zeit nicht.
Georg hatte ein inniges Verhältnis zu seiner Mutter, die Mangels einer Spenderniere verstarb, als ihr Sohn über seiner Doktorarbeit saß. Er hatte noch keinerlei Einfluss auf irgend etwas und so konnte er nichts anderes tun, als seiner Mutter hilflos beim Sterben zusehen. Danach wurde die Medizin so eine Art Besessenheit für ihn. In Kürze überflügelte er alle Studienkollegen und machte als Chirurg von sich reden.
Jacob wurde im Fuhrunternehmen eines Onkels tätig der die organisatorischen Talente seines Neffen durch motivierende Anerkennung förderte. Als er an Krebs erkrankte, überschrieb er ihm die Firma und da er kinderlos war, auch sein Vermögen.
Georg ging für zwei Jahre als Chirurg nach China, da ihn die asiatische Alternativmedizin brennend interessierte. Dort lernte er seine erste große Liebe kennen. Tsai-Fong, eine mittellose Medizistudentin, die jeden Job annahm um ihr Studium zu finanzieren.
Sie war intelligent, sanft und sie war krank. Eines Tages kam sie nicht zur Verabredung. Freunde benachrichtigten ihn, dass sie zusammengebrochen sei und im Krankenhaus liege. Er fuhr sofort hin und erfuhr, dass ihre Nieren nicht mehr arbeiteten und umgehend operiert werden müsse. Nur die Niere fehlte. Seine Mutter vor Augen rastete er aus. Später nahm ihn ein junger Arzt zur Seite und erzählte ihm, dass es in China kein Problem sei, geeignete Spender zu finden. Wer gut bezahlte rückte auf der Warteliste an die Spitze. Was Georg nicht wusste war, dass diese Spendenorgane häufig durch kriminelle Organisationen beschafft wurden. In seiner Not rief er seinen besten Freund an, welcher nicht zögerte und ihm 50.000 DM überwies. Das war der Preis und umgehend stand eine Niere zur Verfügung.
Die Transplantation nahm Georg selbst vor, aber der Körper der jungen Frau war schon zu vergiftet. Er stieß das fremde Organ ab und Georg musste zum zweiten Mal hilflos einem geliebten Mensch beim Sterben zusehen.
Er ging zurück nach Deutschland, stürzte sich in die Arbeit um zu vergessen.
Jacobs Firma hatte eine Krise und so bat er Georg um die Rückzahlung der 50.000 DM. Das brachte diesen jedoch in eine peinliche Situation, er hatte kein Geld.
Etwa zum gleichen Zeitpunkt nahmen zwei Chinesen Kontakt zu ihm auf. Sie verlangten von ihm in einer Stuttgarter Klinik zu arbeiten. Alles wäre vorbereitet, man würde ihn dort in der chirurgischen Abteilung erwarten. Als er ablehnte, klärten sie ihn über die Herkunft der gekauften Niere auf und gaben ihm zu bedenken, wie schnell seine Karriere beendet wäre, würde er eine Zusammenarbeit verweigern. Damals war er zu ehrgeizig und zu naiv. Er glaubte, da ganz schnell wieder raus zu kommen. Sein Gehalt ging auf sein Deutsches, die eine oder andere Organtransplantation zahlungskräftiger Patienten wanderten auf ein Schweizer Konto, ebenfalls organisiert von den Chinesen. In kürzester Zeit konnte Georg seine Schulden an Jacob zurück zahlen, so dass dieser die Firma nicht nur retten, sondern auch expandieren konnte. Er schaffte seinen ersten Kühltransporter an.
Den Chinesen entging nichts. Georg bekam den Auftrag, Jacob ins Boot zu holen. Als dieser entsetzt ablehnte, sprachen die Chinesen persönlich mit ihm. Mittlerweile war er verheiratet und hatte eine kleine Tochter. Judith. Die Argumente der Mafiosis waren überzeugend. Das Fuhrunternehmen wurde um zwei asiatische Fahrer und mehrere Kühllaster reicher.
Weder Georg, noch Jacob wusste wer die Fäden zog, was woher kam und welche Ausmaße das Ganze hatte. Der eine bekam seine Fahraufträge, der andere seine Operationstermine. Das ganze war so gekonnt organisiert, dass Georg nicht einmal wusste, wer aus der Klinik alles involviert war.
Sie lernten damit zu leben, dass man über bestimmte Angelegenheiten besser nicht nachdachte und noch weniger sprach. Sie lebten damit sehr gut.
Bis vor drei Jahren.
Die Chinesen waren Profis, aber keine Zauberer. Jacobs Herz machte zu schnell schlapp. Der Mensch Jacob interessierte die Organisation nicht im Geringsten, der altgediente Transportunternehmer um so mehr. Ein Menschenleben war für die Organmafia ein sehr geringer Preis, wenn sich dafür die Räder weiter drehten.
Buchstäblich in der letzten Sekunde geschah ein von asiatischer Hand produziertes Wunder, und erstmals wurde von Georg verlangt, diesem Wunder mit den eigenen Händen Vorschub zu leisten. Er weigerte sich, drohte sich umzubringen und wurde vor die Wahl gestellt, das Leben eines unbekannten Motorradfahrers für einen "guten Zweck" zu opfern, oder eine bestimmte Anzahl derer, die ihm sehr viel bedeuteten. Damit waren die Würfel gefallen.
Als Jacobs Gesundheit stabilisiert war, stand Georg kurz vor dem Zusammenbruch. Er besuchte seinen alten Freund und klärte ihn über die Herkunft seines Spenderherzens auf. Sie redeten und weinten eine ganze Nacht, standen erstmals zu der grausamen Tragweite dessen, woran sie beteiligt waren. Es begann mit ihrer Freundschaft und der Liebe zu einem asiatischen Mädchen und endete damit, dass sie ihre Seelen dem Teufel verkauft hatten.
Sie begannen Pläne zu schmieden.
Jacob ermunterte seine Frau zu Reisen. Zug um Zug schaffte sie einiges Geld nach Südamerika, um im Mexikanischen Hochland ein kleines Heim für sich zu schaffen. Sie erfuhr nicht alles, aber genug um sehr vorsichtig zu sein.
Diese letzten Jahre waren die Hölle. Die drei weisen Affen hatten die Hände in den Schoß gelegt, nichts milderte mehr die Umstände.
Wenn der Plan gelang, würden Jacob und seine Familie in Sicherheit sein und Georg würde tun, was er schon lange tun wollte. Eine Flucht antreten, die auch die Asiaten nicht mehr verhindern könnten.
Alles lief wie am Schnürchen. Jacobs Frau besorgte in Mexiko für ihren Mann falsche Papiere und für Georg war es kein großes Problem, einen verstorbenen Obdachlosen verschwinden zu lassen.
Sie dachten an alles. Der Tote trug Jacobs Kleider, Schuhe, seine Markenuhr und hatte seine Papiere dabei, als er in den Abgrund stürzte und anschließend bis zur Unkenntlichkeit verbrannte. Ein paar Stunden später ging der Totgeglaubte an Bord eines Amerikanischen Frachtschiffes.
Seine Frau identifizierte das Eigentum ihres Mannes und sein Arzt bestätigte die Möglichkeit eines Herzproblems, dass den Unfall ausgelöst haben könnte.
Georg wollte zur Sicherheit sein eigenes Ableben noch ein paar Wochen aufschieben, um zu beobachten ob die Organisation den Braten schluckte. Alles schien in bester Ordnung, bis ...
"... dein Vater die Dummheit beging, dir diese Nachricht zukommen zu lassen und dich mit dem Geld zur Witwe des Motorradfahrers schickte."
Judith starrte aus dem Fenster. Sie hatte Georgs Erzählung nicht mit einem einzigen Wort unterbrochen, wäre dazu auch gar nicht in der Lage gewesen. Ihre Luft reichte kaum zum Atmen.
"Wann sollte ich erfahren, dass mein Vater lebt?"
"Eigentlich nie, um dich zu schützen. Aber du siehst ja, wie lange es deinem Vater gelungen ist. Dieses Wissen ist tödlich, mein liebes Kind."
Judith erhob sich. "Ich werde nach Mexiko fliegen. Was ihr getan habt, ist durch nichts zu entschuldigen, aber es steht mir auch nicht zu, euch zu verurteilen. Ihr habt einen Schneeball geworfen und eine Lawine hat die Welt um euch herum verschüttet. Du hoffst, deine Absolution im Tod zu finden, mein Vater hat das Leben gewählt und hofft scheinbar auf Absolution durch mich. Das kann ich nicht. Aber ich werde für ihn da sein."
Georg schüttelte den Kopf: "Wenn Du jetzt nach Mexiko fliegst, dann wird das ihr Misstrauen wecken. Und wenn das erst mal geschehen ist, war alles umsonst. Fahr nach Hause und trauere weiter, nichts anderes wird von dir erwartet. "
Sie wollte widersprechen, sah dann aber ein, dass der treue Freund ihres Vaters Recht hatte. Die Verabschiedung fiel schwer, sie hatte begriffen, dass sie ihn nicht wiedersehen würde.
Das letzte, was sie von ihm hörte war: " Mach dir keine Sorgen, ich weiß endlich, was zu tun ist."
Epilog
Drei Wochen später saß eine junge Frau auf einer Parkbank und weinte. Vor ihren Füßen spielte der Wind mit den losen Blättern einer Zeitung.
Eins davon mochte er besonders, bauschte es auf und trug es einem Passanten vor die Füße. Dieser lächelte belustigt und las die dicke schwarze Schlagzeile:
"Deutschlands bester Herzchirurg im Mexiko-Urlaub tödlich verunglückt. Beifahrer konnte noch nicht identifiziert werden ..."
Fröhlich pfeifend ging er weiter.
Texte: @Fabiana
Tag der Veröffentlichung: 10.07.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Gewidmet Murkele, für die wunderbare Inspiration