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Sie hörte sie reden und verstand nichts.
    Sie sah sie und erkannte sie nicht.
    Sie lief neben ihnen und spürte sich selbst nicht.

Es ging bergab, ganz leicht nur und sie wunderte sich. Ging es hier schon immer bergab? Sie sah das Bassin. Es gehörte zum Amt für Wasserversorgung. Im Sommer, nur manchmal, wenn der alte Wächter gute Laune hatte, durften die Kinder darin baden. Es war die einzige Erinnerung. Nur der Wächter, der hohe Zaun und das Bassin. Beton, blau gestrichen und das Wasser eiskalt. Eiskalt und glasklar.

Sie kamen näher, sie und die Menschen neben ihr. Der Nebel waberte um sie herum und ein Windstoß riss Löcher hinein. Langsam drehte sie den Kopf zur Seite und erkannte ihre Mutter. Sie sprach mit den anderen, schien zu lachen. Da waren ihre Brüder, Freunde und Menschen, von denen sie wusste, dass sie sie kannte. Wusste es, ohne zu sehen, ohne zu hören. Es war einfach da, dieses Wissen. Schwer war es, den Kopf zu drehen, zurück zu dem Bassin, dem Bassin, das plötzlich so anders war.


Kein Zaun mehr, nur Rasen drum herum, ungepflegt und voller Disteln. Ein Tümpel, voll von Schmutz und giftgrünen Algen. Nein, nicht ganz ... in der Mitte, da war das Wasser heller, klarer und sie sah etwas auf schlammigem Grund. Ein Mensch, ein weißes Kleid, ein Mädchen. Langes Kastanienbraunes Haar wogte mit den sanften Bewegungen des Wassers. Die Augen weit geöffnet. Tote Augen. Sie sah dieses tote Mädchen und verstand nicht. Nichts regte sich in ihr, war sie selbst auch tot? Tot, wie dieses Mädchen im nassen Grab? Und die Anderen? Sahen sie, dass ihre Tochter dort unten lag? Ja, sie folgten ihren Blicken, mussten ihr geliebtes Kind sehen ... gingen weiter, lachend plaudernd. Und sie ging mit, auf Beinen die trugen, ohne sich spüren zu lassen. Ging und wunderte sich einen kurzen Moment, dass sie nicht schrie, nicht kreischte, nicht verzweifelte ... nichts, nur eine flüchtige Verwunderung, dass das Liebste in ihrem Leben da unten lag, in stinkendem Morast und niemanden schien es zu interessieren.
Auch sie nicht.


Die Frau stand an der Wand des Zimmers und vor ihr saß ihr Bruder. Der jüngere, dem sie fast Mutter war und den sie liebte. Der Fernseher lief, es musste etwas lustiges sein, denn er lachte, der geliebte Bruder. Saß auf einem Holzstuhl davor und lachte. Und sie wunderte sich über die kärgliche Einrichtung. Nur dieser kleine flimmernde Kasten und dieser Holzstuhl. Die Wände des Zimmers waren dunkel, fast schwarz. Sie hob den Blick, nicht den Kopf, nur die Augen und nichts war über ihr, nichts außer einem farblosen Himmel. Die Wand vor ihr, graues Gestein und aus den Augenwinkeln sah sie das Gleiche hinter sich. Sie fragte sich, warum und seit wann sie in dieser Gasse wohnte. Hier, zwischen kalten hohen Häuserwänden. Doch ihr Bruder sah fern und lachte. Frieden war in ihr. Sein Lachen brachte Wärme und sie fühlte sich leicht und froh. Der Raum, der keiner war, dehnte sich plötzlich, wuchs in die Länge und dort hinten, fast am Ende stand ein Mann. Ihr Mann. Und er lächelte. Ein trauriges Lächeln. Sie lächelte zurück, ganz sanft, wollte nicht wissen, was ihn traurig machte. Drehte den Kopf zurück zu dem lachenden


Bruder und wurde noch froher. Ihre wunderschöne Tochter war gekommen. Unbemerkt. Ihr ganzer Stolz ihr Lebensinhalt. Der Sinn ihres Lebens selbst. Stand hinter dem Stuhl des Bruders, beugte sich zu ihm hinunter. Umfing ihn mit den Armen und lachte. Sie war seine einzige Nichte und er ihr Lieblingsonkel. Wie viel Freude doch aus seinen Augen strahlte, als er sich zu ihr umdrehte. Und wie viel Freude ihr selbst doch dieser Moment bereitete. Sie beugte sich tiefer, ihr Mädchen, wollte das Gesicht an den Hals des Onkels schmiegen und lächelte mit ihren schneeweißen Zähnen ein so strahlendes ....

Wie die Klauen eines unsichtbaren Dämons fuhr es in ihren Körper und krallte sich in Magen, Gedärm und ... ihr Herz. Ihr Kopf wollte platzen, war zu eng für das Bild, dass sich darin aufbaute. Ein Bassin, das nun ein Tümpel war. Ein Körper, ein weißes Kleid. Kastanienbraunes Haar wogend um ein Gesicht mit toten Augen. Ein Mädchen, wunderschön und über alles geliebt. Ihre Tochter! Und mit diesem Bild kam die Erkenntnis. Sie war tot! Konnte nicht hier sein und lachen. Die Erkenntnis war der Dämon, der ihr


Innerstes in Stücke riß, ihren Verstand in Streifen fetzte und sie schrie. Schrie laut und gellend ihrem Bruder zu, dass er sich in Sicherheit bringen sollte, schrie ihm ins entsetzte Gesicht, dass sie sie tot gesehen hatte und sie nur ein Geschöpf der Nacht sein könne. Der Bruder sprang auf, der Mann lächelte hilflos und traurig und das Mädchen wich vor ihr zurück ... weit in den Raum, der keiner war und stand dann still. Stand da, im weißen Kleid, das triefend nasse Haar voll schmutzig grauer Algen. Stand da und sah sie an, die Mutter, die geglaubt hatte zu träumen, von einem Tümpel, in welchem sie das Grauen sah. Ein Grauen so entsetzlich, dass ihr Verstand sich geweigert hatte, es zu akzeptieren. Und die Mutter sah die Veränderung, sah Augen, blutunterlaufen und dennoch so flehend und voller Leid, sah Hände, die sich ihr verlangend entgegenstreckten. Die Handflächen nach oben gedreht, kam ihr Kind einen wankenden Schritt auf sie zu. Und kein Atmen war mehr möglich, als sie aus den Fingern ihrer toten Tochter weiß-graue Asche rieseln sah. Und in vertraut kindlichem Ton dieses klägliche Flehen hörte: "Hilf mir Mama."


"Es ist alles gut, ich bin ja hier. Beruhige dich, es war nur ein dummer Traum". Ihr Mann wiegte sie in seinen starken Armen, selbst noch verwirrt, von den Schreien, die ihn geweckt hatten.

Nie sollten diese Bilder aus dem Kopf der Frau verschwinden. Und noch heute, 15 Jahre später, ziehen sich ihre Eingeweide zusammen, wenn die Erinnerung von ihr Besitz ergreift. Damals schlich sie Nacht für Nacht ins Zimmer ihrer Tochter, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung ist.
Heute muss sie schwer an sich halten, nicht ständig zum Telefon zu greifen. Die Angst, dass dieser Alptraum, die geliebte Tochter zu verlieren, einst zur Wirklichkeit werden könnte, hatte auf Lebenszeit Besitz von ihr ergriffen.

Impressum

Texte: © Fabiana
Tag der Veröffentlichung: 08.04.2009

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