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1965, irgendwo in Deutschland


"Kann ich zu Vati gehen?"

Bittend sah das kleine Mädchen zur Mutter, welche gerade, etwas nervös, ihre Gartentasche packte. Die Sechsjährige kniff für einen winzigen Moment die Augen ganz fest zu, hielt die Luft an und flehte im Stillen: 'Sag ja, sag ja, sag ja.'
"Komm lieber mit in den Garten, du kannst mir beim Unkraut zupfen helfen."
Die Frau warf noch einen letzten, prüfenden Blick auf die Tasche, dann drehte sie sich zu ihrer Tochter um und sagte ungehalten: "Was ist jetzt, kommst du? Ich habe Kartoffeln eingepackt und mache uns einen leckeren Gurkensalat dazu, das magst du doch. Darfst die Gurken auch selbst ernten." Ja, das mochte das Mädchen, aber nicht heute. Das Kind liebte es, mit der Mutter in den Garten zu gehen, dort war Mutter anders, lachte sogar manchmal mit ihr und war nicht so streng. Dort durfte sie auch viele Fragen stellen und bekam freundliche Antworten. Mutter gab ihr sogar ein eigenes kleines Beet, und sie bestimmte ganz alleine, was sie darauf anpflanzen wollte. Für Stiefmütterchen hatte sie sich entschieden, und war stolz auf ihr kleines Blumenparadies. Doch heute mussten ihre Blumen ohne sie auskommen. Heute hatte sie etwas Wichtigeres zu erledigen.


Der aufsteigende Kindertrotz half ihr, mutig zu sein. Mutter wurde schnell ärgerlich, wenn sie widersprach, oder gar diskutieren wollte. "Ach bitte, Mutti, ich möchte viel lieber zu Vati gehen, ich war schon lange nicht mehr bei ihm." Mit gesenktem Kopf stand sie da, die rechte Hand ganz fest zur Faust geballt, in ihr der Schatz, den sie gestohlen hatte. Die Mutter fuhr sie zornig an: "Claudia, du weißt, dass ich nicht will, dass du mit deinem Vater redest. Es ist sinnlos und dumm und du bist alt genug, um das zu verstehen. Basta!"
Das Kind hielt dem Blick der Mutter stand, nickte und schloss die Finger noch fester um das Diebesgut.
"Ich habe deine Querelen langsam satt, wenn du nicht mit willst, dann lass es, aber zu deinem Vater gehst du heute nicht. Du hast Stubenarrest. Wenn Onkel Gerd kommt, dann sag ihm, dass ich schon im Garten bin."
Unsaft fiel die Tür ins Schloss. Das kleine Mädchen ging zum Küchenfenster und schaute, mit Tränen in den Augen, und ihrem Schatz in der verschwitzten, kleinen Kinderhand, der Mutter nach, bis diese nicht mehr zu sehen war.


Wenn Mütter doch in Kinderherzen schauen könnten.


Eine Stunde später kam Onkel Gerd vom Frühschoppen nach Hause. Er roch nach Bier und pfiff gutgelaunt vor sich hin. Sie mochte weder diesen Geruch, noch sein dauerndes Pfeifen, noch ihn. Sie richtete ihm aus, was die Mutter ihr aufgetragen hatte. Er hängte die Sonntagsjacke an die Garderobe im Flur, griff nach seiner Windjacke und sagte gehässig: "Na, mal wieder Stubenarrest?" Lachend verließ er die Wohnung. Dieses komische Lachen mochte sie am wenigsten.


Sie konnte ihn schon sehen, da vorne ... Vati. Ihr schönstes Kleid hatte das Mädchen für ihn angezogen. Weiß war es, mit großen, dunkelroten Rosen bedruckt. Der Rock war weit ausgestellt. Eigentlich gehörte ein Petticoat darunter, aber dafür reichte Mutters Geld nicht. Ihr war es egal, es war das schönste Kleid der Welt. Claudia war aufgeregt und glücklich. Sobald sie in Vaters Nähe war, fühlte sie sich geborgen, behütet und geliebt. Als sie vor ihm stand, fühlte sie sein Lächeln. Ihre Mutter sagte immer, dass man ein Lächeln nur sehen kann. Aber das stimmte nicht, denn wenn Vati lächelte, wurde ihr immer ganz warm und wohlig.


"Da bin ich Vati." Es war ein heißer Tag und das dünne, blonde Haar klebte in feinen, feuchten Strähnen auf ihren erhitzten Wangen. "Ach Vati, ich hatte solche Sehnsucht nach dir, doch Mutti wollte nicht, dass ich zu dir komme, da bin ich ausgerissen." Mit glänzenden Kinderaugen, die um Verständnis baten, schaute sie zu ihm hoch. Der Vater lächelte sein wundervolles Lächeln und legte sanft seine


Hand auf ihren Kopf. Das Kind wurde ruhig und froh.
"Vati, ich habe etwas Unrechtes getan, aber ich bin nicht böse, dass musst du mir glauben", plapperte sie unbefangen los, "ich habe gestohlen Vati und ein wenig schäme ich mich auch, weil stehlen ja garstig ist, aber du hast mir selbst einmal gesagt, dass nicht alles schlecht sein muss, was auf den ersten Blick so scheint. Ich habe sogar zweimal gestohlen heute und einmal war wirklich nicht nett, aber ich brauchte ja Geld für den Bus, sonst hätte ich nicht kommen können."
Nun fand sie Vaters Blick schon ein wenig besorgt und ehe er sie tadeln konnte, redete sie weiter.
"Ich sags dir lieber gleich, dir kann man ja doch nichts verheimlichen. Ich habe dem Onkel Gerd 30 Pfennige aus der Sonntagsjacke stibitzt, ich konnte ihn ja nicht fragen, wegen dem Stubenarrest und gegeben hätte er sie mir ja auch sonst nicht. Da war viel Kleingeld in der Tasche, aber ich habe keinen Pfennig mehr genommen, als ich für den Bus gebraucht habe. Gell Vati, du verrätst mich nicht, die Mutti würde mir ja für 100 Jahre Stubenarrest geben."


Vaters beschwichtigendes, "ich werde niemandem etwas verraten", machte dem Kind Mut. "Vati, du bist mein bester Freund, dir kann ich doch alles erzählen?" Der Vater lächelte und nickte dem Kind aufmunternd zu.
"Manchmal hat Mutti in der Küche am Tisch gesessen und geweint. Dann hatte sie immer was in der Hand und guckte sich’s an und drückte es an ihr Herz. Ich habe dann immer getan, als sehe ich es nicht, weil Mutti nicht mag, wenn ich sie weinen sehe."
Das Kind hatte die weinende Mutter vor Augen und zeichnete mit dem Finger, Gedankenversunken, Kreise in die staubtrockene Erde. 'Muttis dürfen nicht weinen', dachte die Sechsjährige und ihr fiel ein, dass Vater ja noch nicht alles wusste. Er drängte sie nicht, das tat er nie und seine Geduld half ihr, die richtigen Worte zu finden.
"Und ich war neugierig Vati, ich konnte ja nie sehen, was da in ihrer Hand war und sie immer so traurig machte. Aber einmal habe ich gesehen, wie sie es in den Küchenschrank legte, ganz oben, wo Omas schöne alte Sammeltasse steht, die mit dem Goldrand und den Streublümchen." Einen kurzen Moment versuchte das Kind, sich das Gesicht der lieben Oma vorzustellen, doch es gelang ihm nicht so recht. Omchen war seit dem letzten Sommer beim lieben Gott.
"Vatilein, ich hätte auch wirklich nicht geschnüffelt, ich weiß ja, dass man das nicht tut, aber der Onkel, der hats getan." Claudia hatte noch deutlich das Bild vor Augen.


Am Abend zuvor war sie in die Küche gegangen, und da stand Onkel Gerd am offenen Küchenschrank. Er hielt etwas in der Hand, sie konnte es nicht erkennen, und er grinste dieses Grinsen, was sie nicht mochte. Als er sie sah, sagte er vergnügt, "das reicht für ne neue Uhr", legte es zurück an seinen Platz und ging lachend aus der Küche. Mit diesem Lachen, das sie am wenigsten an ihm mochte.
"Vati gell, du kannst verstehen, dass ich nun auch wissen wollte, über was Mutti weint und was für die Uhr vom Onkel reicht?"
Der Vater musste nichts sagen, sie wusste, dass er sie versteht. Das tat Vater immer. Sie saß ganz still bei ihm und dachte daran, wie sie den alten Küchenstuhl zum Schrank geschleppt hatte und sich trotzdem noch strecken musste, um in Omchens Tasse greifen zu können. Beinahe wäre sie heruntergefallen, die Tasse, und das hätte schwer Ärger gegeben. Als sie es dann endlich in ihren kleinen Händen hielt, konnte sie Mutters Tränen gut verstehen. Und sie beschloss, den Onkel niemals leiden zu können, auch wenn er irgendwann mal netter werden sollte. Sie stieg vom Stuhl, presste den gefundenen Schatz an ihr Kinderherz und weinte. Verstand in diesem Moment die weinende Mutter, fühlte sich ihr verbunden und für einen Moment ganz erwachsen. Denn sie wusste plötzlich, dass sie eine Aufgabe hatte.

Claudia blickte, stolz auf sich selbst, zum Vater hoch und sagte mit kindlichem Ernst:
"So, Vatilein, jetzt hab ich’s dir gebracht und keiner soll es dir mehr wegnehmen können. Jetzt musst du selbst drauf aufpassen."
Zwei kleine Kinderhände gruben ein Loch in den ausgetrockneten Boden, legten behutsam ein kleines Päckchen hinein und bedeckten es sorgfältig mit staubgrauer Erde.
Zwei kleine Kinderhände strichen sanft über welke Stiefmütterchen und sagten Lebewohl.


1984, irgendwo in Deutschland


Der Mann schwitzte und fluchte. Der Boden war hart, es hatte seit Wochen nicht geregnet.
Er hätte gerne eine längere Pause eingelegt, wenigstens bis die größte Hitze vorüber wäre, aber dann müsste er Überstunden machen. Sein Kollege hatte sich heute Morgen krank gemeldet, also biss er die Zähne zusammen und grub weiter. Unerbittlich rann ihm der Schweiß über die Stirn und brannte in seinen Augen. Schimpfend, wie ein Rohrspatz, stieß der Mann den Spaten in die Erde und stieg aus der Grube. Er langte nach seinem Hemd, welches über einem unscheinbaren Grabstein lag und wischte sich damit den Schweiß aus dem Gesicht. Lässig warf er es zurück an den alten Platz, es landete daneben. Als er sich bückte, um es aufzuheben, fiel sein Blick auf etwas, dass am Rand des aufgeworfenen Erdhügels lag. Es war nicht unüblich, dass er beim Ausheben alter Gräber das eine oder andere fand. Er hatte sich schnell daran gewöhnt.


Aber das dort sah anders aus. Er stippte es mit der Schuhspitze ganz aus der staubigen Erde und erkannte ein kleines Päckchen, eingewickelt in verwitterte Plastikfolie. Neugierig hob er es auf und entfernte die Folie. Darunter war eine Hülle, die er für ein Stück Leinentuch hielt. Auch diese Schicht zerfiel nahezu beim auswickeln.


Als eine weitere Plastikschicht zum Vorschein kam, musste er unwillkürlich lächeln. Da hatte sich aber jemand ganz besondere Mühe gegeben. Erstaunt blickte er einen Moment später auf das kleine Etui in seiner Hand. Fast andächtig öffnete er es und sah ein Stück Papier, mehrmals zusammengefaltet und wohl mit einiger Anstrengung in das winzige Versteck gepresst. Er nahm es heraus ... darunter lag ein goldener Ring. Der Gravur nach, musste es ein Ehering sein. Sie war gut zu lesen:

*** Für immer Dein * Gerda* 1958 ***

Sehr vorsichtig faltete er das Blatt auseinander und entzifferte die krakelige Handschrift eines Schulanfängers:

Mein libes Vatilein

jetzt haben wir ein groses geheimnis. Deinen Ring habe ich jezt für dich geretet. Du must ihn gut hüten sonst kauft sich der Onkel eine uhr. Die Mutti mus nun auch nicht mer wissen das ich mit dir schpreche. Oder Vileicht redest du ja auch mal mit ihr damit sie mir glaubt. Sage dem Omchen einen lieben grus.
Ich kome dich bald wider besuchen.
deine Claudia
die dich so sehr fermist.


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Texte: Copyright: Fabiana
Tag der Veröffentlichung: 26.01.2009

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