"Warum ... Mutter?"
Ich sehe sie an ... schäme mich nicht für den weinerlichen Ton ... nicht für die aufsteigende Panik ... nicht für das kläglich jammernde Häufchen Elend, als das ich vor ihr sitze.
"Ja, schweige nur Mutter, das hast du immer getan. Geschwiegen."
Ich möchte es ihr ins Gesicht schreien, wage es aber nicht ... habe es nie gewagt. Also flüstere ich diese Worte. Was eine mutige Anklage werden sollte, wabert kraftlos als uraltes Wissen im Raum. Etwas womit ich seit Jahrzehnten lebe und womit ich ab Heute nicht mehr leben will. Ich will Antworten. Jetzt! Nur dafür bin ich gekommen. Ich taste nach ihrer Hand. Klammere mich an diese runzligen Finger. Das habe ich so oft getan, doch heute zieht sie die Hand nicht weg. Ein gutes Zeichen, es macht mich mutiger.
"Hilf mir Mutter!"
Ich habe keine Wurzeln, keinen Halt ... fühle mich wie ein vergilbtes Blatt, ... trudelnd im Wind, auf dem Weg zur Erde, hin zu Morast und endlichem Vergehen. Durch ewige Orientierungslosigkeit müde und halbherzig kämpfend, einen aufwärtigen Luftstrom zu erreichen, dass er mich zurücktrüge zu meinem Lebensbaum. Doch immer schon war es des Windes Aufgabe, das Morsche und Sterbende vom Stamme zu reißen ... um neuem, kraftvollen Leben Platz zu schaffen. Ihn scherte nie das Gejammer der Sterbenden, er verschlang jedes Klagen mit seinem unermüdlichen Rauschen.
"Ich suche Halt ... Mutter."
Doch wer selbst entwurzelt ist, kann als Halt nicht wirklich taugen.
Mit Vater starb dein Lachen und mein Kinderglück ... denn eines Toten Hand kann flüchtig nur den Lebenden berühren. Ein Kind verzeiht den Egoismus schwer, dass ein geliebter Mensch so ALLES mit sich auf die andere Seite nimmt und NICHTS zurücklässt, außer Sehnsucht, Verlustängste und grausam schnell verblassende Bilder. Doch Kinder wissen sich zu helfen ... schöpfen Kraft aus unverbrauchter Fantasie. Sie bauen Brücken ... selbst ins Reich der Toten und scheuen nicht die Geister, die sie rufen. So konnte ich leben, in meiner geschaffenen Welt, die heil und voller Wärme war.
"Warum hast du sie zerstört ... Mutter?"
Warum hieltst du mich so früh für alt genug, zu erfahren, dass Vater nie mein Vater war. Die Brücke löste sich wabernd unter meinen Füßen auf ... ich schwebte wieder in luftleerem Raum. Ich sehnte mich so sehr nach dem wärmenden Trost mütterlicher Arme.
"Warum hast du mein Flehen nie gehört ... Mutter?"
Weil Kindermünder nicht sprechen können, wenn kalte Mutterherzen sie vereisen. Und wenn ich mit den Augen sprach, hast du die deinen von mir abgewendet. Hin zu dem neuen Mann, von dem du zu bekommen hofftest, was du selbst nicht in der Lage warst zu geben. Ich hätte dir so sehr gegönnt im Übermaß zu finden. Du fandest nichts, von dem du mir hättest abgeben können. Und deine Verbitterung ließ auch den Mann frieren.
"Hast du es nicht gespürt ... Mutter?"
Nein ... in deinem Eispalast war kein Raum für Gespür. Wie Kai hast du gefrorene Kristalle aufgeschichtet ... in jedem eingefrostet einen deiner Träume. Wie beneidete ich die kleine Gerda. Mit nur einer Träne erreichte sie, was mir mit einem Meer aus Tränen bis heute nicht gelang. Und während selbst mein Atem in deiner Gegenwart zu tausenden kristallenen Splittern gefror, welche sich wie Nadeln in mein kindliches Gemüt bohrten,....erstarrte auch der Mann, er wurde kalt ... und böse.
"Hast du die Wandlung nie bemerkt ... Mutter?"
Du hast wohl hin und wieder nach den blauen Flecken gefragt ... sein drohender Blick ließ mich hilflose Erklärungen stammeln. Du hast die Würgemale an meinem Hals gesehen ... aber nie in meine Augen, wenn ich von Prügeleien auf dem Schulhof faselte.
"Hast du es nie wissen WOLLEN ... Mutter?"
Irgendwann hörtest du auf, mit ihm zu sprechen ... tatest, als sei er nicht mehr da. Aber er WAR DA! Ganz besonders, wenn du zur Nachtschicht gingst.
Er war da ... für mich.
So sehr, dass ich zu sterben wünschte.
Wenn du dann am frühen Morgen nach Hause kamst, war ich "ein unmögliches Kind", weil ich ins Bett gemacht hatte. Manchmal war ich auch das "grauenvolle Kind, das zu viel Süßigkeiten in sich hineinstopft", weil ich mich im Bett übergeben hatte. Als ich dich weinend bat, mich nicht alleine zu lassen, war ich "das Kind, das immer im Mittelpunkt stehen will" und du wurdest wütend. Ich habe dich so sehr geliebt ... ich wollte dich nicht wütend machen. So ein Kinderrückgrat ist stärker, als du denkst ... und so wurde ich stark und tapfer ... für dich. Damit du mich lieben kannst und dein Lachen wieder findest.
"Hast du das nie gewusst ... Mutter?"
Als er starb, wollte ich mit dir reden. Ich war so voll vom Schorf alter Wunden, dass ich glaubte bersten zu müssen. Ich hoffte so sehr, dass du mit mir zusammen weinen würdest und deine Tränen all den Schmutz herausspülen. Aber Tränen hattest du nur für dich.
Du warst schockiert ... weil ich mit meiner schmutzigen Fantasie selbst vor einem Toten nicht Halt machte.
"Glaubtest du das wirklich ... Mutter?"
Heute bin ich hier um Antworten zu bekommen ... um endlich meinen Frieden zu finden. Ich sitze hier und halte deine Hand. Sie ist kalt geworden. Ist sie das? Ich kann mich nicht erinnern, dass sie jemals warm war. Du antwortest nicht. Alles wiederholt sich. Ich fühle mich wieder wie das kleine Mädchen, das so traurig um deine Liebe gekämpft hat. Ich höre Schritte auf dem Flur ... sie werden dich gleich holen, dich mir wegnehmen. Für immer. Kann einem überhaupt etwas genommen werden, was man nie wirklich besessen hat? Ich weiß es nicht. Ich muss jetzt gehen ... sie sind schon an der Tür. Es ist nicht fair von dir, dich so davon zu schleichen. Nicht jetzt. Sie hat mich all die Jahre ausgebrannt. Diese letzte Frage:
"Konntest du jemals in den Spiegel schauen ... Mutter?"
Texte: Copyright: Fabiana
Tag der Veröffentlichung: 03.01.2009
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