'Wie er da liegt ... so friedlich'
Sie sah liebevoll auf ihn hinunter und lächelte verträumt. Es war ein herrlicher Tag und sie fühlte sich leicht und frei, wie schon lange nicht mehr. Gierig sog sie die salzig frische Luft in ihre Lungenflügel, bis sie zu platzen drohten. Sie hob ihre schlanken Arme und drehte sich mit geschlossenen Augen tänzerisch spielend im Kreis. Von der Sonne liebkost, von einem sanften Windhauch gestreichelt, fühlte sie sich eins mit der Natur. Als ihr schwindlig wurde ließ sie sich ermattet in ein Meer von Kapuzinerkresse sinken.
Beide Handflächen fest auf die frühlingswarme Erde pressend, überkam sie ein unbändiges Verlangen. Eng schmiegte sie ihren weiblich weichen Körper in das Bett aus Steinen und Blüten, von diesem Sehnen durchdrungen, Teil von allem zu sein. Eine Metamorphose am eigenen Ich erleben.
Ein wenig werden wie der warme Fels ... Jahrmillionen unerschütterlich Naturgewalten trotzend.
Es der Kapuzinerkresse gleichtun können, die in sanfter Schönheit immer wieder neu erblüht und sich mit ihren feinen Wurzeln selbst auf steinigstem Boden trotzig hält. Und auch ein wenig wie die satte braune Erde selbst, die unermüdlich allem Kraft zum Leben schenkt, das sich von ihr nährt.
Widerwillig riss sie sich aus diesem Tagtraum ... zurück in die Realität. Seufzend erhob sie sich, um nach ihrem Mann zu schauen. Er lag noch immer still und friedlich, wirkte vollkommen entspannt. Keine ewig griesgrämig herabgezogenen Mundwinkel, keine Zornesfalten über der Nasenwurzel. Er sah fast so aus wie damals, als sie ihn kennen lernte. Und ihn liebte.
Sie gönnte ihm diese Ruhe von ganzem Herzen.
Ein Blick auf die Uhr erinnerte sie daran, dass es Zeit wurde zu gehen. Sie packte das Fernglas in den kleinen Wanderrucksack und blickte auf den schmalen Trampelpfad, welcher sich an der zerklüfteten Steilwand entlang schlängelte. Dafür hasste sie ihn schon wieder ein wenig. Sie litt stark unter Höhenangst, aber er bestand darauf diese Route zu nehmen.
Er hatte sie gestern sogar vor anderen Hotelgästen lächerlich gemacht wegen dieser "Feigheit", wie er es nannte. Er wollte ihr beweisen, dass man diesen Weg selbst mit geschlossen Augen problemlos gehen kann. Jeder konnte seine Angeberei hören. Es war so peinlich. Aber heute war sie ihm deshalb nicht mehr böse. Vergessen können war manchmal lebensnotwendig.
Natürlich würde SIE die Augen auch auf dem Rückweg offen halten. Sie wusste, wie schnell man aus dem Gleichgewicht kommen kann.
Ein kleiner Stoß hatte genügt.
Texte: copyright: Fabiana
Tag der Veröffentlichung: 21.12.2008
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