Skorpione im eigenen Saft
Juan Bas
Aus dem Spanischen von Susanna Mende
Für meine Eltern, ohne deren
Unterstützung in schweren Zeiten
mir der Beruf des Schreibens
nicht möglich gewesen wäre.
Dieser Roman wäre anders und
zweifellos schlechter ohne
die wertvolle und selbstlose Hilfe
meines gelehrten, genussfreudigen,
großzügigen und geliebten
Freundes José Cruz Fombellida,
alias Doktor Mabuse; Gourmet,
hervorragender und einfallsreicher
Koch und unermüdlicher Sammler
von Kochbüchern.
Das Ausprobieren, der Kontrast,
wird die Norm für die neue
Küche sein; erlaubt sind sämtliche
Kreationen, die stimmig und
harmonisch sind, auch wenn sie den
Gaumen schockieren sollten.
ALAIN SAENDERAINS
Man nehme 1 Liter Weißwein,
10 Gramm Kandiszucker, 2 Gramm
Weinsäure, 50 Gramm Cognac und
2 Gramm Natriumhydrogenkarbonat.
Man löse den Zucker im Wein auf,
dann gebe man zuerst den Cognac und
danach das Natriumhydrogenkarbonat
hinzu. Danach ist die Flasche – die
aus dickem Glas sein muss – umgehend
zu verkorken und der Korken mit
einem kräftigen Bindfaden zu sichern.
Die Flasche wird über einen Zeitraum
von 304 Tagen gelagert.
Am 305ten wird getrunken!
Rezept aus Bilbao
vom Ende des 19. Jahrhunderts
zur Herstellung von
hauseigenem Champagner
ERSTER TEIL
DIE WELTKARTE VON BILBAO
Die Welt als Ganzes ist
Bilbao in groß.
Miguel de Unamuno,
aus dem Gedicht „Heute habe ich dich genossen, Bilbao“
(Verse aus dem Inneren)
1
Die Panik überfiel mich ganz plötzlich. Sie durchströmte mich nicht allmählich, sondern packte mich mit einer blitzschnellen, eisigen Klaue, hallte im gesamten Nervensystem wieder und schlug ihr Hauptquartier am Magenmund auf, unmittelbar begleitet von einer körperlichen und seelischen Angst, die bohrend und unerträglich war.
„Ojemine ...“
„Haben Sie was gesagt?“
Der Taxifahrer dreht seinen wenig anmutigen Kopf, der unter einen Rasenmäher gekommen sein muss, zu mir um und stellt die Frage mit diesem galizischen Einschlag, der nicht einmal nach fünfzig Jahren an der Universität von Oxford verschwindet.
Gut hundert Meter vom Guggenheim-Museum entfernt stehen wir mitten im Stau, der am Vorabend vor Heiligabend das Zentrum von Bilbao lahm legt.
„Nein, nein ..., nichts. Können wir nicht einen anderen Weg nehmen? Irgendeine Seitenstraße vielleicht ... Wir stecken hier schon seit einer Viertelstunde fest.“
„Dann sagen Sie mir, welche ... Das ist wirklich nicht zum Aushalten... Vielleicht wenn die Ampel umspringt ... Aber dann wird es noch schlimmer, weil uns die auf dem Weg zur Deusto-Brücke vollends die Tour vermasseln ... Haben Sie irgendwas?“
„Noch nicht.“
Nein, ich glaube nicht. Abgesehen von der Angst und den eindeutigen Symptomen besteht mein körperliches Unwohlsein lediglich aus Krämpfen, Übelkeit oder Schmerzen. Der Mund! Ja, der Mund! Ein Geschmack, als würde ich an etwas Metallischem lutschen, etwas aus Kupfer. Ist das vielleicht das erste Symptom? Nein, beruhige dich, Pacho, er ist nur trocken wegen der Aufregung ... Produzier Speichel und schluck ihn runter. Ja, so. Oder doch nicht? Bitte, ach bitte ...
„Solange die Uhr läuft, geht mir das am Arsch vorbei. Sie wissen schon“, er gibt dem Taxameter, das bereits achthundertfünfundsiebzig Peseten anzeigt, einen zärtlichen Klaps. Darüber hängt ein Medaillon des Heiligen Christophorus mit bewusstem Kind auf dem Buckel, neben einem fürchterlichen buntgefleckten Emailleschmuck mit dem Wappen des glücklichen Baskenlandes: wahrscheinlich der Grund für mein derzeitiges Unglück, „aber wenn ich Sie wäre, und wenn Sie es so eilig haben, zum Basurto-Krankenhaus zu kommen, würde ich hier aussteigen, schnurstracks zum U-Bahneingang an der Plaza Moyúa gehen und ..., na ja, so nah kommen Sie mit der U-Bahn dann auch wieder nicht ran, also so, wie’s aussieht ... Aber ein wenig schon.“
„Und wenn ich ein weißes Taschentuch raushalte und Sie hupen? Dann lässt man uns bestimmt durch.“
„Was? Warum ein Taschentuch? Damit man mich erwischt und mir ne Strafe aufbrummt? Haben Sie mir nicht gerade gesagt, dass Sie in Ordnung sind?“, misstrauisch kneift er ein Auge zu. Er erinnert mich an Popeyes Großvater.
„Im Moment schon ... Aber vielleicht nicht mehr lang ... Bestimmt nicht mehr lang.“
„Na gut, wenn es so weit ist, halten Sie aus dem Fenster, was Sie wollen“, schließt der Nazi.
„Los, fahren Sie schon! Es geht anscheinend weiter.“
„Na gut. Mal sehen, ob’s das bringt.“
Ja, so viel wie die berühmten Krokant-Austern, die ich dummerweise gegessen habe: wunderbarerweise noch roh, einzeln eingewickelt in ein frisches Spinatblatt, damit sie ihren Saft behalten, umhüllt von einem dünner Teig aus ..., Himmel nochmal! Höchstens zwanzig Meter vorn dabei und wieder im Stau.
Verflucht sei seine Mutter und der Unglückstag, an dem ich Antón Astigarraga Iramendi begegnet bin!
„Ist Ihnen kalt? Soll ich die Heizung anmachen?“
„Nein ... Muss nicht sein.“
Vielleicht hat dieser assimilierte Dorftrottel Recht und ich sollte mich besser aus seiner schmierigen Karre, die wie ein Misthaufen stinkt, davonmachen und im Galopp ins Krankenhaus begeben. Aber wenn ich renne, verändert sich mein Herzrhythmus – momentan ist es ein mittleres Herzrasen – und das Blut zirkuliert schneller. Und ich glaube, das könnte alles noch verschlimmern. Oder nicht? Ich weiß nicht, was ich tun soll ... Ich muss mich irgendwie ablenken, darf mich nicht hineinsteigern; früher oder später muss sich dieses Verkehrschaos ja auflösen.
Na los, ich raffe mich lieber auf und mache mich auf die Socken. Besser, ich verliere nicht noch mehr Zeit.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Polizei schon nach mir sucht. Los. Ich bezahle diesen Volltrottel, steige aus und renne los.
„Ach, du lieber Gott!!“
...
Gerade, als ich dem Taxifahrer einen schönen Abend wünschen will, spüre ich, dass ich in ein dunkles Loch falle, dass ich weggleite, dass mir die Sinne schwinden - dass ich sterbe. Zwei Sekunden Dämmerung, Todeskampf, doch nur für zwei Sekunden.
Es ist schon wieder vorbei.
Ich atme tief durch.
Kalter Schweiß bricht mir aus.
Der Blutdruck ist einfach weggesackt, eine Reizung des Nervensystems wegen der Angst, das muss es gewesen sein, einfach so...
„Hallo! Hören Sie mich nicht?“, beschwert sich der Taxifahrer in rüdem Ton.
„Tschuldigung, ich war ... nicht ganz da. Was haben Sie gesagt?“
„Haben Sie was gewonnen?“
„Wie bitte?“
„Die Lottozahlen, Mann... Die Weihnachtslotterie. Ob Sie irgendwas abgesahnt haben.“
„Bei dieser Lotterie nicht. Bei einer anderen hab ich vielleicht sogar den ersten Preis gewonnen.“
Der Taxifahrer dreht sich wieder zu mir um. Er sieht mich durchdringend an, und mit einem hinterhältigen und spöttischen Ausdruck sagt er in einem düsteren Tonfall, der beunruhigend anders klingt:
„Vielleicht ist Ihre Nummer gar nicht mehr dabei.“
Wieder überläuft mich ein kalter Schauer.
„Warum sagen Sie das? Was meinen Sie damit?“
Er antwortet nicht. Er sieht wieder nach vorne und setzt seine endlose Tirade fort.
„Das geht mir am Arsch vorbei. Das mit der Weihnachtslotterie, meine ich. Na ja, stimmt nicht ganz; einmal fünftausend Peseten gewonnen und früher schon mal ein paar Kröten, aber ich habe zweiunddreißigtausend Mäuse eingesetzt, wie jedes Jahr, nur kleine Fische... und der ganze Jackpot nach Teruel, ein starkes Stück das.“
„Klar...“
Was hat er nur damit gemeint, dass meine Nummer nicht mehr dabei sein soll? Na, egal. Wo waren wir? Wir stehen immer noch an derselben Stelle. Wenn der Schwindelanfall vorbei ist, kann ich zu Fuß weitergehen. Los, ich steig aus; ich will aus dieser scheiß Falle raus und diese Nervensäge loswerden.
Doch wenn ich’s mir recht überlege, warte ich lieber noch ein bisschen.
Aber wenn sich der Stau nicht in spätestens fünf Minuten aufgelöst hat, steige ich aus.
Auf jeden Fall.
Beschlossene Sache.
Diesmal bestimmt.
Und wenn es bereits egal ist, ob ich warte oder mich beeile? Wenn es schon zu spät ist und man nichts mehr tun kann, um mich zu retten?
Beruhige dich, Pacho, du bist schon mit viel schlimmeren Sachen fertig geworden, alter Haudegen, ganz bestimmt, auch wenn dir gerade keine einfällt; lenk dich irgendwie ab.
Im Radio, dessen hintere Boxen mir die Ohren volldröhnen, gibt irgendein Schwachkopf Sentimentalitäten über den Geist von Weihnachten von sich, die so herzergreifend sind wie der Zweite Weltkrieg.
„Klar, Schätzchen. Wenn du brav warst zu den aitas, und ich bin sicher, du warst es, bringt dir der Olentzero bestimmt das Spielzeug und die anderen hübschen Sachen, die du dir gewünscht hast. Na, warst du ein braves Mädchen, Irati? Wirklich brav, hm?“
„Geht so.“
„Was heiß hier geht so? Ein bisschen ungezogen vielleicht?“
„Ja ... Das findet jedenfalls Onkel Joseba.“
„Und warum findet Onkel Joseba das?“
„Weil ich ihm nicht erlaube, dass er mir unters Kleid fasst und weil ich die hässliche Puppe nicht küssen will, die in seiner Hose wohnt.“
„Aha ... Verstehe... Die Technik sagt mir gerade, dass die Verbindung unterbrochen wurde... Und nun bringen wir auf Wunsch unserer netten Hörer aus der Besserungsanstalt El Niño de La Bola in Galdakoa die Weihnachtsrumba Die Schäfer gehen zum Pogrom der Gruppe Costo de Agosto.“
Das reicht, du Marktschreier; eine schöne Blamage, weil du aufdringlich und bescheuert bist. Iratis kindliches Bekenntnis hat ihn so kalt erwischt, dass sogar seine schmierige Stimme klingt wie die von Foghorn Leghorn.
Und für diesen Lüstling Onkel Joseba wird es bestimmt ein unvergessliches Weihnachten werden; Pädophilie über den Äther, ein wirklich hübsches Geschenk von dem bescheuerten Olentzero.
Über meins kann ich mich allerdings auch nicht beklagen.
Wer hätte das gedacht? Völlig am Ende dank dieses versoffenen Köhlers aus Guipúzcoa, über den ich so oft gelacht habe wegen des pathetischen Kreuzzugs der Nationalisten, die darauf erpicht sind, die prächtigen, aber nicht sehr baskischen Heiligen Drei Könige durch einen autistischen Hinterwäldler zu ersetzen, den sie aus der Mythologie des tiefsten Tals von Guipúzcoa hervorgezerrt haben – ein schöner Pleonasmus. Gold, Weihrauch und Myrrhe ersetzt durch den Dung vom Esel des Opfers.
Dem galizische Holzkopf fällt zu dem Onkel, der kleine Mädchen befummelt, anscheinend nichts ein; möglich, dass die Schilderung der engelhaften Irati sein Vorstellungsvermögen übersteigt. Allerdings legt er, angeregt von dem flotten Rhythmus dieser nervtötenden Weihnachtsrumba den Arm auf die Rückenlehne des Beifahrersitzes und trommelt mit langen, schmutzigen Fingernägeln – seine Hand sieht aus wie die Klaue einer Bestie – auf den Plastikbezug; das halte ich nicht aus.
„Tschuldigung. Könnten Sie das unterlassen?“
„Was?“
„Das ... Getrommel mit den Fingern.“
„Huch, auch noch empfindlich! Entschuldigen Sie bitte ... Und das Radio, stört Sie das auch?“
„Schon, aber ich kann’s aushalten.“
„Ich kann es auch gar nicht ausschalten; das geht nur, wenn ich den Motor abstelle. Wenn Sie wollen, tu ich’s.“
„Nein, nein! Bloß nicht! Ehrlich gesagt, bin ich nicht gerade in Festtagsstimmung ...“
„Ich auch nicht ... Ich wäre lieber in einer Kneipe oder einkaufen, wie diese ganzen Idioten; würde mir zwar auch mächtig auf die Eier gehen, aber anders halt ... Alle wie die Lämmer zum Corte Inglés. Und wann hab ich mal Zeit dafür, hä? Das kann ich ihnen sagen: Wenn nur noch der ganze Plunder übrig ist, den die anderen nicht haben wollen; bin mal wieder der Gelackmeierte, wie immer.“
Gnädigerweise unterbricht der Waldschrat seinen Monolog pseudomenschlicher Logik, um den widerlichen Stummel seines billigen Zigarillos neu anzuzünden. Ein grauer Rauch, dicht und beißend, der durchaus mit der radioaktiven Wolke von Tschernobyl mithalten konnte, breitet sich in dem verkeimten Inneren des Taxis aus. Ich habe das Päckchen Benson&Hedges im Lokal, der Weltkarte, liegen lassen, neben dem Computer mit dem Geständnis eines Soziopathen und der Flasche Glenmorangie, als ich begriff, was sich da zusammenbraut und zum Museum davongestürzt bin.
„Entschuldigung, ich habe keine Zigaretten mehr. Haben Sie vielleicht eine für mich oder eine von diesen Farias?“, frage ich mit gut gespielter Unterwürfigkeit.
„Kommt gar nicht in Frage ... Ich hab nur die hier. Und diesen Stummel will ich Ihnen nicht geben, so kurz und zerkaut wie der ist ... Aber ehrlich gesagt, würde ich Ihnen sowieso keine geben; ich erlaube nicht, dass in meinem Taxi geraucht wird. Ich mache eine Ausnahme, weil der Stau auf die Nerven geht ... das gilt natürlich nur für mich, klar.“
„Sie sind wirklich reizend. Es muss wunderbar sein, auf einem Flug nach New York neben Ihnen zu sitzen.“
„Sagen Sie das jetzt im Spaß, oder meinen Sie das ernst?“
„Es bewegt sich was! Los!“
„Ganz ruhig, Mann, werden Sie bloß nicht nervös, ich kenne meinen Job ... Mit mir würden Sie also nicht gerne nach New York fliegen, was?“
„Natürlich würde ich das, war nur ein Scherz. Nun geben Sie schon Gas!“
Der Verkehr fließt auf einmal wieder, langsam, aber er fließt.
Meine Beklemmung lässt um einen Grad nach, aber nicht einmal einen Atemzug später steigt sie gleich um drei. Sirenen sind zu hören, zweifellos Sirenen von Notarztwagen und der Polizei hinter mir, die in Richtung Guggenheim unterwegs sind. Das bedeutet, die reifen Äpfel fallen allmählich vom Baum.
Copyright © Frankfurter Verlagsanstalt
Texte: Frankfurter Verlagsanstalt
ISBN: 978-3627001186
Tag der Veröffentlichung: 14.04.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Leseprobe