Nicolas Dickner: NIKOLSKI
Roman aus dem Französischen von Andreas Jandl
Magnetische Abweichung
Mein Name ist ohne Bedeutung.
Alles beginnt im September 1989 gegen sieben Uhr in
der Frühe.
Ich schlafe noch, eingerollt in meinen Schlafsack, im Wohnzimmer auf dem Boden. Um mich herum stapeln sich Pappkartons, zusammengerollte Teppiche, halb auseinandergenommene Möbel und Werkzeugkisten. Die Wände sind kahl bis auf die hellen Flecken von den Bilderrahmen, die dort allzu lange hingen.
Durch das Fenster hört man den monotonen Rhythmus der Wellen, die sich auf dem Kieselstrand brechen.
Jeder Strand hat seine ganz eigene akustische Signatur, die abhängig ist von der Länge und Stärke der Wellen, von der Beschaffenheit des Bodens, der Morphologie der Landschaft, der vorherrschenden Windrichtung und der relativen Luftfeuchtigkeit.
Es ist so gut wie unmöglich, das leise Murmeln Mallorcas mit dem kräftigen Rollen der vorgeschichtlichen Steine Grönlands zu verwechseln oder die Musik der Korallenstrände Belizes mit dem dumpfen Grollen der Küsten Irlands.
Und auch die Brandung, die ich an diesem Morgen höre, ist ganz klar zuzuordnen. Dieses tiefe, ein wenig raue Rauschen, der kristalline Klang des vulkanischen Gesteins, die leicht asymmetrische Wiederkehr der Wellen, das nährstoffreiche Wasser – das ist die unnachahmliche Brandung auf den
Aleuten.
Grummelnd öffne ich das linke Auge einen Schlitz breit. Woher kommt dieses höchst unwahrscheinliche Geräusch? Der nächste Ozean ist über tausend Kilometer weit entfernt. Und ich war in meinem Leben übrigens auch noch nie an einem Strand.
Ich schäle mich aus dem Schlafsack und taumele zum Fenster. Am Vorhang festgekrallt sehe ich den Wagen der Müllabfuhr unter Druckluftgequietsche vor unserem Bungalow anhalten. Seit wann imitieren Dieselmotoren das Geräusch der Brandung?
Schäbige Vorstadtpoesie.
Die zwei Müllmänner springen von ihrem Fahrzeug und betrachten den Berg übereinandergetürmter Plastiksäcke auf dem Gehweg. Der erste tut so, als würde er sie zählen und macht einen schwer geschafften Eindruck. Plötzlich kommen mir Zweifel: Habe ich etwa gegen eine städtische Verordnung verstoßen, die die Anzahl der Müllsäcke pro Haus beschränkt? Der zweite Müllmann, sehr viel pragmatischer, beginnt den Wagen zu beladen. Ihm sind die Anzahl, der Inhalt oder die Geschichte der Säcke ganz offensichtlich egal.
Es sind genau dreißig Stück.
Ich habe sie im Laden an der Ecke gekauft – ein Einkaufserlebnis, das ich so bald nicht vergessen werde. Am Regal mit den Dingen für den Haushaltsbedarf stehend, fragte ich mich, wie viele Müllsäcke man wohl bräuchte, um die unzähligen Erinnerungen, die meine Mutter seit 1966 angesammelt hatte, darin unter- zubringen. Wieviel Platz brauchte man wohl für dreißig Jahre eines Lebens? Ich sträubte mich dagegen, diese pietätslose Rechnung anzustellen. Zu welchen Ergebnissen ich auch käme, ich fürchtete, die Existenz meiner Mutter zu gering einzuschätzen.
Ich hatte eine Marke ins Auge gefasst, die mir ziemlich reißfest erschien. In jedem Paket befanden sich zehn revolutionäre Müllsäcke aus Ultra-Plastik mit einem Volumen von 60 Litern. Ich nahm drei Stück, entsprechend einem Gesamtvolumen von 1800 Litern.
Diese dreißig Säcke erwiesen sich als ausreichend – auch wenn ich ab und zu mit dem Fuß nachhelfen musste – und nun machen sich die Müllmänner daran, sie dem Wagen ins Maul zu schleudern. Von Zeit zu Zeit zerdrückt ein schwerer Eisenkiefer die Abfälle und grunzt dabei ganz nach Art eines Dickhäuters. Weit entfernt vom poetischen Säuseln der Wellen.
Aber der eigentliche Beginn der ganzen Geschichte, da ich sie nun einmal erzählen muss, war der Nikolski-Kompass.
~
Dieser alte Kompass kam im August wieder zum Vorschein, zwei Wochen nach der Beerdigung.
Der endlose Todeskampf meiner Mutter hatte mich vollkommen erschöpft. Seit der ersten Diagnose war mein Leben zu einem wahrhaften Staffellauf geworden. Rund um die Uhr pendelte ich zwischen Wohnung, Arbeit und Krankenhaus hin und her. Ich schlief nicht mehr, aß immer weniger und hatte fast fünf Kilo abgenommen. Man hätte glauben können, ich sei es gewesen, der sich mit den Metastasen herumschlug – doch gab es kein Verwechseln: Meine Mutter starb nach sieben Monaten, und da stand ich nun, die ganze Welt auf meinen Schultern.
Ich war leer, verwirrt, aber aufgeben kam nicht in Frage. Sobald der Papierkram erledigt war, machte ich mich an das letzte Großreinemachen.
Nach Art eines Abenteurers beim Survivaltraining hatte ich mich im Keller des Bungalows verschanzt, ausgestattet mit meinen dreißig Abfallsäcken, einem soliden Vorrat an Schinkenbroten, mehreren Litern tiefgefrorenem Orangensaft und einem Radio auf Hintergrundlautstärke. Eine Woche hatte ich angesetzt, um fünf Jahrzehnte Existenz in Nichts aufzulösen, fünf Schränke voll mit Krimskrams, der von seinem eigenen Gewicht ganz plattgedrückt war.
Eine solche Aufräumaktion mag vielleicht wie eine trübselige Angelegenheit wirken oder wie ein Racheakt. Doch man darf mich nicht falsch verstehen: Ich war plötzlich allein auf der Welt, ohne Freunde und Verwandte, aber mit der dringlichen Notwendigkeit weiterzuleben. Ich musste Ballast abwerfen.
Mit der Kaltblütigkeit eines Archäologen machte ich mich an die Schränke und unterteilte die Erinnerungsstücke in mehr oder weniger logische Kategorien:
– eine Zigarrenkiste voller Muscheln;
– vier Bündel Zeitungsausschnitte über amerikanische
Radaranlagen in Alaska;
– ein alter Fotoapparat Instamatic 104;
– über 300 Fotos, aufgenommen mit ebendieser Instamatic 104;
– mehrere Taschenbuchromane, sorgfältig mit Anmerkungen versehen;
– eine Handvoll billigen Schmucks;
– eine rosa Sonnenbrille à la Janis Joplin.
Und so weiter.
Ich machte eine verstörende Reise zurück in die Vergangenheit: Je tiefer ich mich in die Schränke hineingrub, umso weniger erkannte ich meine Mutter wieder. Diese staubigen Gegenstände gehörten zu einem früheren, weit entfernten Leben, berichteten von einer Frau, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Die Menge dieser Gegenstände, ihre Textur, ihr Geruch schlichen sich in meinen Kopf und fraßen sich in meine eigenen Erinnerungen.
Meine Mutter bestand nunmehr nur noch aus einem Haufen unzusammenhängender Artefakte, die nach Mottenkugeln rochen.
Was dann geschah, verwunderte mich. Das, was nichts weiter als ein einfaches Ausmisten hätte sein sollen, verwandelte sich nach und nach in eine Initiationsprüfung. Ungeduldig wartete ich auf den Moment, in dem ich auf dem Grund der Schränke ankommen würde, aber ihr Inhalt schien unerschöpflich zu sein.
Und genau da stieß ich auf einen dicken Stapel Tagebücher – fünfzehn Hefte in einem biegsamen Einband, vollgeschrieben mit Prosa im Telegrammstil. Ich fasste wieder Mut.
Vielleicht würden diese Tagebücher mir helfen können, die verschiedenen Teile des Puzzles zusammenzufügen?
Ich sortierte die Hefte nach ihrer zeitlichen Reihenfolge. Das erste begann am 12. Juni 1966.
Meine Mutter war mit neunzehn Jahren nach Vancouver
abgehauen, ausgehend von dem Gedanken, dass ein wirklicher, dieses Namens würdiger Bruch mit der Familie an der Anzahl der zurückgelegten Kilometer messbar sei, und dass es in ihrem Fall Kontinente sein sollten.
Sie hatte an einem 25. Juni bei Tagesanbruch zusammen mit einem Hippie namens Dauphin das Weite gesucht. Die zwei Komplizen teilten sich die Benzinkosten, wechselten sich beim Fahren ab und pafften zusammen ausgiebig kleine Joints, die eng gerollt waren wie Zahnstocher. Wenn sie nicht am Lenkrad saß, schrieb meine Mutter in ihr Notizbuch. Ihre Schrift, anfangs noch ordentlich und sauber, begann sehr bald sich zu kräuseln und zu verlaufen, imitierte Wogen und Schwaden von THC.
Zu Beginn des zweiten Hefts erwachte sie allein auf der Water Street, kaum in der Lage ein Wort auf Englisch herauszubringen.
Bewaffnet mit einem Schreibblock, kommunizierte sie mit Hilfe von Ideogrammen, wobei sie abwechselnd Gesten und Zeichnungen machte. In einem Park lernte sie eine Gruppe von Studenten der Bildenden Künste kennen, die gerade mikroskopisch kleine Mantarochen als Origami aus psychedelisch buntem Papier falteten. Sie boten ihr an, ihre übervölkerte
Wohnung, ihr Wohnzimmer voller Kissen sowie ein Bett zu teilen, das schon von zwei anderen Frauen belegt war. Jede Nacht gegen zwei Uhr schlüpften sie alle drei unter die Decke, rauchten selbstgedrehte Zigaretten und redeten über Buddhismus.
Meine Mutter schwor, nie wieder an die Ostküste zurückzukehren.
Wurden die ersten Wochen in Vancouver noch mit viel Liebe zum Detail erzählt, so fiel die Fortsetzung ihres Reiseberichts immer lückenhafter aus, die Ansprüche an ihr Nomadentum fielen offensichtlich mit jenen an die Berichterstattung. Sie blieb niemals länger als vier Monate an einem Ort, brach immer überstürzt auf, fuhr nach Victoria, Prince Rupert, San Francisco, Seattle, Juneau und an tausend andere Orte, um deren genaue Bezeichnung sie sich manchmal wenig scherte. Ihr Brot verdiente sie mit armseligen Notbehelfen: Sie bot Passanten Gedichte von Richard Brautigan an, verkaufte Postkarten an Touristen, jonglierte, machte in Motels die Zimmer sauber und stahl in Supermärkten.
Dieses abenteuerliche Leben führte sie vier Jahre lang. Dann, im Juni 1970, hatten wir uns mit zwei riesigen, zum Bersten vollen Militärrucksäcken im Hauptbahnhof von Vancouver eingefunden. Meine Mutter hatte ein Zugticket nach Montréal gekauft und wir durchquerten den Kontinent in entgegengesetzter Richtung, sie in ihren Sitz gekauert, ich in ihre Gebärmutter eingeschmiegt – unsichtbares Komma eines noch zu schreibenden Romans.
Nach ihrer Rückkehr hatte sie sich kurzfristig mit meinen Großeltern versöhnt – ein strategischer Waffenstillstand, dessen Ziel es war, die nötige Bankbürgschaft für den Kauf eines Hauses zu bekommen. Kurz darauf wurde sie die Besitzerin eines Bungalows in Saint-Isidore Junction, nur einen Katzensprung von Châteauguay entfernt, dort wo später der südliche Speckgürtel Montréals entstehen sollte, wo man sich damals aber noch ganz wie auf dem Land fühlen konnte, mit alten Häusern, Brachen und einem beeindruckenden Bestand an Stachelschweinen.
So stand sie fortan in der Pflicht ihrer Hypothek und hatte sich eine Arbeit als Beraterin in einem Reisebüro in Châteauguay suchen müssen. Ironischerweise setzte diese Anstellung ihrem jugendlichen Vagabundendasein ein Ende und damit auch dem Tagebuchschreiben.
Das letzte Heft endete mit einer nicht datierten Seite von ungefähr 1971. Ich klappte es gedankenverloren wieder zu. Von allen Auslassungen, die die Prosa meiner Mutter durchzogen, war die wichtigste Jonas Doucet.
Von diesem unsteten Erzeuger gab es nichts als ein Bündel Postkarten in unleserlicher Schrift, von denen die letzte aus dem Sommer 1975 stammte. Ich hatte oft versucht, das Geheimnis dieser Karten zu lüften, aber diese Hieroglyphen ließen sich einfach nicht entziffern. Sogar die Poststempel gaben mehr Informationen preis, Meilensteine eines Parcours, der im Süden Alaskas begann, in den Yukon aufstieg und dann hinab Richtung Anchorage ging und schließlich bis zu den Aleuten führte – genau genommen zur dortigen Militärbasis, auf der mein Vater Arbeit gefunden hatte.
Unter dem Stapel Postkarten befand sich ein kleines verknautschtes Päckchen und ein Brief der US Air Force.
Dem Brief konnte ich nichts Neues entnehmen. Das Päckchen hingegen erhellte einige vergessene Winkel in meinem Gedächtnis. Heute war es plattgedrückt, doch einst enthielt es einen Kompass, den Jonas mir zum Geburtstag geschickt hatte. Dieser Kompass kam mir wieder in den Sinn, mit ganz erstaunlicher Genauigkeit. Wie hatte ich ihn nur vergessen
können? Als greifbarer Beweis für die Existenz meines Vaters war er der Nordstern meiner Kindheit gewesen, das glorreiche Instrument, das es mir ermöglicht hatte, Tausende imaginäre Ozeane zu durchqueren. Unter welchem Haufen Kram mochte
er jetzt liegen?
Von einem plötzlichen Eifer gepackt, durchstöberte ich alle Winkel des Bungalows, leerte Schubladen und Schränke, schaute hinter Truhen und unter Teppiche und kroch bis in die dunkelsten Kammern.
Ich bekam den Kompass um drei Uhr morgens zu fassen,
eingeklemmt zwischen einer Taucherfigur für das Aquarium und einem apfelgrünen Körbchen ganz unten in einem Pappkarton, der quer auf zwei Balken oben im Dachgebälk stand.
Mit den Jahren hatte sich die äußere Erscheinung dieses Fünf-Dollar-Spielzeugs, das er damals sicher neben der Registrierkasse einer Eisenwarenhandlung in Anchorage gefunden hatte, nicht unbedingt verbessert. Glücklicherweise hatte die langjährige Nachbarschaft zu den Metallspielzeugen den Magneten nicht entmagnetisiert, denn er trippelte noch immer wacker in den (vermeintlichen) Norden.
Der Kompass war kein gewöhnlicher Nadelkompass, sondern die Miniaturausgabe eines Schiffskompasses. Er bestand aus einer durchsichtigen Plastikkugel, in der in einer hellen Flüssigkeit eine magnetisierte und mit einer Gradeinteilung versehene zweite Plastikkugel schwamm. Die Einfassung einer Kugel in die andere, nach Art einer winzigen Matroschka-Puppe, sorgte für die gyroskopische Stabilität, der auch die schwersten Stürme nichts anhaben konnten: Selbst bei hohem Seegang würde der Kompass immer waagerecht bleiben und Kurs halten.
Ich schlief auf dem Dachboden ein, den Kompass auf der Stirn und den Kopf in eine Wolke pinkfarbene Mineralwolle getaucht.
Auf den ersten Blick scheint dieser alte Kompass völlig banal, vergleichbar mit jedem anderen Kompass. Bei eingehender Betrachtung kann man allerdings feststellen, dass er nicht ganz genau nach Norden zeigt.
Einige Leute behaupten, immer genau sagen zu können,
wo Norden ist. Ich bin da wie die meisten Menschen: Ich brauche einen Anhaltspunkt. Wenn ich beispielsweise in der Buchhandlung hinter dem Tresen sitze, weiß ich, dass sich der magnetische Nordpol in 4238 km Luftlinie hinter dem Regal mit den Bob Morane befindet – was auf der Landkarte der Ellef-Ringnes- Insel entspricht, einem verlorenen Kieselstein in der ungeheuren Weite des Königin-Elisabeth-Archipels.
Statt jedoch auf das Regal mit den Bob Morane zu zeigen, zeigt mein Kompass einen Meter fünfzig weiter nach links, direkt auf die Ausgangstür.
Es kann tatsächlich passieren, dass sich das Magnetfeld unseres Planeten lokal verzerrt und der magnetische Norden nicht mehr ganz an seinem eigentlichen Platz angezeigt wird.
Mögliche Gründe für eine solche Anomalie gibt es viele: ein großes Eisenvorkommen im Keller, die Wasserrohre im Badezimmer des Nachbarn über uns oder das Wrack eines Ozeandampfers, das unter der Rue Saint-Laurent vergraben liegt. Leider sind diese Theorien alle sehr zweifelhaft, da mein Kompass immer links am Nordpol vorbeizeigt, ganz egal an welchem Ort ich ihn benutze. Diese Erkenntnis bringt zwei unbequeme Fragen mit sich:
– Was ist der Grund für diese magnetische Anomalie?
– Wohin (zum Teufel) zeigt der Kompass dann?
Der gesunde Menschenverstand legt nahe, dass die größte Anomalie des lokalen Magnetfeldes meine lebhafte Fantasie ist und dass es sinnvoller wäre aufzuräumen statt rumzuträumen. Aber Anomalien sind wie Zwangsvorstellungen: Jeder Widerstand ist zwecklos.
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Texte: Frankfurter Verlagsanstalt
ISBN: 978-3627001575
Tag der Veröffentlichung: 14.04.2011
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