»Tiger, tiger, burning bright
In the forests of the night,
What immortal hand or eye
Could frame thy fearful symmetry?«
William Blake, The Tiger
»Tell me, Lord, how could you leave a lass so lone
so long that she could find her way to me?«
Toni Morrison, The Bluest Eye
»Tiger, Tiger, grelle Pracht
In den Dickichten der Nacht:
Wes unsterblich Aug und Hand
Wohl dein furchtbar Gleichmaß band?«
William Blake, Der Tiger
»Sag mir, Herr, wie durftest Du ein
kleines Mädchen so lange allein lassen,
daß es seinen Weg zu mir finden konnte?«
Toni Morrison, Sehr blaue Augen
PROLOG
Ich begann, dieses Buch im Sommer nach dem Tod von Peter Curran zu schreiben, den ich mit sieben Jahren kennenlernte und mit dem ich fünfzehn Jahre eine Beziehung hatte, bis er im Alter von sechsundsechzig Selbstmord beging.
In der Hoffnung, dem, was geschehen ist, einen Sinn zu geben, habe ich die Geschichte meines Lebens auf- gezeichnet.
Selbst wenn ich nicht an ihr arbeitete, wenn sie nur in einem Fach meines Wandschranks lag, überfiel mich täglich um Punkt zwei Uhr nachmittags die Verzweiflung und erinnerte mich an das Geschehene, denn das war die Zeit, wenn Peter mich zu unserer täglichen Spazierfahrt abholte.
Dieselbe Verzweiflung quält mich noch heute um fünf Uhr nachmittags, dann, wenn ich ihm immer, den Kopf an seiner Brust, etwas vorlas. Um sieben Uhr abends, wenn er mich in den Arm nahm, und schließlich um neun Uhr, wenn wir zu unserer abendlichen Rundfahrt aufbrachen: zuerst auf dem Boulevard East in Weehawken, dann zur River Road und anschließend hinunter zum Imbiss Royal Cliffs
, wo ich einen Becher Kaffee mit viel Sahne und exakt sieben Stück Zucker und einen Brotpudding mit Rosinen und Schlag- sahne kaufte oder, wenn Peter etwas anderes wollte, einen Reisauflauf. Wenn ich wieder im Wagen war (dem Granad
a, dem Cimarron
, dem Escort
oder dem schwarzen Mazda
), wendete er, und wir fuhren über die River Road und den Boulevard East zurück, vorbei an den teuren Häusern im viktorianischen oder neogotischen Stil, blickten über den Hudson River hinüber zu den Lichtern der Wolkenkratzer, die wie tausend Spiegel funkelten, und manchmal hielten wir an und beobachteten ein Gewitter.
In einem seiner Abschiedsbriefe schlug Peter mir vor, ich solle meine Erinnerungen an unser gemeinsames Leben niederschreiben – eine völlig abwegige Idee. Denn unser Leben, unsere gemeinsame Welt hatten ja nur durch Heimlichkeiten bestehen können; hätte man uns unsere Lügen und unsere Geheimsprache, unsere Blicke, Symbole und Verstecke genommen, hätte man uns alles genommen. Und wäre mir das im Alter von zwanzig oder fünfzehn oder zwölf passiert, ich hätte mich vielleicht umgebracht, und niemand mehr hätte von dieser kleinen Insel erfahren können, die aus Lügen und geheimer Sprache, aus versteckten Blicken, Symbolen und Lieblingsorten bestand. Wenn man all diese Geheimnisse zusammen nahm, hätte man den Universalschlüssel gehabt, doch fragen Sie einen Schlosser, ob es den Universalschlüssel gibt, der jedes Schloss der Welt öffnen kann, er wird es verneinen. Allerdings ist es durchaus möglich, einen Schlüssel herzustellen, der in einem bestimmten Gebäude sämtliche Türen öffnet. Die Schlösser sind dann so konstruiert, dass der sogenannte Generalschlüssel in alle passt; einen Schlüssel für jedes schon existierende Schloss zu entwerfen ist hingegen nicht möglich.
Peter wusste das, weil er einmal einen Generalschlüssel für ein Krankenhaus angefertigt hatte; er hatte sich das selbst beigebracht, hatte erst abends das Handwerk in Bibliotheken studiert und dann, nachdem er sich in eine Anstellung geblufft hatte, entsprechende Erfahrungen in der Praxis gesammelt.
Stellen Sie sich ein ungefähr siebenjähriges Mädchen vor, das die roten Kugeln aus dem Kaugummiautomaten mag, aber die blauen und grünen nicht anrührt, ein Kind, dessen Turnschuhe keine Schnürsenkel, sondern Klettverschlüsse haben, ein Kind, dessen Beine sich um das metallene Pferdchen im Einkaufszentrum Pathmark
klammern, nachdem ein Vierteldollar eingeworfen wurde. Ein Mädchen, das Angst hat vor den Jokern im Kartenspiel und deshalb verlangt, dass sie vor dem Spielen heraus- genommen werden, das seinen Vater fürchtet und keine Puzzles mag (zu langweilig!), ein Kind, das Hunde, Kaninchen, Leguane und Wassereis liebt, das gerne hinten auf dem Motorrad mitfährt, denn welches siebenjährige Kind darf das schon? Ein Mädchen, das nie nach Hause gehen will, weil Peters Haus wie ein Zoo ist, und vor allem, weil es lustig ist bei Peter, weil Peter genauso ist wie sie, nur größer, und Dinge kann, die sie nicht beherrscht.
Vielleicht war ihm bekannt, dass sich die Zellen des
menschlichen Körpers alle sieben Jahre erneuern und in jedem Zyklus aus den bisherigen Atomen einen neuen Menschen hervorbringen. Man könnte sagen, dass dieser Mann, also Peter, im Verlauf der nächsten sieben Jahre die sprießenden Zellen dieses Kindes neu programmierte. Aufmerksam prägte er sich ein, wie man dem Mädchen Freude bereiten konnte, folgte der deutlichen Spur seiner stillen Wünsche: Vanilleeis mit Orangenüberzug, wie ein Junge ohne Oberteil herumlaufen, sich von einer niedlichen rosa Hundezunge durchs Gesicht lecken lassen und einem Kaninchen zusehen, das frisches Grün mümmelt. Später lernte Peter gewissenhaft die Texte von Madonna auswendig und wusste die Titel von zwanzig Nirvana
-Liedern.
***
Als ich vier Monate nach Peters Tod eine Justizvollzugs- beamtin namens Olivia für einen Artikel meiner Collegezeitschrift in ihrer Wohnung, einem Einzimmer- apartment in der Nähe des Journal Square im Zentrum von Jersey City, interviewte, und wir Kamillentee tranken und zu plaudern begannen, erwähnte ich, dass ich an einem Buch schreiben würde. Sie wollte wissen, wovon es handelte, und ich erklärte, es gehe darin um einen Pädophilen. Aber es sei nur der erste Entwurf, die Rohfassung. Dann fragte ich die Beamtin, ob sie in ihrem Beruf mit Pädophilen zu tun habe.
»Mit Pädophilen? Klar. Das sind die nettesten Insassen.«
»Nett?«
»Ja. Nett, höflich, machen keinen Ärger. Sprechen einen immer mit ›Miss‹ an, antworten freundlich mit ›Ja, Ma’am‹ oder ›Nein, Ma’am‹.«
Angesichts dieser Gelassenheit von Olivia spürte ich den Drang, weiterzureden.
»Ich habe gelesen, dass Pädophile ihre Taten vor sich
selbst rechtfertigen, indem sie sich einreden, alles fände in gegenseitigem Einvernehmen statt, obwohl sie ja in Wirklichkeit Zwang ausüben.« Ich hatte das in meinem Lehrbuch der klinischen Psychologie gelesen, und es hatte mich erschüttert, weil es so exakt Peters Denkweise widerspiegelte.
Die nächste Erkenntnis stammte jedoch aus keinem Buch, auch wenn ich das behauptete: »Ich habe auch gelesen, dass es für ein Kind wie ein Drogenrausch sein kann, mit einem Pädophilen zusammen zu sein. Ein Mädchen hat einmal gesagt, es wäre, als würde der Pädophile in einer Zauberwelt leben, und diese Magie würde alles überlagern. Es sei so, als ob der Erwachsene selbst ein Kind wäre, nur dass er ein Wissen besitzt, das Kindern nicht zur Verfügung steht. Pädophile Menschen haben mehr Fantasie als Kinder, deshalb können sie Welten erschaffen, die Kinder nicht einmal erträumen können. Sie haben die Gabe, die wirklich existierende Welt für das Kind irgendwie ekstatisch zu überhöhen.
Und wenn das dann vorbei ist, also wenn die Welt wieder normal wird, ist das für einen Menschen, der so etwas erlebt hat, wie ein Heroinentzug. Jahrelang ersehnt er das vertraute Gefühl zurück. Ein Mädchen sagte, es sei so, als wäre die Erde verbrannt und kein Gras würde mehr wachsen. Der Boden sei schwarz und öde, doch tief im Innern würde es noch brennen.«
»Wie traurig«, sagte Olivia und sah so aus, als meinte sie es auch.
Nach einer unbehaglichen Gesprächspause kamen wir
auf andere Insassentypen und die allgemeinen Erfahrungen im Strafvollzug zu sprechen. Während des Interviews wurde mir allmählich übel, ich fühlte mich von der Umgebung bedroht, von der warmen Küche, die anfangs so einladend gewirkt hatte. Meine Wahrnehmung war schon immer verstörend scharf, eine Folge der vielen Jahre ohne soziale Kontakte zu der Welt außerhalb der einen, die ich mit Peter teilte.
An jenem Tag in Olivias Küche fühlte ich mich, als sei etwas in mir aufs Äußerste gespannt, als sei die Welt auf höchste Lautstärke gestellt worden und brülle mich an.
***
Ich wuchs auf in Union City, New Jersey, angeblich die am dichtesten bevölkerte Stadt der USA. Man kann sie sich nicht richtig vorstellen, es reicht nicht, nur von den schalen, harten Frühstücksbrötchen, den puppen- tassengroßen Espressobechern oder den langen teigig- süßen Churros zu reden, genauso wenig wie Sie ein Gefühl für Manhattan bekommen, wenn Ihnen jemand nur vom Schisch-Kebab-Stand bei der Port Authority, dem Strand Book Store
mit seinen kilometerlangen Bücherregalen oder von den Skateboardern im Washington Square Park erzählt.
Man kann versuchen, sich die Tauben, Bars und Night-
Clubs (geschrieben »Nite-Clubs«) von Union City vorzustellen, die jungen »Hoods«, deren um die Knie schlackernde Baggy-Hosen den Blick auf ihre Boxershorts freigeben, man kann sich ein Bild von den Stoßstange an Stoßstange geparkten Autos machen, von der schon absonderlichen Enge mancher Gassen, wo gerne mal der Außenspiegel von einem vorbeifahrenden Lkw abgebrochen wird. Man hört die Zischlaute von Männern jeglichen Alters beim Anblick jedes weiblichen Wesens über zwölf Jahren, man sieht Obstverkäufer mit den billigen Papayas, Mangos und Avocados in ihrer Auslage (mein Vater, ein Avocado-Fan, behauptete immer, sie würden zu ewigem Leben verhelfen), man sieht die unzähligen schwarz gewordenen Kaugummis im rissigen Beton der Bürgersteige. Es ist nicht ungewöhnlich zu hören, wie Kinder im Chor singen: »Trittst du auf die Spalten, sterben deine Alten!«, und da ich abergläubisch war wie mein Vater, mied ich die Risse sorgfältig, was kompliziert war, weil sie den Beton in Zickzacklinien durchzogen wie Wasserläufe eine zerknitterte Landkarte. Ebenso vorsichtig vermied ich es, auf meinen Schatten zu treten, weil ich Angst hatte, meine eigene Seele zu beschädigen.
Wer Union City besucht, sollte sich auf jeden Fall vor dem Geflügelmarkt Polleria Jorge
auf der 42nd Street zwischen New York Avenue und Bergenline Avenue die Nase zuhalten, so stinkt es da. Überquert man die Straße an der Stelle, wo sich zeit meines Lebens das Schuhgeschäft Panda befand, gelangt man zu El Pollo Supremo
: Dort empfängt einen wie das Elixier des Atlantiks der freundliche Geruch von Brathähnchen, köchelnder Yucca, schwarzem Reis mit schwarzen Bohnen und frittierten Kochbananen. Peter und ich gingen dort immer essen, und an einem feuchten Halloweenabend während der zwei Jahre, als meine Eltern uns voneinander trennten, hockte er dort in einer einsamen Sitzecke und starrte acht Stunden lang aus dem verregneten Fenster, in der Hoffnung, einen Blick auf mich zu erhaschen, wenn ich mit meiner Mutter von Tür zu Tür zog.
***
Ich besitze noch immer zwölf Spiralblöcke mit datierten Briefen, einen für jeden Tag, die jeweils mit den Worten »Liebe Prinzessin« beginnen. Peter machte ein X für einen Kuss und ein O für eine Umarmung. In jedem Brief brachte er IDADULDFI unter, die Abkürzung von »Ich Denke An Dich Und Liebe Dich Für Immer«. Ich habe sieben Videos, ebenfalls sämtlich datiert, mit Titeln wie Margaux fährt Rollschuh
oder Margaux mit Paws
oder Margaux winkt hinten auf dem Motorrad
.
Diese Videos sah sich Peter gegen Ende seines Lebens
tagtäglich an: Margaux, die sich mit dem Hund Paws auf der Erde wälzt, die auf der Couch Verbrecher spielt, die aus einer Baumkrone winkt, die einen Luftkuss herüberschickt.
Jetzt sieht sich niemand mehr Margaux an. Sogar Margaux selbst langweilt der Anblick von Margaux mit Stirnband, Margaux mit abgeschnittener Jeans, Margaux mit nassem Haar, Margaux vor dem Götterbaum, an dem früher die weiße Hängematte hing.
Ich war Peters Religion. Niemand sonst würde sich für
20 die zwanzig Alben mit den Fotos von mir interessieren: ich allein, mit Paws, mit Karen oder mit meiner Mutter. Das Holzkästchen, das ich in der achten Klasse im Werkunterricht zimmerte, enthält eine lose Fotosammlung, die ebenso unspektakulär ist. Dazu die beiden miteinander verflochtenen Locken, braun und grau, festgehalten für die Ewigkeit.
Ein Album mit getrockneten Herbstblättern, darunter
die Namen der Bäume, von denen das Laub fiel: Zucker- ahorn, Schwarzeiche, Amberbaum. Mein glitzernder Feenstab, meine kleinen grauen Filzmäuse, die Peter bei einem Streit wegwarf, aber später wieder aus dem Müll holte, der schmiedeeiserne Schlüssel, den wir am Bootsanleger fanden, meine silbernen Armreifen und das riesige goldene Kreuz, das ich im West Village kaufte, die schwarzen Leggings (meine »Madonna
-Hose« nannte Peter sie immer), die kurze schwarze Halskette mit dem silbernen Herzen, mein roter Spitzenbody und die Bikerhose aus Vinyl, die Peter mir schenkte, das Buch über Wicca-Zauber, Kassetten mit Liedern von Nirvana
, Hole
und Veruca Salt
für unsere Autofahrten, raubkopierte Nirvana-Videos, die ich ebenfalls im West Village bekommen hatte, Kassetten mit Aufnahmen von unseren vier Romanen (jede Figur mit einer anderen Stimme gesprochen), ein Holzamulett von Peter, auf dem eine Fee in eine Kristallkugel schaut. Das alles bewahrte er in einer schwarzen Truhe mit einem kaputten Riegel auf, die am Fußende seines Bettes stand.
***
Peter, am Ende deines Lebens konntest du nur noch wenige Häuserblocks weit gehen und nicht mehr Motorrad fahren.
Du liefst zu Fuß den kurzen Weg zum Rand des Felsens im Palisades Park, machtest noch einen Schritt nach vorn und fielst gute achtzig Meter in die Tiefe, wie es im Polizei- bericht steht. In meinen Briefkasten hattest du einen Umschlag mit zehn Abschiedsbriefen und mehreren Mitteilungen auf liniertem Papier geworfen, in denen du mir dein Auto überschriebst. Du hattest eine Karte für mich gezeichnet, damit ich deinen schwarzen Mazda finden konnte und nicht wegen Autodiebstahls angezeigt werden würde. In den Umschlag hattest du einen Zweitschlüssel gelegt, der Originalschlüssel befand sich im Zündschloss des Mazdas. Ich war zweiundzwanzig, und du warst sechsundsechzig.
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Texte: Frankfurter Verlagsanstalt
ISBN: 978-3627001728
Tag der Veröffentlichung: 04.03.2011
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Widmung:
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