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VORSPANN:

AUSSEN – POTSDAM, MEDIENPARK – TAG
UNTERTITEL:

9.05 Uhr, 03.09.2010.

Die KAMERA gleitet über Teiche,
Lichtungen und sonnendurchflutete,
in allen Farben leuchtende Baumkronen
bis zum Warschau19-Studio, steigt,
schwenkt an der Fassade hoch, fährt
über eine Terrasse bis zu einem großen
Fenster, bleibt stehen; ZOOM durch
die schillernde Scheibe.
CUT auf:



Peter Niesel, der am Schreibtisch seines kleinen Büros sitzt und sich die Hände reibt. Dann schiebt er seinen Stuhl zurück und schlägt das rechte Bein über das linke.
»Klappt doch ganz gut«, denkt er zufrieden und zupft
beide Ärmel seines geliebten blasslila Schlabberpullovers zurecht. Als er jedoch sein linkes Bein schwungvoll über das andere hieven will, stößt er mit dem Schienbein gegen die scharfe Kante der mittleren, halboffenen Schublade, die er wieder mal vergessen hat ganz zuzuschieben, nachdem er dort sein Pausenbrot und die BILD-Zeitung verstaut
hatte.
»Aua, verdammte Scheiße!«, brüllt er und feuert wütend die Schublade mit dem rechten Fuß zu, als sei sie schuld an dem beißenden Schmerz, der ihm jetzt dicke Tränen in die riesigen Murmeltieraugen treibt. Er wischt das Wasser aus seinem runden Gesicht und erinnert sich an den Artikel auf Seite Vier

, den er heute Morgen in der S-Bahn nicht zu Ende lesen konnte, da der Zug am Bahnhof Babelsberg so abrupt zum Stehen gekommen war, dass es ihn fast von der Sitzbank geschleudert hätte. Seufzend zieht er die leicht verbeulte Schublade wieder auf, kramt die vom Butterbrot schon angefettete Zeitung hervor und beginnt, darin zu blättern. Auf Seite Vier

steht immer der Promi- klatsch, den Peter Niesel als Inspiration für seine Plotarbeit nutzt; denn Peter Niesel ist Drehbuchautor und seit ein paar Wochen sogar Producer. Er entwickelt Konzepte, Rollenprofile, Plots und Handlungsstränge für Fernseh- serien.
Auf Seite Vier

der BILD-Zeitung steht heute groß und fett über dem Foto eines grauhaarigen, älteren, aber noch recht gut aussehenden Mannes, der sich ans linke Ohrläppchen greift:


KOMAPROFESSOR SCHALTET GERÄTE BEI HIRNTOTEM SCHAUSPIELER AB




Peter Niesel muss trotz seines schmerzenden Schien- beines lächeln.
»Hirntoter Schauspieler«, flüstert er verächtlich, »der reine Pleonasmus.«
Obwohl sein Sarkasmus der ja eigentlich recht traurigen Titelzeile nicht angemessen ist, will er sich ein wenig Häme nicht verkneifen, denn die Erinnerung an diesen grau- haarigen Mann und den Autorenmord, den er vor ein paar Monaten auf Befehl seines letzten Auftraggebers an ihm begangen hat (und dem er seine Beförderung zum Producer verdankt), verschafft ihm endlich mal wieder sekundären Lustgewinn.
»Man gönnt sich ja sonst nichts«, denkt Peter Niesel
zufrieden, steckt die linke Hand in die Tasche seiner
Jeans und knetet dankbar sein jetzt leicht tumeszierendes Schwänzchen. Denn seit er die Pubertät überstanden hat, nicht mehr das Bett nässt, keine Tiere mehr quälen darf und auch zum Zündeln keine Zeit mehr findet, missbraucht Peter Niesel seine Autorenarbeit, indem er viele Figuren verschwinden, an schweren Krankheiten sterben oder einfach umbringen lässt. Dieses makabre Hobby hat
ihm in der Branche den Spitznamen Der Serienkiller

eingebrockt.
Die über zwanzig Fotos jener Darsteller, denen er schon mit seinem gespitzten Filzstift an die Filmgurgel gegangen ist, hängen im Badezimmer seiner kleinen Wohnung in Kreuzberg.
Er greift nach einer Schere und schneidet sorgfältig die Überschrift und das Foto von Bob Bodenbauer – so heißt der hirntot abgeschaltete Mime – aus der Seite Vier

. Dann öffnet er wieder die renitente Schublade und legt den Artikel auf sein Butterbrot. Heute Abend wird er schon das zweite Foto von Bob an die Wand über dem Waschbecken pinnen können, denn der ist jetzt ja endlich wirklich tot und damit gewissermaßen zum zweiten Mal sein Opfer geworden.
Dann übt Peter wieder Händereiben und Beinüberschlagen, denn seine neue Chefin, Christine Knall, die Eigentümerin von C&K, macht das auch dauernd.


Die Protagonistin ist
immer blond




War da was? Ein dunkler Fleck im Gras? Irgendwas
hat sich verändert. Aber was und warum? Es fühlt sich an wie ein Finger, ein Zeigefinger, der zuckt, sich zusammen- zieht, einen Daumen berührt. Welchen Daumen? Jetzt der Mittelfinger: Auch seine Spitze berührt den Daumen.
»Zuck, zuck«, sagt der rechte große Zeh und streift
etwas Glattes, dann der linke, auch er bewegt sich wie ein kleines Tier. Tiere, Füße, Hände. Und dann ein stummer Paukenschlag, als sich die Augen öffnen. Was ist passiert?


INNEN – CHARITÉ, KRANKENZIMMER – TAG
UNTERTITEL:
Neun Monate später, 9.51 Uhr.
Die KAMERA fährt langsam aus einer
TOTALEN in eine NAHE:



Bob Bodenbauer liegt auf einem schmalen Bett. Er
trägt einen grünen Zellstoffkittel, und seine grauweißen Haare breiten sich unter Hals und Schädel aus wie ein aufgeplatztes Strohkissen. In seiner linken Armbeuge steckt eine Kanüle, durch die aus einem Tropf, der an einem Metallgestell über ihm hängt, eine klare Flüssigkeit in seinen abgemagerten Leib fließt.
Als er aus dem Koma erwacht, erinnert er sich an nichts.
Das Erste, was seine Augen sehen, ist ein grau flimmernder Monitor.
›Wie schön das ist‹, denkt er, ›Gudrun … Gernod … Gerhard … Richter? Ja, so heißt was!‹
Das Telefon auf dem Tischchen neben dem Bett klingelt.
Er merkt, wie die Finger einer Hand sich aufspreizen, eine Schulter den Arm hebt, ihn am Ellenbogen öffnet und in Richtung Klingelton streckt. Seine Hand greift zu, führt den Hörer zum rechten Ohr. Eine heisere, trockene Stimme
flüstert:
»Hallo Bob, du bist wieder bei uns, herzlich willkommen.«
Bob hört eine schwache Stimme in seinem Frontallappen
sagen: »Bist du sicher? Woher weißt du das?«
»Wer hat das gesagt?«, flüstert die schwache Stimme.
»Quellenschutz«, meint die heisere Stimme im rechten
Ohr.
Pause.
»Wer bist du?«
»Dein Freund Hannibal.«
Er atmet tief durch, schließt die Augen und versucht, sich zu konzentrieren:
»Okay, du bist Hannibal, und wer bin ich?«
»Mann, du bist der Bob!«
Lange Pause.
»Und … was bedeutet das?«
»Das bedeutet, dass ich und unser Land sich freuen!
Außer dem hab ich gehört, dass sie dir ’ne Rolle in einer Telenovela anbieten werden.«
Lange Pause.
»Was ist das – Telenovela?«
»Hey, Die Schlampe aus Kreuzberg

, Die strenge, geile Mutter, solche Emotionspornos. Was Mexikanisches halt!«
Bob im atavistischen Reflex:
»… und wie soll ich die Rolle anlegen?«
»So will ich dich hören, du Tier! Hintergründig natürlich!«
Bob hyperventiliert ein wenig:
»Okay, okay. Bitte gib mir noch ein paar Stunden Zeit.
Ruf mich später noch mal an, vielleicht hab ich mich bis dann ein bisschen … erholt. Hannibal?«
»Ja?«
»Hat dieser Bob, ich meine, hab ich einen Agenten? Bist du mein Agent?«
»Bob, ich bin der Hannibal von der BILD-Zeitung, dein
größter Fan! Ich werd dich auf dem Laufenden halten. Du kannst dich auf mich verlassen.«
Bob legt verwirrt auf und fasst sich verlegen ans rechte Ohrläppchen.
›Er kann sprechen, der Hörer‹, denkt er. Der Schirm vor ihm flimmert immer noch. Interessant, dieses Flimmern.
Dann durchzuckt es ihn wie ein Blitz.
»Ohrläppchen, Ohrläppchen! Bob, natürlich! Das ist
Bob Bodenbauer! Das ist es … das ist er … das bin ich!«

Bevor er sich Gedanken darüber machen kann, ob
er die Stimmen, Hannibal, das Rollenangebot und sogar
das ganze Telefonat halluziniert hat oder nicht, kommt eine dunkelblonde Krankenschwester ins Zimmer. Sie tritt an sein Bett, beugt sich über ihn und lächelt Bob mit ihrem präraphaelitischen Wundermund an.
»Guten Morgen, Bob, der Professor hat mir gesagt, dass du endlich wieder aufgewacht bist. Wie schön!«
Sie nimmt eine Tafel, die am Fußende liegt, und notiert darauf das Datum und die Uhrzeit: Berlin, 03. 07. 2011, 9.54 Uhr. Dann greift sie nach seinem Handgelenk, sieht auf die Uhr und misst seinen Puls.
»Sehr gut, Bob, sehr stabil.«
Sie reicht ihm eine Tablette und ein Glas Wasser. Er merkt erstaunt, dass seine Hand ganz ohne Willensakt nach Glas und Pille greift und sein Mund brav die Medizin schluckt.
Dann wird gierig getrunken.
»Bravo, Bob«, sagt das schöne Mädchen, nimmt ihm
das Glas ab und stellt es auf den Tisch neben seinem Bett.
Dann setzt sie sich zu ihm und sieht ihn mit ihren großen Rehaugen ruhig an.
»Ich bin übrigens schwanger …«
In Bobs Hirn flimmert es ein bisschen, dann hat er einen Flash: Er erinnert sich, was schwanger bedeutet! Außerdem wird ihm plötzlich auch klar, dass die meisten Fragen, die man stellen will, wie von selbst beantwortet werden.
Also wartet er einfach diplomatisch ab, ohne sich
oder dieses entzückende Mädchen zu fragen, warum sie
ihm das erzählt, und schon spricht es weiter:
»… und zwar von dir. Ich bin mir da ziemlich sicher.«
Sie lächelt wieder ihr unvergleichlich strahlendes Lächeln.
Bob, der sich an nichts erinnern kann, dessen Spiegel- neuronen aber aktiviert werden, muss auch lächeln.
»Schön … und wie heißt du?«
»Barbarella.«
»Und wie lange war es …, er …, ich weg, Barbarella?«
»Über ein Jahr.«
Kurze Pause. Bob versucht nachzurechnen. Er gibt auf.
»Barbarella, bitte sag mir, was passiert ist.«
Sie nimmt seine rechte Hand, streichelt sie und beginnt zu erzählen.
»Bei deinen letzten Dreharbeiten wurdest du von deiner Filmfrau erstochen, in einen Koffer gepackt, aufs Land gefahren und in einen tiefen Brunnen geworfen. Du hattest dich derart mit deiner Rolle identifiziert, dass du nach Drehschluss in ein Taxi stiegst, hier in die Charité kamst, am Empfang deine Krankenversicherungskarte abgabst, auf ein Zimmer gebracht wurdest und sofort ins Koma fielst.
Nach Monaten vergeblicher Behandlung erklärten die
Ärzte dich für klinisch tot. Deutschland trauerte eine Weile, es gab ein paar pikierte und einen sehr netten Nachruf von Hannibal Stein. Und dann vergaß man dich allmählich, erst dein Gesicht, dann deine Hände und ganz zuletzt erst deinen Griff ans Ohrläppchen, durch den du dir Weltruhm erkämpft hattest, zumindest in Deutschland.«
Bob versucht zu verdauen, was er da gehört, aber nicht verstanden hat. An das warme Gefühl im Bauch, als sie eben die Worte Rolle

und Dreh

sagte, kann er sich aber vage erinnern, also fragt er vorsichtig nach:
»Dieser Bob, der war Schauspieler?«
Barbarella zieht die Schublade des Tischchens neben seinem Bett auf, greift hinein, holt eine alte BILD-Ausgabe heraus und reicht sie ihm. Auf der Titelseite ein Jugendfoto von Bob, der sich ans rechte Ohrläppchen greift, darüber in fetter Balkenschrift:

DEUTSCHLAND BETET FÜR
SEINEN BUNTESTEN HUND!



Bob spürt, wie ihm die Augen feucht werden.
›Ja, der Griff ans Ohrläppchen, das bin ich, Bob lebt wieder! Und danke, Hannibal, endlich mal eine gute Kritik‹, denkt er gerührt und versucht, sich wieder auf die Gegenwart zu konzentrieren.
»Aber, Barbarella, wenn ich klinisch tot war, wieso bin ich dann wieder hier? Falls ich denn hier bin, woran ich nicht zweifeln will.«
Sie nimmt ihm die Zeitung aus der Hand, streichelt seine Wange und lächelt wieder:
»Doch Bob, du bist hier und du bist du. Aber dieses Du muss jetzt schlafen, denn dieses Hiersein, dieses Zimmer, deine Hände, die sich wieder bewegen, das ist alles ein bisschen viel für dich. Dein Hirn braucht Ruhe, um wieder auf Nachkomamodus in unserer Wachwelt umzuschalten.«
Warum sein Hirn nach so viel Schlaf Ruhe braucht, versteht er nicht, aber das schöne Mädchen hat sicher recht.
Also hält Bob den Mund und weiter ihre Hand, döst ein
bisschen und schläft dann ein.
Barbarella schämt sich trotz ihrer Freude, denn sie
hat es nicht übers Herz gebracht, ihm sofort zu erzählen, dass auch sie ein großer Fan von ihm ist und sich standhaft geweigert hat, die Geräte abzustellen, die Bob am Leben erhielten. Sie wollte nie an seinen endgültigen Tod glauben, zumindest aber seinen Körper für sich behalten.
Ihr Verbündeter war Professor Mirko Piano, Chef der Neurologie, der Psychiatrie, der Psychopharmakologie und der Komatologie hier in der Charité. Mit seinem Einverständnis versteckte sie Bob und seine Maschinen nach dessen offiziellem Ableben in einem Zimmer neben dem Büro des Professors, wo sie ihn, entfernt von den Augen auch der klinikinternen Öffentlichkeit, weiter versorgte. Eines Nachts, nachdem sie seinen Tropf geputzt und nachgefüllt hatte und dann begann, ihm traurig die Fußnägel zu schneiden, bekam er eine Erektion. Nach kurzer sowohl liebevoller als auch professioneller Handarbeit wurden ihr Mut, ihre Zuversicht und ihre Zuneigung unerwartet schnell durch einen ausgiebigen Erguss belohnt. Barbarella zögerte keine Sekunde: Sie wischte hochkonzentriert das auf Laken, Kittel und ihre Finger verspritzte Sperma in die linke Handfläche, griff sich ein leeres Reagenzglas vom Tischchen neben Bobs Bett, füllte es zur Hälfte mit destilliertem Wasser, zur Hälfte mit dem kostbaren Samen, legte einen Daumen obendrauf und schüttelte es, wie einen Gin-Martini. Dann warf sie sich auf den Rücken, streckte die Beine zur Kerze, bis ihre Zehenspitzen fast die Zim merdecke berührten, riss sich ihren Rock bis unter die Brüste, schob ihr Unterhöschen zu den Knien hoch und goss mit der rechten Hand – der linke Arm stützte ihren Rücken – den Inhalt des Reagenzglases in ihre Vagina, wobei sie heftig mit dem Becken wackelte.
»Wenn es diesmal nicht klappt, bring ich mich um!«,
murmelte sie voller Hoffnung. In diesem entscheidenden Moment ging die Tür auf, und Professor Piano betrat das Zimmer.

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Impressum

Texte: Frankfurter Verlagsanstalt ISBN: 978-3627001742
Tag der Veröffentlichung: 03.03.2011

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