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Unter Wasser
Wenn wir auch nicht darüber sprachen, wussten mein
Bruder Paul und ich, dass es keine Kröten mehr gab am Ufer des Mondsees. Sie hatten an jenem Juliabend den beschwerlichen Weg über die Hauptstraße auf sich genommen, um einen anderen Teich zu bevölkern. Alles, was an den Prozessionszug unzähliger Kröten und Laubfrösche erinnerte, waren die zerquetschten braun- grünen Leiber, bald mit Schmeißfliegen übersät, die auf dem heißen Asphalt liegen blieben.
Mahnmale gegen das Vergessen. Als ob wir irgendetwas
hätten vergessen können. Paul und ich gingen nicht
mehr zum Mondsee, und wir sprachen auch nie wieder
Rosam
miteinander.
Rosam
war unsere geheime Sprache, die Waffe gegen den Kindergarten, der uns Bauchschmerzen verursachte, gegen die bösen Kinder, die den Fröschen die Beine aus dem Leib rissen und sie mit Fahrradpumpen aufzublasen versuchten, gegen unsere Eltern, die immer fortgingen am Abend. Man konnte sich nie sicher sein, ob sie wieder zurückkommen würden. Wenn sie fortgingen, war die Nachbarstochter da, die ganz enge Jeans trug und knallbunte T-Shirts über ihren Brüsten. Weil wir keinen Fernseher hatten, las sie Bücher, die Brennende Herzen
hießen oder so, mit küssenden Paaren auf dem Umschlag. Die Nachbarstochter hieß Denise und sie scherte sich einen Dreck. Und wir waren uns nie sicher.
Es konnte so viel passieren, Morde, Überfälle, Autounfälle oder dass das Haus abbrennt, und unsere Eltern zurück- kommen, und da ist nichts mehr, weil wir alle verbrannt sind, Paul und ich und Denise. Oder Kriege, die plötzlich ausbrechen, oder Tschernobyl. Wir versuchten wach- zubleiben, aber die Augen brannten vom Licht der Nachttischlampe, um die die lichtsüchtigen Mücken kreisten, bis ihre Flügel versengten und sie herabfielen.
Oder wir versuchten, vor dem Einschlafen an all das zu denken, was passieren könnte, weil, wenn man ganz stark daran denkt, würde es nicht passieren, dachten wir. Wir dachten an brennende Häuser, an Unfälle und Morde und Messerstechereien, an Überschwemmungen, Kriege und Atomkatastrophen, aber die Liste wurde immer länger, und wir hatten Angst, etwas zu vergessen. Man konnte sich nie sicher sein. Irgendwann fanden wir uns damit ab, indem wir uns ein wenig von der Welt entfernten, etwas mehr als die anderen Leute.
Wir sprachen Rosam, damit uns niemand verstehen
konnte, und verbrachten die gleichförmigen Tage am
Mondsee.
Rosam
war eine Sprache der Laute gewesen, nicht der
Wörter, wir verstanden uns über die Sanftheit eines As, über das Kichern eines Is, über gurgelnde Wellen, das Trommeln des Regens und den Gesang der Fische unter Wasser. Es gab nur einige wenige festgelegte Wörter, doch damit konnten wir die ganze Welt erklären. Es gab zum Beispiel jatschiri
für Schokolade, Baden im Mondsee, Geburtstag und Weihnachten zugleich. Uram
bedeutete Nacht, Träume (nur die guten) und Märchen (auch nur die gut ausgehenden). Diese Worte wurden umspült von nicht festgelegten Lauten, wie ein großer Fels inmitten eines Flusses. Dann gab es noch bosch
. Das Böse, all die schrecklichen Dinge, an die wir vor dem Einschlafen denken mussten, die anderen Träume, das Aufschrecken und weder schreien noch atmen können, als wäre man viel zu tief getaucht, bis an den Grund des Mondsees vielleicht. Die schwarzen Löcher im dunklen Zimmer, von denen man nicht wusste, in welche Welt sie einen fortlockten. Die zerplatzten Seifenblasen.
Und als nach jenem Tag auch unsere Sprache bosch
wurde und wir zu denken begannen, hörten wir auf, sie zu sprechen. Wir versuchten es zwar noch manchmal, in der Verzweiflung erfanden wir neue Wörter, die wir aufschrieben und mit ihrer deutschen Übersetzung ver sahen. Aber es gab viel mehr Wörter als Un glücke, die geschehen konnten, und an alle zu denken verursachte einen stechenden Schmerz im Kopf. So begann ich, Deutsch zu sprechen, und Paul begann zu schweigen.
Früher war der Mondsee unser Zuhause gewesen. Wenn
man uns nicht längst die wahren Tatsachen erklärt
hätte, hätten wir behauptet, wir wären aus ihm geboren worden und nicht aus dem Bauch unserer Mutter. Die Zeit, bevor wir begannen, zum Mondsee zu gehen, lag hinter dem Nebel. Der See war der Anfang unserer Zeitrechnung, der Anfang des Lebens.
Wir lebten noch in einem Zwischenraum, und das Kind,
das den Bauch unserer Mutter in einen großen Ball verwandelte, war jatschiri
. Es war jatschiri
mit einem hohen Jauchzer, und die Freude in uns war so groß, dass wir unsere kurzen Arme bis weit nach hinten bogen, um das Ausmaß der Freude anzudeuten, wir dachten, die Arme müssten sich hinter dem Rücken kreuzen, damit ein Kreis entstünde, ein tausendmal hinter dem Rücken gekreuzter Freudenkreis. Und dieser Kreis füllte uns aus, dass wir uns fragten, warum wir nicht auch solch einen dicken Bauch bekämen und platzen würden vor lauter jatschiri
.
Wir wussten, dass das Kind zu dieser Zeit noch ein
Fischleben führte, in einer Seifenblase, gefüllt mit weichem Wasser. Unsere Mutter zeigte uns ein Buch mit Embryo- bildern, und diese durchsichtigen orangefarbenen Wesen waren das Schönste, was wir je gesehen hatten.
Aber wenn unsere Mutter sich zu heftig bewegte, bangten wir um das Fischleben des Kindes, jetzt war es zwar noch in seiner Seifenblase geschützt, aber es würde erfrieren an der kalten Luft, ersticken wie ein stummer Fisch, den man an Land gezogen hat.
Und so taten wir den Schwur: Wir schworen, das Kind
zum Mondsee zu bringen, zum Wasser, wo es hingehörte. Es war der zweite und letzte Schwur in unserem Leben. Beim ersten Schwur hatten wir uns die Handgelenke aufgeschnitten und geschworen, dass wir einander niemals verraten würden, den Mondsee, unsere Sprache und unsere Sünden, die noch leicht wogen, damals. Als wir das Blut miteinander vermischten, fiel Paul in Ohnmacht. Nach dem zweiten Schwur haben wir nie wieder etwas geschworen.
Da Paul und ich Wasserkinder waren, gingen wir nicht
nur an den sonnigen Tagen baden, ja, eigentlich waren uns sogar die Regentage die liebsten, wenn das Wasser des Himmels und das des Sees sich berührten und es keinen Horizont mehr gab. Der See hatte weder Zunoch Abfluss, ein Moorsee, und nur aus Unverständnis des Wortes Moor
nannten wir ihn Mondsee, er hieß nicht wirklich so. Wir wateten ins seichte Wasser, ließen den Schlamm zwischen den Zehen hindurchquellen, und unsere leichten Fußabdrücke füllten sich wieder, so dass der Boden schon nach einem Augenzwinkern aussah, als wäre nie jemand darübergelaufen. Die glänzenden Fischleiber schossen an uns vorüber und küssten unsere Zehen mit ihren Mündern. Das Wasser war weich und warm wie die Flüssigkeit im Bauch der Mutter, in der das Fischkind lebte. Das stehende Wasser hatte kaum Strömung und umschloss unsere Körper wie Öl.
Eigentlich war es verboten, darin zu baden, da die mit Sonnencreme eingeriebenen Menschenleiber das Wasser noch öliger machten und die Fische zu sterben begannen.
So patroullierte zeitweise ein Polizist am Seeufer, aber da wir Wasserkinder waren, bereit, unterzutauchen, sobald Gefahr drohte, war es beinahe unmöglich, unsere Haare vom Schilf zu unterscheiden und unsere geschmeidigen Kaulquappenkörper zwischen den Wellen auszumachen. Aber an den regnerischen Tagen blieben die sonnen- hungrigen Menschen und auch der Polizist zu Hause.
Der Regen trommelte auf unsere Köpfe, tropfte von den Haaren auf die mageren Schulterblätter, hielt beim Schlüsselbeinknochen kurz inne, um dann in kleinen Rinnsalen den ganzen Körper hinabzulaufen und sich mit dem Seewasser zu vereinigen. Wir schauten hinauf in den grauen Himmel, der Regen fiel in unsere Augen wie umgekehrte Tränen.
Wir wurden selbst zu Wasserwesen, wie die Fische im
Mondsee und das Kind, das im Bauch unserer Mutter
schwamm. Ein einziger Sonnenstrahl, und wir wären
verdunstet, und nichts wäre übriggeblieben.
Wir durften unsere Mutter am Tag nach der Geburt des
Fischkindes, das nun rot und verschrumpelt in einem
Kasten lag, im Spital besuchen. Sie hatten ihr den Bauch aufgeschnitten, hatten das Kind herausgeholt und den Bauch wieder zugenäht. Weder bei Paul noch bei mir hatten sie den Bauch aufschneiden müssen. Weil das Kind nicht schrie und kaum atmete, musste es noch in den Glaskasten.
Die Mutter lag in einem weißen Krankenhauszimmer
in einem großen weißen Bett, dessen Höhe man automatisch einstellen konnte, mit weißen Neonlichtern und weißgekleideten Schwestern, die kamen, wenn man den roten Knopf drückte, den man nicht drücken durfte.
Die Mutter konnte es nicht ertragen, dass das Kind
im Glaskasten war und nicht bei ihr. Wir dachten, sie sei verrückt geworden; immer wieder heulte sie auf wie ein kranker Hund und schrie nach dem Kind, dann lag sie stundenlang reglos da und starrte in die Luft. Man konnte vor ihrem Gesicht herumfuchteln, ohne dass sie die Augen bewegte, sie zwinkerte nicht einmal. Sie war wieder dünn geworden ohne den Kugelbauch. Auch nachdem sie nach Hause durfte, ging sie jeden Tag ins Spital, zum Kind im Glaskasten, sie war ununterbrochen dort, nur in der Nacht schickten die Schwestern sie nach Hause.
Paul und ich hatten uns schon fast daran gewöhnt, als das Kind nach Hause durfte. Wir fanden nicht, dass es zu wenig schrie. Unsere Eltern überhäuften es mit Geschenken, Teddybären und Liebe und fütterten es mit schlabbrig- süßem Brei. Es war plötzlich da. Immer. Überall.
Unsere Mutter ging nun nicht mehr fort abends, und
die Nachbarstochter mit den Groschenromanen sahen
wir kaum mehr. Aber das bedeutete nicht, dass es besser wurde. Wir mussten ab jetzt immer ruhig sein, so still, wie man gar nicht sein konnte, weil die Dielen knarrten, selbst wenn man auf Zehenspitzen darüberhuschte.
Außerdem war Krieg. Im Dorf hatten sie die Fastnacht
abgesagt deswegen. Der Krieg war zwar weit weg, aber
trotzdem sahen wir ihn jeden Tag, da wir jetzt auch
einen Fernseher hatten wie alle anderen. Einmal nach
der Tagesschau, als eigentlich ein Krimi kommen sollte, den wir nicht sehen durften, wurde der Bildschirm einfach schwarz. Nicht etwa schwarz mit grünen Lichtern, die Bomben waren, sondern nur schwarz. Fünf Minuten lang. Wir starrten auf den schwarzen Bildschirm und vergaßen zu atmen. In diesen endlosen fünf Minuten dachten wir, dass er zu uns gekommen wäre, der Krieg.
Doch dann kam Schnee, weißes Geriesel, und schließlich eine Moderatorin, die sich für die technische Panne entschuldigte.
Wir mussten zur Schule gehen, erst Paul und ein Jahr
später auch ich. Die Schule war noch viel schlimmer
als der Kindergarten, und die Bauchschmerzen hörten
kaum mehr auf, nur in den großen Ferien hatten wir
eine Zeitlang Ruhe. Die Schule war weit von zu Hause, unten im Tal, und überall auf dem Schulweg lauerte die Gefahr. Im Winter war es am schlimmsten, die Fahrräder versanken im Schnee, und man konnte nur hoffen, dass kein Schneepflug kam, dem man ausweichen musste, mit dem Fahrrad auf die meterhohe Schneemasse am Straßen- rand klettern, oder dass einem keines von den größeren Kindern auflauerte.
In den endlosen Wintern und kurzen Sommern wurde
das Kind größer, begann weniger zu schreien und fing
an zu reden. Aber es sprach nicht die Sprache der Eingeweihten. Wir waren uns nicht sicher, ob wir es wirklich gewollt hatten.
An diesem Tag im Juli erinnerten wir uns an das Vor- haben, dem Kind den Mondsee zu zeigen. Das Wasser gefiel ihm sofort, es patschte mit seinen dicken Händchen auf die Oberfläche und lachte, wenn das Wasser auf- spritzte. Der See war spiegelklar und glatt, und ich weiß nicht mehr, ob es Paul war oder ich, der auf die Idee kam, hinauszuschwimmen, zu den Schwänen und Enten, die wir weit draußen auf dem See erblickten.
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Texte: Frankfurter Verlagsanstalt
ISBN: 978-3627001735
Tag der Veröffentlichung: 03.03.2011
Alle Rechte vorbehalten
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