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1. Verdampft
August 1989. Ronald Reagan hatte das Weiße Haus
verlassen, der Kalte Krieg neigte sich dem Ende zu, und das städtische Freibad war (wieder einmal) geschlossen.
Grund des Ärgernisses: ein Rohrbruch.
Rivière-du-Loup versank in einer Hühnerbrühe: Die Luft war gelblich gefärbt, vollgesogen mit Blütenstaub, und ich irrte missmutig mit meinem Badetuch um den Hals durch das Viertel. In drei Tagen würde die Schule wieder losgehen, und nur ein paar Bahnen im gechlorten Wasser hätten meine Stimmung heben können.
So kam ich schließlich ins städtische Stadion. Keine Menschenseele war zu sehen. Soeben mussten die Linien des Baseballfeldes nachgezogen worden sein, denn der Kalkgeruch lag noch in der Luft. Baseball interessierte mich eigentlich nicht besonders, aber ich liebte die Stadien, aus welchem Grund auch immer. Ich ging am Unterstand der Spieler vorbei, vor dem eine alte, von der Sonne ausgeblichene Zeitung lag. Mit etwas Mühe konnte man eine Reihe Panzer auf dem Platz des Himmlischen Friedens erkennen.
In diesem Moment fiel mir das Mädchen oben im letzten Rang auf, den Kopf tief in ein Buch gesteckt, als wolle sie so die Zeit bis zum nächsten Match totschlagen.
Ohne lange zu überlegen, stieg ich die Stufen zu ihr hinauf.
Ich hatte sie bei uns im Viertel noch nie gesehen. Sie war schlank, hatte kantige Hände und ein mit Sommersprossen übersätes Gesicht. Sie trug eine Baseballmütze der New York Mets (den Schirm tief in die Stirn gezogen) und eine Jeans mit Loch am rechten Knie – keine von diesen topmodischen, säuregebleichten Dingern, sondern eine einfach geschnittene Arbeitshose, eine uralte Levis, die direkt aus einem Kohlestollen in der Wüste von New Mexico zu stammen schien.
Gegen die Absperrung gelehnt, las sie in einem Sprach- lehrgang: Russisch zu Hause lernen
, Band 13.
Ohne ein Wort zu sagen, setzte ich mich neben sie. Sie zuckte mit keiner Wimper.
Die Holzbank, auf der wir saßen, war höllisch heiß. Die Sonne knallte auf uns herab, und hätte nicht die Gefahr bestanden, mich der Lächerlichkeit auszusetzen, hätte ich mir das Handtuch als improvisierten Turban um den
Kopf gewickelt. Ich reckte die Nase hinauf in den Himmel.
Hoch oben in der Atmosphäre durchzog eine Boeing 747 langgestreckte Schönwetterwolken. Aussicht auf trockenes Wetter.
Gerade wollte ich irgendeine meteorologische Belang- losigkeit von mir geben, als das Mädchen den Schirm ihrer Mütze nach oben klappte:
»Letzte Nacht habe ich von der Atombombe von Hiroshima geträumt.«
Ich brauchte einige Sekunden, um über diese ungewöhn- liche Gesprächseröffnung nachzudenken.
»Und warum ausgerechnet die Atombombe von Hiroshima?«
Sie verschränkte die Arme:
»Die Sprengkraft der heutigen Bomben übersteigt unser aller Vorstellungskraft. Ein ganz banaler Marschflugkörper mit ungefähr fünfhundert Kilotonnen zum Beispiel.
Die Explosion könnte ein Stück Kontinentalplatte ins Weltall schleudern. Das menschliche Gehirn kann sich so etwas nicht vorstellen.«
Woher kam dieses Mädchen? Sie hatte einen unbestimm- baren Akzent. Englisch, Akadisch, vielleicht Brayonisch.
Ich tippte auf Edmundston. Sie zog eine leere Packung Cracker Jack aus einem Bretterspalt hervor und schickte sich an, Konfetti aus ihr zu machen.
»Little Boy
hatte ungefähr fünfzehn Kilotonnen. Kein kleiner Böller, aber irgendwie noch nachzuvollziehen.
Wenn die über uns explodieren würde, sagen wir in sechshundert Metern Höhe – wie in Hiroshima –, dann würde die Druckwelle die Stadt in einem Umkreis von anderthalb Kilometern ausradieren. Das entspricht einer Fläche von etwa sieben Quadratkilometern. Umgerechnet macht das …«
In ihre imposante Rechenoperation versunken, kniff sie die Augen zusammen.
»… zweitausendfünfhundert Baseballfelder wie dieses hier.«
Sie hörte kurz mit dem Zerpflücken auf und umrahmte mit elegant-pädagogischer Geste die Umgebung:
»Das Einkaufszentrum würde zerbersten, die Bungalows einfach umklappen, die Autos wegwehen wie Pappkartons, die Laternen umknicken. Und das nur
durch die Druckwelle.
Denn danach kommt die Wärmestrahlung. Alles im
Umkreis von zig Quadratkilometern würde zu Asche – sehr, sehr viele Baseballfelder! In der Nähe der Bombe wäre die Temperatur höher als auf der Oberfläche der Sonne. Alles Metall schmölze dahin. Im Sand bildeten sich Glaskügelchen.«
Sie hatte die Zerhäckselungsaktion abgeschlossen und wog den Haufen Konfetti in der Hand:
»Und weißt du, was mit uns
passieren würde, uns zwei armen kleinen Primaten, die zu sechzig Prozent aus Wasser bestehen?«
Langsam drehte sie den Handteller nach unten, und der Wind trug das Häufchen Konfetti in Richtung left field
:
»Wir würden innerhalb von drei Millisekunden ver- dampfen.«
Schließlich wandte sie sich zu mir und musterte mich mit regen Augen, bestimmt, um zu sehen, wie ich mit dieser Steilvorlage würde umgehen können. Recht gut, alles in allem. Ihr Blick gab mir zu verstehen, ich hätte bestanden.
Ihr Gesicht entspannte sich. Sie schenkte mir ein warmes Lächeln und vertiefte sich ohne ein weiteres Wort wieder in ihr Russischlehrbuch.
Leicht angeschlagen von der Druckwelle, ließ ich mich gegen die Absperrung fallen. Während ich mir die Stirn mit einem Zipfel meines Handtuchs abtupfte, sah ich mir das Mädchen verstohlen an. Ich hätte schwören können, dass sie dabei war, mit ihrem IQ von hundertfünfund- neunzig ein Magnetfeld um sich aufzubauen.
Nicht nur, dass ich dieses Mädchen hier noch nie gesehen hatte – so ein Mädchen hatte ich noch nie irgendwo gesehen –, und in genau diesem Augenblick wurde mir klar: Wenn ich einmal mit irgendjemandem verdampfen müsste, dann nur mit ihr.
2. Das Zoogeschäft
Sie hieß Hope Randall und war gerade aus dem neu- schottischen Yarmouth hergezogen.
»Weißt du, wo das liegt?«
Sie zeichnete mit dem Zeigefinger eine Karte Neuschottlands in die Luft und setzte einen Fliegenschiss auf das südliche Ende der Halbinsel, direkt gegenüber dem Bundesstaat Maine – eintausendzweihundert Kilometer entfernt von hier.
»Nie gehört.«
»Das macht nichts.«
Erst vor drei Tagen waren sie und ihre Mutter angekommen und hatten in der Rue Amyot eine Bleibe gefunden: eine Wohnung, eingezwängt zwischen dem Waschsalon Clean-O-Matic und den Küchenräumen des Chinese Garden.
Zwei berühmt-berüchtigte Orte der Reinheit und Hygiene in der Stadt.
Sie drehte den Schlüssel ein paarmal im Schloss und trat gegen die Tür.
»Willkommen in Randalls Zoogeschäft!«
Und plötzlich erinnerte ich mich wieder: Hier befand sich einmal eine Zoohandlung, Die Arche Noah
(sic), geschlossen seit dem vorigen Winter und jetzt in eine allerdings nur halbwegs bewohnbare Behausung umgebaut. Auf dem Boden konnte man noch die Verfärbungen erkennen, wo Verkaufstresen, Regale und Aquarien gestanden hatten.
Asiatischer Frittiergeruch lag in der Luft, ohne jedoch den Gestank von Papageienscheiße, Katzenkot und Chinchilla-Urin überdecken zu können.
Die Möblierung war im Preis inbegriffen, sie bestand aus einem wackeligen Tisch, vier Stühlen, einer Grund- ausstattung an zerbeulten Elektrogeräten und einer Couch, die, in Abwesenheit eines Fernsehers, dem Betrachter vollkommen überflüssig erschien.
Hope beteuerte, noch keine zweiundsiebzig Stunden hier zu sein, doch stapelten sich in allen Ecken unglaubliche Mengen an Lebensmitteln: säckeweise Mehl und japanische Ramen-Nudeln, Wasser und Öl in Fässern, allerlei Konservendosen. Genau genommen war im näheren Umfeld das Einzige, was nicht zum Verzehr bestimmt war, ein Stapel von Russisch zu Hause lernen
(die Bände 8, 14 und 17), auf den Hope vorsichtig den Band Nummer 13 legte, den sie mit ins Stadtstadion genommen hatte.
»Hast du Durst?«
Ich nickte. Während sie mir ein Glas Wasser einschenkte, schaute ich mich in der Zoohandlung neugierig nach angrenzenden Zimmern um. Abgesehen von einem auffällig geräumigen Badezimmer – zweifellos dem ehemaligen Reptilienraum – gab es offenbar kein weiteres Zimmer.
Aber wo schliefen sie dann? Hope, die meine Frage erahnte, deutete auf die Couch:
»Die kann man ausziehen. Und ich schlafe im Bad, bei geschlossener Tür. In weniger als drei Metern Abstand von meiner Mutter kriegt man kein Auge zu.«
»Schnarcht sie?«
»Nein, sie redet im Schlaf.«
»Aha?«
Ich trank einen Schluck Wasser. Ein bedenklich metallischer Geschmack:
»Und was erzählt sie so?«
Besorgt begann Hope an ihrem Daumennagel zu kauen:
»Keine Ahnung. Irgendwas auf Assyrisch.«
»Auf Assyrisch?«
»Assyrisch oder Armenisch, was weiß ich. Von toten Sprachen habe ich keine Ahnung.«
Mit einem Biss kaute sie einen schmalen Nagelstreifen ab und spuckte ihn weg:
»Ich komme aus einer mehrsprachigen Familie.«
»Ganz offensichtlich«, sagte ich und deutete mit dem Fuß auf die Russischlehrbücher.
»Ich hatte auch mit Deutsch angefangen, musste aber einen Teil meiner Bücher in Yarmouth zurücklassen, weil sie nicht mehr ins Auto passten.«
»Zurücklassen
?«
»Ja. Wir sind nachts aufgebrochen, weil …«
Sie seufzte:
»Okay. Fangen wir lieber am Anfang an.«
3. Die Randalls
Mary Hope Juliet Randall, genannt Hope, war die jüngste Vertreterin einer Familie, die seit einem nicht mehr genau bestimmbaren Moment – einige sprachen von sieben Generationen – an schweren Weltuntergangs- vorstellungen litt.
Die Randins, eine Familie wohl weitestgehend akadischer Herkunft, waren 1755 von den Briten deportiert worden.
Nach ihrer Aussetzung auf Maryland änderten sie den Familiennamen in Randall, ohne sich jedoch assimilieren zu lassen, und kehrten nach Neuschottland zurück, wo sie Jahrzehnte darauf verwandten, sich karges Torfland anzueignen.
Man könnte nun glauben, dass die familiäre Obsession für die Apokalypse in diesem geopolitischen Trauma ihren Ursprung fand. Denn war es nicht nachvollziehbar, wenn nicht gar unvermeidlich, dass die Nachkommen deportierter Bauern gegenüber städtischen Ballungsgebieten, großen Katastrophen und einem normalen Verlauf der Geschichte gewisse Vorbehalte hegten? Doch fand diese Theorie keinen Konsens, so dass schließlich einige Genealogen die Weltuntergangsvorstellungen einer Erbkrankheit zuschrieben, die sich aufgrund blutsverwandter Ehen entwickelt habe (die Randalls waren recht häuslich veranlagt).
Fest stand, dass dieselben Symptome sich mit choreographischer Präzision von Generation zu Generation wiederholten:
Sobald ein Mitglied der Randall’schen Familie, egal ob männlich oder weiblich, die Pubertät erreichte, wurde es auf übernatürliche Weise und sehr detailgenau über den künftigen Weltuntergang in Kenntnis gesetzt: über Datum, Uhrzeit und Hergang.
In aller Regel kam diese Vision in der Nacht. Genau genommen handelte es sich dabei nicht wirklich um eine Vision – diese hätte man als einen gewöhnlichen Albtraum abtun können. Nein, die Randalls erlebten das Weltende in Echtzeit und 3D. Sie spürten das Regen- prasseln und die Verbrennungen auf ihrer eigenen Haut, sie erstickten in Feuersbrünsten, schmeckten die Asche, hörten die Schreie, rochen den Gestank verwesender Leichen.
Die Randalls nannten dieses Phänomen die »nächtliche Offenbarung«, das »Licht«, die »Prophezeiung« oder gemeinhin »die kleine Höllentour«.
Jeder Randall bekam übrigens ein anderes Datum offenbart, was es gehörig erschwerte, mit dem jeweils eigenen Weltuntergang ernst genommen zu werden. Wenn ein Randall dann den Tag seines Weltuntergangs überlebte, zeigte sich bei ihm zumeist plötzliches seelisches Ungleichgewicht oder ein Hang zur Beschädigung öffentlichen Eigentums. Die Geschichte endete üblicher- weise in der Irrenanstalt oder in sonstigen einschlägigen Einrichtungen.
Der Familienstammbaum der Randalls wäre bestens dafür geeignet, an ihm die Geschichte der nordamerikanischen Psychiatrie über die letzten einhundertfünfzig Jahre aufzuzeigen, vom eiskalten Duschen über die Lobotomie, die Beschäftigungstherapie, die Zwangsjacke und das
Lithium bis zur offenen Psychiatrie.
1. Fall: Harry Randall Truman, Urvater der Familie, verlor den Verstand im Herbst 1835, kurz nachdem der Halleysche Komet an der Erde vorbeigeflogen war. Er hatte die Rückkehr Moses’ auf einem strahlend weißen Walfänger
verkündet und dann in der Scheune eines presbyteria- nischen Pfarrers Feuer gelegt. Nachbarn hatten ihn überwältigen und fesseln können und ins Halifax Mental Asylum verfrachtet, wo er den Rest seines Lebens in der Abteilung für Pyromanen und andere Soziopathen verbrachte.
37. Fall: Gary Randall hatte sich fünfzehn Jahre lang in einer Sperrholz-Hütte verschanzt, durch deren Fenster er die – in diesem Landstrich äußerst seltenen – Psychotherapeuten mit seinem Zwölfer-Kaliber begrüßte. Man fand ihn erfroren an sein Gewehr geklammert, nachdem die Temperatur eines Morgens plötzlich auf minus vierzig Grad gefallen war: steif und blau und endlich von seinem Wahn erlöst.
53. Fall: Henry Randall jr., Hopes Großvater, der noch die große Wirtschaftskrise miterlebt hatte, zeigte sich weniger destruktiv. Er kanalisierte seine Ängste, indem er die
Reformierte Minoritätenkirche des Siebten Wiederkäuers gründete, eine parachristliche Sekte, die das Armageddon für den 12. Juni 1977 angekündigt hatte. Eine vergleichs- weise durchaus gesunde Art, seine Zeit totzuschlagen. Die Kirche existierte bis zu besagtem Datum, nach dessen Verstreichen sich Henry das Leben nahm, er schluckte eine Handvoll Dachnägel.
Ähnlich erging es Gary Randall, Harry Randall, Harriet Randall, Hanna Randall, Henry Randall, Randolph Randall, Handy Randall, Hans Randall, Hank Randall, Annabel Thibodeau (geborene Randall), Henryette Leblanc Randall, Hattie Randall, Pattie Randall und anderen – während die Tage friedlich und unbeirrbar verstrichen und der Planet beharrlich wie ein schlechter Witz seine Kreise zog.
Copyright © Frankfurter Verlangsanstalt
Texte: ISBN: 978-3627001711
Tag der Veröffentlichung: 03.03.2011
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Widmung:
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