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Entre las muchas maneras de combatir la nada, una de las mejores es sacar fotografías.
Julio Cortázar




1. WEICHES LICHT

»Leben Sie noch?«
Die Spaziergängerin piekt mich mit ihrem Stock in die
Backe. Es regnet schwach auf mein Gesicht. Herunter- laufende Regentropfen kitzeln. Ich bin auf einem Waldweg umgefallen. Liege quer über der Laufbahn. Das gehört sich nicht. Die Spaziergängerin zieht ihr Mobiltelefon unter dem Regenmantel hervor und investiert in einen Notruf.
Der kostet zwar nichts, aber sie wird warten müssen.
Unterdessen zeichnet sie mit ihren Stöcken Kreise in den Kies. Das kann ich nicht sehen, nur hören. Der Kranken- wagen kommt. Vier weiße Turnschuhfüße knirschen schnell und sicher in meine Richtung.
»Der ist hinüber«, sagt jemand. Man packt meinen Körper – schnell und sicher –, hebt ihn auf die Bahre und schiebt ihn in den Krankenwagen.
»So alt ist der noch gar nicht.«
Nein, so alt noch nicht.
In wacher Bewusstlosigkeit verlangsamt sich die Zeit. Das Rumpeln des Krankenwagens über Waldwegwurzeln moduliert zu einem Wiegen und Schwingen. Die weiße Decke überm Gesicht lässt kaum Licht durch, es ist weich und warm. Der Motor brummt mich in schwarzen Schlaf. Die Ruhe nimmt mich aus der Welt.
Auf! Atmen! Schrecke so schnell hoch, dass ich mir die Stirn an dem Kasten über der Liege anschlage. Die Sanitäter zucken von mir weg, erst, dann nähern sie sich, einer spricht mit dem Fahrer, der beschleunigt, das Brummen wird lauter, die Sirene springt an, schnelle Richtungswechsel.
Alles ist weiß, bis ich meinen Kopf wende und wieder langsam sehen lerne. Das Fernsehgerät an der Wand ist tot und graurotes Standbylicht. In meinem Rücken schnaufen Geräte. Bewege mich, vorsichtig. Hände, Beine, alles noch da. Meine Fußsohlen stoßen ans Bettende. Bin zu groß. Wie immer. Sandra hat sich angesagt. Ich kann schon wieder telefonieren. Alles ist in Ordnung. Kopf nach links: Leeres Bett; Wand. Kopf nach rechts: Leeres Bett; Fenster.
Der Brustkorb hebt und senkt sich, ganz von selbst – mit angenehmer Selbstverständlichkeit. Aber ich kann nicht schlafen. Jedesmal, wenn sich meine Gedanken verun- schärfen, zwingt mich ein Blitz in meinem Geist ins bewusste Sein zurück. Mein gefallener Körper schmerzt. Eine Krankenschwester betritt den Raum, lächelt, schiebt mir eine Injektionsnadel unter die Haut. Wonne über- schwemmt mich, wärmt und nimmt mich mit, der Blitz zuckt dagegen an. Keine Chance. Noch ein Mensch tritt ein. Letzte Wahrnehmung, bevor. Dunkle Haare, rote Regenhaut aus Plastik.
»Sandra!« Weg. Wieder da. Im Bett links liegt jetzt ein Mann. Ein alter Mann. Er stöhnt oder atmet. Sandra ist gegangen, sie ließ mir den Computer da. Ich habe das Bettzeug feuchtgeschwitzt.
Der Tropf in der linken Hand schmerzt und schmerzt! Macht ihn raus! Ich habe Hunger. Der alte Mann atmet oder ächzt. Keine Blumen, aber ein Computer auf dem Beistelltisch. Drehe mich nach links und muss dabei auf den Tropf aufpassen und auf den Computer. Die rechte Hand ist eigenartig schwach, kann nicht richtig zugreifen.
Ich übe. Zeit vergeht. Ich lasse meine rechte Hand
nach der Decke greifen. Weicher Widerstand, eins, zwei. Draußen im Gang laufen Leute, eins, zwei. Der alte Mann atmet, eins, zwei. Ich bin nur geschwächt, nicht gelähmt, ich muss mich noch meiner Kraft vergewissern. Hierhintasten und dorthinfühlen. Ich bin müde und schwach, ich müsste schlafen, aber ich schaffe es nicht aus eigener Kraft.
Weg.
Wieder da. Auch im Bett rechts liegt jetzt ein Mann. Ein alter geräuschloser Mann. Jemand hat eine leere Vase ans Fenster gestellt. Grüner, transparenter Schwung, leuchtender Schatten an der Wand. Die Fenster lassen sich nicht öffnen. Welches Stockwerk? Die Tür öffnet sich. Hallo, Sandra.
»Du hast geschlafen.«
»Ja. Es tut mir leid.«
»Quatsch.«
»Es ist mir peinlich. Ich bin fortgegangen, spazieren im Wald, also den Weg runter zum Fluss und wieder zurück, so zum Nachdenken.«
»Eine Frau hat dich bewusstlos auf dem Weg gefunden
und die Sanitäter geholt.«
»Hast du ihre Adresse? Ich sollte mich bei ihr bedanken.«
»Liegenbleiben!«
»Ich will hier raus. Ich mag Krankenhäuser nicht.«
Sandra und ich sind aus unseren Arbeitslosigkeiten ineinander reingestolpert und haben uns Fotoprojekte ausgedacht. Sandra ist in technischen Dingen viel geschickter als ich. Aber ich kann den Künstler geben. Das bringt Sandra einfach nicht fertig, sie ist sehr bescheiden, fixiert auf Technik und Finanzen, also bin ich eben der Künstler. Mein letzter Auftrag bestand darin, alle Aldi- Filialen Deutschlands zu fotografieren, erst letzte Woche habe ich ihn abgeschlossen. Eigentlich war das gar kein Auftrag, denn ich habe ihn mir selbst erteilt. Warum kann ich mir keine Aufträge erteilen, die mir selbst so gültig vorkommen wie ein Befehl, den ich von jemand anderem erhalte?

»Du musst noch eine Nacht zur Beobachtung hier bleiben. Ich nehme den Computer wieder mit. Ich hätte ihn nicht mitbringen sollen, aber ich wollte dir zeigen . . .«
»Hast du die letzten Bilder gescannt?«
»Alles ist fertig. Alles. 3.561 Aldi-Filialen.«
Sie pustet sich eine Locke aus der Stirn, wie sie es immer macht, wenn sie sich gut fühlt.
»Wunderbar.«

Ich schließe die Augen, lasse mich in die Kissen des Krankenhausbetts sinken, Schicht für Schicht, muss dabei lächeln. Die Arbeit ist ja dann gut, wenn sie getan ist. Die Idee hinter dem Job war einfach. Wie Bernd und Hilla Becher die Reste der Industrielandschaft streng und präzise dokumentiert haben, all die Wassertürme und Förder- anlagen, so bereisten Sandra und ich das Land, um das Gleiche für die Dienstleistungsgesellschaft zu tun. Aldi
und Bergwerk unterscheiden sich dabei nicht so stark voneinander, wie wir noch am Anfang gedacht hatten. Da war zunächst die Abwesenheit natürlichen Lichts im Inneren der Märkte, die Knochenarbeit, die vom erloschenen Personal mechanisch ausgeführt wurde. Wir mussten den Menschen in den Märkten eine Zeitlang zusehen, um sie verstehen zu können, um wie sie zu werden und schließlich so zu fotografieren, wie sie es tun würden. Bei ihnen einkaufen mussten wir auch, denn wir sind nicht reich.
Sandra beruhigt mich.
»Ich habe schon die ersten Kontakte zu Sammlern. Sieht gut aus. Man kann sich gleich was drunter vorstellen, weil man die Aldis ja schon kennt. Und dann halt doch wieder nicht. Für die Sammler ist Aldi ein Geheimnis. Der Aufwand beeindruckt die Leute. Und mit der Menge können wir problemlos den Gropius-Bau oder das Haus der Kunst dichtmachen.«
»In dreißig Jahren. Ja.«
Wer soll das kaufen? Wer soll das sehen wollen? Es sieht alles, alles gleich aus. Dreitausend Giebeldächer, drei- tausend Parkplätze, dreitausend neonbeleuchtete Logos. Man kann da vielleicht schon was hineininterpretieren, sehr viel sogar. Aber da ist nichts. Man kann da nur so viel hineinprojizieren, weil da nichts ist.
Diese Filiale in Grevenbroich, die in der Nacht vor unserer Ankunft abgebrannt ist. Wir haben sie in der gleichen Manier fotografiert wie all die anderen auch. Nur, dass sie zerstört war, ein tiefschwarzes Ding vor nassgrüner Landschaft, hinter einem leeren Parkplatz. Ich bin ja in den Wald gegangen, um nachzudenken, um zu entscheiden, ob dieses Bild in die Serie kommen soll oder nicht. Ich habe darüber nachgedacht, ob ein abgebrannter Aldi noch ein Aldi ist. Ob ich nicht dem Sensationalismus nachgebe, wenn ich diese Fotografie drinlasse, weil es offensichtlich ist, dass ein Betrachter dieses Bild von allen Aufnahmen als erstes ansehen würde. Die anderen Bilder wären dann nur noch Hintergrund für dieses eine einzige Bild.

Andererseits existierte die Filiale in der Planung und in der Logistik weiter, und mein Kontaktmann in der Presse- abteilung von Aldi hatte mir schriftlich bestätigt, dass man sie genau an derselben Stelle wieder aufbauen würde – und zwar genau so wie zuvor, nur im Detail etwas moderner und effizienter. Die wiederaufgebaute Filiale zu foto- grafieren, kam nicht in Frage. Nicht aus konzeptionellen Gründen, sondern weil ich keine Lust darauf hatte, noch einmal nach Grevenbroich zu fahren. Bei dieser Datenflut wäre Inkonsequenz eine lässliche Sünde. Da wir immer sehr genau darauf geachtet haben, dass möglichst wenige Merkmale auf den Bildern übrigblieben, die zur Identi- fikation einer Filiale hätten dienen können, wäre es auch möglich gewesen, irgendeinen anderen Aldi als den von Grevenbroich auszugeben. Aber auch das würde das ganze Werk kompromittieren, zumindest in unseren Augen und nur auf uns kam es dabei an. Genauer gesagt: Auf mich, denn die Aldis waren mein Projekt. Sandra hatte nur staunend mitgemacht, sich vom Sog meiner Disziplin mitziehen lassen. Sie hat auch darauf gewartet, dass ich aufgebe, insgeheim. Aber schon nach den ersten Wochen konnten wir nicht mehr zurück. Ein abgebrochenes Projekt wäre unverkäuflich gewesen. Also weiter und weiter und weiter. Ein Traumjob der monotonen Idiotie. Schlafen in schlechten Hotels, Leben nur aus Koffern und sich dabei vorkommen wie ein Freak aus »Wetten, dass . . .?«, einer von denen, die alle jemals produzierten Gabelstapler am Geschmack erkennen oder aus Schnapsgläsern einen zehn Meter hohen Eiffelturm bauen und hinterher alle austrinken. Und die am Ende stolz dastehen, denn Besessenheit ist die letzte Quelle altmodischer Würde.

Sandra verabschiedet sich. Sie hat sich in der Stadt mit einem Journalisten verabredet, der über das Projekt schreiben möchte. Krankenschwestern kommen herein, begrüßen mich, der ich als einziger Patient im Zimmer bei Bewusstsein bin. Sie kümmern sich um den Mann rechts am Fenster, der auch weiterhin still daliegt, nicht aufwacht. Sie reinigen seinen Körper mit einem Schwamm. Ich erhebe mich, ziehe mich empor, prüfe meinen Stand und gehe zur Toilette. In der Nasszelle hängt ein Spiegel. Ich habe abgenommen.
Eins von den drei Zahnputzgläsern am Waschbecken muss meines sein. Ich lasse Wasser ein und trinke, warte, wasche mir das Gesicht und sehe mich an. Dann trockne ich mich ab, gehe wieder zu Bett und schlafe. Weg.

Die Ärzte haben mich entlassen, meine Versicherung ist nur zweitklassig. Ich fahre in den Süden, murmle mein Verkaufsgespräch schon vor mich her. An der Autobahn- raststätte Holledau verspricht ein gelbes Plastik- transparent »Bayerische Gastlichkeit seit 1934«. Der alte Mercedesmotor surrt. Ich kämpfe meine Kopfschmerzen mit Medikamenten nieder, die mich gleichzeitig klar und stumpf machen, mich also funktionieren lassen wie einen normalisierten Menschen. Mein Fuß senkt sich aufs Gaspedal, tiefer und tiefer. Wenn der Wagen über eine Bodenwelle springt, scheppern hinten die gerahmten Prints. Sandra hat den Kontakt zu einem Sammler in Zürich hergestellt. Der wollte jetzt sehen, die Kunst und auch mich selbst.
Wie kann man heute noch Sammler sein? Schon der Begriff erinnert an Nüsse und kleine Pelztiere. Es ist März und die Natur sieht müde aus. So müde, als ob sie sich nie mehr von der Erschöpfung des Winters erholte. Hochspannungsleitungen hängen über den Feldern durch. Wälder stehen nackt auf Hügeln, Tannenzacken schneiden in den Himmel. Der Wind weht im Kreis. In der Luft vor München die endlose Kette landender Jets, die einzigen zielstrebigen Objekte im unentschlossenen Driften ringsum. Ein Fahrzeug auf der Autobahn rollt einfach im Pulk mit. Ein Jet aber muss wissen, was er will. Er muss in der Luft bleiben wollen. Dazu sind viel Kraft und Konzentration nötig. Im Anflug auf München bleiben die Jets fast in der Luft stehen. Ich biege vor der Stadt ab nach Westen. Vor den Alpen hängen Wolken: ein schwarzer Balken. Ein Ende. Die Autobahn zerteilt das Land. Sie ist ein Zeichen, das bedeutet: Geh weg. Ein schwarzer Balken. Das Ende.

Auf der Fahrt nach Lindau schwinden die Radiosender bald mit dem elektrischen Halo der zurückliegenden Stadt. Ich schalte den Empfänger ab und kehre zum dunklen Rauschen des Motors zurück. Es geht gut voran, außer an den Stellen, an denen es keine Autobahn gibt und sich die Bundesstraße durch bäuerliche Landschaft müht. Um Memmingen hat ein gnädiger Ingenieur eine breite Schnellstraße gebaut, dahinter liegen leere Landschaften, dunkel und feucht. Der Wagen scheint sich selbst zu steuern, die Fortbewegung fühlt sich fremd an. Es ist mehr ein Fallen als ein Fahren. Ich schüttle das Gefühl ab und suche eine Stelle, an der ich Pause machen kann. Die Autobahnverwaltung hat zwischen den saftgrünen Hügeln eine Betontoilette mit Geologie-Garten anlegen lassen. Auf dem Parkplatz davor stehen zwei kroatische Lastwagen. Mehrere Autos mit deutschen, Schweizer und hollän- dischen Kennzeichen parken abseits des Betonhäuschens in der ausgewiesenen Picknick-Zone. Einzelne Kinder stehen zwischen Granitbrocken herum. Sie lernen: Geschichte ist Stein. Kein Vogel singt. Die Bäume sind kahl, obwohl am Waldrand alles grünt. An diesem Ort will nichts und niemand sein. Ich auch nicht, aber meine Natur zwingt mich ins Betonklo, lässt mich die schwere rostfreie Stahltür aufdrücken, die dem Ort die Aura eines Operationssaals verleiht. Auch der Rest der Einrichtung besteht aus Edelstahl. Ein Mann im roten Holzfällerhemd wäscht sich in einer Nische die Hände. Es kostet nichts, ein Zeichen deutscher Gastlichkeit. Gut und sauber und gekachelt.

Wenn da nicht der Mann in der Ecke hinter den Pissoirs liegen würde, in seinem eigenen Auswurf auf den weißen Kacheln, nicht mehr atmend, dann doch wieder. Er irritiert mich nicht. Ich erleichtere mich in die Edelstahlmündung.
Es riecht nach Verdautem. Mein Mobiltelefon klingelt, als ich mir gerade die Hände wasche. Ich ziehe es mit nassen Händen aus der Tasche, es entgleitet mir, fällt runter, schlittert in Richtung Mann am Boden, stoppt aber vorher, Gott sei Dank, ich nehme es auf, es klingelt und klingelt mir laut ins Ohr, dass es wehtut. Sandra ist dran.

»Fahr nicht nach Zürich«, sagt sie. Ihre Stimme schwindet, noch während sie spricht.
»Ich bin schon fast da.«
Drücke mit der Schulter die Tür nach draußen auf. Ein Lastwagen nimmt den Wind mit.
»Was hast du?«
»Komm zurück.«

»Ich muss unsere Bilder verkaufen.«
»Bitte!« Sie weint? Handys übertragen keine Trauer, es sind lebensfrohe Geräte. Die Verbindung bricht ab. Ich stehe da. Verkehr rauscht vorbei. Sandras Warnung spornt mich an. Ich hole meine Kamera aus dem Auto, ein altes mechanisches Ding, ein Klotz aus Metall und Glas. Bevor ich weggefahren bin, habe ich sie geladen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich den Film voll belichten werde, alle 36 Aufnahmen, negativ schwarzweiß. Weg vom Auto, auf den Hügel neben den Wald, dahinter: der See und die Berge. Die Grenze. Ich warte, bis sich mein Herz wieder beruhigt und mein Puls sich verlangsamt. Mit der Zeit gewöhnt sich mein Blick an die uralte Landschaft. Die hohen Berge sind noch weit, aber gleich hinter dem See steigen die Hügel hoch an und erheben sich über das schmutzig feuchte Grün, über die braunen Städte, eine Herausforderung an die Menschen. Davor der See, eine Parodie des Meeres. Ich spanne den Verschluss, blicke durch den Sucher und rahme das Bild.
»Schön, nicht?« Hinter mir. Ein Mann.
»M-hm.«
»Fahren Sie nach Österreich oder in die Schweiz?«
»In die Schweiz.« Ich lasse die Kamera sinken, sichere den Auslöser.
»Die Schweiz.« Ein kostbares Wort.
»Am Ende kommen alle in die Schweiz. Ein Land wie ein Traum. Dann Zürich, eine seltsame Stadt. Der See. Die Zünfte. Die Schwarze Zunft.«
Ich sehe ihn an und vergesse ihn im selben Augenblick. Es ist anstrengend, ihn anzusehen und ihn sofort wieder zu vergessen.
»Die Schwarze Zunft?«
»Eine bemerkenswerte Organisation. Ein Zürcher Märchen.
Sie werden sehen.«
»Ich kann Märchen nicht ausstehen.«
Wo er steht, ist mein blinder Fleck.
»Das macht nichts.« Macht. Nichts. Er betont die Worte einzeln. Ich drehe mich weg und mein Körper streckt sich wie nach langem Schlaf. Erst als ich spüre, dass der Mann fort ist, steige ich wieder zum Parkplatz hinab, setze mich ins Auto. Die automatischen Bewegungen beim Starten und Fahren bringen mich zu mir.

An der Grenze muss alles glattgehen, weil ich am Abend den Sammler treffen soll. Also keine Eskapaden am Zoll. Wie weit ist Zürich weg? 150 Kilometer? Ich denke über die Schweiz nach. Ich weiß nichts über dieses Land, außer
dass es reich sein soll und raffiniert. Ein sagenhafter Park, ein goldenes Leuchten unter Felsen. Ein Wunderland für Menschen, die fähig sind, es zu genießen. Zum Genuss fehlt mir die Zeit. Auch mit Sandra gehe ich kalt um, wobei
ich das Gefühl habe, dass sie nur deshalb bleibt, weil sie keine andere Wahl mehr hat. Wenn die Aldi-Bilder verkauft sind, wird sie ihren Anteil bekommen und gehen, und ich werde allein sein. Für mich ist die Arbeit gerade so
lange wertvoll gewesen, wie sie mich beschäftigte. Sie öffnete mir ein hoch bewachsenes Feld, in dem ich verschwinden konnte, auch vor der Krise der Welt ringsum, auch wenn der Erfolg von Aldi in dieser Krise gründete. Die Bedrohung vibrierte hinter den Bildern, verlieh ihnen jene Unschärfe, die Lebendigkeit verrät, trotz höchster Präzision und Auflösung.

Die Autobahn fällt zum See hin ab. Mir ist leicht übel, aber wenn ich anhalte, werde ich mich nicht verkaufen können, und das wird mein Ende sein und das von Sandra. Ich kann mir meine Zukunft nur noch als Verkaufsgespräch vorstellen. Abschluss folgt auf Abschluss. Dabei bin ich schon zu spät dran. Die restlichen Kilometer zur öster- reichischen Grenze sind schnell zurückgelegt, es geht nur noch bergab, es rollt sich leicht. Um keine Autobahn- gebühr zahlen zu müssen, drücke ich mich von Lindau aus am Bodenseeufer entlang nach Bregenz, passiere die leere Grenzanlage, blinzle Zumthors Kunsthaus zu, schiebe mich durch die Dörfer vor, überquere an einem Ort namens Sankt Margrethen die Grenze, erst den schwarzen Rhein, dann die Autobahn nach Zürich, die unter der Grenzbrücke durchläuft. Ich erledige die Zollformalitäten. Ein bewaff- neter Mann winkt mich durch. Über dem Grenzübergang verdunkelt ein Einkaufszentrum den Himmel, seine moosgrüne Metallsegmentstruktur ragt bis nach Österreich hinein. Duty-Free-Schilder, dahinter endlose Parkplatz- flächen, unterbrochen von Vorgebirgszügen.
MIGRANT steht in drei Meter hohen orangefarbenen Lettern an den Flanken des Einkaufszentrums, dessen Fuß von Hunderten bunter Fahrzeuge umschwärmt wird. Der Korpus des Gebäudes greift schlank in den Himmel und entwindet sich dem Blick, während seine Wurzel wie das Ende eines ungeschickt geworfenen Bumerangs in der weichen Wiese steckt. Der Bau wartet, als ob er ein Körper wäre, der nichts mit der Gegend ringsherum zu tun hat.
Als ich an einer Bushaltestelle neben dem Einkaufszentrum die Autobahnvignette an die Windschutzscheibe klebe, verdunkeln alte Wolken die Sonne. Hinter Sägewerken, Einkaufszentren und Kreisverkehren finde ich die Auto- bahnzufahrt, den Weg ins Innere der Schweiz. Der Benz will ständig die Geschwindigkeitsbegrenzung überschreiten.
Dafür wurde er schließlich gebaut. Ich bremse den ganzen öden Weg bis nach Zürich, bis in diesen Tunnel, bis in den nächsten Tunnel. Bis an ein neues Licht. In der ruhigen Stadt finde ich ein kleines Hotel. Enge hölzerne Treppen. Ich versuche, Sandra anzurufen, sie zu beruhigen. Das Handy findet kein Netz. Noch ein paar Stunden bis zur Party, bis zur Vorstellung im Haus des Sammlers. Ich lege mich hin. Den Fernseher lasse ich laufen. Er zeigt eine Kindersendung in einer sterbenden Sprache.

Das vorprogrammierte Piepsen meiner Armbanduhr
weckt mich, ich ertaste mir den Brief mit der Weg- beschreibung in der Innentasche meiner Jacke. Das Haus, das ich suche, muss auf dem Hügelkamm im Rücken des Hotels liegen. Auf dem schwarzen Berg gegenüber blinkt ein Licht an der Spitze eines Sendeturms. Immer wieder huscht dieses Licht zwischen den alten Häusern vorbei, als mich das Taxi die Straßen hinaufträgt, zur Villa Manella. Oswald Manella, der Sammler, gibt mir die Hand. Es ist eine warme, trockene Hand, wie aus feinem Stoff genäht. Diese Hand drückt die meine bestimmt, aber nicht zu fest, nicht so stark wie Menschen mit fragilem Selbstbewusstsein es gerne tun; aber auch nicht zu schwach und beiläufig. Es ist ein Händedruck, hinter dem ich die ganze Person spüre.
Manellas Hand ist manikürt, die Fingernägel glänzen. Diese Hand ist bestimmt die stärkste Hand der Schweiz, sie hat mich für eine Sekunde im Griff, dann lässt sie wieder los, und ich bedaure, dass sie schon weg ist, denn sie riecht nach keinem Parfum, nicht einmal nach Seife, ganz einfach nach nichts. Oswald Manellas Hand zieht einenStrich, und die Welt verändert sich. Waffen für Kriege werden gekauft, Tausende Menschen eingestellt oder entlassen, Regierungen vernichtet oder ins Amt gehoben. Ich kann mir vorstellen, dass Oswald Manella gerne zeichnet oder musiziert, er hat Pianistenhände, schmal und schnell und doch kräftig. Wenn man beim Händedruck genau hinspürt, fühlt man auch die rauen Stellen, die Verletzungen der Handfläche. Vielleicht vom Sport? Manellas Haut ist gebräunt, möglicherweise von einem Tag Skifahren oder einem Besuch bei alten Freunden auf einer Yacht.
Dieser Hand fehlt nichts. Sie hat viel zu tun. Täglich all die Unterschriften auf dem CEO-Briefpapier der Swiss Bank, der Schweizer Bank, der Banque de Suisse, dem gigantischen Kreditinstitut, das kürzlich aus der Fusion
der wichtigsten Großbanken des Landes hervorgegangen ist. Streicht Oswald Manellas Hand gern über Geld und Wertpapiere oder bevorzugt sie den Druck auf Tasten, die körperlose Vergewisserung über elektronische Daten- verarbeitungssysteme?
Manellas Hand verschmilzt mit dem Lederbezug eines Roadster-Lenkrads, das Auto fühlt sich an wie ein Tier, auf dem Weg über die Alpen, an Seen entlang, ja nicht durch die Betonwannen des Tessins. Manellas Hand berührt Privatstrandkiesel an der italienischen Riviera, prüft die Wassertemperatur, winkt einer goldblonden Frau zu, fährt ihr wenig später durchs Haar, so fest, so weich. Öffnet eine Flasche Wasser, zieht den Korken aus einer Flasche Wein, schneidet Brot und Salami, so einfach und gut. Abends ruht Oswald Manellas Hand auf bestem Papier, es unwillkürlich prüfend, darüberstreichend, dem Auge versichernd, dass es richtig sieht, dass da ein teurer Bildband im Schoß liegt, dass da Klarlack über den Bilderdruck gelegt wurde, kein kluger Zug des Verlegers, Manellas Hand klappt das Buch zu, kommt auf dem Leinenbezug des Sofas zur Ruhe. In Erwartung des Meeresrauschens, doch da ist nichts, es ist zu weit weg. Will schon die Fernbedienung greifen, doch dann kommt Sie, vielleicht seine Frau, und bietet neue Eindrücke, feste, saubere und weiche. Sie fühlt sich an wie das Richtigste, wie das Beste auf der Welt und das stimmt auch, es ist wahr. Ihr Körper sagt Oswald Manellas Hand, dass sie beide lebendig und hier sind. Das wiederum ist gut, denn die Hand hat kein Erinnerungsvermögen, sie ist ein Organ der Bestätigung.
Das Auge sieht ja nur, ohne die Hand lebt es im Zustand des ewigen Verdachts einer umfassenden Täuschung. Und weil Oswald Manellas Hand im vollen Bewusstsein dessen bewegt wird, muss sie immer wieder zugreifen.



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Texte: Frankfurter Verlagsanstalt ISBN:978-3627001612
Tag der Veröffentlichung: 02.08.2010

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