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PROLOG: BILDBESCHREIBUNG




In der linken oberen Ecke des achtzig Zentimeter hohen und einen Meter breiten Gemäldes ist eine wie eine Niere geformte Wolke zu sehen, aus der ein Lichtkegel auf eine Kaimauer fällt; hinter dieser ragt ein Leuchtturm empor, bei dem es sich auch um den Geschützturm eines im Hafen ankernden Zerstörers handeln könnte. Am rechten Bildrand eine Strandpromenade, flüchtig skizzierte, nur durch Umrisse angedeutete Häuser und Hotels, gruppiert um eine im Schatten dämmernde Kirche, über die sich ein Getreidesilo erhebt.
Im Mittelpunkt des Bildes steht die das Hafenbecken umschließende Bucht, am unteren Bildrand links ein Streifen gelber Sand mit einem zum Meer schauenden Menschenpaar: Die Frau trägt einen Regen- oder Sonnen- schirm und ein helles Kostüm, wie es in der Belle Époque Mode war, während ihr Begleiter, ein braun gekleideter Herr, ein Fernglas ans Auge führt. Am unteren Bildrand rechts ist ein zinnoberrotes Zelt aufgeschlagen, vielleicht ein Strandkorb, vor dem ein Mann im dunklen Anzug auf einem Liegestuhl sitzt, in die Lektüre einer aufgeschla- genen Zeitung vertieft.
Auf halbem Weg zwischen dem Zeitungsleser und dem Eheoder Liebespaar sind gebückte Männer in weißen Hosen zu sehen, die Austern oder Schnecken von durch die Ebbe freigelegten Steinen klauben, und auf der Mittelachse des Bildes, noch immer am unteren Rand, steht mit wehender Jacke, auf den ersten Blick kaum zu erkennen, der Künstler vor seiner Staffelei und malt.
Er blickt auf das mit Schaum gesprenkelte, in Wellen anbrandende Meer, durch das auf halber Höhe eine Frau im schwarzen Badeanzug schwimmt, während im Vorder- grund rechts ein Mann mit blauer Hose ins Wasser watet, um eine Reuse auszulegen oder einzuholen – das ist nicht genau zu erkennen. Das Zentrum des Gemäldes wird von einem schwarzen Dampfer eingenommen, der mit voller Kraft, wie es scheint, auf den Betrachter zufährt, umhüllt von einer düsteren Wolke, die wie ein schwarzes Loch die auf dem Bild vorhandene Materie aufsaugt und in Antimaterie verwandelt, bis nichts mehr übrig bleibt von Kaimauer und Strandpromenade, Leuchtturm und Kirche, Muschelfischern, Touristen und von dem Künstler an seiner Staffelei.
Der Sinn des Ganzen ist leicht zu erschließen, die Botschaft liegt auf der Hand, denn dies ist das letzte Bild, das Raoul Dufy, nachdem er sein Leben lang Seestücke, Hafen- und Strandszenen gemalt hatte, vollendete, kurz bevor er im März 1953 starb: Le cargo noir

– der schwarze Dampfer – heißt das verstörende Gemälde, das im Lyoner Kunst- museum hängt, und als sei der Titel nicht schon sprechend genug, hat der Künstler sein Werk so kommentiert: »Le soleil au zénith, c’est le noir; on est ébloui, on ne voit plus rien« – die Sonne im Zenit ist schwarz, man ist geblendet, man sieht nichts mehr . . .

ERSTE NACHT:
TAJ MAHAL-HOTEL, BOMBAY, INDIEN



»My officer’s hands can see me in the dark . . .«
(Indische Whiskyreklame)



Als ich aus dem Taj Mahal-Hotel in Bombay auf die Straße trat, sprach mich eine Blumenverkäuferin an, die Maria hieß, aber keine Jungfrau mehr war. So etwa könnte das erste Kapitel meines Romans beginnen. Aber so einfach ist es nicht, denn die Geschichte hat viel früher angefangen, und während ich diese Sätze zu Papier bringe, schreibt sie sich selber fort – wie die sich unaufhörlich aus sich selbst hervorbringende und wieder in sich selbst zurück- nehmende Brandung des Indischen Ozeans. Wie soll ich dem Leser die Gerüche und Geräusche des Straßen- verkehrs von Bombay vermitteln, das nicht enden wollende Hupkonzert und die Wellen von Hitze und Wolken von Autoabgasen, durch die ich mir hustend einen Weg bahne, verfolgt von Taxifahrern und Touristenführern, die mir unverständliche Obszönitäten nachrufen, betäubt vom Lärm der Lastwagen und Busse, die mit verbranntem Dieselöl die Luft verpesten, und geblendet von dem durch Smog gefilterten, flirrenden Sonnenlicht, das Häuser, Straßen und Plätze wie Leopardenfelle sprenkelt und Autos, Motorroller und Rikschas mit einer schlierigen oder schmierigen Staubschicht überzieht.
Mein Hemd ist nass geschwitzt, als ich in den kühlen Schatten des Gateway of India eintauche und mich aufatmend an eine der in den Bergen von Ghat gebrochenen Basaltsäulen lehne. Das dreiflügelige Tor, durch dessen Mittelgang der König von England, George V., am Arm seiner Gattin geschritten sein soll, weist aufs Meer hinaus, über das griechische, persische, portugie- sische und britische Eroberer kamen, um Indien zu unterjochen; der Subkontinent lag ihnen zu Füßen, und das Gateway of India bezeichnete den Punkt, an dem das besiegte Land die Schenkel spreizte, um die fremden Herren ungehindert eindringen zu lassen. Unter einem ziselierten Spitzbogen, der besser in einen gotischen Dom gepasst hätte, stand ein braunes Mädchen mit Blumengirlanden im Arm, deren weiße Blüten mit seinem schwarzen Haar kontrastierten; die Kleine lächelte mich an, schüchtern, wie mir schien.

»Wie heißt du?«

»Ich heiße Hans. Und du?«

»Maria. Ich bin Christin.«
Zum Beweis spreizte sie die rechte Hand, auf die, zwischen Daumen und Zeigefinger, ein Andreaskreuz tätowiert war.

»Was machst du hier?«

»Ich verkaufe dir Blumen.«

»Ich brauche keine Blumen.«

»Dann gib mir Geld.«

»Wie viel?«

»Das liegt an dir. Ich bin keine Bettlerin. Warte einen Augenblick!«

Sie verschwand im Schatten einer Säule und kam erst wieder zum Vorschein, als ein Polizist außer Sichtweite war, der mit unter dem Arm geklemmtem Bambusstock die Durchfahrt inspiziert hatte.

»Hier bin ich wieder. Gib mir etwas. Oder kauf Blumen von mir.«

»Ich kaufe keine Blumen. Warum hast du Angst vor der
Polizei?«

Sie lächelte. Wenn Inder sich unsicher fühlen, lächeln sie.

»Gib mir Geld. Ich muss Milchpulver kaufen für meinen
kleinen Bruder.«

»Was kostet das Milchpulver?«

»Hundert Rupien.«

»Das ist viel Geld.«

»Ein halbes Kilo kostet nur fünfzig Rupien.«

»Wie alt ist dein kleiner Bruder?«

»Zwei, nein, er ist erst anderthalb.«

»Und wie alt bist du?«

»Ich bin fünfzehn, nein, sechzehn Jahre alt.«

»Du lügst. Du bist höchstens dreizehn.«

Wieder lächelte sie.

»Du bist ein hübsches Mädchen.«

»Das sagen alle Ausländer. Ich hätte lieber helle Haut wie du. Bist du Japaner?«

»Nein, Deutscher.«

»Du lügst.«

»Woher weißt du das?«

»Du siehst nicht wie ein Deutscher aus. Deutsche haben blaue Augen und blondes Haar.«

»Ich lade dich zu einem Glas Fruchtsaft ein. Oder möchtest du lieber einen Milkshake?«

»Das geht nicht. Ich bin noch zu jung, um in eine Bar zu gehen – schon gar nicht in Begleitung eines Ausländers. Komm mit mir!«

Sie nahm mich an der Hand, und das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, steigerte die Erregung, die ich empfand, während sie mich durch Hinterhöfe und gewundene Durchgänge, vorbei an schwelenden Abfallhaufen zu einem mit Plastikmüll übersäten Strand führte, auf dem streunende Hunde schnüffelten und Krähen hin und her hüpften. Ein penetranter Geruch nach Scheiße lag in der Luft. Ich presste mir ein Tempotaschentuch vor die Nase.

»Hier«, sagte Maria und blieb vor einem nach Urin stinkenden Bauzaun stehen, »hier sieht uns keiner. Gib mir ein Taschentuch. Soll ich es mit der Hand oder mit dem Mund machen?«

2



Am Tag zuvor war ich, aus Berlin kommend, am Frankfurter Flughafen umgestiegen in die Lufthansa-Maschine nach Mumbai, das damals noch Bombay hieß. Obwohl die Stewardess mich nach Vorlage meiner Miles-&-More-Karte auf Business Class umgebucht hatte, wo die Beinfreiheit größer war als in der Touristenklasse, fiel es mir schwer, mich auf den in Fraktur gedruckten Text zu konzentrieren, den ich aus einem alten Buch fotokopiert hatte, um ihn während des Fluges zu lesen.

»Der Anblick Bombays vom Meer her ist äußerst male- risch«, hieß es im Baedeker von 1886: »Links erhebt sich das Fort, rechts Inseln, mit grünen Pflanzungen geschmückt; tiefer unten erblickt man den Hafen mit seinem Leuchtturm, im Hintergrund die im Dunst ver- schwimmenden Konturen der Ghats. Es gibt ein deutsches Konsulat, eine anglikanische und eine katholische Kirche, eine Synagoge, einen botanischen Garten und Hospitäler für Christen, Moslems und Hindus (auch für Tiere). Die Europäer wohnen inmitten
üppiger Gärten auf dem Malabar Hill, auf dessen höchstem Punkt sich die Türme des Schweigens befinden, wo die Parsen ihre Toten bestatten.«

»Alles genau wie damals«, sagte ein neben mir sitzender Biochemiker aus Bombay, der bei Bayer Leverkusen in Köln angestellt war und nach zwölf Jahren zum ersten Mal seine Heimatstadt wieder besuchte. »Alles genau wie damals – nur die Einwohnerzahl hat sich verdoppelt, und die Abwässer von sechzehn Millionen Menschen fließen ungeklärt ins Meer.«

»Mitsamt der Scheiße«, rief ein am Fenster sitzender deutscher Geschäftsmann, der nach eigenem Bekunden Bombay wie seine Westentasche kannte. Er esse lieber Basmati-Reis als Pommes frites, fügte er nach einer Pause hinzu, aber der Inder hatte ihn falsch verstanden und fragte: »Mit oder ohne Mayonnaise?«
Bevor das Missverständnis aufgeklärt werden konnte, setzte der Airbus zur Landung an.

3



Das Hotelzimmer war kalt wie eine Tiefkühltruhe, aber in dem mit tropischen Stauden bepflanzten Innenhof war es schwülwarm, und ich zog das Jackett wieder aus, das ich nach dem Duschen übergestreift hatte, und nippte an dem von einem Sikh mit schwarzem Turban servierten Willkommensdrink, Mango-Lassi mit Old Monk – so hieß der indische Rum. Beim Hinaustreten auf die Straße zuckte ich zurück vor der feuchtheißen Luft, die Krischna, Kali oder wer auch immer für das indische Wetter zuständig war, mir wie ein nasses Handtuch um die Ohren schlug. Schon nach wenigen Schritten war ich in Schweiß gebadet, während ich, umkurvt von hupenden Autos, einen breiten Boulevard überquerte und mich in labyrinthischen Gassen verlief, ohne zu wissen, ob ich mich in einem Basar, einem Slumviertel oder einem Rotlichtbezirk befand. Reste von Bürgersteigen waren zu erkennen, Schlammpfützen, die ich weiträumig umschlich, Wellblechhütten und ein nicht zu Ende gebautes Haus, hinter dessen Gitterfenster ein nacktes Kind Grimassen schnitt. Eine Frau wrang einen Sari aus, ein Bettler spuckte Blut, bei dem es sich auch um Betelnusssaft handeln konnte, und auf einem Flachdach bauschten sich weiße Bettlaken, während aus einem defekten Kanalrohr schwarzes Wasser über meine Schuhe schwappte.

Hier sollte Alfred Döblin Berlin Alexanderplatz

neu schreiben, dachte ich, während ich die Inschriften auf Ladenschildern und Namen von Geschäften in mein Ringbuch notierte:
All India Fisherman’s Bank – Eros Beauty Saloon – Shiva’s Water Supply – Thumbs Up Tandoori Chicken – No Photographs Please. Beim Gedanken an Günter Grass und Salman Rushdie klappte ich den Notizblock zu und bat einen schmutzig grinsenden Typ, der sich an meine Fersen geheftet hatte, mich zum India Gate zu geleiten, ohne zu wissen, ob der verdächtig aussehende junge Mann ein Dieb oder ein Zuhälter war – vermutlich beides zugleich.

4



»Gib mir ein Taschentuch. Hier sieht uns keiner. Soll ich es mit der Hand oder mit dem Mund machen?«

»Du sollst gar nichts machen. Hier sind hundert Rupien, damit du für deinen kleinen Bruder Trockenmilch kaufen kannst. Der Rest ist für dich«, hörte ich mich sagen, und im selben Augenblick bereute ich meinen Entschluss. Aber es war zu spät, denn Maria – falls sie wirklich so hieß – war
geistesgegenwärtiger als ich, riss mir das Geld aus der Hand und verschwand genauso schnell, wie sie aus dem Nichts aufgetaucht war. Einem spontanen Impuls folgend, rannte ich hinter ihr her, aber beim Verlassen des Gateway of India traten mir zwei mit Bambusstöcken bewehrte Polizisten in den Weg und wollten wissen, wen oder was ich suchte.
»Es gibt viele Blumenmädchen in Bombay«, sagte einer der beiden, während der andere in meinen Papieren blätterte, »warum muss es unbedingt diese eine sein?«

Der Polizist pfiff anerkennend durch die Zähne beim Anblick des amerikanischen Visums in meinem Pass. »Sie kennen die Welt«, fügte er hinzu, nachdem sein Kollege sich entfernt hatte, »und Sie sollten wissen: Nicht überall, wo Maria draufsteht, ist Maria drin. Hier ist meine Telefon- nummer. Wenn Sie Sex mit Minderjährigen wollen, wenden Sie sich vertrauensvoll an mich!«

Er befeuchtete mit der Zungenspitze seinen Schnurrbart, als spreche er von einer kulinarischen Spezialität, und gab mir augenzwinkernd den Pass zurück.

5



Als ich an der Rezeption des Taj Mahal-Hotels den Zimmerschlüssel verlangte, reichte mir der Nachtportier einen Zettel mit der Nachricht »Dr Gilada has called / Will call again«.
Früh am Morgen hatte ich vergeblich versucht, Dr. Gilada zu erreichen.

»Welchen Dr. Gilada wollen Sie sprechen«, hatte die Sekretärin der Universitätsklinik am Telefon gefragt,
als gäbe es mehrere Ärzte, die so hießen, Gilada junior und senior vielleicht. Oder war es eine zufällige Namens- gleichheit?

»Ich möchte den Aids-Spezialisten sprechen!«

»Etwas Geduld, bitte.« Als ich Dr. Gilada beim dritten Versuch endlich erreichte, wurde das Gespräch, noch bevor ich Zeit gefunden hatte, ihm mein Anliegen vor- zutragen, mitten im Satz unterbrochen durch eine tech- nische Panne oder durch höhere Gewalt. Jetzt aber klingelte, als ich den Duschraum betrat, um mir den Dreck der Millionenmetropole vom Leib zu spülen, hektisch das Telefon, und die Rezeptionistin teilte mit, ein Dr. Gilada warte in der Hotelhalle auf mich.

»Auf der Falkland Road leben und arbeiten 70 000 Prostituierte – die genaue Zahl kennt keiner«, sagte der aus einer Brahmanenfamilie stammende Arzt, der Bedürftige kostenlos behandelte und ein Programm zur Eindämmung der Aids-Epidemie ins Leben gerufen hatte: Die Frequenz der Sexualkontakte im Rotlichtmilieu sei so dicht, dass die Seuche sich explosionsartig ausbreite. Erst kürzlich – Dr. Gilada nippte an seinem Tee – erst kürzlich sei ein Geschäftsmann aus einem Bürohochhaus in den Tod gesprungen, weil er seine Frau und sein neugeborenes Baby mit Aids infiziert habe.

»Sechzig Prozent aller sex workers

sind HIVpositiv,
Tendenz steigend, aber nur ein Zehntel wird statistisch erfasst, medizinisch untersucht und mit Kondomen oder Medikamenten versorgt. Polizei und Behörden sind bestochen oder schauen weg.«
Dr. Gilada nahm die Brille ab, schloss die Augen und rieb eine wie ein Fragezeichen gekrümmte Falte über seiner Nasenwurzel.

6



Wir fuhren im Auto des Doktors in den Rotlichtbezirk von Bombay, der sich von der Falkland Road in die angrenzenden Straßen erstreckte – eine No-Go-Area und ein Staat im Staate, der eigenen Gesetzen unterlag. Links ein Meer von Kerzen in einem Hindutempel, vor dem Kinder anstanden, um sich Hände und Gesichter bunt färben zu lassen – morgen war das Fest der Freude, und an den Straßenecken lauerten Jugendliche, die sich einen Spaß daraus machten, Vorübergehende mit roter und gelber Farbe zu beschmieren.
Rechts eine Moschee, in deren grüner Dämmerung
Moslempatriarchen mit bestickten Mützen und langen Bärten knieten und mit hochgereckten Hintern beteten, die Köpfe nach Westen, in Richtung Mekka, gewandt.

»Wir arbeiten mit den Puffmüttern zusammen«, erläuterte Dr. Gilada, während er von der Hauptstraße abbog und den Wagen durch ein unübersichtliches Gewirr enger Gassen steuerte.

»Von einundzwanzig untersuchten Patientinnen sind achtzehn HIV-positiv«, rief Dr. Gilada und schwenkte einen gelben Briefumschlag, der die Testergebnisse eines einzigen Tages enthielt. Die Angst vor Aids habe zu Umsatzeinbußen geführt, aber statt kostenlose Kondome zu benutzen, wichen die Kunden zur Victoria Station aus, wo käuflicher Sex billiger sei als auf der Falkland Road.

Am Vortag hatte ich den Bahnhof besucht, und der einstige Stolz des Britischen Empire war mir wie der Einstieg zur Hölle erschienen: Vorortbahnen mit offenen Waggons, in denen die Passagiere wie Vieh zusammengepfercht reisten, und Überlandzüge mit abgeschabten Holzbänken – Polstersitze gab es nur in der ersten Klasse. Noch ekelerregender als der Zustand der Bahnhofstoilette war der Gestank des das Gelände umschließenden Gitterzauns, an dem Tausende von Männern ihr Wasser abschlugen – die Harnsäure hatte die Eisenstäbe verätzt.

»Haben die Freier keine Angst vor Aids?«

»Viele von ihnen sind Analphabeten, Slumbewohner oder
Tagelöhner aus der Provinz. Ihre Lebenserwartung ist kurz – denen ist alles egal.«

»Herbergsmutter ist ein besseres Wort dafür. Die Phais sind ältere Prostituierte, die zwischen zehn und hundert sex workers

betreuen. Sie kontrollieren Einnahmen und Ausgaben, schlichten Streitfälle, kümmern sich um Essen und Kleidung, sorgen für ein Minimum an Hygiene und sind eine Art Mutterersatz, weil sie die Sorgen und Nöte der Mädchen am besten kennen.«

Einem ungeschriebenen Gesetz zufolge kämen die sex workers

stets von außerhalb, fuhr er fort, in diesem Fall aus Nepal oder aus Bangladesh. Kleine Kinder würden von ihren Eltern verkauft, an Schlepperbanden vermietet und von Zuhältern zur Prostitution gezwungen. Die meisten hätten nie eine Schule besucht und nur gelernt, ihren Freiern zu Willen zu sein, ganz egal, was die von ihnen verlangten.


1. Auflage 2009 © Frankfurter Verlagsanstalt GmbH, Frankfurt am Main 2009

Impressum

Texte: Frankfurter Verlagsanstalt ISBN: 978-3627001643
Tag der Veröffentlichung: 28.07.2010

Alle Rechte vorbehalten

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