ROMANTISCHER MAIN
Sonntag, 31. Oktober
Zu Beginn dieses unerwartet milden Herbsttages trat ein hochgewachsener Mann am Mainufer langsam aus dem
Schatten der Bäume in die Morgendämmerung. Es hatte
die ganze Nacht geregnet, auf den durchnässten Wegen
stand Wasser. Weiße Nebelschleier zogen über die Mitte des grauen Flusses. Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne setzten in den Baumkronen glitzernde Lichtpunkte auf die feuchten Blätter. Nach Osten zur Gerbermühle hin, über Offenbach, zeigte sich ein rosa gefärbtes Wolken- band.
Am Molenkopf lag das Feuerlöschboot, die leblosen
Verladekräne des verlassenen Schrottplatzes krümmten
sich über dunkle Haufen ineinander verschachtelter Eisenarmierungen. Der Rost auf den Verbundeisen, Röhren und Stangen begann im Morgenrot sacht zu glimmen.
Nach Westen hin erhob sich die Skyline der Frankfurter Banken vor dem Morgenhimmel und wurde zusehends in das erst zartorangefarbene und dann gelbliche Licht des heraufziehenden Tages getaucht. Regelrecht angestrahlt ragten die Hochhäuser aus der Mitte der Stadt, links hinter dem fahlroten Sandsteinturm des Doms, als seien sie soeben herabgeschwebt von einer entfernten Gala xie und hätten mit den staksigen 50er-Jahre-Bauten um sich herum nicht das Mindeste zu schaffen. Der kräftig
gebaute Mann mit den spöttischen Gesichtszügen war
in den Schatten zurückgetreten und wartete.
Von der Flößerbrücke her kamen zwei Frauen in bunten
Freizeitanzügen festen Schrittes auf die Baumgruppe
zu, an deren Beginn die asphaltierte Promenade endet
und als Pfad weiter in Richtung Rudererdorf und Gerber- mühle verläuft, wo Johann Wolfgang von Goethe 1814, damals schon im heutigen Rentenalter, mit der 35 Jahre jüngeren Marianne von Willemer eine berühmt gewor- dene Beziehung eingegangen war. Der Frankfurter Bankier Willemer hatte das Mädchen im Kindesalter in sein Haus geholt, was zu reichlich Gerede Anlass gegeben hatte.
Der Mann im Schatten schaute noch immer unverwandt
hinüber zu den Glasfronten der Skyline, die jetzt in gleißender Spiegelung die stärker gewordenen Sonnen- strahlen über die Stadt und den Fluss zurückwarfen. Er wandte sich nach rechts und sah ahnungslos lächelnd, wie der Tod auf ihn zutrat.
Die junge Frau war in locker gleitenden Bewegungen
herangelaufen. Sie hatte ihn schon von weitem gesehen.
Die gerade Gestalt, das herrisch nach vorne geschobene Kinn, die in die Hüften gestemmten Hände. Sie wurde ganz ruhig, ihr Atem ging gleichmäßig. Er sah ihr entgegen und war sichtlich zufrieden. Sie hauchte ihm einen Begrüßungs- kuss auf die Lippen, den er ausdehnen wollte, aber sie entzog sich seiner Umarmung, dirigierte ihn mit einer Kopfbewegung und einem kleinen Lachen hinunter zum Ufer, wo die Büsche Deckung versprachen. Als die letzten Zweige sich hinter ihm und seiner Begleiterin geschlossen hatten, war es, als seien sie nie an diesem Ort gewesen.
Er umarmte die junge Frau fester. Sie erwiderte seinen Kuss, wich dann aber zurück, er folgte der Bewegung, beugte sich zu ihrem Gesicht. Sie flüsterte etwas. Er lächelte und begann sich auszuziehen. Sie sah zu, hielt ihm eine kleine Plastikflasche hin, und als er die nahm, zog sie
langsam ihr Oberteil über den Kopf und gab zwei volle
feste Brüste frei, nach denen der Mann mit der rechten Hand griff, während er mit der linken trank, ohne seinen Blick von der jungen Frau abzuwenden. Die Wirkung trat augenblicklich ein. Der Mann erstarrte, sackte langsam in sich zusammen, saß dann wie gelähmt mit hängenden Armen, starrte auf den Fluss und schien seine Begleiterin kaum noch wahrzunehmen. Die halbleere Flasche war ihm entglitten und trudelte die Böschung hinunter, wo
die junge Frau sie auffing, ehe sie im Wasser landete. Dann drehte sie sich um, löste ein Messer aus ihrer Gürtel tasche und ging langsam auf den Mann zu, der inzwischen schwer atmend mit weit geöffneten Augen auf dem Rücken lang.
Die ersten Schnitte setzte sie präzise, dann stach sie einfach nur auf ihn ein. Auf dem Main zog der erste Ausflugsdampfer vorbei.
Kurz darauf erreichten die beiden Walkerinnen, in ein
heftiges, von spitzem Lachen unterbrochenes Gespräch
vertieft, den dichter bewachsenen Teil des Ufers. In hochpreisigen Laufschuhen, zweifarbig abgesetzten Leggings, mit Handytasche am Gürtel, dazu passenden Funktionsshorts und leichten Kapuzenjacken gegen die Morgenkühle, an den Gelenken Pulsmesser und in den Händen Skistöcke, wie sie beim Nordic Walking uner- lässlich sind. Mit für ihre Leibesfülle erstaunlicher Geschwindigkeit tauchten sie entschlossenen Schrittes in das Halbdunkel unter den Bäumen ein.
In diesem Augenblick kam hinter ihnen ein groß ge- wachsener Läufer schnell heran, dem ein dumpfes Dröhnen von Technobässen vorauseilte. Das rhythmische
Stampfen drang mit einer derartigen Lautstärke aus seinem Kopfhörer, dass die beiden Frauen ihre Unter- haltung unterbrachen, als der Mann sie kurz vor der Eisenbahnbrücke passierte, die an dieser Stelle den Main quert. Dann in der Unterführung stieß er einen lang- gezogenen Schrei aus, der nichts ähnelte, was sie jemals gehört hatte, wie eine der beiden Frauen bei ihrer Vernehmung später aussagte, außer vielleicht dem gurgelnden Geheul von Lisa, der Boxerhündin ihrer Nachbarn, als die in der Garageneinfahrt irrtümlich angefahren worden war und dann von der Polizei erschossen werden musste, das arme Tier. Dieser Vergleich sei ihr aber erst viel später eingefallen.
In dem fraglichen Augenblick selbst hätten ihre Freundin und sie dem sich schnell entfernenden Läufer nur ver- dattert nachgeschaut, zunächst stumm, weil ein schier endloser Güterzug über die Brücke fuhr und mit seinem Geratter alle anderen Geräusche übertönte. »So was gibt es, unter Brücken alles herausbrüllen«, hatte sie gesagt und ihre Freundin habe an eine Filmszene aus »Cabaret« erinnert, in der Liza Minelli im nächtlichen Berlin S-Bahn-
Brücken geradezu sucht, um sich im Schutz des Lärms
die Seele aus dem Leib zu schreien.
Dann habe sich das Gespräch schnell auf die Minelli
konzentriert und wie aufgedunsen die aussehe, was bei
ihrer Alkoholsucht auch kein Wunder sei, schade drum,
wo sie doch so begabt und hübsch gewesen sei, aber das Kind berühmter Eltern zu sein könne schon eine schwere Bürde bedeuten. Womit man dann auf das Eltern-Kind- Verhältnis ganz allgemein gekommen sei und auf dem Rückweg – selbst unter der Brücke – schon gar nicht mehr an diesen Vorfall gedacht habe.
MORGENSTUNDE
»Guten Morgen Frankfurt, es ist 8:30 Uhr an einem supercoolen Sonntag, dem 31. Oktober, dem Tag der Tage«, plärrte eine viel zu junge und viel zu wache Stimme aus dem Radiowecker. Bärlinger warf sich ächzend auf die andere Seite des Bettes, versuchte mit der rechten Hand auf das Plastikgehäuse zu schlagen, bekam das lärmende Teil schließlich zu fassen und riss den Stecker aus der Dose.
Vorher hatte die Stimme noch was von Frankfurt- Marathon erzählt und dass man in Kürze direkt zu Klaus- Peter und Marion schalten würde, die heute beide das erste Mal dabei seien und sicher schon ganz aufgeregt an ihren vitalkraftspendenden Müsliriegeln knabberten. Die Marke kriegte Peter Bärlinger nicht mehr mit. Er stand leicht benommen mit Schnur und Stecker in der Hand vor seinem Bett, das Radio lag stumm auf dem Teppich.
Er tappte zum Balkonfenster und schob es auf. Die
kühle Morgenluft brachte ihn zur Besinnung. Er atmete
mehrfach tief ein und aus. Auf dem Main zog erstaunlich früh ein erster Ausflugsdampfer vorbei, auf der feuchten Uferwiese machte eine schwarz gekleidete Gestalt wie in Zeitlupe abgezirkelte Arm- und Fußbewegungen. Zwei Frauen mit wackelnden Riesenhintern, die in rhythmischen Bewegungen Skistöcke in den Asphalt schlugen, stakten vorbei. Bärlinger betrachtete das seltsame Treiben mit verschlafenen Augen und fand in der Sinnkrise vor dem ersten Kaffee alles absurd: sich selbst ebenso wie die zur Skyline aufeinandergetürmten Büroschachteln, mit den Golden Boys der Investment- banken in Käfighaltung.
In den letzten Jahrzehnten hatten sie unvorstellbar hohe Milliardenbeträge immer hektischer gewinnbringend rund um die Erde gejagt, was die globale Geldmenge vervierzig- fachte.
Die Menge der Güter hatte sich im selben Zeitraum
aber nur vervierfacht. Diese von Gier getriebene immer schneller rotierende Maschinerie, in der normale Menschen zu Störfaktoren geworden waren, musste irgendwann krachend auseinanderfliegen. Immerhin, bis dahin lebte auch er davon nicht schlecht. Mit Honorar- sätzen, die ihm in der Stunde mehr einbrachten als einem Hartz-IV-Empfänger in einem Monat.
Allein die Aussicht auf die Stadt hatte den Preis seiner Vier-Zimmer-Wohnung auf dem alten Schlachthofgelände in unanständige Höhen getrieben. Ganze Stadtteile hatten die Spekulanten dort drüben plattgemacht für die verglasten Betonklötze. In wunderbare Jugendstilvillen war die Abrissbirne gerumst, Wohnhäuser verschwanden im Dutzend. Randale hatte es deshalb gegeben in der Stadt, und nicht zu knapp, und den einzigen wirklichen Theater- skandal der Bundesrepublik anlässlich eines schlecht geschriebenen Bühnenstücks, in dem ein Spekulant auftrat, der nur als »der reiche Jude« tituliert wurde. Jeder in Frankfurt wusste damals, wer damit gemeint war. Der Betroffene auch: Die Aufführung wurde verhindert.
Die Hausbesetzer und Streetfighter von damals sind
inzwischen feine Leute. Verleger ist der eine, der andere leitet als Edelgastwirt ein sauteures Varieté, ein paar sitzen in irgendwelchen Parlamenten, einer, der einen Teil des väterlichen Erbes den Vertretern der Weltrevolution im fernen Vietnam vermachte, ist bei den Vereinten Natio- nen, einer wurde Kabarettist, andere sind Botschafter,
und einer der Steinewerfer hatte es zum Außenminister
gebracht. Zu einem international ziemlich anerkannten
sogar. Bärlinger selbst, damals eher ein jüngerer Bewunderer insbesondere des weiblichen und für ihn wegen des Altersunterschiedes unerreichbaren Teils der revolutionären Bewegung, ist Wirtschaftsanwalt geworden und arbeitet in einer Kanzlei mit Sitz in einer der damals umkämpften, heute teuer renovierten Villen. Eine Stütze des Schweinesystems, wie eine seiner vielen Fast- Schwiegertöchter, an deren Namen er sich nicht mehr erinnern konnte, mal wegwerfend gesagt hatte. Sein Sohn hatte das Mädel mit einem entschuldigenden Blick aus dem Zimmer geschoben, was er dem Jungen hoch angerechnet hatte.
Bärlinger ließ den Blick noch einmal über Frankfurt
gleiten. Das Beste an den ganzen Betonburgen ist sowieso das Herrenklo im 36. Stock der Commerzbank mit Fenstern vor jedem Pissoir. Da haben die Herren Direktoren dann das schöne Gefühl, auf die Konkurrenz herunterzuschiffen.
Frauen gibt es in diesen Läden ja ohnehin kaum, und wenn, nur in den unteren Etagen. Und die pinkeln sowieso im Sitzen, die wissen gar nicht, was ihnen entgeht, dachte Bärlinger, noch ehe er sich eine Chauviwarnung zurief.
Unter der Dusche war er schon fast guter Laune. Er
seifte sich kräftig ein, strich über seinen zunehmenden Bauch, dachte an die Verrückten bei diesem Marathon, ließ das warme Wasser mit geschlossenen Augen über Kopf und Schultern laufen, stand eine ganze Weile so da.
Bevor der Zirkus losging, wollte er noch ins Büro. Das war trotz des frühen Aufstehens wegen der überall gesperrten Straßen wahrscheinlich keine gute Idee. An die Strecke musste er auch: Er hatte es versprochen, ein Freund- schaftsdienst.
Mit dem immer so zielstrebigen Schurmann war er
schon in die Schule gegangen, und der hatte ihn, während die anderen Klassenkameraden die ersten neckischen Keilereien anfingen, damals morgens immer noch schnell die Aufgaben abschreiben lassen – obwohl das eigentlich nicht korrekt war, das war Jürgens einziger, allerdings regelmäßig vorgetragener Einwand. Korrekt, das war der Jürgen, und so war er geblieben. Bärlinger war mit den Hausaufgaben ziemlich oft im Hintertreffen gewesen, dafür half sein schnodderiges Mundwerk bei den Mädels. Schurmann hingegen war zurückhaltend, ein schüchterner Musterschüler bis zum Abitur. Auch da war er mit Abstand der Bessere von beiden. Dann hatten sich ihre Wege getrennt, aber immer wieder gekreuzt. Sie hatten sich oft verloren und schließlich wiedergefunden. Ihre besondere Nähe, das Grundvertrauen, war nur einmal erschüttert worden.
Aber das war vorbei. Bärlinger atmete schnaubend aus
und tauchte aus dem Strahl der Dusche auf: »Vorbeier
geht gar nicht«, sagte er laut. Und nun hatte den Jürgen die Angst vor dem Altern gepackt, und er lief diesen Marathon.
Monatelang hatte er Bärlinger genervt mit seinen
Laufgeschichten, und vor allem war er immer schlanker
geworden, fast hager. Schurmann wurde zu einer richtigen Provokation. Plötzlich lehnte er Wein und Bier ab, ließ die Besuche im Winzerausschank oben auf der Säuferbrücke der Kleinmarkthalle bei ihren Wochenendeinkäufen am Samstag aus, aß bei den gemeinsamen Kochabenden nur noch Grünzeug, trank Energiedrinks und ging irgendwie aufrechter, die Frauen guckten ihn auch anders an, behauptete er jedenfalls.
Beim Umdrehen kam Bärlinger mit dem Oberarm an
den Hebel der Mischbatterie, eiskaltes Wasser schoss aus dem Duschkopf, er schrie und tobte, sagte Worte, die seine Ex-Frau nie hätte durchgehen lassen. Die duschte aber auch freiwillig jeden Morgen kalt. Das mache Brüste und Haut straffer, hatte sie immer gesagt, und dagegen mochte ihm so recht kein Argument einfallen.
In seinen Bademantel gewickelt kam Bärlinger ins
Schlaf zimmer zurück und schob den Stecker des Radio- weckers wieder in die Dose. Das Ding war bei 8:30 Uhr stehengeblieben und blinkte wie wild, Klaus-Peter und Marion beschrieben gerade ihr etwas flippiges Lauf-Outfit und kündigten an, sich nun erst mal gemeinsam auf- zuwärmen, was der Moderator mit der piepsigen Klein- Jungen-Stimme ungeheuer witzig fand. Bärlinger ließ dem Sendersuchlauf freie Wahl und landete bei Pavarotti und seiner Donna è mobile. Die Espressomaschine röchelte die letzten Tropfen in die kleine Tasse. Er trank, der Tag konnte beginnen.
1. Auflage 2010 © Frankfurter Verlagsanstalt GmbH, Frankfurt am Main 2010
Texte: Frankfurter Verlagsanstalt
ISBN: 978-3627001681
Tag der Veröffentlichung: 16.07.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Leseprobe