Er warf das angebissene Pizzastück in den Karton und lehnte sich rundum zufrieden auf der Couch zurück. Während er seinen Arm auf der Lehne ausstreckte, sah er mich mit einer Mischung aus Frage und Aufforderung an. Eine Aufforderung, der ich nur zu gerne nachkam. Ich schluckte meinen letzten Bissen hinunter und kuschelte mich an seine Seite. Es war einer dieser Abende, an denen man die Welt am liebsten angehalten hätte, weil alles zu stimmen schien. Für einen flüchtigen Moment schien alles perfekt zu sein und man fragte sich, wieso es nicht ewig so bleiben konnte.
„In zwanzig Minuten muss ich los“, meinte er plötzlich nach einem kurzen Blick auf die Uhr und zerstörte damit die Illusion.
Mein Magen zog sich zusammen. „Ich weiß“, flüsterte ich. „Ich wünschte, du müsstest nicht.“
Einen Moment lang sah er mich an und in seinen Augen lag ein Ausdruck, den ich nicht zu deuten vermochte. Wieder einmal wünschte ich mir, in seinen Kopf sehen zu können.
„Ich auch“, erwiderte er schließlich. „Aber ich muss.“
Meine Augen begannen zu brennen. Damit er mein Gesicht nicht sehen konnte, kuschelte ich mich wieder an ihn. Noch enger, als zuvor. Ich konnte nicht verhindern, dass sich ein Kloß in meinem Hals bildete – versuchte, ihn einfach runterzuschlucken, doch es gelang nicht.
„Hey.“
Er merkte es immer, wenn ich anfing zu weinen. Obwohl ich mich stets so bemühte, es ihn nicht sehen zu lassen; aber er konnte es irgendwie spüren, wenn ich traurig war. Ich verstand selbst nicht, warum sich meine Stimmung plötzlich so verändert hatte. Er musste nach Hause, das war nichts Tragisches. Wir würden uns wieder sehen. Es war ein wunderschöner Tag gewesen. Aber der Tag konnte nicht ewig so weitergehen. Und das machte mich traurig.
„Hey“, wiederholte er, als er sah, dass mittlerweile tatsächlich eine Träne über mein Gesicht lief. „Es war doch echt schön heute, oder?“
Ich nickte wortlos.
„Und nächstes Mal machen wir einfach weiter, wo wir heute aufhören.“ Es klang nur wie ein schwacher Trost, aber ich konnte ihn ja nicht hierbehalten. Also nickte ich wieder.
„Glaubst du, wir können befreundet sein, wenn das zwischen uns irgendwann mal vorbei sein sollte?“ Wieder bedachte er mich mit diesem nicht identifizierbaren Blick und schwieg. Warum sprach ich immer sofort aus, was mir durch den Kopf ging?
„Daran will ich im Moment gar nicht denken“, brach er schließlich die Stille. Er lächelte und küsste mich sanft. „Ich glaube“, meinte er dann, „ich sollte jetzt besser fahren.“
In diesem Moment hörte ich Schritte vor der Haustür und einen Schlüssel, der im Schloss gedreht wurde. Ich sprang auf und lief in den Flur. Er folgte mir.
Mein Freund stand in der offenen Wohnungstür und lächelte uns beide an.
„Hey.“ Ich hielt mich an seinem Hemd fest, um mich nach oben zu ziehen und begrüßte ihn mit einem Kuss. „Paul wollte grade fahren, seine Freundin wartet schon.“
„Oh.“ Mein Freund wirkte ein bisschen enttäuscht. „Dann richte ihr liebe Grüße aus.“
Dieses Mal hatte er eine gute Idee. Davon war er überzeugt. Die letzten Tage waren etwas enttäuschend gewesen, er war auch selbst nicht von seinen Vorschlägen begeistert gewesen. Aber heute… Heute würde mit voller Überzeugung vor die anderen treten können und ihnen von seiner Idee berichten. Vor seinem inneren Auge sah er schon seine Kollegen, wie sie ihm anerkennend zunickten. Vielleicht würde ja sogar jemand lachen. Sein Chef würde ihm zu dem guten Vorschlag gratulieren. Ihm vielleicht sogar auf die Schulter klopfen. Und morgen müssten sie sich alle an seiner Idee messen lassen. Sie würden nachhause gehen, neidvoll, weil ihnen die Idee nicht selbst gekommen war. Zwar würden sie es ihm nicht zeigen, aber sicher würden sie hinter seinem Rücken tuscheln. Sicher würde er ihren Neid zu spüren bekommen. Aber war das vielleicht seine Schuld? Konnte er etwas dafür, dass ihm heute diese geniale Idee gekommen war? Kreativität besaß man oder man besaß sie eben nicht. Sicher, wenn sich die anderen etwas mehr anstrengten, schafften sie es vielleicht beim nächsten Mal auch, eine gute Idee zu liefern. Aber gegen diese Idee – seine Idee – würden sie noch eine ganze Zeit lang nicht ankommen können.
Er hörte es praktisch schon, wie die Moderatoren am nächsten Tag im Radio über sein Thema sprechen würden. Wie sie lachen würden. Vielleicht würde er die Anerkennung, die ihm zustand, nicht nur in der Konferenz bekommen. Vielleicht würden sie sie mit der Welt teilen und in der morgigen Sendung darauf hinweisen, dass dieses Thema ein von ihm vorgeschlagenes war. Das wäre eigentlich das Mindeste… Schließlich sog er sich Tag für Tag aufs Neue Themen aus den Fingern. Was dachte sich sein Chef eigentlich dabei? Er war doch keine Maschine, die man kurz vor der Konferenz anschmeißen konnte und die dann die perfekten Ideen für eine Sendung ausspuckte. Eine nach der anderen. Er könnte auch einfach mal eine kurze Pause gebrauchen. Wenn vielleicht jeder nur eine Idee pro Woche liefern müsste. Das würde den täglichen Druck ungemein nehmen.
Andererseits… Dann hätte er an einem Tag in der Woche dafür umso mehr Druck, den perfekten Vorschlag zu liefern. Oder sieben mittelmäßige, damit man sich dann für den besten entscheiden könnte. Damit wäre es wieder die gleiche Arbeit…
Unmöglich, das Ganze. Wie hatte er sich nur für diesen Job entscheiden können? Was hatte er sich dabei gedacht? Einen Job, in dem erwartet wurde, dass man jeden Tag nur so vor Kreativität sprudelte. Kreativität musste ja schließlich auch gelernt sein… Und ihm hätte diesen Beruf sicher niemand zugetraut. Dabei hatte er ursprünglich ja mal in die Werbung gehen wollen. Aber das wäre vermutlich noch schlimmer gewesen. Werbung… Wie war er denn jetzt auf Werbung gekommen? Berufswunsch… Kreativität… Achja, seine Idee! Seine geniale Idee! Die – verdammt, was war seine Idee gewesen?
Sein Magen verkrampfte sich sofort und er spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Er hatte seine Idee vergessen. Wie hatte das denn passieren können?! Vielleicht, wenn er einfach kurz versuchte, alles rückwärts zu machen, das er gerade getan hatte, bis zu dem Zeitpunkt, an dem ihm sein Themenvorschlag eingefallen war?
Na bitte… Sein Magen entkrampfte sich langsam wieder, doch etwas schlecht war ihm noch immer. Auf keinen Fall durfte ihm das noch mal passieren. Die Konferenz war in 5 Minuten und dann musste er liefern. Bis dahin wäre ihm sicher nichts anderes mehr eingefallen. Wobei… Die besten Ideen waren ihm bisher oft unter Druck gekommen. Wenn er zehn Minuten vor der Konferenz noch immer nicht den Hauch einer Idee hatte und krampfhaft überlegte, was er vorschlagen könnte. In diesen Momenten fielen ihm oft – Halt! Was war die Idee gleich noch mal gewesen? Achja. Lieber schnell aufschreiben, damit er sie ja nicht noch einmal vergessen konnte.
Wo war er? Achja. Direkt vor den Konferenzen, wenn er bereits vor Aufregung zitterte, weil er gleich vorstellen musste, dann kamen ihm oft noch die besten Ideen. Derart genial, dass sie mit der heutigen mithalten konnten. Er wusste, dass seine Kollegen ihn oft um seine guten Vorschläge beneideten. Kreativität wurde einem eben doch in die Wiege gelegt… Nur schade, dass er solche Probleme damit hatte, vor anderen zu sprechen. Sonst hätte er sicher auch das Zeug zum Moderator gehabt…
Die große Glastür wurde geöffnet und er und die anderen nahmen um den Konferenztisch platz. Das gleiche Prozedere wie jeden Tag. Eine Besprechung der bisherigen Sendung. Eine Besprechung der folgenden Sendungen des Tages. Und schließlich die Themensammlung. Einer nach dem anderen wurden seine Kollegen um ihren Vorschlag gebeten.
Er lehnte sich entspannt zurück. Es waren ein paar ganz nette Ideen dabei, doch mit seiner Idee konnte keine davon mithalten. Dabei war sie so naheliegend gewesen. So simpel und doch so genial. Ein kurzer Schock durchfuhr seinen Körper. Seine Haltung änderte sich schlagartig von entspannt zu angespannt. Seine Hände verkrampften sich um seine Armlehnen. Es war ihm ein schrecklicher Gedanke gekommen: Die Idee war so naheliegend – jeder seiner Kollegen hätte darauf kommen können. Eine kurze Recherche im Internet und fertig. Was, wenn jemand, der noch vor ihm an der Reihe wäre, ihm seine Idee stahl? Dann hätte er nichts, dass er vorschlagen könnte…
Angespannt lauschte er den weiteren Vorschlägen seiner Kollegen. Doch niemand stellte auch nur etwas ansatzweise Ähnliches vor… Als der letzte fertig war, atmete er erleichtert aus.
Alle Augen waren nun auf ihn gerichtet. Er spürte, wie sich die üblichen roten Flecken an seinem Hals bildeten; wie jedes Mal, wenn er vor anderen sprechen musste. Dennoch. Diese Idee war Gold wert. Er würde sie mit dem nötigen Selbstvertrauen, der nötigen Überzeugung vortragen können! Und sie würde in Begeisterungsstürme ausbrechen und ihn auf Händen aus dem Konferenzraum tragen!
Er räusperte sich und trug so gefasst wie nur möglich, doch vor innerer Vorfreude bebend, seine Idee vor. Seine Kollegen blickten ihn unverwandt an. Sein Chef legte den Kopf schief, rieb sich den Nacken, zuckte die Schultern und meinte schließlich: „Nette Idee, hatten wir aber letztes Jahr schon.“
Kopfschüttelnd gab ihr die Lehrerin den korrigierten Aufsatz zurück. „Es tut mir leid“, meinte sie, „aber das konnte ich nicht bewerten. Absolute Themaverfehlung…“
Susanne hob den Bogen Papier vom Tisch auf und sah ihn irritiert an. Auf der ersten Seite, neben ihrem Namen, prangte eine große rote Sechs. Dem Mädchen war bereits während des Schreibens bewusst gewesen, dass ihr Gedankengang vermutlich in eine komplett andere Richtung ging, als die Aufsätze ihrer Mitschüler. Dass die Note daher vielleicht nicht ganz dem entsprechen würde, was sie sich gewünscht hätte, aber Themaverfehlung?! Sie wusste auch, dass sie nicht unbedingt die Lieblingsschülerin von Frau Huber war, das beruhte durchaus auf Gegenseitigkeit. Dass sie sie allerdings in einem benoteten Aufsatz durchfallen ließ, weil ihr Susannes Interpretation des Themas nicht gefiel, hätte sie nicht gedacht.
Mit dem letzten ausgeteilten Aufsatz gongte es. Die letzte Stunde des Tages war vorbei und obwohl Frau Huber sich vor ihrem Pult aufgebaut hatte und alle zur Ruhe ermahnte, da angeblich sie die Stunde beendete und nicht der Gong, wurden laut raschelnd Schultaschen gepackt, sodass man die Worte der Lehrerin ohnehin kaum mehr verstand. Ihre Mitschüler strömten Richtung Tür, doch Susanne trödelte noch etwas herum. Als das Klassenzimmer schließlich beinahe leer war, schlich sie langsam zum Pult nach vorne.
„Frau Huber…“, fing sie vorsichtig an.
Ihre Lehrerin blickte auf und Susanne meinte, ein unterdrücktes Stöhnen zu hören. „Es tut mir leid“, wiederholte Frau Huber ihre Worte von zuvor, „aber dein Text ist eine komplette Themaverfehlung. Dafür kann ich keine bessere Note geben.“
„Aber inwiefern ist es denn eine Themaverfehlung?“, wollte Susanne wissen.
Unwirsch streckte ihre Lehrerin die Hand aus und machte eine fordernde Handbewegung. Susanne gab ihr den Aufsatz. Umständlich setzte sich Frau Huber ihre lächerlich kleine Lesebrille auf und hielt das Papier etwas weiter von ihren Augen weg.
„Also“, meinte sie, während sie so tat, als würde sie den Text noch einmal überfliegen. „Die Aufgabe war, ‚Schreibe über Gut und Böse’. Alle anderen haben entweder über Märchen geschrieben, oder sich an einer Definition der beiden Begriffe versucht. Allein daran siehst du, wie viel Freiheit die Aufgabenstellung dir schon gegeben hat. Das einzige, was von dir verlangt war, war die klare Abgrenzung zwischen Gut und Böse…“
Susanne wollte widersprechen. Von einer Abgrenzung war in der Angabe nicht die Rede. Doch ihre Lehrerin ließ sie nicht zu Wort kommen. „Eine Abgrenzung von Gut und Böse“, wiederholte sie. „Was du mir hier abgeliefert hast, erfüllt diese Voraussetzung nicht…“
Wieder wollte Susanne widersprechen, doch auch dieses Mal schnitt ihr Frau Huber das Wort ab. „Vielleicht liest du dir deinen Aufsatz einfach selbst noch mal durch und vergleichst ihn mit denen deiner Mitschüler. Dann dürfte dir selbst klar werden, dass du weit am Thema vorbeigeschrieben hast. Und jetzt sei so gut, ich habe noch etwas zu erledigen.“ Damit gab sie Susanne ihren Aufsatz zurück und begann erneut, ihre Unterlagen in ihre Tasche zu packen. Die Konsequenz, mit der sie Susanne dabei nicht mehr ansah, zeigte der Schülerin eindeutig, dass das Gespräch beendet war.
Langsam trottete sie aus dem Klassenzimmer. Ihren Aufsatz noch immer in Händen. Sie hätte direkt nach Hause fahren können, doch sie wollte sich den Text noch einmal in aller Ruhe durchlesen. Um Frau Huber nicht direkt wieder über den Weg zu laufen, ging sie die zwei Treppen aus dem ersten Stock des Schulgebäudes nach unten und setzte sich auf dem Pausenhof in den Schatten. Unter einen großen Baum, in einem kleinen Steinkreis am hinteren Ende des Hofs.
Sie begann, ihren Aufsatz zu lesen und während sie ihn las, wurde ihr Unverständnis immer größer. Sicher, sie hatte keine Abgrenzung vorgenommen. Nach wie vor fand sie aber, dass eine Abgrenzung nicht eindeutig verlangt war. Und nur weil alle anderen genau so dachten wie Frau Huber, hieß das doch nicht, dass das die einzig richtige Art des Denkens sein konnte. Das eigene Interpretation und Individualität derart niedergemacht wurde.
Sie kam beim letzten Absatz ihres Textes an, auf den sie schon beim Schreiben besonders stolz gewesen war: „Jeder Mensch trägt das Gute und das Böse in sich. Was aber das Böse ist, wird stets von der Gesellschaft festgelegt, in dem sie definiert, was das Gute und Erstrebenswerte sei. Gewisse Dinge können aber nicht derart schwarz-weiß gesehen werden. Eine Lüge ist an sich schlecht, wenn durch eine Lüge aber einem anderen Menschen Leid erspart wird, kann sie dann als schlecht, bzw. böse gelten? Wir leben in einer grauen Welt und können nur versuchen, dem zu entsprechen, was wir selbst als gut sehen. Wenn dies aber nicht dem Bild der Masse entspricht, sollten wir uns fragen, ob es deshalb böse sein muss…“
Vielleicht hatte sie sich ja getäuscht. Vielleicht gab es doch Menschen, die tatsächlich einfach nur das eine waren. Vielleicht war Frau Huber einfach böse, denn einer Schülerin, der sie ohnehin im besten Fall die Note Vier gab, jetzt eine Sechs wegen einer Themaverfehlung zu geben, die eindeutig keine war, und damit das Risiko massiv zu erhöhen, dass Susanne die Klasse wiederholen musste – und das nur, weil sie eine gewisse, unbegründete Abneigung gegen sie empfand –, war definitiv einfach nur böse. Oder war es falsch, bösen Willen zu unterstellen? Vielleicht sollte sie tatsächlich noch die Meinung anderer einholen?
„Ach Susanne“, hörte sie plötzlich eine Stimme. Überrascht sah sie auf. Ihr gegenüber stand Frau Schulz, die Deutschreferendarin, bei der sie momentan Unterricht hatte und bei der sie auch den Aufsatz geschrieben hatte.
„Schön, dass ich dich noch sehe. Das mit deiner Note tut mir sehr leid. Ich konnte da leider nichts machen. Ich hatte den Aufsatz zuerst benotet und hätte dir eine 2+ gegeben.“
Susanne starrte auf den Bogen Papier in ihren Händen. Und tatsächlich – unter der roten Sechs konnte sie noch die Reste von Bleistift erkennen.
Jeden Morgen wache ich um Punkt sieben Uhr auf. Ich öffne zuerst das Fenster, um frische Luft in mein Schlafzimmer zu lassen und mache anschließend mein Bett. Dann nehme ich einen Stift und ein Notizbuch zur Hand und schreibe all die Dinge auf, die ich an diesem Tag zu erledigen habe und auf welche ich mich besonders freue. Schließlich mache ich etwas Sport und starte so bereits schwungvoll in den Tag, bevor ich mein Schlafzimmer überhaupt verlassen habe.
Ich erwähne das, weil sich vor kurzem etwas Unerhörtes zutrug, das mir dieses angenehme, meinem Leben eine gewisse Ordnung und Sicherheit gebende, Ritual zerstörte – und ich hoffe, das Sie etwas unternehmen können, um dem Chaos Einhalt zu gebieten.
Sicherlich ist Ihnen bekannt, dass in unserem kleinen Ort, in welchem ich nun bereits seit 5 Jahren ansässig bin – und damit würde ich soweit gehen, mich als Einheimischen zu bezeichnen, schließlich wohne ich bereits länger hier, als die meisten Kinder in der Nachbarschaft – für eben diese ein Spielplatz gebaut wurde, sodass ihr unverschämt lautes Gelächter zu jeder Tages- und Nachtzeit in der gesamten Nachbarschaft vernehmbar ist. Nun bin ich durchaus geneigt, Kindern auch etwas Gutes abzugewinnen, selbstverständlich, solange sie gut erzogen sind und keinen Lärm verursachen.
Was sich aber am 5. August diesen Jahres ereignete, hat meinem, Kindern gegenüber durchaus wohl gesonnenen, Verhalten, wie ich fürchte, ein jähes Ende bereitet. An diesem Ferientag befanden sich nämlich bereits am frühen Morgen Kinder auf dem Spielplatz. Zwar bemühten sich die Eltern um etwas Ruhe, es gelang ihnen aber nicht ansatzweise und ich wachte an diesem Tag nicht wie gewohnt durch meinen Wecker um 7 Uhr auf, sondern bereits um 6 Uhr 59, aufgrund des lauten Weinens eines Kindes das, wie ich vermute, gestürzt war.
Da ich, durch dieses Ereignis bereits aus meinem üblichen morgendlichen Rhythmus gebracht, nun mein allmorgendliches Ritual dennoch in gewohnter Manier fortsetzen wollte – eine derartige Störung sollte mir nicht den Tag verderben – durchschritt ich wie jeden Tag gut gelaunt mein Schlafzimmer (gerne hätte ich ein Lied gepfiffen, doch mir fiel keines ein), um das Fenster zu öffnen. Da stürzte ich plötzlich über einen Gegenstand, der sich auf meinem Schlafzimmerboden befand. Schon während des Fallens überlegte ich, über was ich gerade gestolpert sein mochte, war dies doch der Weg, den ich jeden Morgen durch mein Zimmer ging und noch nie hatte mich etwas in meinem Gang behindert. Als ich jedoch auf dem Boden aufkam, sah ich aus dem Augenwinkel bereits einen Ball ans andere Ende des Zimmers rollen und mich traf die Erkenntnis, was mich da gerade zu Fall gebracht hatte: Der Fußball, den ich einen Tag zuvor ein paar Kindern abgenommen hatte, die der Auffassung gewesen waren, der verkehrsberuhigte Bereich vor meiner Haustür sei der geeignete Ort, um Ball zu spielen. Zum Wohle aller, da ich vor meinem inneren Auge bereits nicht nur mein, sondern auch das Küchenfenster sämtlicher anderen Anwohner zerstört gesehen hatte, hatte ich als Zeichen des guten Willens gegenüber den Nachbarn den Ball der Kinder kurzerhand konfisziert. Und über eben jenen Ausdruck guter Nachbarschaft war ich soeben gestürzt.
Durch den Sturz hatte ich mir eine Verletzung am Bein zugezogen, weshalb an Morgensport an diesem, sowie auch an den darauffolgenden Tagen nicht zu denken war. Bis heute, eine Woche später, leide ich unter den Folgen dieses Vorfalls. Wie Sie sicherlich verstehen, ist es mir unmöglich, mein morgendliches Ritual weiterhin auszuführen und dies wird, wenn ich meinem Arzt Glauben schenke, wohl noch weitere drei Tage der Fall sein. Um derartige Vorfälle in Zukunft zu verhindern – und dabei denke ich nicht allein an mich selbst, jedem meiner lieben Mitbürger könnte schon morgen das gleiche zustoßen – möchte ich Sie hiermit ersuchen, die Schulen dieses Jahr schon früher wieder zu öffnen, sodass Kinder nicht länger auf der Straße herumlungern, ohne einer Beschäftigung nachzugehen, und auf derart infame Weise das Allgemeinwohl gefährden.
„Noch eine Tasse Tee?“ Bevor meine Freundin antworten konnte, hatte ich die Kanne bereits in der Hand und schenkte ihr nach.
„Ja bitte“, erwiderte sie unnötigerweise dennoch.
Ich stellte die Teekanne wieder zwischen uns beiden auf den Tisch und lauschte weiter ihren Ausführungen. Sie erzählte mir gerade von den Problemen, die sie nach wie vor mit ihrer Stiefmutter hatte.
„Versteh mich bitte nicht falsch“, unterbrach ich sie schließlich, als ich das Gefühl hatte, dass sie einfach nur noch Jammern wollte, anstatt nach einem tatsächlichen Lösungsansatz zu suchen. „Aber du bist doch erwachsen. Es gibt nichts, das du ihr von dir gefallen lassen müsstest…“
Meine beste Freundin sah mich einen Augenblick schweigend an. Ihre vollen, roten Lippen verzogen sich zu einem gequälten Lächeln. „Nein“, meinte sie schließlich. „Aber du weißt wie schwierig es ist; seit mein Papa auch tot ist, ist sie irgendwie die einzige Familie, die ich noch habe.“
Jetzt war ich diejenige, die schwieg. Was ich gerade zu ihr gesagt hatte, tat mir leid. Manchmal musste man einfach jammern und nicht für alles gab es immer eine einfache Lösung. Das war mir natürlich auch klar. „Tut mir leid.“
Sie zuckte leicht die Schultern und fing erneut an zu erzählen, doch ich hörte nicht mehr zu. Ich wusste ohnehin, was sie erzählte.
Seit mittlerweile sieben Jahren waren wir beste Freundinnen und seit eben dieser Zeit sahen wir uns beinahe täglich und es waren auch beinahe täglich dieselben Geschichten, die sie mir erzählte. Ihre Stiefmutter hatte sie von Anfang an nicht gemocht und sie das deutlich spüren lassen. Seit nun auch ihr Vater gestorben war, kümmerte meine Freundin sich aufopferungsvoll um seine zweite Frau, doch diese dankte es ihr nicht im mindesten; stattdessen waltete sie über sämtliche Besitztümer des Vaters, als wären es die ihren.
Sicher, ich konnte verstehen, dass man sich beschweren wollte, wenn man sich in dieser Lage befand, doch nach sieben langen Jahren fand ich die Geschichten etwas ermüdend.
Meine Freundin unterbrach ihre Geschichte für einen Moment, um mit der einen schlanken, alabasterfarbenen Hand nach ihrer Tasse zu greifen. Mit der anderen prüfte sie nebenbei, ob ihre Frisur noch richtig saß. Sie hatte sich ihre langen, schwarzen Haare umständlich nach oben gesteckt und sah einfach wunderschön aus, wie sie mir gegenüber saß.
„Natürlich, meine besten Freunde helfen mir immer weiter und ich weiß, dass ich immer bei ihnen unterkommen könnte, sollte es gar nicht mehr anders gehen, aber…“, sie seufzte, „schöner wäre doch ein harmonischer Umgang miteinander, oder nicht?!“
„Immer“, bestätigte ich.
Plötzlich hörte ich ein Geräusch draußen auf dem Flur. Meine Zimmertür wurde aufgeschlossen und eine Dame mit weißer Jacke kam herein.
„Na, Frau Leonhart, wie geht’s uns denn heute?“, fragte sie gutgelaunt.
Schneewittchen saß so, dass man sie von der Tür aus nicht sehen konnte. Lächelnd legte sie einen Finger an den Mund und ich nickte unauffällig, während ich an ihr vorbeiblickte. Niemand musste wissen, dass sie hier war.
Warum waren Abschiede nur so schwer? Ohne, dass man viel Zeit mit dem anderen verbracht haben musste, konnte man eine Verbindung zueinander aufbauen, bei der einem ein Abschied das Herz brach…
Wir hatten sofort einen Draht zueinander gehabt.
Ich hatte an der Tramstation gesessen und er hatte sich ohne zu zögern neben mich gesetzt. Zwar hatte das Mädchen, das offensichtlich mit ihm unterwegs war, nur etwa zwei Meter von uns entfernt gestanden, doch es schien sie nicht zu stören, dass ihre Begleitung anderweitig Nähe suchte. Und diesen Augen hätte ich im Leben nicht widerstehen können.
Ich hatte den sanften Druck gespürt, den er gegen mein Bein ausübte und am liebsten hätte ich ihn gepackt und mit nach Hause genommen. Wenn sie nur nicht dagestanden und immer wieder prüfende Blicke zu uns geworfen hätte…
Die Tram war eingefahren und das Mädchen war eingestiegen; ein kurzes Nicken in seine Richtung, er hatte aufs Wort gehört und war ihr gefolgt. Auch ich war in die Tram gestiegen. Beinahe masochistisch, mich mit dieser Liebe auf den ersten Blick weiter zu quälen.
Auch in der Tram hatte er sich, nachdem er kurz zwischen seiner eigentlichen Begleitung und mir hin und her gesehen hatte, den Platz neben mir gewählt. Wieder hatte sie nichts dazu gesagt.
Und jetzt… jetzt saß ich da, seinen treuen Hundeblick aus diesen wunderschönen, braunen Augen auf mich gerichtet und ich wusste, ich würde an der nächsten Haltestelle aussteigen müssen. Er lehnte sich an mir an und wieder überkam mich der Drang, ihn einfach mitzunehmen, sobald ich ausstieg. Aber das ging nicht. Natürlich nicht.
Ich beobachtete das Mädchen aus dem Augenwinkel. Soweit ich das beurteilen konnte, waren wir ein ähnlicher Typ. Gleiche Haarfarbe, ähnlicher Kleidungsstil. Von den anderen Fahrgästen wäre es vielleicht nichtmal jemandem aufgefallen, dass sie mit ihm eingestiegen war und ich mit ihm aussteigen würde.
Die Tram wurde langsamer. Und wenn ich einfach nicht aussteigen würde? Ich hatte mir schon so lange einen wie ihn gewünscht. Zumindest die Zeit, bis er und das Mädchen ausstiegen, könnte ich ja noch genießen… Dann würde ich allerdings zu spät zur Arbeit kommen. Auch nicht die beste Option… Mit einem Anflug von Traurigkeit sah ich ihn an.
Der wunderschöne Schäferhund, der mir auf Anhieb mein Herz gestohlen hatte, legte seinen großen Kopf auf mein Bein und ich kraulte ihn vorsichtig. Warum waren Abschiede nur so schwer?
Unglücklich ging die den Bahnsteig entlang. Seit heute war es so gut wie sicher… Sie würde die Klasse nicht schaffen und keine Chance auf Wiederholung bekommen. Sie hatte extra darauf verzichtet, den Quali extern zu machen, weil sie sich auf die anstehenden Prüfungen hatte konzentrieren wollen. Doch leider hatte es nicht gereicht. Und jetzt? Sie hatte bereits die neunte Klasse wiederholen müssen, tatsächlich aus Gründen, die alles andere als fair waren. Jetzt die zehnte Klasse. Es gab keinen staatlichen Ausbildungsweg mehr für sie. Und nach elf Jahren Schule (dank der Wiederholung der neunten Klasse), sechs Jahren Gymnasium, würde sie jetzt mit einem Hauptschulabschluss – keiner Mittleren Reife, keinem Quali – auf der Straße stehen.
Ihre Augen begannen zu brennen und sie schluckte hart, kämpfte gegen die Tränen an, die sich erbarmungslos ihren Weg bahnen wollten. Nicht hier. Nicht in aller Öffentlichkeit. Nicht am Bahnhof.
Sie wusste, was sie sich zu Hause anhören durfte. Aber das konnte sie jetzt einfach nicht brauchen. Als ob ihr das Thema selbst nicht schon genug zu schaffen machte. Warum taten Eltern immer so, als würde man diese Sachen nicht ernst nehmen? Sie konnten ja wohl kaum ernsthaft davon ausgehen, dass sie die Situation besonders amüsant gefunden hätte?!
Am liebsten wäre sie weggelaufen. Aber wohin? Ihre Freunde hatten auch nichts zu sagen, das sie im Moment aufgebaut hätte. Was sollten 15-, 16-Jährige auch dazu sagen? Sicher gab es auch für sie kaum etwas, das ihnen größere Sorgen bereitet hätte.
Sie wünschte sich so sehr jemanden zum Reden. Jemand, der ihr einfach nur sagen würde, dass es immer einen Weg gab. Dass sie sich nicht zu viele Sorgen machen sollte und dass alles gut werden würde. Aber sie kannte niemand, der ihr im Moment diese Stütze hätte sein können.
Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie sich eine Gestalt aus dem Schatten löste und auf sie zukam. Sie dachte sich nichts weiter dabei, wollte weiter das Gleis entlang gehen, doch der fremde Mann stellte sich direkt neben sie.
„Hey“, sprach er sie an. Kurz zögerte sie, dann blieb sie stehen. Sie hatte noch Zeit, bis ihr Zug kam und es waren so viele Menschen am Bahnsteig, dass sie sich keine Sorgen machte.
„Hallo“, erwiderte sie.
Der Mann lächelte sie freundlich an. Er war vielleicht Mitte Dreißig, hatte braune Haare und hätte sie ihn unter 100 Menschen wiedererkennen müssen, wäre es ihr vermutlich nicht gelungen.
Er fing an mit ihr zu sprechen. Auf Englisch. Er würde an dem Zeitungstand arbeiten, der weiter hinten am Bahnsteig aufgebaut war und Zeitungsabos verkaufen, erklärte er schnell. Sie nickte.
„Warum so traurig?“, fragte er dann.
Wieder zögerte sie kurz. Das war ein wildfremder Mann, sollte sie ihm sagen, warum sie traurig war. Andererseits, warum nicht?! Es war ein wildfremder Mann, sie würde keine Dinge preisgeben, die sie besser geheim halten sollte und vielleicht konnte er ihr den objektiven Blickwinkel geben, den sie brauchte…
Also erzählte sie ihm, was passiert war. Er hörte ihr geduldig zu, dann fragte er, was sie denn eigentlich nach der Schule hatte machen wollen. Studieren?
„Yes“, war ihre knappe Antwort. „Psychology…“
„Ah.“ Er nickte verständnisvoll. Selbst mit Abi hatte sie keine Ahnung, ob sie einen Studienplatz bekommen hätte. Ohne Schulabschluss konnte sie sich ihren Traum von vornherein abschminken.
„Weißt du“, fing er, weiterhin auf Englisch, an und legte ihr ganz kurz, ganz vorsichtig die Hand auf die Schulter, zog sie gleich darauf wieder zurück. Es war ihr nicht mal unangenehm, tatsächlich hatte es eine seltsam beruhigende Wirkung auf sie. „Manchmal müssen wir im Leben Umwege gehen, um genau dorthin zu kommen, wo wir sein sollen.“ Er lächelte aufmunternd. „Wenn ich dir eins mit Sicherheit sagen kann, dann, dass das nicht das Ende ist. Es gibt immer einen Weg, man muss nur den richtigen für sich finden.“
Sie schwieg und er lachte kurz. Ein angenehmes Lachen. „Ich kann dir versprechen, dass alles gut wird!“
„Ja, vielleicht.“ Sie zuckte die Schultern. Er hatte sicher recht, aber im Moment konnte sie nicht wirklich daran glauben. Trotzdem munterten sie die Worte dieses fremden Mannes ungemein auf. Er hatte genau das gesagt, was sie so dringend hören musste.
„Also, ich glaube, ich muss jetzt weiterarbeiten.“ Er machte eine ausladende Geste, die den ganzen Bahnsteig mit einschloss und zwinkerte ihr noch einmal aufmunternd zu. „Glaub mir“, wiederholte er. „Es kommt alles so, wie es kommen soll.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und ging das Gleis entlang, in die Richtung, aus der sie zuvor gekommen war.
Einen kurzen Augenblick stand sie da und wusste nicht recht, was sie jetzt tun sollte. Sie dachte über seine Worte nach und plötzlich, erst jetzt, fiel ihr etwas auf. Wenn der Mann Zeitungen verkaufte, wo waren diese Zeitungen? Wieso hatte er nicht versucht, irgendjemand anderem am Gleis etwas zu verkaufen? Und wieso hatte er Englisch gesprochen?
Irritiert drehte sie sich um, um ihn vielleicht noch den Bahnsteig entlang gehen zu sehen. Doch er war verschwunden. Und in die andere Richtung… stand auch kein Zeitungsstand.
Tag der Veröffentlichung: 08.04.2021
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